Kapitel 104 - Die Lichtkinder
Green schlief.
Zusammengerollt auf dem leuchtenden Untergrund lag sie einfach da mit geschlossenen Augen. Ohne Schmerz, ohne Leid, ohne Albträume. Sie atmete nicht, doch das musste sie auch nicht tun; ihr Glöckchen atmete für sie. Es pulsierte sachte in einem goldenen Licht über ihr schwebend; goldener und heller, als es jemals zuvor geleuchtet hatte. Sie war nicht alleine: Light saß bei ihr, betrachtete die Schlafende mit ernsten, weißen Augen. Erschöpft wirkte der uralte Lichtgott, erschöpfter als bei irgendeinem anderen Ritual vor diesem.
Er hatte mehr gezeigt, mehr erlebt, mehr gefühlt als er es sonst tat, als er es sonst zuließ.
Würde wieder alles umsonst sein?
"Ich denke, wir müssen uns nicht streiten, lieber Bruder." Lights Augen blieben auf Greens Gesicht, obwohl er Hikaru natürlich gehört hatte. Er wusste, dass sie ebenfalls da war. Sie sahen sich in der Regel nur einmal pro Generation - nur einmal traten sie sich gegenüber, cirka alle dreißig Jahre und er freute sich nie darauf.
"Die Entscheidung ist offenkundig." Light schloss müde die Augen, als könnte er so Hikaru dazu bringen, nicht mit ihm zu sprechen, aber Hikaru fuhr fort, achtete nicht auf das Resignieren ihres Bruders.
"Das ist mein Glöckchen."
Langsam und ruhig hob Light den Kopf und sah Hikarus Geist auf der anderen Seite Greens stehen, ihn grüßend mit schmalen Lippen anlächelnd, anstatt ihre Nachfahrin anzusehen, obwohl es doch um ihr Glöckchen ging.
"Sei nicht traurig, Light, du hast das letzte Glöckchen bekommen... und welch großartige Taten dessen Trägerin vollbracht hat mit deinem Licht. So viele Dämonen hat sie auslöschen können." Weiterhin antwortete Light nicht, aber seine Stirn wölbte sich leicht, als würde ihn etwas an Hikarus Erscheinung irritieren. Es war nicht ihre Stimme, die er mit seinen Ohren hören konnte anstatt mit seinem Geist und seinem Herzen, auch wenn diese alles andere als natürlich klang. Hikaru hatte sich selbst "repariert", als sie die erste Regime-Führerin geworden war und hatte sich eine Stimme gegeben, doch sie klang künstlich, würde niemals natürlich klingen können... Light hatte nie gefunden, dass Hikaru aussah wie eine Puppe, aber nun klang sie wie eine. Wie eine sprechende, aufziehbare Puppe, die die Menschen herstellten - ein Vergleich, für den sie ihn hasste - und er würde es vorziehen, wenn er ihre richtige Stimme mit dem Herzen spüren könnte, aber sie musste ihr Können beweisen. Beweisen, dass sie besser war als deren Mutter, die ihr keine Stimme hatte geben können.
"Dass du es nicht leid bist, immer und immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen... Niemand hört dir zu, Light, das muss dir doch bewusst sein? Die meisten unserer Nachfahren interessieren sich doch nicht für deine Worte. Aeterniem ist Geschichte in ihren Büchern. Die ferne Vergangenheit..." Nein, es war nicht ihre Stimme, die ihn irritierte. Es war etwas an ihrem Äußeren... Sie war... fester?
"... in der wir gezwungen waren, eine Koexistenz mit den Elementlosen zu führen... Unsere Nachkommen verstehen, dass das ein Irrglaube war. Sogar die, die dein Licht benutzen. Auch sie löschen die Elementlosen aus..." Ihr Lächeln war wieder verschwunden, aber ihre Mundwinkel zuckten ein wenig, als würde das Lächeln zurückkehren wollen.
"... tut dir das weh, Bruderherz? Weinst du jedes Mal, wenn dein Licht einen Elementlosen tötet?" Hikaru sah nun zum ersten Mal auf Green herab, zu welcher sie sich langsam herunterbeugte.
"Sie hören dein Weinen aber nicht. Dein Bitten darum aufzuhören. Sie hören es genauso wenig wie deine alten Geschichten. Wenn sie aufwachen und deine oder meine Gaben erhalten... haben sie die Lügen alle vergessen und besinnen sich auf ihre Pflicht. Sie sind gute, artige Kinder, unsere Nachkommen." Die kleinen Finger Hikarus streckten sich nach dem Glöckchen Greens aus und Light betrachtete die Finger wie schon so viele Male davor. Wenn Hikarus Finger das Glöckchen berührten - dessen schwarze Flügel Hikaru gar nicht aufzufallen schienen - dann würde das Licht der Hikari erkalten. Ihr Licht wäre zielsicherer, schneller und überaus effizient. Eine perfekte Tötungswaffe, die sich mit jedem toten Dämon verstärken würde. Lights Berührung und sein Beistand wärmte das Licht: Er schenkte dem Lichterben einen Funken seiner Gabe des Lebens, was ihre Heilfertigkeiten immens vergrößerte und er beschützte sie... und leider konnte er, genau wie Hikaru es gesagt hatte, nicht verhindern, dass sein Licht zum Töten benutzt wurde.
Sie stritten sich eigentlich nie um "ihren Erben".
In den letzten Äoen war es sehr friedlich zwischen ihnen gewesen. Stagnierende Kälte. Kaum ein ausgetauschtes Wort, wenn sie sich gegenüber standen. Hikaru redete viel, Light versuchte sie mit seinem Schweigen vom Sprechen abzuhalten. Immer wieder erzählte Light die Geschichte des Anfangs, zeigte den Nachkommen ihres Elementes die Wahrheit und Hikaru hatte leider Recht - die meisten wollten nicht hören. Es war sehr lange her, dass er auf Ohren gestoßen war, die ihm überhaupt hatten lauschen wollen. Viele vertrugen die Wahrheit nicht. Viele wollten sie auch nicht... und mit der Zeit war Lights Wille, es zu versuchen... abgestumpft. Wenn Hikaru die Glöckchen berührte, war Light froh. Dann musste er Dämonen nicht schreien hören. Dann hatte er sich zu Youma legen können und hatte mit ihm geruht.
White hatte alle seine letzten Hoffnungen getötet. Sein Licht hatte unzählige Dämonen in den Tod gerissen; so viel Leid gebracht, so viel Angst verbreitet. Er hatte das arme, kleine Mädchen begleiten und beschützen wollen, das so ängstlich in die Weihe hineingeworfen worden war, in Pflichten, die viel zu schwer für es waren. Hikaru hatte ihn gelassen, aber sie hatte gegrinst, als hätte sie gewusst... als hätte sie gewusst... dass dieses arme Mädchen Light das Herz zerreißen würde.
Ich will verstehen!
Light sah auf Green und nicht auf die kleinen Fingerspitzen, die so kurz vor dem Glöckchen waren.
Ich will die Wahrheit wissen!
"Was tust du da, Light?"
Da war kein Lachen und kein Hohn in Hikarus Stimme und als Light seiner Schwester in die Augen sah, sah er auch nur Kälte - und eine leichte Verwunderung - in ihren weißen Augen, als er ihr Handgelenk gepackt hatte.
"Ich glaube nicht, dass sie die deine ist." Hikaru hob eine Augenbraue. Ob sie sich darüber wunderte, seine Stimme zu hören? Es fühlte sich ungewohnt an, sie zu benutzen.
"Woher kommt diese plötzliche Entschlossenheit, mein lieber Bruder?" Sie versuchte nicht, sich aus seinem Griff zu befreien: Ihre kleine Hand zuckte nicht einmal, aber sie fühlte sich kalt an in Lights Griff. So kalt wie ihr Licht.
"Ah... ich verstehe..." Die Augenlider Hikarus senkten sich abschätzig ein wenig.
"Es ist natürlich mal wieder wegen deinen Gören. Es muss dich sentimental gemacht haben, als du das weibliche Gör durch die Augen dieser Lichterbin gesehen hast und das männliche von ihnen wurde ebenfalls von seinem Zeitbann befreit. Wecken sie etwa deine Entschlossenheit? Wie niedlich." Light ging auf ihre Provokation nicht ein, auch wenn sie teilweise richtig lag. Doch es war ihm gleichgültig. Etwas war in Bewegung geraten: Zahnräder, die sich seit Äonen nicht mehr bewegt hatten, hatten langsam zu drehen begonnen - er hatte genug geschlafen, war genug verzweifelt.
"Was bezweckst du mit ihr?" Light deutete mit den Augen auf Green, aber nun war es Hikaru, die nicht antwortete. Sie folgte seinem Blick nicht einmal, als ginge es hier gar nicht um die Hikari unter ihnen.
"Als sie und ich verbunden waren, habe ich eine Erinnerung gesehen, die nicht die ihre war." Lights Griff festigte sich und dort, wo das warme und kalte Licht sich berührten, vibrierte es, aber die beiden Lichtkinder achteten nicht darauf. Sie starrten sich in die weißen Augen.
"Ich habe eine Erinnerung gesehen, die nur von dir stammen kann, Hikaru."
"Und...?", wisperte Hikaru langsam und deutlich, sich Lights Gesicht nähernd.
"... hat dir gefallen, was du gesehen hast?" Ihre Nasen berührten sich, ihre weißen Haare vermischten sich, als würden sie eins werden.
"Mir hat es jedenfalls sehr gefallen, Furcht in diesem hässlichen Gesicht zu sehen, als ich ihn in meinem Licht badete." Ihre Augen verengten sich und ihre Lippen formten ein zufriedenes Lächeln.
"Es war sehr unterhaltsam seine Seele langsam zu töten." Light erbleichte, aber das hinderte Hikaru gewiss nicht daran fortzufahren:
"Er wusste gar nicht, was mit ihm geschah; wusste nicht, dass ich mit meinem Licht den Tod in seine Seele pflanzte. Ich habe den Gedanken geliebt, dass er langsam dahinsiecht... und dass ich ihn jederzeit töten könnte... Jedes Trietzen, jedes überhebliche Grinsen hatte keine Wirkung mehr, denn ich wusste, ich könnte seinen ach so wertvollen Morgenstern töten, wann auch immer ich es wollte. Es war ein herrlicher Gedanke. Überaus unterhaltsam. Ich hätte es gerne länger genossen, aber mein Licht war effektiver als ich... annahm." Hikarus Lächeln wurde breiter:
"Ich wollte ihn dir schon immer zeigen, lieber Bruder... den Moment, wo der Krieg begann." Light wollte einfach nur schweigen. Es ertragen und schweigen. Aber er konnte nicht.
"Ich schäme mich, dich meine Schwester nennen zu müssen." Es überraschte ihn zu sehen, so deutlich zu sehen, dass ihr das nicht gefiel. Hikaru lächelte nicht mehr und ihre Augen schienen sich nicht entscheiden zu können, welches Gefühl sie zeigen sollten - dieser Gefühlswirbel wahrte nur einen kurzen Moment, doch Light hatte es gesehen. Er hatte sie getroffen - und das wunderte ihn.
"Woher kommt nur dein grenzenloses Mitgefühl für diese Unwesen und ihren Herrscher? Ich habe mir diese Frage schon so oft gestellt und nie eine Antwort erhalten, die dein Verhalten erklären könnte. Familie war einst ein Begriff, der dir wichtig war." Light runzelte finster die Stirn, aber er sagte nichts, ließ Hikaru fortfahren mit ihrer mechanischen Stimme und war überrascht, ihre echte Stimme in seinem Kopf zu hören - zum ersten Mal seit so vielen Jahren.
"Diese Halbkinder sind nicht deine Familie. Ich bin deine Familie. Wir hätten zusammen Kinder schaffen können. Schöne Kinder, mit strahlenden Augen... Ich wollte das nicht alleine tun, weißt du... Light... ich wollte nicht alleine herrschen, nicht alleine Mutter sein. Mein lieber Bruder..." Sie hob die Hand, während sie diese Worte langsam, sehr langsam sagte und deutlich hörte Light raus, wie sie um diese Worte rang und er sah wie ihre Hand zitterte, als sie sie zu seinem Gesicht erhob.
"... ich wollte dich immer an meiner Seite..." Light wollte das nicht hören - und von ihr berührt werden wollte er ebenfalls nicht, weshalb er sich zurückzog, ehe ihre kleinen Finger sein Gesicht erreichten.
Hikarus Gesicht erstarrte und wieder waren da für einen kurzen Moment so viele Gefühle und es war deutlich, dass es ihr schwerfiel, sie zu verstecken. Er hatte sie mit ihrem Zurückweichen verletzt und es überraschte ihn selbst... dass es ihm überhaupt nicht leidtat.
"Das hätte ich niemals getan." Hikarus Gesicht wurde wieder ruhig, obwohl eine Spur Zorn aus Lights Stimme herauszuhören war. Sie betrachtete Lights Gesicht; seine Haare, die Lippen, die sich gerade bewegt hatten und die Augen, die wie ihre waren und doch so anders.
"Unsere Wächter haben dir einst etwas bedeutet. Einst wolltest du ebenfalls nicht, dass sie sterben."
"Das will ich auch immer noch nicht."
"Warum stellst du dich dann gegen mich? Warum willst du die Elementlosen beschützen? Du kennst ihre unwahre, doch zutiefst verdorbene Welt, die ihre Seelen widerspiegelt; das Unheil, das in ihnen haust. Kannst du diese Unwesen wirklich verteidigen? Willst du dich wirklich für sie gegen das Wächtertum stellen? Ich habe immer gesagt, dass sie eine Gefahr ausmachen, doch du wolltest nie hören. Haben die vergangenen Äonen nicht gezeigt, dass meine Worte wahr sind? Du hast es auch erlebt. Du hast es ebenfalls gespürt. Die große Angst, die sie schüren, den Tod, den sie bringen", antwortete Hikaru ernst, ohne auch nur den Hauch eines Lächelns.
"Wir sind auch sehr talentiert darin, Angst und Tod zu bringen..." Hikaru fiel ihm ins Wort:
"Das müssen wir nicht mehr lange. Die Pflicht, die unsere Wächter und wir so lange verfolgt haben, ist bald erfüllt." Lights Augen weiteten sich verwundert, aber sie wurden schnell ernst, als Hikaru fortfuhr.
"Light... mein lieber, fehlgeleiteter Bruder." Dieses Mal war Light nicht schnell genug, um ihrer Hand zu entgehen. Sie legte sich absolut ohne Zögern an seine Wange. Eisig war sie... die Hand, die seine Wange entlang strich, als müsste sie ihn trösten.
"Ich hätte die Halbkinder niemals in unserem Reich dulden dürfen. Deine Fehlleitung ist mein Fehler." Light wollte Hikarus Hand brüsk wegschieben und schon antworten, dass seine Einstellung gewiss nichts mit Silence und Youma zu tun hatte, als Hikaru ihm die Sprache verschlug.
"Du kannst dich immer noch umentscheiden. Ich würde dich gerne an meiner Seite zu haben, wenn der letzte Kampf kommt." Das, was Light die Sprache verschlug, war nicht allein Hikarus Vorschlag. Es war genauso sehr Lights sofortige Antwort, die aus seinem Herzen stammte:
"Niemals." Hikarus Ernsthaftigkeit verschwand und zurück blieb ihr monotones Gesicht, als sie sich mit einem sachten Klingeln aufrichtete und ihre Stimme wieder aus seinen Gedanken und seinem Herzen verschwand, um stattdessen mit den Ohren gehört zu werden:
"Ich habe es geahnt." Sie schüttelte sich kurz, als würde etwas sie anwidern:
"Liebe ist so ein dummes, überflüssiges Gefühl... Ist es nicht passend, dass der Widersacher..." Sie meinte den namenlosen Dämonenherrscher. Am liebsten vermied sie es, von ihm zu sprechen, doch wenn sie es tat, dann nannte sie ihn niemals bei seinem Titel, als erkenne sie ihn nicht als den Herrscher der Dämonen an - er war stets "der Widersacher", als wäre er ihr ganz persönlicher Erzfeind, der keine andere Position hatte als diese.
"... von dem gleichen Gefühl gefällt wurde wie unsere Mutter? In beiden Fällen waren sie dumm und verloren ihren Kopf und die Kontrolle über ihre Macht, weil sie verliebt waren. Man kann es Gerechtigkeit nennen... göttliche Gerechtigkeit... in gewisser Maßen habe ich doch unsere Mutter gerächt, ihr armes, gebrochenes Herz."
"Ich denke, das würde sie anders sehen." Ein ironisches, bitteres Lächeln zuckte über das Gesicht seiner Schwester.
"Wie schade, dass wir sie nicht mehr fragen können, nicht wahr? Es gibt nur uns. Nur uns beide... die Kinder des Lichts." Light richtete sich auf, während Hikaru fortfuhr:
"... die sich noch Äoen später um Glöckchen streiten." Light schloss sich Hikarus Lächeln nicht an. Er blieb ernst und seine Hautfarbe war immer noch gänzlich bleich von den Worten Hikarus. Wie sie sich daran ergötzt hatte, dass sie ein Leben in der Hand hielt, widerte ihn an.
"Aber dieser Streit ist ein anderer, nicht, Hikaru?" Hikaru, die eben noch Kreise um ihn und Green gezogen hatte, blieb stehen.
"Du hast bereits Einfluss auf Green ausgeübt." Nun war es Hikaru, die schwieg.
"Du brauchst es nicht zu leugnen, denn ich weiß es - ansonsten hätte ich die Erinnerung nicht sehen können." Zum ersten Mal sah Hikaru auf Green herab und schwieg eine Weile, als müsste sie ihre weit entfernte Nachfahrin genauestens betrachten.
"Was hast du vor, Hikaru?" Sie antwortete natürlich nicht auf diese Frage.
"Wozu und wie hast du eine Verbindung mit ihr aufgebaut? Nur um mein Herz mit dieser Erinnerung zu beschweren? Das glaube ich dir nicht." Light folgte ihren Bewegungen; ihren kleinen Armen, die sich auf ihren Rücken legten und den langen Wimpern, die sich senkten.
"Im Gegensatz zu dir habe ich ein sehr artiges und fähiges Kind großgezogen", flüsterte sie.
"... einen Sohn, der mich nicht enttäuschen wird. Einen Sohn, der seine Mutter stolz machen wird und der seine Pflichten kennt. Er hat Fehler begangen... und es vermocht, sie selbst zu beheben, ohne dass ich ihn bestrafen musste." Light versteifte sich bei diesen Worten und er konnte seine Stimme wieder nicht aufhalten: seine Zunge war schneller als seine Zurückhaltung.
"Du hast es nicht verdient, dich selbst eine Mutter nennen zu dürfen."
"Ich denke, du bist der letzte, von dem ich Erziehungsratschläge entgegennehme", erwiderte Hikaru mit leicht gehobenen Augenbrauen.
"Und nun sei brav und überlasse mir dieses Glöckchen. Es gehört mir ohnehin. Unsere Gefühle ähneln sich, unsere Herzen sind eins... gewissermaßen ist sie meine Tochter." Sie lächelte auf Green herab.
"Wir werden Großes zusammen vollbringen. Sie wird Zeuge sein, wie die falsche Welt und alle ihre verrotteten Wesen ohne Element ihr Ende finden."
Die beiden Lichtkinder sahen gleichzeitig Greens Glöckchen an.
Light schluckte. Hikaru lächelte.
"Es gehört mir ohnehin schon!"
"Niemals!"
Alle Hikari im Jenseits spürten den Moment, als Hikaru und Light gleichzeitig und mit ausgestreckten Fingern nach Greens Glöckchen griffen, aber keiner von ihnen spürte es so enorm, so zerreißend, wie Inceres. Er schrie so spitz und kreischend auf, dass das gesamte Jenseits bebte: sein Schrei und sein Schmerz hallte wie ein Echo in jedem Glöckchen und in jedem Hikariherzen nach. Das Glas in der Bücherkathedrale, wo Inceres’ geliebte Bücher gelagert waren, hielt seinem Schrei nicht stand; die bunten Gläser zersprangen in tausend Scherben und rissen die Büchertürme herunter in einem tosenden Wirbel aus Geschrei, Schmerz und Scherben. Ecui und Acui schrien den Namen ihres Gebieters, doch auch sie wurden von der Druckwelle weggeschleudert und zu Boden geworfen, als wären sie auch nur Bücher.
Inceres biss die Zähne zusammen, fletschte sie wie ein Untier, doch er konnte den Schrei nicht zurückhalten, ihn unmöglich unterdrücken; er war zu gewaltig, der Schmerz zu groß! Nichts konnte ihn lindern, nichts konnte ihn aufhalten. Er musste zusammen mit Green schreien. Er musste zusammen mit ihr leiden.
Halt durch.
Oh, bitte halt durch.
Ich brauche dich, mein Schmetterling, bitte geh nicht kaputt.
Jeder Schrei, fühlte er sich auch noch so unendlich an, verebbte irgendwann. Irgendwann hatte das Sprachorgan keine Kraft mehr zum Schreien - und genau wie Inceres im Jenseits zu Boden ging, fiel auch Green, gebadet in leuchtende Scherben, auf den Boden des Turms. Ecui und Acui rannten zu Inceres, hoben ihn auf und versuchten ihn mit ihren Stimmen zu erreichen, aber es war vergebens. Green half niemand. Sie lag auf dem Boden des Turms, umgeben von tausend bläulich funkelnden Scherben und mit gebrochenen Knochen, die sich alle von selbst heilten, gebadet im Sonnenlicht.
Mittlerweile war das kleine Zimmer Blues recht gut eingerichtet; eingerichtet worden. Mit einem Schreibtisch, einem Bett, einem vollen Bücherregal - wo Blue die Hälfte der Bücher erst einmal aussortieren musste, weil er solch dramatische Fiktion nicht las - nicht einmal für Research - und natürlich einem Kleiderschrank, in welchem eigenartigerweise ein Smoking hing, welcher sehr teuer wirkte, und wofür Blue nicht wusste, zu welcher Begebenheit er ihn benötigen sollte.
Es war frühmorgens in Paris. Halb fünf. Dennoch war Blue wach, wie an so vielen anderen Tagen. Er schlief nur bis um zwei oder drei Uhr, dann riss ihn ein Albtraum empor und der Schlaf blieb ihm fern. Stattdessen griff er sich ein Buch, wie auch an diesem Morgen, an welchem er das Fenster hinter seinem Bett geöffnet hatte, um von den Geräuschen der Stadt beim Lesen begleitet zu werden. Wenn man nicht zu genau hinhörte, dann waren es dieselben Geräusche wie in jeder anderen Metropole... genau wie in Tok---
Blue senkte etwas abrupt sein Buch und seine Augen fixierten sofort den Himmel, der immer noch tiefschwarz war an diesem November-Morgen. Was... war das? Er hatte das Gefühl, als würde er jemanden schreien hören. Niemanden von der Straße, niemanden aus Paris. Jemand... anderen.
Der Halbdämon musste schlucken.
Verfolgte ihn sein Traum? Hörte er deswegen Green schreien?
Er legte das Buch zur Seite und richtete sich in seinem Bett auf, um das Fenster dahinter zu schließen - genau im richtigen Moment um zu hören, dass sich vor seiner Zimmertür etwas regte. Schritte, aber keine Schritte, die zu ihm wollten. Feullé und Nocturn wechselten sich ab, was die Position der ersten Person in der Küche anbelangte, aber eigentlich war es für beide zu früh. War es... Youma? Die Schritte klangen wie seine, aber das war sehr ungewöhnlich: Er erwachte genau wie Blue in der Nacht und ging dann aber wieder schlafen, um erst zwischen acht Uhr morgens und zehn Uhr morgens aufzustehen. Warum war er bereits wach?
Es war unmöglich für Blue seine Angewohnheiten - nein, sein Training - abzulegen, welche Ri-Il ihm so lange indoktriniert hatte. Sofort stand Blue langsam und vorsichtig auf und wollte gerade lautlos seine Zimmertür öffnen, als er noch ein Paar Füße mehr hörte und er eilig die Hände von der Tür nahm. Nocturn. Unverkennbar. Seine Schritte hörte man immer. Blue hatte noch nie jemanden gehört, dessen Schritte so charakteristisch waren wie Nocturns. Er schien... immer zu tanzen. Er setzte nie einfach nur einen Fuß vor den anderen. Er ging zur Stube, Youma hinterher...? Und stoppte, an der Ecke des Ganges, die in die Stube überging.
Das hatte Blue richtig erkannt - Nocturn hielt inne, obwohl er schon den Mund geöffnet hatte und die neckischen Worte ihm bereits auf der Zunge lagen. Doch er verschluckte sie alle, als er Youma an der Fensterfront stehen sah. Er wusste nicht was, aber... - aber etwas war anders an dem stets grimmigen Kronprinzen.
Eben hatte Nocturn noch ein Grinsen auf dem Gesicht getragen, nun verengten sich aber seine Augen in Skepsis, nachdem er Youma, der ihn nicht bemerkt hatte, erstmal nur verblüfft angestarrt hatte. Was war es? Sein griesgrämiger Mitbewohner, der viel zu früh aus seinem Turm gestiegen war, sah nur aus dem Fenster, tat nichts besonders außer seinen Gedanken so sehr nachzuhängen, dass er blind war für seine Umgebung - was für eine Schande für seinen Lehrmeister, der da stand und ihn so einfach umbringen könnte. Aber Nocturn tötete ihn nicht - das Skript schrieb es ja anders herum vor - nun wollte er dem Anderssein des Prinzen auf den Grund gehen.
"Heute ist endlich der finale Tag von Filles Weihe!", posaunte Nocturn mit ausladenden Armen und zurückgekehrtem Grinsen, welches ihm auch nicht abhandenkam, als Youma sich abrupt zu ihm herumdrehte.
"Ich weiß." Auch das ließ Nocturns Grinsen nicht verblassen, obwohl er sich doch ein wenig über diese Antwort wunderte - und auch nicht so ganz daran glaubte, dass Youma da die Wahrheit sprach.
"Ich habe es spüren können." Er wandte sich mit ernstem Gesicht wieder dem Fenster zu, aber das hielt Nocturn nicht auf:
"Spüren? Du?"
"Ich bin sehr sensibel was Auren anbelangt." Nocturns Gesicht nahm einen überaus zweifelnden Gesichtsausdruck an und Youma errötete wütend, als er es im Spiegelbild der Scheibe sah, doch Nocturn kam ihm zuvor:
"Du bist sowas von dermaßen unsensibel für dein Umfeld, erlaube mir also daran zu zweifeln, Prinzchen. Ich stand da..." Er zeigte auf den Gang.
"... zwei Minuten lang. Hast du mich bemerkt?" Youma öffnete den Mund, aber wieder fiel Nocturn ihm ins Wort:
"Neeeein, hast du nicht. Du hast mich bemerkt, als ich mich in Bewegung gesetzt habe. Hätte ich dich töten wollen, wäre das aber viel zu spät gewesen. Dein Lehrmeister - alias ich - ist zutiefst enttäuscht!"
"Ich bin sensibel für Auren und Magieveränderungen", zischte Youma mit zurückgehaltener Wut, aber Nocturn war immer noch nicht überzeugt:
"Solange du mir das nicht in einem Kampf bewiesen hast, werde ich das anzweifeln." Youma sah Nocturns Spiegelung im Fenster an.
"Aber die Hikari wird heute geweiht, nicht wahr? Argh, egal, ich muss mich dir nicht beweisen, das habe ich gar nicht nötig."
"Also gewissermaßen hast du das sehr wohl, wenn man bedenkt, dass du mein Schüler..."
"Urgh!" Youma wirbelte zu ihm herum:
"Bist du gekommen, um mich zu nerven?! Stehst du hier deswegen zwei Minuten und starrst mich an um fünf Uhr morgens? Um meine Nerven zu strapazieren? Kannst du damit nicht wenigstens bis nach dem Frühstück warten?!" Youma wusste genau, dass er all dies nicht sagen sollte, denn es war alles ein Kompliment für Nocturn: Musik in seinen Ohren, Futter für sein gieriges Chaosherz. Aber tatsächlich verschwand das Grinsen des Flötenspielers und er sah Youma für einige Sekunden recht intensiv an. So sehr, dass Youmas Wut abflaute, weil er sich zu sehr wunderte - so sehr, dass es ihn verunsicherte.
"Was ist?"
"Du bist nicht der einzige, der sensibel ist für Auren", antwortete Nocturn außergewöhnlich ernst und Youma, immer noch verunsichert von Nocturns intensivem Blick, antwortete:
"Ich bin es wirklich. Ich habe die letzten 12 Tage die Magieveränderungen im Reich der Wächter spüren können." Etwas in Nocturns Gesicht sagte ihm, dass er anfing ihm zu glauben.
"Du kannst also immer spüren, wenn eine Weihe stattfindet? War das bei White auch der Fall?" Natürlich nutzte er sofort wieder die Gelegenheit, um von White zu sprechen und Youma war versucht Nocturn zu antworten, dass er das natürlich nicht getan hatte, weil er da noch in einem Zeitbann eingeschlossen gewesen war, aber er schluckte diese Antwort herunter. Es war so schwer immer zu schlucken und zu lügen... er war lügen nicht gewohnt. Er und Silence hatten nie Geheimnisse gehabt, hatten das Lügen nicht nötig gehabt... Aber Nocturn war definitiv die letzte Person in dieser schrecklich verpesteten Welt, der er die Wahrheit über seine Herkunft erzählen würde, weshalb er notgedrungen schwieg. Aber eine Charaktereigenschaft Nocturns kam ihm da sehr gelegen: Er verlor, beziehungsweise wechselte sehr schnell den Faden und scheinbar lenkte ihn schon wieder etwas an Youmas Äußerem ab.
"Du fängst an mich mit deinem Starren zu irritieren."
"Etwas ist heute Nacht anders an dir." Youma errötete - dieses Mal vor Scham. Er hatte seine Haare nicht gekämmt...? Es war fünf Uhr morgens!
"Es ist deine Aura." Endlich verstand Youma, was Nocturn meinte und er gab ihm die Erklärung ohne über die Konsequenz nachzudenken:
"Das liegt wohl daran, dass wir Vollmond haben." Nocturn hörte auf, ihn anzustarren - stattdessen blinzelte er nun verwirrt, ehe seine Augen sich wieder interessiert verengten.
"Du bist ja wohl kein Werwolf, der sich bei Vollmond verwandelt." Nun war es Youma, der ihn verwirrt anblinzelte.
"Nein, ich bin... kein Wärwolf..." Hatte er das richtig ausgesprochen?
"... sondern ein Yami. Zur Hälfte. Du weißt, die Hikari genießen es in die Sonne zu blicken? Sie entspannen sich dabei und tanken neue Energie? Nun..." Youma sah, immer noch mit roten Wangen, zum Mond hinauf, gefolgt von Nocturns Augen, die immer größer wurden.
"... wir Yami genießen es, im Mondlicht zu baden. Wir sind dann, mehr den je, im Einklang mit unserem Element und erholen uns, regenerieren uns, fühlen uns wohl. In einer Vollmondnacht benötige ich keinen Schlaf." Youma schloss die Augen.
"In einer Vollmondnacht bin ich wacher als in irgendeiner anderen Nacht."
"Das ist so schön. Das ist so so so wunderschön." Überrascht diese Antwort zu hören sah Youma zu Nocturn, der ihn begeistert ansah und seine Röte nahm zu - aber als er gerade etwas Ähnliches wie ein "Danke" sagen wollte, ließen ihn Nocturns Worte erbleichen:
"Dieses Element ist so verschwendet an einen so biederen und langweiligen Dämon wie dich! Ich wollte dich an keinem anderen Moment so gerne töten wie jetzt, um dein Element aus dir herauszureißen und wenn es nur ist, um es von dir zu befreien, denn es ist so absolut, absolut an dich verschwendet, diese unglaubliche Schönheit, so verschwendet, so verschwendet! Welch Kunst könnte man damit erschaffen, wenn man Kreativität besäße! Hach, du hast es nicht verdient, Prinz der Dunkelheit zu sein! Ich hasse dich so sehr!" Youma, absolut erstarrt, wusste nicht, ob das der Moment war, wo er Abstand nehmen sollte oder sich lieber gleich wegteleportieren sollte. Er wusste wirklich nicht, was er machen sollte. Er wusste nicht einmal, ob er das wirklich gehört hatte. Nocturn sah ihn immer noch mit strahlenden, nein, glühenden Augen an, die... glasig zu sein schienen? Würde er anfangen zu weinen, während er ihn bedrohte?!
Er war wahnsinnig.
Er war sowas von wahnsinnig.
Warum hatte Youma überhaupt irgendetwas gesagt?
"Nocturn..." Youma sprach vorsichtig und hüstelte auch:
"... wir wollten über die Weihe sprechen."
"Ah ja die Weihe, ja." Das sagte er zwar, aber mit seinen Gedanken war er offensichtlich noch bei Youmas Element und dabei sich vorzustellen, wie er ihn tötete:
"Und was passiert bei Neumond? Müsst ihr dann schlafen? Wie viele von euch gibt es eigentlich? Es muss doch jemanden geben, der so ein schönes Element zu seiner wahren Schönheit bringen kann... Was ICH mit deinem Element vollbringen könnte! Kunst! Größte Kunst! Und was machst du?!" Wo hatte Youma sich da hineingeritten.
"Vergiss mein Element."
"Oh, das ist schwer. Das ist jetzt wirklich, wirklich schwer. Clair de la lune! Mon dieu... Quelle Horreur et três beaux..."
"Wir müssen über Green reden", herrschte Youma Nocturn an und packte auch seinen dürren Arm, um ihn aus seinem Selbstgespräch zu wecken, aber das war die falsche Entscheidung - ohne, dass sich Nocturns vertiefter Gesichtsausdruck veränderte, schnipste er Youmas Hand weg und zischte deutlich und drohend:
"Nicht anfassen, ansonsten bist du wirklich tot. Skripte können umgeschrieben werden, ich denke, das weißt du." Youma war einfach nur noch verwirrt von Nocturns Hin und Her. In einem Moment grinste und lachte er, im anderen war er ernst, dann warf er Todesdrohungen um sich, die mehr als bloße Rhetorik waren mit einer Stimme, die vor Begeisterung zitterte und dann klang seine Stimme wieder als würde sie aus dem Grabe kommen. Nocturns Gefühlsregungen zu folgen war enorm schwierig und machte Youma schwindelig.
"Wir müssen über Green reden", wiederholte Youma, obwohl er sich am liebsten in sein Zimmer zurückgezogen hätte. Aber Lacrimosa hatte recht - sie mussten anfangen zusammenzuarbeiten. Aber das war so schwer. Einem Partner musste man vertrauen. Doch wie konnte überhaupt irgendjemand Nocturn vertrauen?
"Warum interessierst du dich für Whites Mädchen? Das hast du doch sonst nicht getan", fragte Nocturn skeptisch, aber endlich wieder auf derselben Ebene ankommend wie Youma. Der Ebene der Realität.
"Sagtest du nicht mal, dass sie gänzlich uninteressant sei?"
"Ich habe meine Meinung diesbezüglich geändert." Blue, immer noch lauschend, obwohl er leider ihre Worte nicht verstehen konnte, hielt die Luft an, als er Greens Namen hörte, um jede Veränderung der Tonlage hören zu können.
"Sie ist gefährlich. Sie ist gefährlicher als alle anderen Hikari vor ihr." Youma war sich bewusst, dass dies eigentlich Heuchlerei war, denn er selbst hatte keine anderen Hikari erlebt, die zwischen ihr und den ersten gelebt hatten. Er hatte zwar von vielen anderen Hikari gelesen, besonders von Shaginai und White, von Adir, von Hizashi... aber Green stand in Verbindung mit Hikaru. Das machte sie automatisch gefährlicher als alle anderen.
"Fille ist die unreine Hikari. Ihr Licht ist minimal", führte Nocturn als Gegenargument an, aber etwas in Youmas Gesicht, an seiner Ernsthaftigkeit, die ernster als sonst war, steckte ihn an.
"Und sie gleicht das mangelnde Licht nicht gerade aus mit Können, so wie der Tausendtöter es tut. Wie könnte sie eine Gefahr sein? Ich habe gegen die gekämpft... oder eher mit ihr gespielt... und nur ihre Angst war unterhaltsam." Youma entschloss sich den seltenen Moment zu nutzen, wo Nocturn den Ernst der Lage begriff und ihm zuhörte... um ehrlich und offen zu sein.
"Mächtige Magieströme bündeln sich um sie", zitierte er die Worte des namenlosen Dämonenherrschers.
"Wir haben dieses Licht beide erlebt, vor ein paar Monaten in Henel. Wir sahen die Magieströme mit eigenen Augen, konnten sie spüren. Hast du da die Gefahr nicht wahrgenommen, die sie ausgemacht hat?" Doch, er sah Nocturn an, dass er das hatte. Er war deutlich abgelenkt gewesen, aber dieses Licht hatte er auch er nicht übersehen können.
"Wenn sich dieses Licht in konzentrierter Form gezielt gegen uns richtet... Ist das dann ein Kampf, den du ausfechten willst?" Youma runzelte die Stirn - hatte er es tatsächlich geschafft, Nocturn die Sprache zu rauben? Jedenfalls antwortete er nicht.
"Mit diesem Licht könnte sie uns alle auslöschen." Ein Grinsen zuckte über Nocturns Gesicht:
"Ist der Kronprinz da etwa besorgt um seine zukünftigen Untertanen?"
"Ich bin besorgt, weil da eine potentielle Waffe existiert, die unser aller Leben auslöschen kann, ja? Nicht jeder wünscht sich seinen Tod so wie du." Wieder zögerte Nocturn mit dem Antworten. War das etwa Youmas Glückstag?
"Und was schlägst du vor?" Youma glaubte wirklich, seinen Ohren nicht zu trauen. Waren sie etwa auf fruchtbarem Boden? Oder hatte Nocturn tatsächlich Angst davor, vom Licht ausgelöscht zu werden? Zwar wünschte er sich den Tod, aber wenn Youma ihn richtig durchschaut hatte, dann wünschte er sich nur einen Tod, den er selbst gestaltete - nicht einen der von einer Lichtwalze herbeigeführt wurde.
Als Youma nichts sagte fuhr Nocturn fort:
"Jetzt sag nicht, dass wir sie töten sollen, ehe sie ihr Licht kontrollieren kann, bitte. Sei kreativer als das, ja? Wenn wir sie töten, brechen wir Blue das Herz." Blues Herz könnte Youma nicht egaler sein.
"Sein Herz wird ausgelöscht, verätzt, wenn wir es nicht tun - wahrscheinlich als erstes."
"Das mag sein, aber..."
"Gut", fiel Youma ihm ins Wort, sich wieder zurücklehnend und einlenkend, denn tatsächlich wollte er Green nicht... per se umbringen. Silence lag etwas an ihr. Sie nannte sie ihre Freundin. Und sie... hatte genauso wenig wie Youma jemals eine Freundin gehabt. Er hatte Silence schon mehr als genug genommen, ihr Medium und ihre beste Freundin sollte nicht noch auf die Liste kommen.
"Du bist der Kreative von uns beiden." Nocturns Augen weiteten sich verwundert und sein Gesicht hellte deutlich auf, auch wenn diese Worte ihn verwirrten.
"Lass dir etwas einfallen. Wir... denken beide darüber nach." Youma schluckte, aber er sagte es dennoch, mit Lacrimosa im Hinterkopf:
"Wir sind Partner. Wir werden gemeinsam zu einem Plan kommen." Aus irgendeinen Grund verunsicherte Youma Nocturns erstarrter Gesichtsausdruck und er wandte sich ab, löste sich von dem Fenster, wo Nocturn langsam blinzelte, als hätte er einen Geist gesehen.
"Ich bin heute ausnahmsweise mal der erste im Badezimmer."
Nocturn hatte ihn gar nicht gehört. Denn er starrte immer noch den Geist des Wortes "Partner" an, von dem er nicht glauben konnte, dass er wahr war.
Zusammengerollt auf dem leuchtenden Untergrund lag sie einfach da mit geschlossenen Augen. Ohne Schmerz, ohne Leid, ohne Albträume. Sie atmete nicht, doch das musste sie auch nicht tun; ihr Glöckchen atmete für sie. Es pulsierte sachte in einem goldenen Licht über ihr schwebend; goldener und heller, als es jemals zuvor geleuchtet hatte. Sie war nicht alleine: Light saß bei ihr, betrachtete die Schlafende mit ernsten, weißen Augen. Erschöpft wirkte der uralte Lichtgott, erschöpfter als bei irgendeinem anderen Ritual vor diesem.
Er hatte mehr gezeigt, mehr erlebt, mehr gefühlt als er es sonst tat, als er es sonst zuließ.
Würde wieder alles umsonst sein?
"Ich denke, wir müssen uns nicht streiten, lieber Bruder." Lights Augen blieben auf Greens Gesicht, obwohl er Hikaru natürlich gehört hatte. Er wusste, dass sie ebenfalls da war. Sie sahen sich in der Regel nur einmal pro Generation - nur einmal traten sie sich gegenüber, cirka alle dreißig Jahre und er freute sich nie darauf.
"Die Entscheidung ist offenkundig." Light schloss müde die Augen, als könnte er so Hikaru dazu bringen, nicht mit ihm zu sprechen, aber Hikaru fuhr fort, achtete nicht auf das Resignieren ihres Bruders.
"Das ist mein Glöckchen."
Langsam und ruhig hob Light den Kopf und sah Hikarus Geist auf der anderen Seite Greens stehen, ihn grüßend mit schmalen Lippen anlächelnd, anstatt ihre Nachfahrin anzusehen, obwohl es doch um ihr Glöckchen ging.
"Sei nicht traurig, Light, du hast das letzte Glöckchen bekommen... und welch großartige Taten dessen Trägerin vollbracht hat mit deinem Licht. So viele Dämonen hat sie auslöschen können." Weiterhin antwortete Light nicht, aber seine Stirn wölbte sich leicht, als würde ihn etwas an Hikarus Erscheinung irritieren. Es war nicht ihre Stimme, die er mit seinen Ohren hören konnte anstatt mit seinem Geist und seinem Herzen, auch wenn diese alles andere als natürlich klang. Hikaru hatte sich selbst "repariert", als sie die erste Regime-Führerin geworden war und hatte sich eine Stimme gegeben, doch sie klang künstlich, würde niemals natürlich klingen können... Light hatte nie gefunden, dass Hikaru aussah wie eine Puppe, aber nun klang sie wie eine. Wie eine sprechende, aufziehbare Puppe, die die Menschen herstellten - ein Vergleich, für den sie ihn hasste - und er würde es vorziehen, wenn er ihre richtige Stimme mit dem Herzen spüren könnte, aber sie musste ihr Können beweisen. Beweisen, dass sie besser war als deren Mutter, die ihr keine Stimme hatte geben können.
"Dass du es nicht leid bist, immer und immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen... Niemand hört dir zu, Light, das muss dir doch bewusst sein? Die meisten unserer Nachfahren interessieren sich doch nicht für deine Worte. Aeterniem ist Geschichte in ihren Büchern. Die ferne Vergangenheit..." Nein, es war nicht ihre Stimme, die ihn irritierte. Es war etwas an ihrem Äußeren... Sie war... fester?
"... in der wir gezwungen waren, eine Koexistenz mit den Elementlosen zu führen... Unsere Nachkommen verstehen, dass das ein Irrglaube war. Sogar die, die dein Licht benutzen. Auch sie löschen die Elementlosen aus..." Ihr Lächeln war wieder verschwunden, aber ihre Mundwinkel zuckten ein wenig, als würde das Lächeln zurückkehren wollen.
"... tut dir das weh, Bruderherz? Weinst du jedes Mal, wenn dein Licht einen Elementlosen tötet?" Hikaru sah nun zum ersten Mal auf Green herab, zu welcher sie sich langsam herunterbeugte.
"Sie hören dein Weinen aber nicht. Dein Bitten darum aufzuhören. Sie hören es genauso wenig wie deine alten Geschichten. Wenn sie aufwachen und deine oder meine Gaben erhalten... haben sie die Lügen alle vergessen und besinnen sich auf ihre Pflicht. Sie sind gute, artige Kinder, unsere Nachkommen." Die kleinen Finger Hikarus streckten sich nach dem Glöckchen Greens aus und Light betrachtete die Finger wie schon so viele Male davor. Wenn Hikarus Finger das Glöckchen berührten - dessen schwarze Flügel Hikaru gar nicht aufzufallen schienen - dann würde das Licht der Hikari erkalten. Ihr Licht wäre zielsicherer, schneller und überaus effizient. Eine perfekte Tötungswaffe, die sich mit jedem toten Dämon verstärken würde. Lights Berührung und sein Beistand wärmte das Licht: Er schenkte dem Lichterben einen Funken seiner Gabe des Lebens, was ihre Heilfertigkeiten immens vergrößerte und er beschützte sie... und leider konnte er, genau wie Hikaru es gesagt hatte, nicht verhindern, dass sein Licht zum Töten benutzt wurde.
Sie stritten sich eigentlich nie um "ihren Erben".
In den letzten Äoen war es sehr friedlich zwischen ihnen gewesen. Stagnierende Kälte. Kaum ein ausgetauschtes Wort, wenn sie sich gegenüber standen. Hikaru redete viel, Light versuchte sie mit seinem Schweigen vom Sprechen abzuhalten. Immer wieder erzählte Light die Geschichte des Anfangs, zeigte den Nachkommen ihres Elementes die Wahrheit und Hikaru hatte leider Recht - die meisten wollten nicht hören. Es war sehr lange her, dass er auf Ohren gestoßen war, die ihm überhaupt hatten lauschen wollen. Viele vertrugen die Wahrheit nicht. Viele wollten sie auch nicht... und mit der Zeit war Lights Wille, es zu versuchen... abgestumpft. Wenn Hikaru die Glöckchen berührte, war Light froh. Dann musste er Dämonen nicht schreien hören. Dann hatte er sich zu Youma legen können und hatte mit ihm geruht.
White hatte alle seine letzten Hoffnungen getötet. Sein Licht hatte unzählige Dämonen in den Tod gerissen; so viel Leid gebracht, so viel Angst verbreitet. Er hatte das arme, kleine Mädchen begleiten und beschützen wollen, das so ängstlich in die Weihe hineingeworfen worden war, in Pflichten, die viel zu schwer für es waren. Hikaru hatte ihn gelassen, aber sie hatte gegrinst, als hätte sie gewusst... als hätte sie gewusst... dass dieses arme Mädchen Light das Herz zerreißen würde.
Ich will verstehen!
Light sah auf Green und nicht auf die kleinen Fingerspitzen, die so kurz vor dem Glöckchen waren.
Ich will die Wahrheit wissen!
"Was tust du da, Light?"
Da war kein Lachen und kein Hohn in Hikarus Stimme und als Light seiner Schwester in die Augen sah, sah er auch nur Kälte - und eine leichte Verwunderung - in ihren weißen Augen, als er ihr Handgelenk gepackt hatte.
"Ich glaube nicht, dass sie die deine ist." Hikaru hob eine Augenbraue. Ob sie sich darüber wunderte, seine Stimme zu hören? Es fühlte sich ungewohnt an, sie zu benutzen.
"Woher kommt diese plötzliche Entschlossenheit, mein lieber Bruder?" Sie versuchte nicht, sich aus seinem Griff zu befreien: Ihre kleine Hand zuckte nicht einmal, aber sie fühlte sich kalt an in Lights Griff. So kalt wie ihr Licht.
"Ah... ich verstehe..." Die Augenlider Hikarus senkten sich abschätzig ein wenig.
"Es ist natürlich mal wieder wegen deinen Gören. Es muss dich sentimental gemacht haben, als du das weibliche Gör durch die Augen dieser Lichterbin gesehen hast und das männliche von ihnen wurde ebenfalls von seinem Zeitbann befreit. Wecken sie etwa deine Entschlossenheit? Wie niedlich." Light ging auf ihre Provokation nicht ein, auch wenn sie teilweise richtig lag. Doch es war ihm gleichgültig. Etwas war in Bewegung geraten: Zahnräder, die sich seit Äonen nicht mehr bewegt hatten, hatten langsam zu drehen begonnen - er hatte genug geschlafen, war genug verzweifelt.
"Was bezweckst du mit ihr?" Light deutete mit den Augen auf Green, aber nun war es Hikaru, die nicht antwortete. Sie folgte seinem Blick nicht einmal, als ginge es hier gar nicht um die Hikari unter ihnen.
"Als sie und ich verbunden waren, habe ich eine Erinnerung gesehen, die nicht die ihre war." Lights Griff festigte sich und dort, wo das warme und kalte Licht sich berührten, vibrierte es, aber die beiden Lichtkinder achteten nicht darauf. Sie starrten sich in die weißen Augen.
"Ich habe eine Erinnerung gesehen, die nur von dir stammen kann, Hikaru."
"Und...?", wisperte Hikaru langsam und deutlich, sich Lights Gesicht nähernd.
"... hat dir gefallen, was du gesehen hast?" Ihre Nasen berührten sich, ihre weißen Haare vermischten sich, als würden sie eins werden.
"Mir hat es jedenfalls sehr gefallen, Furcht in diesem hässlichen Gesicht zu sehen, als ich ihn in meinem Licht badete." Ihre Augen verengten sich und ihre Lippen formten ein zufriedenes Lächeln.
"Es war sehr unterhaltsam seine Seele langsam zu töten." Light erbleichte, aber das hinderte Hikaru gewiss nicht daran fortzufahren:
"Er wusste gar nicht, was mit ihm geschah; wusste nicht, dass ich mit meinem Licht den Tod in seine Seele pflanzte. Ich habe den Gedanken geliebt, dass er langsam dahinsiecht... und dass ich ihn jederzeit töten könnte... Jedes Trietzen, jedes überhebliche Grinsen hatte keine Wirkung mehr, denn ich wusste, ich könnte seinen ach so wertvollen Morgenstern töten, wann auch immer ich es wollte. Es war ein herrlicher Gedanke. Überaus unterhaltsam. Ich hätte es gerne länger genossen, aber mein Licht war effektiver als ich... annahm." Hikarus Lächeln wurde breiter:
"Ich wollte ihn dir schon immer zeigen, lieber Bruder... den Moment, wo der Krieg begann." Light wollte einfach nur schweigen. Es ertragen und schweigen. Aber er konnte nicht.
"Ich schäme mich, dich meine Schwester nennen zu müssen." Es überraschte ihn zu sehen, so deutlich zu sehen, dass ihr das nicht gefiel. Hikaru lächelte nicht mehr und ihre Augen schienen sich nicht entscheiden zu können, welches Gefühl sie zeigen sollten - dieser Gefühlswirbel wahrte nur einen kurzen Moment, doch Light hatte es gesehen. Er hatte sie getroffen - und das wunderte ihn.
"Woher kommt nur dein grenzenloses Mitgefühl für diese Unwesen und ihren Herrscher? Ich habe mir diese Frage schon so oft gestellt und nie eine Antwort erhalten, die dein Verhalten erklären könnte. Familie war einst ein Begriff, der dir wichtig war." Light runzelte finster die Stirn, aber er sagte nichts, ließ Hikaru fortfahren mit ihrer mechanischen Stimme und war überrascht, ihre echte Stimme in seinem Kopf zu hören - zum ersten Mal seit so vielen Jahren.
"Diese Halbkinder sind nicht deine Familie. Ich bin deine Familie. Wir hätten zusammen Kinder schaffen können. Schöne Kinder, mit strahlenden Augen... Ich wollte das nicht alleine tun, weißt du... Light... ich wollte nicht alleine herrschen, nicht alleine Mutter sein. Mein lieber Bruder..." Sie hob die Hand, während sie diese Worte langsam, sehr langsam sagte und deutlich hörte Light raus, wie sie um diese Worte rang und er sah wie ihre Hand zitterte, als sie sie zu seinem Gesicht erhob.
"... ich wollte dich immer an meiner Seite..." Light wollte das nicht hören - und von ihr berührt werden wollte er ebenfalls nicht, weshalb er sich zurückzog, ehe ihre kleinen Finger sein Gesicht erreichten.
Hikarus Gesicht erstarrte und wieder waren da für einen kurzen Moment so viele Gefühle und es war deutlich, dass es ihr schwerfiel, sie zu verstecken. Er hatte sie mit ihrem Zurückweichen verletzt und es überraschte ihn selbst... dass es ihm überhaupt nicht leidtat.
"Das hätte ich niemals getan." Hikarus Gesicht wurde wieder ruhig, obwohl eine Spur Zorn aus Lights Stimme herauszuhören war. Sie betrachtete Lights Gesicht; seine Haare, die Lippen, die sich gerade bewegt hatten und die Augen, die wie ihre waren und doch so anders.
"Unsere Wächter haben dir einst etwas bedeutet. Einst wolltest du ebenfalls nicht, dass sie sterben."
"Das will ich auch immer noch nicht."
"Warum stellst du dich dann gegen mich? Warum willst du die Elementlosen beschützen? Du kennst ihre unwahre, doch zutiefst verdorbene Welt, die ihre Seelen widerspiegelt; das Unheil, das in ihnen haust. Kannst du diese Unwesen wirklich verteidigen? Willst du dich wirklich für sie gegen das Wächtertum stellen? Ich habe immer gesagt, dass sie eine Gefahr ausmachen, doch du wolltest nie hören. Haben die vergangenen Äonen nicht gezeigt, dass meine Worte wahr sind? Du hast es auch erlebt. Du hast es ebenfalls gespürt. Die große Angst, die sie schüren, den Tod, den sie bringen", antwortete Hikaru ernst, ohne auch nur den Hauch eines Lächelns.
"Wir sind auch sehr talentiert darin, Angst und Tod zu bringen..." Hikaru fiel ihm ins Wort:
"Das müssen wir nicht mehr lange. Die Pflicht, die unsere Wächter und wir so lange verfolgt haben, ist bald erfüllt." Lights Augen weiteten sich verwundert, aber sie wurden schnell ernst, als Hikaru fortfuhr.
"Light... mein lieber, fehlgeleiteter Bruder." Dieses Mal war Light nicht schnell genug, um ihrer Hand zu entgehen. Sie legte sich absolut ohne Zögern an seine Wange. Eisig war sie... die Hand, die seine Wange entlang strich, als müsste sie ihn trösten.
"Ich hätte die Halbkinder niemals in unserem Reich dulden dürfen. Deine Fehlleitung ist mein Fehler." Light wollte Hikarus Hand brüsk wegschieben und schon antworten, dass seine Einstellung gewiss nichts mit Silence und Youma zu tun hatte, als Hikaru ihm die Sprache verschlug.
"Du kannst dich immer noch umentscheiden. Ich würde dich gerne an meiner Seite zu haben, wenn der letzte Kampf kommt." Das, was Light die Sprache verschlug, war nicht allein Hikarus Vorschlag. Es war genauso sehr Lights sofortige Antwort, die aus seinem Herzen stammte:
"Niemals." Hikarus Ernsthaftigkeit verschwand und zurück blieb ihr monotones Gesicht, als sie sich mit einem sachten Klingeln aufrichtete und ihre Stimme wieder aus seinen Gedanken und seinem Herzen verschwand, um stattdessen mit den Ohren gehört zu werden:
"Ich habe es geahnt." Sie schüttelte sich kurz, als würde etwas sie anwidern:
"Liebe ist so ein dummes, überflüssiges Gefühl... Ist es nicht passend, dass der Widersacher..." Sie meinte den namenlosen Dämonenherrscher. Am liebsten vermied sie es, von ihm zu sprechen, doch wenn sie es tat, dann nannte sie ihn niemals bei seinem Titel, als erkenne sie ihn nicht als den Herrscher der Dämonen an - er war stets "der Widersacher", als wäre er ihr ganz persönlicher Erzfeind, der keine andere Position hatte als diese.
"... von dem gleichen Gefühl gefällt wurde wie unsere Mutter? In beiden Fällen waren sie dumm und verloren ihren Kopf und die Kontrolle über ihre Macht, weil sie verliebt waren. Man kann es Gerechtigkeit nennen... göttliche Gerechtigkeit... in gewisser Maßen habe ich doch unsere Mutter gerächt, ihr armes, gebrochenes Herz."
"Ich denke, das würde sie anders sehen." Ein ironisches, bitteres Lächeln zuckte über das Gesicht seiner Schwester.
"Wie schade, dass wir sie nicht mehr fragen können, nicht wahr? Es gibt nur uns. Nur uns beide... die Kinder des Lichts." Light richtete sich auf, während Hikaru fortfuhr:
"... die sich noch Äoen später um Glöckchen streiten." Light schloss sich Hikarus Lächeln nicht an. Er blieb ernst und seine Hautfarbe war immer noch gänzlich bleich von den Worten Hikarus. Wie sie sich daran ergötzt hatte, dass sie ein Leben in der Hand hielt, widerte ihn an.
"Aber dieser Streit ist ein anderer, nicht, Hikaru?" Hikaru, die eben noch Kreise um ihn und Green gezogen hatte, blieb stehen.
"Du hast bereits Einfluss auf Green ausgeübt." Nun war es Hikaru, die schwieg.
"Du brauchst es nicht zu leugnen, denn ich weiß es - ansonsten hätte ich die Erinnerung nicht sehen können." Zum ersten Mal sah Hikaru auf Green herab und schwieg eine Weile, als müsste sie ihre weit entfernte Nachfahrin genauestens betrachten.
"Was hast du vor, Hikaru?" Sie antwortete natürlich nicht auf diese Frage.
"Wozu und wie hast du eine Verbindung mit ihr aufgebaut? Nur um mein Herz mit dieser Erinnerung zu beschweren? Das glaube ich dir nicht." Light folgte ihren Bewegungen; ihren kleinen Armen, die sich auf ihren Rücken legten und den langen Wimpern, die sich senkten.
"Im Gegensatz zu dir habe ich ein sehr artiges und fähiges Kind großgezogen", flüsterte sie.
"... einen Sohn, der mich nicht enttäuschen wird. Einen Sohn, der seine Mutter stolz machen wird und der seine Pflichten kennt. Er hat Fehler begangen... und es vermocht, sie selbst zu beheben, ohne dass ich ihn bestrafen musste." Light versteifte sich bei diesen Worten und er konnte seine Stimme wieder nicht aufhalten: seine Zunge war schneller als seine Zurückhaltung.
"Du hast es nicht verdient, dich selbst eine Mutter nennen zu dürfen."
"Ich denke, du bist der letzte, von dem ich Erziehungsratschläge entgegennehme", erwiderte Hikaru mit leicht gehobenen Augenbrauen.
"Und nun sei brav und überlasse mir dieses Glöckchen. Es gehört mir ohnehin. Unsere Gefühle ähneln sich, unsere Herzen sind eins... gewissermaßen ist sie meine Tochter." Sie lächelte auf Green herab.
"Wir werden Großes zusammen vollbringen. Sie wird Zeuge sein, wie die falsche Welt und alle ihre verrotteten Wesen ohne Element ihr Ende finden."
Die beiden Lichtkinder sahen gleichzeitig Greens Glöckchen an.
Light schluckte. Hikaru lächelte.
"Es gehört mir ohnehin schon!"
"Niemals!"
Alle Hikari im Jenseits spürten den Moment, als Hikaru und Light gleichzeitig und mit ausgestreckten Fingern nach Greens Glöckchen griffen, aber keiner von ihnen spürte es so enorm, so zerreißend, wie Inceres. Er schrie so spitz und kreischend auf, dass das gesamte Jenseits bebte: sein Schrei und sein Schmerz hallte wie ein Echo in jedem Glöckchen und in jedem Hikariherzen nach. Das Glas in der Bücherkathedrale, wo Inceres’ geliebte Bücher gelagert waren, hielt seinem Schrei nicht stand; die bunten Gläser zersprangen in tausend Scherben und rissen die Büchertürme herunter in einem tosenden Wirbel aus Geschrei, Schmerz und Scherben. Ecui und Acui schrien den Namen ihres Gebieters, doch auch sie wurden von der Druckwelle weggeschleudert und zu Boden geworfen, als wären sie auch nur Bücher.
Inceres biss die Zähne zusammen, fletschte sie wie ein Untier, doch er konnte den Schrei nicht zurückhalten, ihn unmöglich unterdrücken; er war zu gewaltig, der Schmerz zu groß! Nichts konnte ihn lindern, nichts konnte ihn aufhalten. Er musste zusammen mit Green schreien. Er musste zusammen mit ihr leiden.
Halt durch.
Oh, bitte halt durch.
Ich brauche dich, mein Schmetterling, bitte geh nicht kaputt.
Jeder Schrei, fühlte er sich auch noch so unendlich an, verebbte irgendwann. Irgendwann hatte das Sprachorgan keine Kraft mehr zum Schreien - und genau wie Inceres im Jenseits zu Boden ging, fiel auch Green, gebadet in leuchtende Scherben, auf den Boden des Turms. Ecui und Acui rannten zu Inceres, hoben ihn auf und versuchten ihn mit ihren Stimmen zu erreichen, aber es war vergebens. Green half niemand. Sie lag auf dem Boden des Turms, umgeben von tausend bläulich funkelnden Scherben und mit gebrochenen Knochen, die sich alle von selbst heilten, gebadet im Sonnenlicht.
Mittlerweile war das kleine Zimmer Blues recht gut eingerichtet; eingerichtet worden. Mit einem Schreibtisch, einem Bett, einem vollen Bücherregal - wo Blue die Hälfte der Bücher erst einmal aussortieren musste, weil er solch dramatische Fiktion nicht las - nicht einmal für Research - und natürlich einem Kleiderschrank, in welchem eigenartigerweise ein Smoking hing, welcher sehr teuer wirkte, und wofür Blue nicht wusste, zu welcher Begebenheit er ihn benötigen sollte.
Es war frühmorgens in Paris. Halb fünf. Dennoch war Blue wach, wie an so vielen anderen Tagen. Er schlief nur bis um zwei oder drei Uhr, dann riss ihn ein Albtraum empor und der Schlaf blieb ihm fern. Stattdessen griff er sich ein Buch, wie auch an diesem Morgen, an welchem er das Fenster hinter seinem Bett geöffnet hatte, um von den Geräuschen der Stadt beim Lesen begleitet zu werden. Wenn man nicht zu genau hinhörte, dann waren es dieselben Geräusche wie in jeder anderen Metropole... genau wie in Tok---
Blue senkte etwas abrupt sein Buch und seine Augen fixierten sofort den Himmel, der immer noch tiefschwarz war an diesem November-Morgen. Was... war das? Er hatte das Gefühl, als würde er jemanden schreien hören. Niemanden von der Straße, niemanden aus Paris. Jemand... anderen.
Der Halbdämon musste schlucken.
Verfolgte ihn sein Traum? Hörte er deswegen Green schreien?
Er legte das Buch zur Seite und richtete sich in seinem Bett auf, um das Fenster dahinter zu schließen - genau im richtigen Moment um zu hören, dass sich vor seiner Zimmertür etwas regte. Schritte, aber keine Schritte, die zu ihm wollten. Feullé und Nocturn wechselten sich ab, was die Position der ersten Person in der Küche anbelangte, aber eigentlich war es für beide zu früh. War es... Youma? Die Schritte klangen wie seine, aber das war sehr ungewöhnlich: Er erwachte genau wie Blue in der Nacht und ging dann aber wieder schlafen, um erst zwischen acht Uhr morgens und zehn Uhr morgens aufzustehen. Warum war er bereits wach?
Es war unmöglich für Blue seine Angewohnheiten - nein, sein Training - abzulegen, welche Ri-Il ihm so lange indoktriniert hatte. Sofort stand Blue langsam und vorsichtig auf und wollte gerade lautlos seine Zimmertür öffnen, als er noch ein Paar Füße mehr hörte und er eilig die Hände von der Tür nahm. Nocturn. Unverkennbar. Seine Schritte hörte man immer. Blue hatte noch nie jemanden gehört, dessen Schritte so charakteristisch waren wie Nocturns. Er schien... immer zu tanzen. Er setzte nie einfach nur einen Fuß vor den anderen. Er ging zur Stube, Youma hinterher...? Und stoppte, an der Ecke des Ganges, die in die Stube überging.
Das hatte Blue richtig erkannt - Nocturn hielt inne, obwohl er schon den Mund geöffnet hatte und die neckischen Worte ihm bereits auf der Zunge lagen. Doch er verschluckte sie alle, als er Youma an der Fensterfront stehen sah. Er wusste nicht was, aber... - aber etwas war anders an dem stets grimmigen Kronprinzen.
Eben hatte Nocturn noch ein Grinsen auf dem Gesicht getragen, nun verengten sich aber seine Augen in Skepsis, nachdem er Youma, der ihn nicht bemerkt hatte, erstmal nur verblüfft angestarrt hatte. Was war es? Sein griesgrämiger Mitbewohner, der viel zu früh aus seinem Turm gestiegen war, sah nur aus dem Fenster, tat nichts besonders außer seinen Gedanken so sehr nachzuhängen, dass er blind war für seine Umgebung - was für eine Schande für seinen Lehrmeister, der da stand und ihn so einfach umbringen könnte. Aber Nocturn tötete ihn nicht - das Skript schrieb es ja anders herum vor - nun wollte er dem Anderssein des Prinzen auf den Grund gehen.
"Heute ist endlich der finale Tag von Filles Weihe!", posaunte Nocturn mit ausladenden Armen und zurückgekehrtem Grinsen, welches ihm auch nicht abhandenkam, als Youma sich abrupt zu ihm herumdrehte.
"Ich weiß." Auch das ließ Nocturns Grinsen nicht verblassen, obwohl er sich doch ein wenig über diese Antwort wunderte - und auch nicht so ganz daran glaubte, dass Youma da die Wahrheit sprach.
"Ich habe es spüren können." Er wandte sich mit ernstem Gesicht wieder dem Fenster zu, aber das hielt Nocturn nicht auf:
"Spüren? Du?"
"Ich bin sehr sensibel was Auren anbelangt." Nocturns Gesicht nahm einen überaus zweifelnden Gesichtsausdruck an und Youma errötete wütend, als er es im Spiegelbild der Scheibe sah, doch Nocturn kam ihm zuvor:
"Du bist sowas von dermaßen unsensibel für dein Umfeld, erlaube mir also daran zu zweifeln, Prinzchen. Ich stand da..." Er zeigte auf den Gang.
"... zwei Minuten lang. Hast du mich bemerkt?" Youma öffnete den Mund, aber wieder fiel Nocturn ihm ins Wort:
"Neeeein, hast du nicht. Du hast mich bemerkt, als ich mich in Bewegung gesetzt habe. Hätte ich dich töten wollen, wäre das aber viel zu spät gewesen. Dein Lehrmeister - alias ich - ist zutiefst enttäuscht!"
"Ich bin sensibel für Auren und Magieveränderungen", zischte Youma mit zurückgehaltener Wut, aber Nocturn war immer noch nicht überzeugt:
"Solange du mir das nicht in einem Kampf bewiesen hast, werde ich das anzweifeln." Youma sah Nocturns Spiegelung im Fenster an.
"Aber die Hikari wird heute geweiht, nicht wahr? Argh, egal, ich muss mich dir nicht beweisen, das habe ich gar nicht nötig."
"Also gewissermaßen hast du das sehr wohl, wenn man bedenkt, dass du mein Schüler..."
"Urgh!" Youma wirbelte zu ihm herum:
"Bist du gekommen, um mich zu nerven?! Stehst du hier deswegen zwei Minuten und starrst mich an um fünf Uhr morgens? Um meine Nerven zu strapazieren? Kannst du damit nicht wenigstens bis nach dem Frühstück warten?!" Youma wusste genau, dass er all dies nicht sagen sollte, denn es war alles ein Kompliment für Nocturn: Musik in seinen Ohren, Futter für sein gieriges Chaosherz. Aber tatsächlich verschwand das Grinsen des Flötenspielers und er sah Youma für einige Sekunden recht intensiv an. So sehr, dass Youmas Wut abflaute, weil er sich zu sehr wunderte - so sehr, dass es ihn verunsicherte.
"Was ist?"
"Du bist nicht der einzige, der sensibel ist für Auren", antwortete Nocturn außergewöhnlich ernst und Youma, immer noch verunsichert von Nocturns intensivem Blick, antwortete:
"Ich bin es wirklich. Ich habe die letzten 12 Tage die Magieveränderungen im Reich der Wächter spüren können." Etwas in Nocturns Gesicht sagte ihm, dass er anfing ihm zu glauben.
"Du kannst also immer spüren, wenn eine Weihe stattfindet? War das bei White auch der Fall?" Natürlich nutzte er sofort wieder die Gelegenheit, um von White zu sprechen und Youma war versucht Nocturn zu antworten, dass er das natürlich nicht getan hatte, weil er da noch in einem Zeitbann eingeschlossen gewesen war, aber er schluckte diese Antwort herunter. Es war so schwer immer zu schlucken und zu lügen... er war lügen nicht gewohnt. Er und Silence hatten nie Geheimnisse gehabt, hatten das Lügen nicht nötig gehabt... Aber Nocturn war definitiv die letzte Person in dieser schrecklich verpesteten Welt, der er die Wahrheit über seine Herkunft erzählen würde, weshalb er notgedrungen schwieg. Aber eine Charaktereigenschaft Nocturns kam ihm da sehr gelegen: Er verlor, beziehungsweise wechselte sehr schnell den Faden und scheinbar lenkte ihn schon wieder etwas an Youmas Äußerem ab.
"Du fängst an mich mit deinem Starren zu irritieren."
"Etwas ist heute Nacht anders an dir." Youma errötete - dieses Mal vor Scham. Er hatte seine Haare nicht gekämmt...? Es war fünf Uhr morgens!
"Es ist deine Aura." Endlich verstand Youma, was Nocturn meinte und er gab ihm die Erklärung ohne über die Konsequenz nachzudenken:
"Das liegt wohl daran, dass wir Vollmond haben." Nocturn hörte auf, ihn anzustarren - stattdessen blinzelte er nun verwirrt, ehe seine Augen sich wieder interessiert verengten.
"Du bist ja wohl kein Werwolf, der sich bei Vollmond verwandelt." Nun war es Youma, der ihn verwirrt anblinzelte.
"Nein, ich bin... kein Wärwolf..." Hatte er das richtig ausgesprochen?
"... sondern ein Yami. Zur Hälfte. Du weißt, die Hikari genießen es in die Sonne zu blicken? Sie entspannen sich dabei und tanken neue Energie? Nun..." Youma sah, immer noch mit roten Wangen, zum Mond hinauf, gefolgt von Nocturns Augen, die immer größer wurden.
"... wir Yami genießen es, im Mondlicht zu baden. Wir sind dann, mehr den je, im Einklang mit unserem Element und erholen uns, regenerieren uns, fühlen uns wohl. In einer Vollmondnacht benötige ich keinen Schlaf." Youma schloss die Augen.
"In einer Vollmondnacht bin ich wacher als in irgendeiner anderen Nacht."
"Das ist so schön. Das ist so so so wunderschön." Überrascht diese Antwort zu hören sah Youma zu Nocturn, der ihn begeistert ansah und seine Röte nahm zu - aber als er gerade etwas Ähnliches wie ein "Danke" sagen wollte, ließen ihn Nocturns Worte erbleichen:
"Dieses Element ist so verschwendet an einen so biederen und langweiligen Dämon wie dich! Ich wollte dich an keinem anderen Moment so gerne töten wie jetzt, um dein Element aus dir herauszureißen und wenn es nur ist, um es von dir zu befreien, denn es ist so absolut, absolut an dich verschwendet, diese unglaubliche Schönheit, so verschwendet, so verschwendet! Welch Kunst könnte man damit erschaffen, wenn man Kreativität besäße! Hach, du hast es nicht verdient, Prinz der Dunkelheit zu sein! Ich hasse dich so sehr!" Youma, absolut erstarrt, wusste nicht, ob das der Moment war, wo er Abstand nehmen sollte oder sich lieber gleich wegteleportieren sollte. Er wusste wirklich nicht, was er machen sollte. Er wusste nicht einmal, ob er das wirklich gehört hatte. Nocturn sah ihn immer noch mit strahlenden, nein, glühenden Augen an, die... glasig zu sein schienen? Würde er anfangen zu weinen, während er ihn bedrohte?!
Er war wahnsinnig.
Er war sowas von wahnsinnig.
Warum hatte Youma überhaupt irgendetwas gesagt?
"Nocturn..." Youma sprach vorsichtig und hüstelte auch:
"... wir wollten über die Weihe sprechen."
"Ah ja die Weihe, ja." Das sagte er zwar, aber mit seinen Gedanken war er offensichtlich noch bei Youmas Element und dabei sich vorzustellen, wie er ihn tötete:
"Und was passiert bei Neumond? Müsst ihr dann schlafen? Wie viele von euch gibt es eigentlich? Es muss doch jemanden geben, der so ein schönes Element zu seiner wahren Schönheit bringen kann... Was ICH mit deinem Element vollbringen könnte! Kunst! Größte Kunst! Und was machst du?!" Wo hatte Youma sich da hineingeritten.
"Vergiss mein Element."
"Oh, das ist schwer. Das ist jetzt wirklich, wirklich schwer. Clair de la lune! Mon dieu... Quelle Horreur et três beaux..."
"Wir müssen über Green reden", herrschte Youma Nocturn an und packte auch seinen dürren Arm, um ihn aus seinem Selbstgespräch zu wecken, aber das war die falsche Entscheidung - ohne, dass sich Nocturns vertiefter Gesichtsausdruck veränderte, schnipste er Youmas Hand weg und zischte deutlich und drohend:
"Nicht anfassen, ansonsten bist du wirklich tot. Skripte können umgeschrieben werden, ich denke, das weißt du." Youma war einfach nur noch verwirrt von Nocturns Hin und Her. In einem Moment grinste und lachte er, im anderen war er ernst, dann warf er Todesdrohungen um sich, die mehr als bloße Rhetorik waren mit einer Stimme, die vor Begeisterung zitterte und dann klang seine Stimme wieder als würde sie aus dem Grabe kommen. Nocturns Gefühlsregungen zu folgen war enorm schwierig und machte Youma schwindelig.
"Wir müssen über Green reden", wiederholte Youma, obwohl er sich am liebsten in sein Zimmer zurückgezogen hätte. Aber Lacrimosa hatte recht - sie mussten anfangen zusammenzuarbeiten. Aber das war so schwer. Einem Partner musste man vertrauen. Doch wie konnte überhaupt irgendjemand Nocturn vertrauen?
"Warum interessierst du dich für Whites Mädchen? Das hast du doch sonst nicht getan", fragte Nocturn skeptisch, aber endlich wieder auf derselben Ebene ankommend wie Youma. Der Ebene der Realität.
"Sagtest du nicht mal, dass sie gänzlich uninteressant sei?"
"Ich habe meine Meinung diesbezüglich geändert." Blue, immer noch lauschend, obwohl er leider ihre Worte nicht verstehen konnte, hielt die Luft an, als er Greens Namen hörte, um jede Veränderung der Tonlage hören zu können.
"Sie ist gefährlich. Sie ist gefährlicher als alle anderen Hikari vor ihr." Youma war sich bewusst, dass dies eigentlich Heuchlerei war, denn er selbst hatte keine anderen Hikari erlebt, die zwischen ihr und den ersten gelebt hatten. Er hatte zwar von vielen anderen Hikari gelesen, besonders von Shaginai und White, von Adir, von Hizashi... aber Green stand in Verbindung mit Hikaru. Das machte sie automatisch gefährlicher als alle anderen.
"Fille ist die unreine Hikari. Ihr Licht ist minimal", führte Nocturn als Gegenargument an, aber etwas in Youmas Gesicht, an seiner Ernsthaftigkeit, die ernster als sonst war, steckte ihn an.
"Und sie gleicht das mangelnde Licht nicht gerade aus mit Können, so wie der Tausendtöter es tut. Wie könnte sie eine Gefahr sein? Ich habe gegen die gekämpft... oder eher mit ihr gespielt... und nur ihre Angst war unterhaltsam." Youma entschloss sich den seltenen Moment zu nutzen, wo Nocturn den Ernst der Lage begriff und ihm zuhörte... um ehrlich und offen zu sein.
"Mächtige Magieströme bündeln sich um sie", zitierte er die Worte des namenlosen Dämonenherrschers.
"Wir haben dieses Licht beide erlebt, vor ein paar Monaten in Henel. Wir sahen die Magieströme mit eigenen Augen, konnten sie spüren. Hast du da die Gefahr nicht wahrgenommen, die sie ausgemacht hat?" Doch, er sah Nocturn an, dass er das hatte. Er war deutlich abgelenkt gewesen, aber dieses Licht hatte er auch er nicht übersehen können.
"Wenn sich dieses Licht in konzentrierter Form gezielt gegen uns richtet... Ist das dann ein Kampf, den du ausfechten willst?" Youma runzelte die Stirn - hatte er es tatsächlich geschafft, Nocturn die Sprache zu rauben? Jedenfalls antwortete er nicht.
"Mit diesem Licht könnte sie uns alle auslöschen." Ein Grinsen zuckte über Nocturns Gesicht:
"Ist der Kronprinz da etwa besorgt um seine zukünftigen Untertanen?"
"Ich bin besorgt, weil da eine potentielle Waffe existiert, die unser aller Leben auslöschen kann, ja? Nicht jeder wünscht sich seinen Tod so wie du." Wieder zögerte Nocturn mit dem Antworten. War das etwa Youmas Glückstag?
"Und was schlägst du vor?" Youma glaubte wirklich, seinen Ohren nicht zu trauen. Waren sie etwa auf fruchtbarem Boden? Oder hatte Nocturn tatsächlich Angst davor, vom Licht ausgelöscht zu werden? Zwar wünschte er sich den Tod, aber wenn Youma ihn richtig durchschaut hatte, dann wünschte er sich nur einen Tod, den er selbst gestaltete - nicht einen der von einer Lichtwalze herbeigeführt wurde.
Als Youma nichts sagte fuhr Nocturn fort:
"Jetzt sag nicht, dass wir sie töten sollen, ehe sie ihr Licht kontrollieren kann, bitte. Sei kreativer als das, ja? Wenn wir sie töten, brechen wir Blue das Herz." Blues Herz könnte Youma nicht egaler sein.
"Sein Herz wird ausgelöscht, verätzt, wenn wir es nicht tun - wahrscheinlich als erstes."
"Das mag sein, aber..."
"Gut", fiel Youma ihm ins Wort, sich wieder zurücklehnend und einlenkend, denn tatsächlich wollte er Green nicht... per se umbringen. Silence lag etwas an ihr. Sie nannte sie ihre Freundin. Und sie... hatte genauso wenig wie Youma jemals eine Freundin gehabt. Er hatte Silence schon mehr als genug genommen, ihr Medium und ihre beste Freundin sollte nicht noch auf die Liste kommen.
"Du bist der Kreative von uns beiden." Nocturns Augen weiteten sich verwundert und sein Gesicht hellte deutlich auf, auch wenn diese Worte ihn verwirrten.
"Lass dir etwas einfallen. Wir... denken beide darüber nach." Youma schluckte, aber er sagte es dennoch, mit Lacrimosa im Hinterkopf:
"Wir sind Partner. Wir werden gemeinsam zu einem Plan kommen." Aus irgendeinen Grund verunsicherte Youma Nocturns erstarrter Gesichtsausdruck und er wandte sich ab, löste sich von dem Fenster, wo Nocturn langsam blinzelte, als hätte er einen Geist gesehen.
"Ich bin heute ausnahmsweise mal der erste im Badezimmer."
Nocturn hatte ihn gar nicht gehört. Denn er starrte immer noch den Geist des Wortes "Partner" an, von dem er nicht glauben konnte, dass er wahr war.