Das, was dieser Tag übrig ließ
Es war heiß an dem Tag, der Espiritou del Aires letzter Tag sein sollte.
Die Sonne strahlte vom blauen Himmel herunter, doch eine sanfte Brise huschte durch die vielen Gassen und Windungen der Insel; der Insel, die wegen ihrer verspielten Architektur und ihrer in sanften Farbtönen bemalten Häuser als die schönste der vier Inseln galt. Ob es Zufall war, dass sich die Dämonen gerade diese Insel ausgesucht hatten, um sie zu zerstören und nicht eine andere? Und war es ein Zufall, dass das Wetter zum Ausflug einlud, weshalb der damalige Regime-Führer sich mit seinen zwei Kindern auf Espiritou del Aire befand, um dort das Wetter zu genießen - oder wussten die Dämonen es?
Und war es eine Verspottung des Schicksals, dass die zwei Kinder sich gerade von ihrem Vater entfernt hatten, als der blaue Himmel sich verdunkelte und die Dämonen angriffen?
Shatelle zog ihren kleinen Bruder hinter sich her; sie hatte Angst, ganz fürchterliche Angst, aber sie biss die Zähne zusammen, stand wieder auf, wenn sie durch eine Explosion zu Fall gebracht wurde, denn obwohl sie keine Worte dafür fand, wusste sie, unbewusst, vorherahnend, dass sie es nicht überleben würde - dass sie es alle nicht überleben würden, dass sie alle hier sterben würden. Aber nicht Shaginai. Sie würde sterben, aber ihr Bruder durfte nicht sterben - und sie würde dafür sorgen, dass er nicht starb. Sie würde ihn retten.
"Shagi, hör auf, dich umzudrehen!", herrschte sie den siebenjährigen Hikari an, der ihre Hand zwar fest umklammert hielt, aber dessen Blick immer wieder hinter sie gerichtet war - einen Blick, den Shatelle nicht zu deuten vermochte. Konnte er etwas in diesen Flammen sehen, was sie nicht sehen konnte? Konnte er durch den Rauch sehen, der ihr die Tränen in die Augen trieb und ihren Blick verschleierte?
Doch Shaginai hörte sie nicht, er war sogar stehen geblieben, verweigerte, weiterzugehen und hörte auch das Rufen seiner älteren Schwester nicht. Womöglich weil zu viele Schreie die Luft vibrieren ließen.
Anstatt es abermals mit Worten zu versuchen, drehte Shatelle sich zu ihm herum und packte ihren kleinen Bruder kurzerhand, um ihn auf ihre Arme zu heben, wie sie es früher oft getan hatte - und der Rauch wurde schlimmer, ihr rannen die Tränen von ihren Wangen - doch er war schwerer geworden, als damals, als sie zusammen gespielt hatten, und sie ihn Huckepack genommen hatte.
"Wir werden sterben ... wir werden alle sterben ..." Shaginais Stimme zitterte, wie auch sein gesamter Körper es tat, als er seine Arme um den Hals seiner großen Schwester schlang und sie sich in Bewegung setzte, um die Stufen der gewundenen Treppe hochzurennen, den salzigen Geschmack ihrer Tränen auf der Zunge:
"Nein, du wirst nicht sterben, Shagi, das lasse ich nicht zu! Sie wollen dich, aber sie werden dich nicht bekommen! Ich beschütze dich!"
"Aber ich will ... ich will nicht ohne dich ..." Shatelle sah es nicht, weil sie sich auf den Weg vor sich konzentrierte, aber Shaginai sah es dafür umso deutlicher - das Bild, dass er nie vergessen würde, das Bild, was ihn immer heimsuchen würde; das Bild seines Vaters.
Eine Windattacke hatte für einen kurzen Moment dafür gesorgt, dass der Rauch zur Seite geweht wurde und dort stand er, am Ende der Gasse, die mit Sonnen und Blumen bemalt war. Vater und Sohn starrten kurz in die weißen, geweiteten Augen des jeweils anderen - und dann drehte er sich einfach um und ließ seine Kinder im Stich.
Dann zuckte etwas blau Leuchtendes durch die Flammen und schon wurde Shatelle samt Shaginai zu Boden gerissen und die steinernen Stufen gruben sich schmerzhaft in seinen Rücken, als Shatelle ihn unter sich begrub - doch nur für einen kurzen Moment, ehe sie herumwirbelte und einen ihr unbekannten Dämonen vor sich sah, dessen angriffslustiges Grinsen von seinen blau leuchtenden Fäden erhellt wurde.
"Man hat mir gesagt, dass ich einen Platz bei den Hohen bekommen würde, wenn ich einen Hikari umbringe - also, wer von euch ist der glückliche Hikari, der dafür sterben darf?"
"Ich bin die Hikari!", rief Shatelle sofort, plötzlich froh darüber, dass ihre weißen Haare noch nicht begonnen hatten, sich zu verfärben und ihrem eigentlichen Element anzupassen. Ohne Zweifel würde die Lüge auffliegen, aber wenn sie Shaginai Zeit geben könnte ... Zeit, um zum nächsten Teleportationspunkt zu gelangen ... er war nicht weit weg, nur die Stufen hoch ... er könnte es schaffen, zu entkommen ...
...
Shatelles Blut weckte den jungen Hikari. Es hatte ihr Gesicht rot gefärbt und auch ihre Haare waren nicht länger weiß, sondern mit rotem Blut verschmiert; sie lag über ihm mit halb geöffneten, leeren Augen und einer entzweigeteilten Kopfhaut.
"Shagi braucht keine Elementarwächter, Vater. Shagi braucht nur mich! Ich werde ihn immer beschützen!"
Shaginai konnte nicht sprechen. Er konnte ihren Namen nicht sagen. Alles war ruhig. Alles war ruhig.
Alles war tot.
Alles war tot und er lebte, genau wie seine Schwester es versprochen hatte.
...
Adir, Hizashi und eine Reihe anderer Hikari waren die Ersten, die Espiritou del Aire betraten, als alles bereits in absolute Stille gehüllt war. Die vielen Rauchsäulen hatten den Himmel verdunkelt, der Gestank von verkohlten Leichen hing in der Luft und die Stille des absoluten Todes umhüllte die Hikari, die trotz aller Erfahrung, die sie im Krieg gesammelt hatten, sprachlos waren angesichts dessen, was sie auf Espiritou del Aire sahen.
Keiner von ihnen sagte etwas, keiner von ihnen wagte es, sich zu bewegen, sich weiter vorzuwagen, über die Leichen zu steigen, um weiter ins Innere der Insel vorzudringen.
Bis auf Adir. Von den anderen Hikari nicht aufgehalten löste er sich langsam von ihnen, einer plötzlichen Intuition nachgehend - war das ... eine Aura? Oder bildete er sich das ein, wollte er eine Aura spüren, einen Überlebenden finden, weil er wusste, dass er Mitschuld an diesem Anschlag hatte?
Denn er war es gewesen, der die ganze Zeit dafür plädiert hatte, dass das kriegsfähige Alter herabgesetzt wurde, dass die Kampfausbildungen zugunsten von Familie weichen müssten ... sie hatten mehr als hundert Jahre Frieden gehabt, die Dämonen hatten nichts angedeutet, verdienten es die Wächter da nicht, ein normales Leben führen zu dürfen - das waren seine Argumente gewesen, die vom Volk gefeiert worden waren und die jetzt anders klingen würden, gegen ihn angewendet werden würden: "Ausbildung vernachlässigt" würde es nun heißen ... und er hörte schon die Vorwürfe, warum es denn keine Spione in der Dämonenwelt gegeben hatte, warum hatte man den Anschlag nicht kommen sehen, warum hatte man ihn nicht verhindert ...?
Es würde massive Kritik hageln und es war nur allzu natürlich, dass sie alle vergessen würden, dass sie dafür mehr Freizeit gehabt hatten, mehr Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen durften, dass es keine Spione gegeben hatte, weil das vor 30 Jahren freiwillig geworden war und sich niemand gemeldet hatte ... man würde sie fahrlässig nennen ... die Hikari würden sich untereinander streiten, sich gegenseitig die Schuld zuschieben wollen ...
Und dann spürte Adir es wie ein Faustschlag. Lichtmagie.
Shaginai war es gelungen, sich aus den Trümmern zu befreien und als Adir ihn fand, saß er auf einer eingestürzten Säule, den regungslosen Kopf seiner Schwester auf seinem Schoss, das Gesicht voller Blut und mit leuchtenden Händen alle Lichtmagie, die sich in seinem kleinen Körper befand, auf seine Schwester konzentrierend.
Er war der einzige Überlebende von 7985 Wächtern.
...
Adirs Befürchtungen bewahrheiteten sich und schon bei der ersten Ratsversammlung schoben die Hikari sich unterschwellig gegenseitig die Schuld in die Schuhe; Adir versuchte sich herauszuhalten, doch es war schwer, wenn die meiste Schuld ihm zugewiesen wurde.
"Ist es nicht ratsamer ...", begann Adir mit ruhiger Stimme, doch es gelang ihm nicht gänzlich zu verbergen, dass er gereizt war:
"... zu überlegen, wie es weitergehen soll? Unsere Feinde haben uns offensichtlich den Krieg erklärt."
"Wir wissen ja nicht einmal, wer der momentane Dämonenkönig ist!" Entschieden schlug Adir mit seinen Handflächen auf seinen Tisch und erwiderte:
"Dann sollten wir es vielleicht herausfinden!"
"Alle Elementarwächter sind tot und von den Offizieren sind nur noch drei übrig, weil alle unbedingt auf Espiritou del Aire leben wollten."
"Ja, ja, das ist mir bewusst. Wir haben allerdings auch andere fähige Wächter ..."
"Die alle unter Schock stehen und noch nie im Krieg aktiv waren. Sie sind wohl kaum seelisch bereit für irgendetwas." Wieder hörte Adir eine Spitze heraus, denn ja, er war es gewesen, der dafür plädiert hatte, dass keine Notwendigkeit dafür bestand, alle Wächter auf einen Krieg vorzubereiten, der scheinbar nicht mehr kommen würde.
"Also ich gehe gerne nach Henel-"
"Danke, Seigi, aber ich glaube, unsere Feinde brauchen beim Lichte unserer Göttin nicht noch mehr Gründe, um uns anzugreifen", seufzte Adir erschöpft, seine Stirn nun mit seiner Hand massierend.
"Nein, aber vielleicht sollten wir mal angreifen-"
"Mit was denn, Seigi?! Wir haben kein einziges komplettes Bataillon übrig!", fauchte der Hikari rechts neben Seigi ihn an.
"Außerdem fehlt eine offizielle Kriegserklärung."
"Das ist ja wohl nicht dein Ernst, Adir?!", erwiderte Seigi und auch andere Hikari sahen ihn bestürzt an, der daraufhin nur eine aufgebende Pose machte und auf das Regelbuch deutete.
"Wenigstens wissen wir dann, wer der momentane König ist." Seigi antwortete genervt, dass es doch vollkommen egal sei ... doch ansonsten verblieben die Hikari erst einmal ruhig, jeder mit seinen eigenen pessimistischen Gedanken beschäftigt.
"Vielleicht sollten wir mit dem anfangen, was wir tun können", bemerkte Mary, nachdenklich ihre hübsche Stirn in Falten legend.
"Und das wäre?"
"Den Überlebenden ... eh Shagi...nai? ... zum Regime-Führer ernennen."
"Unmöglich! Der Junge ist erst sieben! Er hat seine Ausbildung noch nicht einmal abgeschlossen." Mary war nicht in der Stimmung, freundlich zu bleiben und wirbelte mit wehenden Haaren herum zu ihrem Mithikari:
"Ach, hast du etwa eine bessere Idee, wie wir die Wächter erst einmal ablenken können?!"
"Von unseren Fehltritten wohlbemerkt!" Einige Augen huschten wieder zu Adir, der so tat, als würde er sie nicht sehen.
"Ja, vielleicht", gab Mary zu, die allerdings immer auf Adirs Seite gewesen war:
"Aber ich meinte eigentlich von ihrer Trauer. Wir sollten ihnen etwas geben, das sie auf andere Gedanken bringt."
"Ich wiederhole: Der Junge hat seine Ausbildung nicht abgeschlossen. Es wäre eine Schande, einen nicht-ausgebildeten Hikari zum Regime-Führer zu ernennen!"
"Das hier ist alles eine vermaledeite Schande!" Marys Stimme fegte über alle hinweg und brachte die aufgeregten Hikari zum Schweigen. Einige Minuten verstrichen, in denen Mary sich brodelnd wieder setzte und alle, doch besonders ihren direkten Widersacher, mit giftigen Blicken bedachte - und dann scheinbar auch gewann:
"Wo befindet sich der Junge momentan?" Adir antwortete eher widerwillig, denn er mochte die Idee Marys nicht, auch wenn er die Logik dahinter schon verstand:
"Im Sanctuarian bei seiner Schwester. Sie befindet sich im Koma ..."
"Nein, sie ist tot." Alle wirbelten herum und erblickten Hizashi, der gerade die Flügeltür hinter sich schloss:
"Tot?", wiederholte Adir misstrauisch, Hizashi dabei zusehend, wie dieser die Treppenstufen hochstieg und seinen Platz einnahm:
"Aber als ich die beiden fand, lebte das Mädchen noch. Shaginai hat sie mit seiner Lichtmagie am Leben gehalten ..."
"Ja, in der Tat, das ist richtig. Aber ihre Überlebenschancen waren zu gering, weshalb ich veranlasst habe, die Maschine auszuschalten und sie somit nicht künstlich am Leben zu erhalten."
"Du hast WAS?!" Hizashi blieb irritiert stehen, kurz bevor er seinen Platz eingenommen hatte, und fixierte nun Adir, der kurz davor war, sich aufzurichten:
"Du hast Shaginai das einzige Familienmitglied genommen!?"
"Wieso "einziges"? Ich dachte, seinem Vater wäre es als Einzigem gelungen, zu fliehen?"
"Er hat sich umgebracht", informierte ein anderer Hikari Hizashi:
"Er ist nicht in den Tempel zurückgekehrt, sondern hat in der Menschenwelt Suizid begangen."
"Auch das noch, als ob wir nicht genug Probleme hätten ...", seufzte Hizashi, schien aber nicht sonderlich über die Information überrascht oder betrübt zu sein.
"Hat Shaginai dem zugestimmt?", fragte Adir mit beißender Stimme, weiterhin Hizashi anblickend, welcher seinen Stuhl nun erreicht hatte, sich aber nicht setzte, sondern mit seinen Fingern die Verzierungen seiner Stuhllehne nachfuhr:
"Ich habe ihn nicht gefragt, Adir-san. Das muss ich auch nicht. Eine solche Entscheidung unterliegt immer noch meiner Befehlsgewalt und ich hielt es nicht für angemessen, Ressourcen an einen Körper zu verschwenden, dessen Hirnplatte entzweigeteilt war." Adir antwortete nicht sofort, sondern durchbohrte Hizashi mit einem finsteren Blick; einem Blick, den man wahrlich selten von Adir gesehen hatte, weshalb es seinen Sitznachbarn kalt den Rücken herunterlief. Doch Hizashi blieb unbeeindruckt, setzte sich und faltete seine Hände, bereit, Adir seine Fehler anzukreiden, doch dieser hatte sich entschlossen erhoben:
"Wo ist Shaginai jetzt?"
"Er ist wohl in Betreuung unseres lieben Psychologen."
"Wenigstens einer, der Empathie besitzt", konnte Adir nicht zurückhalten, doch die Antwort Hizashis hörte er nicht mehr, denn die Flügeltür fiel schon hinter ihm ins Schloss:
"Zu viel Empathie trübt die Objektivität, Adir-san."
Die Sonne strahlte vom blauen Himmel herunter, doch eine sanfte Brise huschte durch die vielen Gassen und Windungen der Insel; der Insel, die wegen ihrer verspielten Architektur und ihrer in sanften Farbtönen bemalten Häuser als die schönste der vier Inseln galt. Ob es Zufall war, dass sich die Dämonen gerade diese Insel ausgesucht hatten, um sie zu zerstören und nicht eine andere? Und war es ein Zufall, dass das Wetter zum Ausflug einlud, weshalb der damalige Regime-Führer sich mit seinen zwei Kindern auf Espiritou del Aire befand, um dort das Wetter zu genießen - oder wussten die Dämonen es?
Und war es eine Verspottung des Schicksals, dass die zwei Kinder sich gerade von ihrem Vater entfernt hatten, als der blaue Himmel sich verdunkelte und die Dämonen angriffen?
Shatelle zog ihren kleinen Bruder hinter sich her; sie hatte Angst, ganz fürchterliche Angst, aber sie biss die Zähne zusammen, stand wieder auf, wenn sie durch eine Explosion zu Fall gebracht wurde, denn obwohl sie keine Worte dafür fand, wusste sie, unbewusst, vorherahnend, dass sie es nicht überleben würde - dass sie es alle nicht überleben würden, dass sie alle hier sterben würden. Aber nicht Shaginai. Sie würde sterben, aber ihr Bruder durfte nicht sterben - und sie würde dafür sorgen, dass er nicht starb. Sie würde ihn retten.
"Shagi, hör auf, dich umzudrehen!", herrschte sie den siebenjährigen Hikari an, der ihre Hand zwar fest umklammert hielt, aber dessen Blick immer wieder hinter sie gerichtet war - einen Blick, den Shatelle nicht zu deuten vermochte. Konnte er etwas in diesen Flammen sehen, was sie nicht sehen konnte? Konnte er durch den Rauch sehen, der ihr die Tränen in die Augen trieb und ihren Blick verschleierte?
Doch Shaginai hörte sie nicht, er war sogar stehen geblieben, verweigerte, weiterzugehen und hörte auch das Rufen seiner älteren Schwester nicht. Womöglich weil zu viele Schreie die Luft vibrieren ließen.
Anstatt es abermals mit Worten zu versuchen, drehte Shatelle sich zu ihm herum und packte ihren kleinen Bruder kurzerhand, um ihn auf ihre Arme zu heben, wie sie es früher oft getan hatte - und der Rauch wurde schlimmer, ihr rannen die Tränen von ihren Wangen - doch er war schwerer geworden, als damals, als sie zusammen gespielt hatten, und sie ihn Huckepack genommen hatte.
"Wir werden sterben ... wir werden alle sterben ..." Shaginais Stimme zitterte, wie auch sein gesamter Körper es tat, als er seine Arme um den Hals seiner großen Schwester schlang und sie sich in Bewegung setzte, um die Stufen der gewundenen Treppe hochzurennen, den salzigen Geschmack ihrer Tränen auf der Zunge:
"Nein, du wirst nicht sterben, Shagi, das lasse ich nicht zu! Sie wollen dich, aber sie werden dich nicht bekommen! Ich beschütze dich!"
"Aber ich will ... ich will nicht ohne dich ..." Shatelle sah es nicht, weil sie sich auf den Weg vor sich konzentrierte, aber Shaginai sah es dafür umso deutlicher - das Bild, dass er nie vergessen würde, das Bild, was ihn immer heimsuchen würde; das Bild seines Vaters.
Eine Windattacke hatte für einen kurzen Moment dafür gesorgt, dass der Rauch zur Seite geweht wurde und dort stand er, am Ende der Gasse, die mit Sonnen und Blumen bemalt war. Vater und Sohn starrten kurz in die weißen, geweiteten Augen des jeweils anderen - und dann drehte er sich einfach um und ließ seine Kinder im Stich.
Dann zuckte etwas blau Leuchtendes durch die Flammen und schon wurde Shatelle samt Shaginai zu Boden gerissen und die steinernen Stufen gruben sich schmerzhaft in seinen Rücken, als Shatelle ihn unter sich begrub - doch nur für einen kurzen Moment, ehe sie herumwirbelte und einen ihr unbekannten Dämonen vor sich sah, dessen angriffslustiges Grinsen von seinen blau leuchtenden Fäden erhellt wurde.
"Man hat mir gesagt, dass ich einen Platz bei den Hohen bekommen würde, wenn ich einen Hikari umbringe - also, wer von euch ist der glückliche Hikari, der dafür sterben darf?"
"Ich bin die Hikari!", rief Shatelle sofort, plötzlich froh darüber, dass ihre weißen Haare noch nicht begonnen hatten, sich zu verfärben und ihrem eigentlichen Element anzupassen. Ohne Zweifel würde die Lüge auffliegen, aber wenn sie Shaginai Zeit geben könnte ... Zeit, um zum nächsten Teleportationspunkt zu gelangen ... er war nicht weit weg, nur die Stufen hoch ... er könnte es schaffen, zu entkommen ...
...
Shatelles Blut weckte den jungen Hikari. Es hatte ihr Gesicht rot gefärbt und auch ihre Haare waren nicht länger weiß, sondern mit rotem Blut verschmiert; sie lag über ihm mit halb geöffneten, leeren Augen und einer entzweigeteilten Kopfhaut.
"Shagi braucht keine Elementarwächter, Vater. Shagi braucht nur mich! Ich werde ihn immer beschützen!"
Shaginai konnte nicht sprechen. Er konnte ihren Namen nicht sagen. Alles war ruhig. Alles war ruhig.
Alles war tot.
Alles war tot und er lebte, genau wie seine Schwester es versprochen hatte.
...
Adir, Hizashi und eine Reihe anderer Hikari waren die Ersten, die Espiritou del Aire betraten, als alles bereits in absolute Stille gehüllt war. Die vielen Rauchsäulen hatten den Himmel verdunkelt, der Gestank von verkohlten Leichen hing in der Luft und die Stille des absoluten Todes umhüllte die Hikari, die trotz aller Erfahrung, die sie im Krieg gesammelt hatten, sprachlos waren angesichts dessen, was sie auf Espiritou del Aire sahen.
Keiner von ihnen sagte etwas, keiner von ihnen wagte es, sich zu bewegen, sich weiter vorzuwagen, über die Leichen zu steigen, um weiter ins Innere der Insel vorzudringen.
Bis auf Adir. Von den anderen Hikari nicht aufgehalten löste er sich langsam von ihnen, einer plötzlichen Intuition nachgehend - war das ... eine Aura? Oder bildete er sich das ein, wollte er eine Aura spüren, einen Überlebenden finden, weil er wusste, dass er Mitschuld an diesem Anschlag hatte?
Denn er war es gewesen, der die ganze Zeit dafür plädiert hatte, dass das kriegsfähige Alter herabgesetzt wurde, dass die Kampfausbildungen zugunsten von Familie weichen müssten ... sie hatten mehr als hundert Jahre Frieden gehabt, die Dämonen hatten nichts angedeutet, verdienten es die Wächter da nicht, ein normales Leben führen zu dürfen - das waren seine Argumente gewesen, die vom Volk gefeiert worden waren und die jetzt anders klingen würden, gegen ihn angewendet werden würden: "Ausbildung vernachlässigt" würde es nun heißen ... und er hörte schon die Vorwürfe, warum es denn keine Spione in der Dämonenwelt gegeben hatte, warum hatte man den Anschlag nicht kommen sehen, warum hatte man ihn nicht verhindert ...?
Es würde massive Kritik hageln und es war nur allzu natürlich, dass sie alle vergessen würden, dass sie dafür mehr Freizeit gehabt hatten, mehr Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen durften, dass es keine Spione gegeben hatte, weil das vor 30 Jahren freiwillig geworden war und sich niemand gemeldet hatte ... man würde sie fahrlässig nennen ... die Hikari würden sich untereinander streiten, sich gegenseitig die Schuld zuschieben wollen ...
Und dann spürte Adir es wie ein Faustschlag. Lichtmagie.
Shaginai war es gelungen, sich aus den Trümmern zu befreien und als Adir ihn fand, saß er auf einer eingestürzten Säule, den regungslosen Kopf seiner Schwester auf seinem Schoss, das Gesicht voller Blut und mit leuchtenden Händen alle Lichtmagie, die sich in seinem kleinen Körper befand, auf seine Schwester konzentrierend.
Er war der einzige Überlebende von 7985 Wächtern.
...
Adirs Befürchtungen bewahrheiteten sich und schon bei der ersten Ratsversammlung schoben die Hikari sich unterschwellig gegenseitig die Schuld in die Schuhe; Adir versuchte sich herauszuhalten, doch es war schwer, wenn die meiste Schuld ihm zugewiesen wurde.
"Ist es nicht ratsamer ...", begann Adir mit ruhiger Stimme, doch es gelang ihm nicht gänzlich zu verbergen, dass er gereizt war:
"... zu überlegen, wie es weitergehen soll? Unsere Feinde haben uns offensichtlich den Krieg erklärt."
"Wir wissen ja nicht einmal, wer der momentane Dämonenkönig ist!" Entschieden schlug Adir mit seinen Handflächen auf seinen Tisch und erwiderte:
"Dann sollten wir es vielleicht herausfinden!"
"Alle Elementarwächter sind tot und von den Offizieren sind nur noch drei übrig, weil alle unbedingt auf Espiritou del Aire leben wollten."
"Ja, ja, das ist mir bewusst. Wir haben allerdings auch andere fähige Wächter ..."
"Die alle unter Schock stehen und noch nie im Krieg aktiv waren. Sie sind wohl kaum seelisch bereit für irgendetwas." Wieder hörte Adir eine Spitze heraus, denn ja, er war es gewesen, der dafür plädiert hatte, dass keine Notwendigkeit dafür bestand, alle Wächter auf einen Krieg vorzubereiten, der scheinbar nicht mehr kommen würde.
"Also ich gehe gerne nach Henel-"
"Danke, Seigi, aber ich glaube, unsere Feinde brauchen beim Lichte unserer Göttin nicht noch mehr Gründe, um uns anzugreifen", seufzte Adir erschöpft, seine Stirn nun mit seiner Hand massierend.
"Nein, aber vielleicht sollten wir mal angreifen-"
"Mit was denn, Seigi?! Wir haben kein einziges komplettes Bataillon übrig!", fauchte der Hikari rechts neben Seigi ihn an.
"Außerdem fehlt eine offizielle Kriegserklärung."
"Das ist ja wohl nicht dein Ernst, Adir?!", erwiderte Seigi und auch andere Hikari sahen ihn bestürzt an, der daraufhin nur eine aufgebende Pose machte und auf das Regelbuch deutete.
"Wenigstens wissen wir dann, wer der momentane König ist." Seigi antwortete genervt, dass es doch vollkommen egal sei ... doch ansonsten verblieben die Hikari erst einmal ruhig, jeder mit seinen eigenen pessimistischen Gedanken beschäftigt.
"Vielleicht sollten wir mit dem anfangen, was wir tun können", bemerkte Mary, nachdenklich ihre hübsche Stirn in Falten legend.
"Und das wäre?"
"Den Überlebenden ... eh Shagi...nai? ... zum Regime-Führer ernennen."
"Unmöglich! Der Junge ist erst sieben! Er hat seine Ausbildung noch nicht einmal abgeschlossen." Mary war nicht in der Stimmung, freundlich zu bleiben und wirbelte mit wehenden Haaren herum zu ihrem Mithikari:
"Ach, hast du etwa eine bessere Idee, wie wir die Wächter erst einmal ablenken können?!"
"Von unseren Fehltritten wohlbemerkt!" Einige Augen huschten wieder zu Adir, der so tat, als würde er sie nicht sehen.
"Ja, vielleicht", gab Mary zu, die allerdings immer auf Adirs Seite gewesen war:
"Aber ich meinte eigentlich von ihrer Trauer. Wir sollten ihnen etwas geben, das sie auf andere Gedanken bringt."
"Ich wiederhole: Der Junge hat seine Ausbildung nicht abgeschlossen. Es wäre eine Schande, einen nicht-ausgebildeten Hikari zum Regime-Führer zu ernennen!"
"Das hier ist alles eine vermaledeite Schande!" Marys Stimme fegte über alle hinweg und brachte die aufgeregten Hikari zum Schweigen. Einige Minuten verstrichen, in denen Mary sich brodelnd wieder setzte und alle, doch besonders ihren direkten Widersacher, mit giftigen Blicken bedachte - und dann scheinbar auch gewann:
"Wo befindet sich der Junge momentan?" Adir antwortete eher widerwillig, denn er mochte die Idee Marys nicht, auch wenn er die Logik dahinter schon verstand:
"Im Sanctuarian bei seiner Schwester. Sie befindet sich im Koma ..."
"Nein, sie ist tot." Alle wirbelten herum und erblickten Hizashi, der gerade die Flügeltür hinter sich schloss:
"Tot?", wiederholte Adir misstrauisch, Hizashi dabei zusehend, wie dieser die Treppenstufen hochstieg und seinen Platz einnahm:
"Aber als ich die beiden fand, lebte das Mädchen noch. Shaginai hat sie mit seiner Lichtmagie am Leben gehalten ..."
"Ja, in der Tat, das ist richtig. Aber ihre Überlebenschancen waren zu gering, weshalb ich veranlasst habe, die Maschine auszuschalten und sie somit nicht künstlich am Leben zu erhalten."
"Du hast WAS?!" Hizashi blieb irritiert stehen, kurz bevor er seinen Platz eingenommen hatte, und fixierte nun Adir, der kurz davor war, sich aufzurichten:
"Du hast Shaginai das einzige Familienmitglied genommen!?"
"Wieso "einziges"? Ich dachte, seinem Vater wäre es als Einzigem gelungen, zu fliehen?"
"Er hat sich umgebracht", informierte ein anderer Hikari Hizashi:
"Er ist nicht in den Tempel zurückgekehrt, sondern hat in der Menschenwelt Suizid begangen."
"Auch das noch, als ob wir nicht genug Probleme hätten ...", seufzte Hizashi, schien aber nicht sonderlich über die Information überrascht oder betrübt zu sein.
"Hat Shaginai dem zugestimmt?", fragte Adir mit beißender Stimme, weiterhin Hizashi anblickend, welcher seinen Stuhl nun erreicht hatte, sich aber nicht setzte, sondern mit seinen Fingern die Verzierungen seiner Stuhllehne nachfuhr:
"Ich habe ihn nicht gefragt, Adir-san. Das muss ich auch nicht. Eine solche Entscheidung unterliegt immer noch meiner Befehlsgewalt und ich hielt es nicht für angemessen, Ressourcen an einen Körper zu verschwenden, dessen Hirnplatte entzweigeteilt war." Adir antwortete nicht sofort, sondern durchbohrte Hizashi mit einem finsteren Blick; einem Blick, den man wahrlich selten von Adir gesehen hatte, weshalb es seinen Sitznachbarn kalt den Rücken herunterlief. Doch Hizashi blieb unbeeindruckt, setzte sich und faltete seine Hände, bereit, Adir seine Fehler anzukreiden, doch dieser hatte sich entschlossen erhoben:
"Wo ist Shaginai jetzt?"
"Er ist wohl in Betreuung unseres lieben Psychologen."
"Wenigstens einer, der Empathie besitzt", konnte Adir nicht zurückhalten, doch die Antwort Hizashis hörte er nicht mehr, denn die Flügeltür fiel schon hinter ihm ins Schloss:
"Zu viel Empathie trübt die Objektivität, Adir-san."