Kapitel 50 - Höre die Hölle VI
"G-Geh sofort von Green weg!" Es war eindeutig Fireys Stimme, die Green hörte; sie hatte Angst, war geschwächt, aber ihre Stimme war dennoch erstaunlich entschlossen. Die Hikari öffnete den Mund; wollte ihr zurufen, dass sie fliehen und sich in Sicherheit bringen sollte, doch in ihrem Mund befand sich nichts außer ihrem eigenen Blut. Keine Worte kamen hervor. War Firey denn nicht bewusst, dass Nocturn sie ohne zu zögern umbringen würde? Er brachte Green doch nur nicht sofort um, weil sie Whites Tochter war ...
"Jede Hikari hat ihre treuen Schäfchen, offensichtlich sogar eine unreine", urteilte Nocturn mit gelangweilt klingender Stimme.
"Lass sie in Ruhe!" Die Augen des Dämons huschten zu Green herüber und spöttisch grinste er:
"Oder was, Fille? Nein, nein, bleib du mal da unten liegen und genieße die Show."
"Ich wiederhole mich! Geh von ihr weg oder ich schieße!" Ein hohles Lachen war zu hören, welches nicht nur Green durch Mark und Bein ging, sondern auch Firey; und ihre Finger, die den Bogen auf Nocturn richteten, zitterten ohnehin. Doch die blanke Panik, welche sie in Greens Augen sah, konnte sie nicht nachempfinden; sie wusste zwar, wem sie gegenüberstand, da sie im Unterricht von ihm gehört hatte, aber sie wusste nicht viel mehr über Nocturn, als dass er ein A-Rang Dämon war, der eigentlich tot sein sollte. Ignes hatte ihn nur erwähnt und war nicht weiter auf Nocturn eingegangen, weshalb Firey sich keinen Reim daraus machen konnte, woher Greens Panik stammte; spürte sie etwa eine Aura, die Firey nicht spüren konnte?
Aber sie würde schnell herausfinden, was genau das für ein Dämon war, welcher sie einfach nur belustigt angrinste, während sie auf seinen Kopf zielte, genau wie sie es im Unterricht gelernt hatte. Ignes hatte ihr geraten, dass sie bei Dämonen nie auf das Herz zielen sollte, denn da sie nicht alle Dämonenrassen auswendig konnte, konnte sie nicht wissen, ob das Herz bei ihrem Gegner womöglich auf der anderen Seite saß. Daher war der Kopf stets das bessere Ziel.
Da Nocturn ihre Drohung nicht ernst nahm und Firey Greens mahnendes Gesicht übersah, wollten ihre Finger gerade den Feuerpfeil entfesseln, als ihr Arm sich plötzlich verselbstständigte und anstatt Nocturn den Kopf mit ihrem Pfeil abzureißen, schoss Firey ihn in den wolkenverhangenen Himmel - obwohl sie das überhaupt nicht vorgehabt hatte.
Entsetzt blickte Firey ihren ausgestreckten Arm an, welcher mitsamt ihrem Bogen nach wie vor in den Himmel zeigte, als wolle sie diesen aufspießen.
"Was zur ..."
"Ich glaube, deine kleine Freundin ist nicht sonderlich über meine Fähigkeiten aufgeklärt, was, Fille?" Anstatt Nocturn allerdings zu antworten, richtete Green sich an Firey und zwang ihr eigenes Bewusstsein dabei, sich zusammenzureißen:
"Firey! Du musst fliehen! Schnell!" Eigentlich wusste die Hikari, dass es bereits zu spät war, denn wenn Nocturn Fireys Arme kontrollierte, kontrollierte er natürlich auch ihre Beine - und plötzlich fiel Green wieder mit banger Vorahnung das ein, was ihre Mutter ihr einst erzählt hatte: dass Nocturn Hirey und Izerin, zwei beste Freunde, aufeinander losgehetzt hatte, bis einer der beiden den anderen umgebracht hatte ...
Und genau diesen Gedanken las Nocturn nun natürlich auch - das sagte sein Blick deutlich, als er über die Schulter hinweg zu ihr zurücksah und ihre Gedanken spottend kommentierte:
"Dir liegt viel an diesem Menschen, nicht wahr? Natürlich. Sie ist ja auch wegen dir zu einer Wächterin geworden." Green gelang es nicht, etwas zu sagen: Sie starrte ihn nur entgeistert an, versuchend, ihre Gedanken zum Stillstand zu bewegen, damit er nicht noch tiefer in ihre Seele hineinblicken konnte - doch wie tat man das? Wie sorgte man dafür, über etwas nicht nachzudenken? Sie wusste es nicht. Sie konnte nichts dagegen tun, dass sie Erinnerungen vor sich sah, zusammen mit den Schuldgefühlen, dass sie Firey ihr Menschendasein geraubt hatte.
Deutlich sah Green, wie das Grinsen auf Nocturns Gesicht breiter wurde, als ihm diese Gedanken zuteilwurden: Ganz offensichtlich freute er sich über dieses neue Futter. Green wollte aufstehen, wollte etwas tun, um das zu verhindern, was unweigerlich kommen würde, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht - Nocturn erlaubte ihr nicht, sich zu bewegen.
Er beherrschte Greens Körper genauso, wie er auch Fireys beherrschte, denn als Nocturn sich nun von Green abwandte und gelassen auf Firey zu schritt, senkte diesen im Takt mit seinen Schritten langsam den Bogen. Wäre Green nicht vollkommen von Angst und Sorge eingenommen, so wäre ihr wahrscheinlich aufgefallen, dass der Bogenstrang nach wie vor entflammt war, denn Nocturn konnte Fireys Element nicht kontrollieren und zum Erlöschen bringen. Stattdessen brachte er Firey dazu, den Bogen wegwerfen, welcher im hohen Bogen wirbelnd wie ein Feuerrad durch die Luft flog, um daraufhin im Dreck zu landen.
Langsam verstand Firey, woher Greens Panik stammte, aber das wahre Ausmaß von Nocturns Fähigkeiten wurde ihr erst bewusst, als er die Stimme erhob, so dass sie beide deutlich hören konnten, was er sagte, während er weiter auf sie zu ging:
"Du hast es wahrscheinlich noch nicht mitbekommen, Fille, aber deine kleine Freundin hat zwei gebrochene Rippen; das nehme ich jedenfalls an, denn das Knie, welches ihr Karou in den Brustkorb gerammt hat, war ziemlich zielsicher - und dort tut es dir auch weh, oder, Feuerwächterin?"
"Woher ...?", stammelte Firey verwirrt, denn Nocturn hatte recht. Es schmerzte fürchterlich, und zwar genau unter ihrer Brust, aber woher wusste er das?
"Karou?!" Nocturn achtete nicht auf Greens schockierten Einwurf, sondern fuhr fort, als hätte man ihn gar nicht unterbrochen:
"Denn das kleine Menschenmädchen wollte unbedingt die Rolle des Märtyrers spielen, ohne zu bemerken, dass sie die Rolle des Narren übernahm. Sie hat das Gespräch von dir und deinem Bruder belauscht, Fille, und ganz offensichtlich mag deine Freundin deinen Anwärter nicht - und du kennst deine Freundin, Fille. Sie machte sich auf nach, wie ihr so schön sagt, Henel ..."
"Nein! Sei ruhig!", rief Firey aufgebracht dazwischen, doch weder ihre Stimme noch ihr Körper waren in der Lage, ihn vom Weiterreden abzuhalten:
"... wurde dort bereits sehnsüchtig von Karou erwartet und machte Bekanntschaft mit seinem Labor - und seiner Hand. Siehst du diese schwarzen Male an ihrem Hals?" Nocturns Hand schnellte jäh hervor, als er dies sagte, und packte sie an ihren lockigen roten Haaren, um ihren Kopf abrupt zur Seite zu legen. Ein Keuchen entfloh Fireys Lippen, als er sie so fest an ihren Haaren packte, doch sie konnte sich auf die Lippen beißen - anders sah es allerdings aus, als Nocturn mit seiner anderen Hand ebenso unsanft an ihrem Kragen zerrte, so dass Fireys Hals freigelegt wurde und dieses Mal konnte sie sich nicht zurückhalten: ein Schrei, der deutlich von ihren Schmerzen zeugte, entfloh ihrer bereits so geschundenen Kehle.
Es war unzweifelhaft, wie sehr Nocturn nicht nur Fireys Schmerzen gefielen, sondern auch Greens vollkommen entgeisterter Blick, als sie sah, welche Schmerzen ihre beste Freundin verspürte, doch es war noch nicht vorbei:
"Du siehst dieses Mal ganz deutlich, oder, Fille? Du hast ihre Schmerzen gehört, nicht wahr? Kannst du dir vorstellen, wie es für sie war, dort gefangen zu sein? Karou ist nicht gerade der netteste Zeitgenosse - und hat er nicht etwas gegen Feuerwächter? Ich meine, mich daran erinnern zu können. Und warum glaubst du, hat sie es getan? Das alles auf sich genommen?"
"Nein! Hör auf!" Doch Fireys Einmischen brachte nichts; Nocturn brachte sie schnell zum Schweigen, indem er ihren Kopf ruppig in den Nacken riss.
"Ja, denn sie tat das alles nur für dich, Fille. Was für eine tolle Freundin du doch hast! Eine Freundin, die dir die Worte von vor einem Jahr nicht glauben wollte, die niemandem glauben wollte, sich naiv an eine Hoffnung geklammert hat, sie die ganze Zeit in sich vergraben hat und sie mit niemandem geteilt hat! Immer noch bewahrt sie nostalgisch ein Foto vergangener Zeit in ihrem Zimmer und sieht es immer an; immer und immer wieder - und wofür? Für eine Hoffnung, die schon längst gestorben ist!"
Und da geschah es.
Es war unklar, ob Nocturn es zugelassen hatte oder ob er Fireys Reaktion einfach unterschätzt hatte, denn für einen Augenblick sah er überrascht aus, als er sah, wie Firey sich aus seinem Griff losriss, dabei mehrere ihrer Haare herausreißend, doch sie waren ihr egal. Sie sackte zuerst auf den Boden, als sie sich aus seinem Griff befreit hatte, doch sie nutzte die Gelegenheit nicht, um sich sofort wieder aufzurichten, sondern nahm all ihre Kraft zusammen und rief mit voller Inbrunst und Kraft ihres Herzens:
"Das ist nicht wahr! Die Hoffnung ist nicht vergebens! Ich habe Siberu getroffen, Green! ICH HABE SIBERU GETROFFEN!"
Nocturn war nicht der einzige Dämon, der sich im Augenblick köstlich amüsierte: Viele andere seiner Art waren von einer wahren Euphorie befallen, ausgelöst durch die Befriedigung, die ihnen das Bekämpfen und Töten von Wächtern gab. Die, die den Kriegsanfang überlebten und wieder heil in die Dämonenwelt zurückkehrten, sprachen von einer Wiedergeburtserfahrung und sämtliche heimische Probleme waren vergessen - jedenfalls für den Moment, in welchem das Blut floss.
Lycram war ebenfalls von jenem Freudenrausch befallen - grinsend kämpfte er sich durch die Straßen Sanctu Ele'saces: Es war sein Verdienst, dass die Dämonen so weit vorgedrungen waren und es war auch seine Horde, die den Großteil der Dämonen ausmachte - und die, die nicht zu seiner Horde gehörten, überlegten sich, zu ihm überzuwechseln. Denn wenn es eine gute Art gab, für neue Mitglieder zu werben, dann war es, im Kampf eine gute Figur abzugeben - und das tat Lycram mit Bravour.
Ein konstantes blaues Leuchten erhellte die Umgebung um ihn herum und untermalte sein siegessicheres Grinsen mit unheimlichen Schatten - denn natürlich war ihm bewusst, dass er dabei war, gute Werbung für sich und sein Gebiet zu machen und umso mehr Wächterköpfe wegen seiner Fäden rollten, desto besser - und unter Jubel und Freudenrufen seiner treuen Hordenmitglieder, die ihrem Fürsten gerne den Vortritt ließen, fielen auch einige Gebäude mittels roher Gewalt in sich zusammen. Denn obwohl Lycram seine blauen Fäden, eine Familientechnik, die eigen war für Azzazellos und seine Rasse, wegen seiner Seltenheit und Effektivität mit Stolz führte, so gab es manches Mal doch nichts Befriedigenderes als mit der puren Faust Zerstörung zu verbreiten.
Es war jedoch nicht so, dass Lycram nicht auch auf starke Gegenwehr gestoßen war und Lacrimosas Schwestern hatten recht damit, dass Lycram verletzt war - umso besser! Wenn man als Fürst verletzt war und dennoch weiter kämpfte, bekam man enorm viele Pluspunkte, denn dann war man ein gutes Beispiel von dämonischer Stärke und Überlegenheit. Natürlich war es in den Augen des normalen Fußvolkes eine eindeutige Schwäche der Wächter, dass sie sich zum Heilen zurückzogen, wenn sie verletzt waren ... alles feige Schwächlinge!
Obwohl diese Einstellung bei den meisten Dämonen üblich war, so änderte sie nichts daran, dass Lycrams rechter Arm taub war. Ein Naturwächter - jetzt natürlich schon tot - hatte ihm eine klaffende Wunde an der Schulter zugefügt und dabei wohl einige Nerven beschädigt, die es Lycram unmöglich machten, den Arm zu bewegen. Da er wie viele andere Dämonen die Fähigkeit besaß, seine Gliedmaßen nachwachsen zu lassen, könnte er sich einfach von seinem Arm trennen, doch geschah das Nachwachsen nicht sofort - und mit einer blutfließenden Wunde würde auch er nicht lange eine gute Figur abgeben können. Er hatte sich daher eines Tricks bedient, den sein großer Bruder ihm beigebracht hatte. Denn er hatte herausgefunden, dass die Fäden nicht nur dafür gebraucht werden konnten, Knochen zu zerschneiden, sondern auch um Dinge zusammenzuhalten. Einen Augenblick hatte Lycram daher seinen Dämonen den Vorrang gelassen, um seinen Arm selbst wieder an seine Schulter zu nähen. Notdürftig konnte man diese Operation wohl nennen, aber sie verhinderte auf jeden Fall ein Verbluten, bis er wieder in seiner Heimat war.
"Lycram-sama!" Lycram sah auf, als er gerufen wurde. Er war gerade dabei gewesen, mit seinem Handrücken das Blut aus seinem Gesicht zu wischen, welches teilweise sein eigenes war - denn er war auch am Kopf von einer Attacke geschleift worden - und das der Wächter, die er getötet hatte, weshalb er auch wusste, dass er es sich nicht ablecken durfte, so wie es bei Dämonen so gut ankam; denn auch für Dämonen war das Blut der Wächter Gift und konnte zu schlimmen Blutvergiftungen wie auch zum Tode führen.
"Was ist?", fragte Lycram ein wenig unwirsch, denn er hatte förmlich im Gespür, dass ihm die Nachricht, die einer seiner drei Kommandeure ihm brachte, nicht gefallen würde.
"Die Barrieren! Sie sind wieder da und das bedeutet, dass wir nicht in unsere Heimat zurückkehren können." Vereinzelt begannen die Dämonen um Lycram herum miteinander zu tuscheln, doch ihr Fürst blieb unbeeindruckt. Genervt stemmte er seinen gesunden Arm in die Hüfte und erwiderte:
"Na und? Hast du etwa schon keine Lust mehr?"
"Ne-Nein, Lycram-sama, so ist es natürlich nicht ..."
"Na also, dann sehe ich auch keinen Grund, zurückzukehren." Er achtete nicht auf den Blick seines Kommandeurs, welcher sich nicht entscheiden konnte, ob er nun Lycrams Führungskraft anzweifeln oder von seinem Kampfeswillen beeindruckt sein sollte, und wandte sich an zwei Dämonen zu seiner Linken. Zuerst musterte er die beiden recht gleich aussehenden Rotschöpfe aufmerksam, dachte über etwas nach und schien dann zu einem Urteil zu kommen:
"Ihr zwei könntet von der Größe und Statur her als Wächter durchgehen." Beide nahmen das ganz offensichtlich nicht als Kompliment, doch sagten nichts und ließen Lycram ungehindert fortfahren:
"Sorgt dafür, dass ihr unbemerkt an den Rand der Insel gelangt - und wenn ich unbemerkt sage, meine ich unbemerkt, verstanden? - irgendwo am Rand müssten die Kugeln stehen, die für die Barriere zuständig sind. Die zerstört ihr - und zwar so, dass sie sie nicht wieder benutzen können." Die beiden Rotschöpfe sahen ihren Fürsten verwirrt an - und dass sie seinem Befehl nicht sofort Folge leisteten, sorgte schon dafür, dass Lycrams Stirn wütende Furchen zeigte:
"Seid ihr taub oder warum seid ihr noch hier?!" Beide fuhren zusammen und schneller als Lycram erwartet hätte, verschwanden sie auch schon in den brennenden Gassen von Sanctu Ele'saces, argwöhnisch beobachtet von Lycrams wütendem Blick.
"Wie fähig sind die beiden Winzlinge?", fragte er seinen Kommandeur unwirsch, doch der war den Tonfall seines Vorgesetzten schon gewohnt und antwortete gelassen:
"Sind nichts Besonderes. Mittelmäßig. Woher wisst Ihr eigentlich, dass Kugeln die Barriere schaffen?" Lycram grummelte etwas Unverständliches und hatte nicht im Sinn, es verständlich zu machen, denn er hatte nicht vor zuzugeben, dass er seinem großen Bruder einige Male mehr zugehört hatte, als dieser selbst glaubte.
Lycram wollte seinem Kommandeur gerade den Befehl dazu geben, die Rotschöpfe zu verfolgen, als er bemerkte, dass er seine Füße nicht anheben konnte - noch bevor er nach unten sah, um zu erkennen, was der Grund dafür war, spürte Lycram es bereits: Seine Füße waren an dem zuvor noch wässrigen, nun mit einer Eisschicht überzogenen Boden vereist.
"Lacrimosa?" Sein erster natürlicher Verdacht war jedoch falsch, wie Lycram schnell bemerkte, als er seinen Kopf über die Schulter wandte und Azura und Pelagius am Ende der Straße stehen stand. Das Vereisen der Straße war Azuras Werk, wie ihr mit Eis überzogenes rechtes Bein bewies - doch obwohl ihr Blick Entschlossenheit zeigte, hatte Lycram nur ein abwertendes Grinsen für sie übrig:
"Lacrimosa wäre eindeutig beängstigender gewesen als so eine Göre." Und damit riss Lycram sein vereistes Bein mit bloßer Körperkraft aus dem Eis und ging zum Angriff über.
Die ersehnte Verstärkung für die Wächter von Min Intarsier war dank Ukario und ihrer eigenen Vorstellungskraft auf ein schreckliches Szenario vorbereitet gewesen und viele Wächter waren nervöser gewesen, als sie es hätten zugeben wollen. Natürlich hatte es sich niemand anmerken lassen; auch Azuma nicht, der es auch sich selbst nicht eingestehen wollte und das leichte Zittern seiner Hände dadurch verbarg, dass er sie so fest zusammenballte, dass sie bereits weiß wurden. Als die auf alles vorbereiteten Wächter allerdings am äußersten Teleportationspunkt ankamen, weiteten sich trotz aller Vorbereitung ihre Augen, denn das, was sie dort sahen, hätten sie sich nicht vorstellen können.
Es war gut für sie gewesen, dass sie sich einen Teleportationspunkt ausgesucht hatten, der am Rand der Insel lag, denn vor ihnen befand sich kein schreckliches Kriegsszenario, sondern nur eine enorme, schwarze Kuppel, die die gesamte Insel bis auf einige Hundert Meter einnahm. Es war sehr still; doch nur so lange, bis die Hinzugekommenen versuchten, richtig hinzuhören - denn mit gespitzten Ohren waren verzerrt Geräusche zu vernehmen ... Stimmen. Doch sie waren gedämpft und nur überaus schwer zu hören, und wie sehr Saiyon seine Ohren auch anstrengte, konnte er die Stimmen nicht klarer erfassen. Aber Schreie waren es nicht. Saiyon wusste nicht warum, aber genau das machte ihn nervös.
"Hvad for helvede... Was zur Hölle ist das denn?"
"Das ist ein gewöhnlicher Noxzauber. Nur von einem ungewöhnlich hohen Kaliber", lautete Hizashis Erklärung, denn Shaginai und Adir hatten eine ähnliche Frage gestellt wie Azuma - wenn auch zurückhaltender formuliert. Mithilfe der Videoübertragung der angekommenen Wächter sahen die Hikari im Tempel nun das gleiche wie sie und ärgerten sich alle drei wieder einmal darüber, dass sie seit ihrem Tod keine Lichtmagie mehr einsetzen konnten - und was für ein perfektes Timing: diejenige, die es wieder konnte, hatte gerade den Tempel verlassen, wie der Computer ihnen mitteilte.
"Das erklärt auch, weshalb wir keine Verbindung mehr zu den Wächtern auf Min Intarsier haben. Die Wirkung des Noxzaubers stört das Signal."
"Wie viele Dämonen befinden sich aktuell auf Min Intarsier?", fragte Adir die Stirn in besorgte Falten gelegt, die Ruhe aber bewahrend.
"3516 - Anzahl leider nicht fallend, aber auch nicht steigend. Die Barrieren sind weiterhin aktiv", antwortete Hizashi und Adir erwiderte nachdenklich:
"In solch einem Fall hätten wir Green-san hier gut gebrauchen können. Der Noxzauber scheint zwar ein wenig zu mächtig für ihre Fähigkeiten zu sein, als dass sie ihn neutralisieren könnte ..." Abfällig schnaubte Shaginai; wohl um ihm recht zu geben - oder um weitere Kommentare über Greens Fähigkeiten zu unterdrücken.
"... aber Flächenangriffe wären jetzt die beste Alternative, um damit so viele Dämonen wie möglich auf einen Schlag auszulöschen, ohne dabei unsere Mitstreiter zu verletzen."
"Yogosu kann weder die eine noch die andere Technik zur vollsten Effektivität anwenden."
"Eine solche Strategie kommt ohnehin nicht infrage", unterbrach Hizashi Shaginai und Adir, nachdem er Tinami den Befehl gegeben hatte, die Wächter auf Min Intarsier über den Noxzauber zu informieren. Zwar sollten sie alle die Vorgehensweisen bei einer solchen Technik während ihrer Ausbildung gelernt haben, doch Hizashi rechnete immer die Inkompetenz anderer mit ein.
"Es sind zu viele Dämonen, als dass es zweckmäßig wäre, sie systematisch einen nach dem anderen zu töten; reine Zeit- und Magieverschwendung. Geben Sie mir ein paar Minuten Stille und ich werde den Urheber des Noxzaubers herausfiltern - und Sie ...", er wandte sich an die aufblickende Tinami:
"... informieren bitte Seigi und den Offizier, dass sie auf weitere Befehle warten sollen, ehe sie sich nach Min Intarsier aufmachen." Und ohne auf eine Antwort zu warten, widmete Hizashi sich wieder dem Hauptbildschirm zu, platzierte seine weißen Finger auf die Tastatur und schon flimmerten die Daten über den Bildschirm.
"Wie genau will er bei 3516 Dämonen herausfinden, wer eine ihrer Standardattacken angewandt hat?", fragte Shaginai, die Arme abwartend über der Brust verschränkt und unzufrieden dreinblickend. Auch er hätte genau wie Adir eher dazu tendiert, die einsatzbereiten Wächter flächendeckende Attacken einsetzen zu lassen, um so irgendwann den richtigen Dämonen zu erwischen.
Auch Adir konnte nicht genau sagen, wie Hizashi den verantwortlichen Dämon finden wollte:
"Vielleicht mithilfe des Radius oder der Magieverdichtung? Gab es da nicht eine Formel ..."
"Ich habe um Ruhe gebeten!"
Beide Mitglieder der Erhabenen Drei verstummten sofort, als Hizashi sie mit einem giftigen Blick bedachte und sich dann beschwerend wieder umwandte, um ohne Umschweife wieder an seine Arbeit zurückzukehren. Es gab nicht viele Personen oder Situationen, die Shaginai zum Schweigen bringen konnten, aber wenn Hizashi seinen giftigen Lehrerblick herausholte, wusste auch er, dass Schweigen angebracht war - denn immerhin waren sie alle, ohne Ausnahme, von ihm einst unterrichtet worden.
Tinami hatte die Wächter, die Min Intarsier zu Hilfe eilen sollten, allesamt über den Noxzauber informiert - und auch alle anderen sich auf Min Intarsier befindenden Wächter, die irgendwie an ein Kommunikationsgerät gelangt waren. Zwar kamen keine Signale in der Kommandozentrale an, doch vielleicht war es andersherum möglich? Leider war die Hoffnung vergeblich - denn Ilang und die anderen Wächter hörten nur Rauschen, gerade nachdem sie sich gefreut hatten, wieder Verbindung zum Tempel zu haben. Die Verstärkung war von Tinami darüber informiert worden, dass sie alle einen speziellen Modus ihres Kommunikationsgerätes einschalten mussten, um der Dunkelheit und den darauffolgenden Wahnvorstellungen nicht zum Opfer zu fallen - genau dies hatte auch Ilang getan, womit sie nun alles in einem dunklen, grünen und leicht verzerrten Filter sah. Aber sie hatte keine Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, wer der Urheber des Noxzaubers war oder sich von eben diesem beirren zu lassen, denn sie musste sich vor ihrem Verfolger verstecken, welcher sich ebenfalls nicht von der plötzlichen Dunkelheit ablenken ließ - warum auch, er war immerhin vor Wahnvorstellungen sicher, da der Zauber keine Wirkung auf seine Art hatte.
Mit der Hand auf ihren Mund gepresst, um ihr stoßartiges Atmen zu unterdrücken, war es Ilang noch in der letzten Sekunde gelungen, sich hinter einer Biegung zu verstecken, die eigentlich weiter nach unten führte in das Gewächshaus, welches sie wie ihre Westentasche kannte - genauso wusste sie aber, dass der einzige Ausgang der war, den ihr Verfolger genau im Blick hatte. Ihre Aura konnte er wegen dem Ingnix nicht spüren, aber er würde sie schon bald finden - oder einfach das Gewächshaus abbrennen, samt ihr. Doch das Gewächshaus und der damit verbundene Anbau von Heilkräutern war ohnehin genauso verloren wie der Rest der Insel ... Viel entscheidender war, dass sie dem Dämon hilflos ausgeliefert war, wenn er ihr Kommunikationsgerät vom Kopf reißen würde - genauso hilflos, wie viele ihrer Mitwächter es waren, die fernab von den Gewächshäusern verängstigt in ihre eigenen Wahnvorstellungen untergingen und somit zu kompletten Spielzeugen der Dämonen wurden. Wenn sie ihr Kommunikationsgerät verlieren würde, würde sie genauso enden ...
Aber ihr blieb gar keine andere Möglichkeit; wenn sie nicht kampflos sterben wollte, dann musste sie sich wehren, denn sie hörte, dass die Schritte des Dämons näherkamen - das Knirschen der Glassplitter war in dieser bedrückenden Stille so laut wie ein Donnergrollen. Langsam löste Ilang ihre Hand von ihrem Mund und formte tonlos die Beschwörung ihrer Attacke, um ihn hoffentlich schon bei ihrem ersten Angriff zu töten - und mochten die Pflanzen und Kräuter ihr verzeihen, sie würde sie alle wieder anbauen und zu neuer Blüte bringen.
Ilang hörte, wie die Fliesen auseinanderbrachen, wie die dornenüberzogenen Ranken nach ihrem Ziel schnappten, Krüge fielen herunter, Keramik zersprang, Erde wurde verschüttet - aber ihre Attacke hatte ihr Ziel verfehlt, wie sie schnell zu spüren bekam; in dem Moment, als sie sich ein Stückchen von der Wand gelöst hatte, sprang der Dämon jäh hervor und schon wurde Ilang die Treppen heruntergeschlagen. Mitten auf den Stufen, die zum Gerätekeller führten, schlug sie mit dem Rücken zuerst auf und ein Schmerzensschrei entfuhr ihr. Ihr Sichtfeld verschwamm, aber gerade noch rechtzeitig sah sie, wie er mit einer violett leuchtenden Hand ausholte, die einen Strahl entfesselte - welcher auf ihren Kopf gerichtet war.
Hastig und dabei nicht auf ihre Schmerzen achtend riss sie ihren Kopf beiseite, ihre Hand zu einem erneuten Versuch erhoben:
"SHÉNGKAI DE SUÌ GÛ!"1
Da geschah es - der dünne Magiestrahl hatte Ilang nicht getroffen, allerdings ihren Kopf gestreift. Mit einem Knacken brach das Kommunikationsgerät auseinander, im gleichen Moment, wie die Ranken dieses Mal den Dämon zu fassen bekommen hatten und augenblicklich wurde alles um sie herum dunkel.
Unwirklich, komplett in Schwarz getaucht, als wäre Ilang in einer Welt gefangen, die auf einer schwarzen Leinwand gemalt worden war, sah sie die Treppenstufen über ihr. Ihr Atem beschleunigte sich schlagartig, ihr eigener Herzschlag pochte in ihren Ohren, ihre Augen begannen zu zittern; ihr ganzer Körper zitterte.
Was war das? Am Ende der Treppe, da ... da stand doch jemand? Jemand ... der auf sie herunter sah? Sie konnte die Person nicht erkennen, da sie komplett schwarz war, aber es schmerzte, sie anzusehen, denn sie kannte sie ... ja, Ilang wusste, wer dort stand und verurteilend auf sie herabblickte. Aber ... warum sah er sie denn so an? Was hatte sie getan, weshalb sie seine Kälte verdient hatte?
"W-Warum ... warum siehst du mich so an? Grey! Grey, oh bitte, sieh mich nicht so kalt an!" Ja, es war Grey - sie erkannte ihn jetzt, doch seine Augen ähnelten nicht dem Himmel, sondern glichen mit ihrer Kälte viel mehr Eis, das auch dann nicht schmolz, als Ilang versuchte, sich unter Schmerzen aufzurichten, die Hand nach ihm ausstreckte - und dann mit einem Schrecken bemerkte, dass sich unter ihr eine Blutlache aufgetan hatte; es war das gleiche Blut, das jetzt über ihre ausgestreckte Hand nach unten tropfte. Schneller und immer schneller wurde Ilangs Atem, als sie an sich herunterblickte und bemerkte, dass ihr Unterleib die Quelle des Blues war - das Kind! Ihr Kind! Das Kind von Grey und ihr!
Schritte rissen sie aus ihrer Panik heraus, ihr Kopf schnellte nach oben und sie sah, wie Grey sich abwandte, als ginge ihn der Anblick Ilangs nichts an - nein, schlimmer noch, als würde es ihn anwidern. Aber es waren nicht seine Schritte gewesen; es waren federleichte Schritte einer dritten Person gewesen, die jetzt auch Greys Hand nahm und ihn wegführen wollte.
"Grey! Bitte, bitte, geh nicht! Ich - WIR! - Wir brauchen dich!" Die dritte Person lächelte und Grey wandte sich diesem Lächeln zu, erwiderte es, sah Ilang nicht mehr-
"Nein ... nein! Bitte ... bitte ... Grey, hilf mir!"
"...nee-sama!"
"Geh nicht! Grey! Das ist deine Schwester! Sie wird dir...Unglück bringen! Sie wird dich..."
"Onee-sama! Hörst du ..."
"... umbringen! Grey, geh nicht, du darfst nicht sterben! GREY!"
"Ilang!"
Grey wandte sich kein einziges Mal um, ehe die Nacht verschwand und alles auf einmal grün wurde - und Ilang mit einem Keuchen Daichi vor sich sah. Ihren kleinen Bruder - um sie besorgt, schmutzig und mit Schrammen im Gesicht. Aber als sie die Augen öffnete, lächelte er. Doch Ilang konnte nicht lächeln. Alles, was sie tun konnte, war ihre Hände über ihren Unterleib zu legen und verzagt zu weinen.
"Akai!", entfuhr es Hizashi plötzlich nach exakt neun Minuten Stille und dieses Mal, ohne Shaginai oder Adir zurechtweisen zu müssen:
"Es ist "der rote" Akai, der Fürst des 11. Gebietes - wie praktisch, dass Seigi bereits auf ihn angesetzt ist." Dennoch rasten seine Finger kurz über die Tastatur, woraufhin eine Karte von Min Intarsier auf dem Bildschirm erschien. Kurz überblickte er sie, legte seine jugendhaft wirkende Stirn in Falten, tippelte kurz mit den Fingerkuppeln auf seiner Stuhllehne, erwünschte kein Kommentar von Shaginai und Adir, die sich weiterhin zurückhielten, und griff dann wieder zum Mikrofon, um mit Seigi und Shitaya Kontakt aufzunehmen - ohne sich vorher mit Shaginai und Adir zu beraten:
"Wie ihr bereits von eurer Mitwächterin informiert worden seid, ist weitaus mehr als der Großteil der Insel in einen Noxzauber eingeschlossen - ich denke, ich muss euch nicht darüber informieren, welche Konsequenzen das auch für euren Kampf hat; auch dich nicht, nicht wahr, Seigi? Nehmt dennoch den südlichsten Teleportationspunkt, womit ihr euch direkt in das Wirkungsfeld des Noxzaubers teleportiert. Kontrolliert daher vorher, ob eure Kommunikationsgeräte fehlerfrei sind. Nichts darf euch behindern; auch eure eigenen Mitwächter nicht! Haltet euch zurück und lasst Seigi den Fürsten verfolgen. Töte Akai schnell, Seigi. Spiel nicht, hast du gehört!?" Hizashi schien nicht auf eine Antwort zu warten, sondern kappte die Verbindung sofort und lehnte sich abwartend zurück. Diese Chance ergriff Adir:
"Mich würde wirklich interessieren, wie du herausgefunden hast, dass es sich bei dem Urheber um Akai handelt?" Langsam wandte Hizashi sich herum und sah in das neugierige Gesicht Adirs und in das eher skeptische Shaginais, welches ihm sagte, dass dieser genauso gespannt auf die Erklärung war wie Adir:
"Ihr zwei mögt zu den fähigsten Hikari der Geschichte gehören, aber keiner von euch beiden hat in meinem Unterricht einen Rang eins belegt - und dass ihr eine solche Frage stellt, beweist, warum euer Wissen nicht gereicht hat, um die Abschlussklausur mit Bravour zu bestehen."
Nachdem sowohl Shaginai als auch Adir ein wenig beschämt dreinblickend das Schweigen vorgezogen hatten, hatten sie sich wieder dem Krieg zugewandt, indem sie der wartenden Verstärkung vor dem Wirkungskreis des Noxzaubers den Befehl gaben, sich jetzt vorsichtig vorwagen zu dürfen. "Vorsichtig" war leichter gesagt als getan, denn kaum betraten sie die unwirkliche, dunkle Welt, zu der das grüne Min Intarsier geworden war, bemerkten sie, dass nicht alleine die vielen Dämonen eine Herausforderung darstellten, sondern vor allen Dingen ihre eigenen Mitwächter, die zwischen Freund und Feind nicht länger unterscheiden konnten und sich auf die, die ihnen eigentlich zu Hilfe kommen wollten, nun verzweifelt und illusioniert stürzten, unter dem schadenfrohen Lachen der Dämonen, für die es ein lustiges Schauspiel war - denn sie konnten natürlich nicht verstehen, warum die ihre Mitwächter nicht einfach töteten, wenn diese sie angriffen.
"Versucht, sie bewusstlos zu schlagen!", rief Saiyon in sein Mikro, dabei gleichzeitig einem Mitwindwächter ausweichend, welcher ihn tatsächlich mit Wind hatte angreifen wollen:
"Aber tötet sie nicht! Und passt auf, dass sie euch nicht eure Kommunikationsgeräte entreißen!" Leichter gesagt als getan, dachte Azuma, als Minare das gleiche an sein Bataillon durchgegeben hatte: wich man einem Wächter aus, kam hinter einem schon ein Dämon hervorgeschnellt - und es war ja nicht so, dass die Wächter sie alle angriffen. Einige klammerten sich auch verzweifelt an einen und schon mehr als einmal musste Azuma einen Wächter brutal wegtreten, ansonsten wäre er von einem Dämon zweigeteilt worden.
"Das ist eine mega Behinderung!", rief er Minare zu, obwohl sie gerade Rücken an Rücken standen, um den jeweils anderen zu decken, doch das Geschrei und die vielen panischen Magieentladungen waren zu laut, als dass es möglich gewesen wäre, in einer normalen Lautstärke miteinander kommunizieren zu können.
"Hast du einen besseren Vorschlag?! Ich bin ganz Ohr!" Nein, das hatte Azuma zugegebenermaßen nicht, denn er hatte oft genug gehört, dass die oberste Regel lautete, keinen Mitwächter töten zu dürfen und auch er sah ein, dass sie nicht die gesamte Bevölkerung von Min Intarsier - oder das, was von ihr übrig geblieben war - töten konnten. Es war nur eben ... verdammt ... schwer, so kämpfen zu müssen.
Sie waren wieder gezwungen, auseinander zu springen und obwohl Minare gerade noch ins Mikro geschrien hatte, dass sie zusammenbleiben mussten, bemerkte Azuma nach einigen weiteren toten Dämonen, weiteren verteilten Fußtritten - gegen Fußtritte stand hoffentlich nichts in den Regeln - dass er dabei war, von den anderen seines Bataillons getrennt zu werden. Die Ursache dafür war nicht sein eigenes Verlangen, sich von der Gruppe zu trennen, sondern, dass er gegen seinen Willen in einen Zweitkampf mit einem weiblichen Dämon geraten war, die seinen Steinspeeren auf erstaunliche Art entgehen konnte, weshalb es Azuma bis jetzt noch kein einziges Mal gelungen war, einen Treffer zu landen; denn sobald er sie traf, löste sich der Körper der überaus gelenkigen Dämonin in eine ölähnliche Substanz auf - nur um ihn dann aus dem Hinterhalt anzugreifen. Doch auch seine Verteidigung war nicht zu unterschätzen und keiner ihrer Angriffe war durch seine Sandwände gedrungen. Das Positive an diesem Zweikampf war, dass Azuma nun nicht mehr das Problem hatte, dass ihn andere Wächter behinderten - denn die einzigen anderen Wächter, die sich hier befanden, lagen tot auf dem Boden und waren nicht mehr in der Lage, ihn irgendwie zu behindern - es sei denn er stolperte über ihre reglosen Körper.
Mit einigen grazilen Saltos rückwärts, dabei achtlos über die Leichen springend, sprang die Dämonin nach einer weiteren wirkungslosen Attacke von ihm weg.
"Du beeindruckst mich!", lobte die Dämonin ihn mit einer extrem hellen Stimme, mit der sie garantiert einigen in den Ohren schmerzte; jedenfalls übertönte ihre Stimme den Wasserfall zu deren linker Hand, dessen tosendes Wasser auf eine weiter unten gelegene Insel stürzte und darauf in einem großen See mündete, in welchem die Wächter gerne mit ihren Familien zu baden pflegten. Azuma wunderte sich über die Einladung zu einem Gespräch, aber nicht so sehr, als dass er seine Angriffsposition aufgab: die rechte Hand ausgestreckt vor sich, in einem absoluten 90° Grad Winkel, wie Ignes es ihn gelehrt hatte, und die andere Hand am Körper angelegt - eine zum Angriff, eine zur Verteidigung. Seinen Stab hatte er noch als goldenen Anhänger um seinen Hals hängen, da er eigentlich nur für Flächenangriffe vorgesehen war, die er jetzt natürlich nicht anwenden durfte, auch wenn es ihm in den Fingern juckte.
"Wieso?", antwortete Azuma auf Englisch, worauf die Dämonin sofort die Augenbrauen hob;
"Weil ich kein Problem habe, eine Frau zu schlagen?"
"Wow, dein Englisch ist ziemlich gut für einen Wächter", erwiderte sie nun ebenfalls in einem tadellosen Englisch.
"Tja, in Dänemark haben wir eben keine Synchronisation", erklärte Azuma mit einem Grinsen, doch wollte sie gerade wieder angreifen, da er ein Gespräch mit jemandem, den er ohnehin töten würde, als ziemlich sinnlos erachtete - doch das sah sie offensichtlich anders:
"Ich diene Chernobog-sama-"
"Schön für dich, und ich diene niemandem - könnten wir-"
"... und mein Name ist Nilminie, aber du darfst mich Nil nennen. Jüngchen, du solltest jemanden nicht unterbrechen, wenn er sich vorstellt. Ich dachte, ihr Wächter wärt so höflich?" "Jüngchen"? Sie sah nicht sonderlich viel älter aus als er, auch wenn man das bei Dämonen ja nie genau sagen konnte - zugeben, sie sah gut aus, allerdings auf eine eher exotische Art - die exotische Art, die einem sagte, dass man sie nicht anfassen sollte, ähnlich wie giftige Pflanzen oder Tiere. Sie trug eng anliegende Kleidung in einer Mischung aus grellen Lila- und Grüntönen, die eher wie ein Teil ihres Körpers wirkte, als aus Stoff genähte Kleidung. Ihre schwarzen Haare waren kurz und ihre verschiedenfarbenen Augen - das eine lila, das andere grün - umrandet von Kajalschminke, trugen zu ihrem exotischen Aussehen bei; besonders üppige Rundungen besaß sie allerdings nicht.
"Obwohl ich nicht gerade als typischer Wächter bekannt bin, halte ich mich dennoch an die Regeln - und ich glaube sich vorzustellen bricht ein paar."
"Du solltest froh sein, dass ich mich vorstelle, denn die, die meinen Namen kennen, die töte ich nicht beim ersten Treffen: Die bewahre ich mir nämlich auf."
"Ach? Du nimmst den Mund ganz schon voll dafür, dass du mich noch kein einziges Mal getroffen hast." Ihr vorher noch schelmisches Lächeln wurde zu einem Fangzähne entblößenden Grinsen, als sie ihn neckisch angrinste und ein glockenhelles Kichern übertönte das Tosen des Wasserfalles. Azuma wusste nicht, was es war, was seinen Instinkt alarmiert hatte, doch genau in letzten Augenblick sprang er hastig rückwärts einige Meter hinter sich; weg von einer sich unter ihm plötzlich auftuenden Pfütze aus Öl. Nur einen kurzen Augenblick hatte er in ihr gestanden und doch hatte er einen heftigen Zug gespürt, als wäre er mitten in Treibsand gestanden. Ungefährlich war diese unscheinbare Pfütze tatsächlich nicht, denn dort, wo Azumas Stiefel Kräuselungen auf der Oberfläche hinterlassen hatten, schossen jäh dünngeformte Pfähle auf ihn zu. Zwar konnte Azuma sich nicht vorstellen, wie etwas aus Öl Geformtes ihn verletzten konnte, doch er ließ es nicht auf ein Risiko ankommen und nutzte seine Sandmauer, um die Pfähle zu parieren - und zu seiner Überraschung drangen sie hindurch.
Azuma war nicht schnell genug, um auszuweichen und so trafen ihn beide Pfähle - der eine bohrte sich in seinen rechten Ellenbogen, der andere streifte seine Wange nur, doch riss sie auf, als wäre es kein Öl, sondern Metall gewesen. Doch die Wunde an sich war weder in seinem Gesicht noch an seinem Ellbogen, was ihn sofort dazu brachte, mit pochendem Herzen Minare zu kontaktieren:
"Ich bin vergiftet! Minare ..."
"Na, du willst mir doch nicht meinen Triumph kaputtmachen, dich nun doch getroffen zu haben?" Bestürzt wirbelte Azuma herum - doch zu spät. Denn er konnte nicht verhindern, dass Nilminie ihm das Kommunikationsgerät ganz einfach vom Kopf nahm und ihn in die Dunkelheit des Noxzaubers stürzte.
Die Schmerzen seines Armes und die in seinem Gesicht steigerten sich augenblicklich ins Unerträgliche; dennoch war es etwas anderes, dass seine Panik schürte. Es war die plötzliche Orientierungslosigkeit, denn er hatte absolut nichts in dieser Dunkelheit, an dem er sich orientieren konnte; keine Konturen, keine Geräusche - nur Schmerzen, die in seinem Kopf pochten und pochten. Doch! Doch da war ein Geräusch ... was war das? Wasser. Das Meer. Wellen. Aber nur leichter Wellengang. War es die Nordsee oder die Ostsee? Er mochte die Nordsee lieber. Salzwasser würde ihm jetzt sicherlich helfen ... es würde seine Wunden heilen können, so wie es früher immer gewesen war. Zuerst tat es weh. Dann wurde es aber langsam gut.
"Geh nicht ins Wasser!" Azuma hielt sofort inne, obwohl er schon mit den Knöcheln im Wasser stand und die Wellen sanft um seine Beine herum spülten.
"Da draußen kannst du nicht stehen und die Strömung ist zu stark. Sie wird dich rausziehen! Hörst du, Kristian?"
"P-Pernille?"
Firey blickte auf, nachdem sie die Worte gerufen hatte, die auf ihrer Seele gelastet hatten: stoßweise atmete sie, als wäre sie gerade aus dem Wasser aufgetaucht und das Heben des Kopfes fiel ihr schwer, doch sie musste Greens Gesicht sehen ... sie musste sehen, wie sie auf diese lang ersehnten Worte reagierte ...
Die Worte hatten Green schockiert.
Das sah Firey in ihren kleinen, geröteten Augen. Sie hatte nicht erwartet, das zu hören. Sie hatte nicht erwartet, diesen Namen überhaupt jemals wieder zu hören. Komm schon, dachte Firey, komm schon, ein Lächeln, bitte, Green, sei erleichtert ... ich bitte dich ...
Und nun war es Firey, die schockiert war, denn ihre Freundin reagierte anders, als sie es für möglich gehalten hatte: der Schock legte sich in Greens Augen, verschwand. Und zurück blieb etwas, was Firey im ersten Moment nicht zu deuten vermochte, ihr dann jedoch bewusst wurde.
Mitleid. Und Schuldgefühle. Reue. Aber keine Freude. Keine Erleichterung. Nichts von dem, was Firey erwartet und erhofft hatte.
"Es tut mir Leid, Firey ... dass du so viel durchmachen musstest und das alles nur, weil ich so naiv war..." Tränen rannten Green über die Wunden, die Nocturn ihrer rechten Wange zugefügt hatten:
"Ich schwöre, ich mache das wieder gut ... ich schwöre dir, dass du nicht durch das gleiche ..." Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Feuerwächterin den Schmerz ignoriert, welcher sich jetzt jedoch aufdrängte, da er an einem Punkt angelangt war, an dem er unaufhaltsam geworden war, weshalb Nocturn auch nicht eingeschritten war, um die Konversation der beiden Freundinnen zu unterbrechen. Nun sah er abwertend dabei zu, wie Firey Bäche aus Blut erbrach und zu Boden stürzte.
"Dummes Menschenmädchen. Wenn man die Rippen gebrochen hat, steht man gerade, ansonsten bohren sie sich in die Lunge." Firey hörte seine Worte schon nicht mehr: Ihr Rachen quellte über vor Blut, welches ungehindert aus ihrem Mund sprudelte und auf die feuchte Erde strömte.
"FIREY!" Doch Firey hörte es nicht. Ihre Sinne trübten sich und sie bemerkte auch nicht, als Nocturn sich neben sie hinkniete und achtlos ihren Kopf an ihren Haaren emporzog und sich im Flüsterton an sie richtete. Obwohl die Worte leise waren, konnte Firey sie jedoch deutlich hören und jedes bohrte sich in ihr Herz:
"Aber das Alles stimmt nicht ganz, oder, Menschenmädchen? Du wolltest nur so tun, als ob du der Märtyrer wärst. In Wahrheit hast du einfach nur desperat nach einer Entschuldigung gesucht, einer billigen Ausrede, um dein eigenes Gewissen auszutricksen, welches dich davon abgehalten hatte, in die Welt der Dämonen zu gehen. Du warst nichts weiter als egoistisch. Aber es klingt gut, wenn man sagt, man habe es für seine beste Freundin getan, oder? Das klingt nach etwas Vertretbarem ... und nun wirst du verbluten, denn deine ach so tolle Freundin wird dich nicht heilen können. Also stirb. Für deine Rolle ist in diesem Drama kein Platz." Damit ließ er ihre Haare wieder los, und obwohl Green zu weit weg war, um die Worte zu hören, sah sie nun, wie Firey reglos auf dem Boden liegen blieb - und spürte, wie ihre Aura immer schwächer wurde.
Greens Mund stand offen, zu einem stummen Schrei geformt - doch zu Worten war sie nicht fähig. Sie konnte nur die reglose Firey anstarren, bemerkte auch nicht, wie Nocturn sich wieder neben sie teleportierte und nun beobachtend auf sie herabsah, deutlich auf etwas wartend, was nicht einzutreffen schien, denn als Green nach verstrichenen Sekunden immer noch nichts tat, beugte er sich zu der bebenden Hikari hin und reichte ihr manierlich seine dürre Hand. Erst diese Geste brachte Greens Pupillen dazu, sich zu bewegen, indem sie sich auf Nocturn und sein viel zu gelassenes Lächeln richteten, als wären sie auf einem Tanzparkett und er nur ein möglicher Tanzpartner, sie um einen Tanz bittend.
"Deine Freundin wird in ein paar Minuten verblutet sein - und du willst sicherlich bei ihr sein, wenn es so weit ist, nicht wahr? Deinem Bruder konntest du immerhin nicht beistehen, als er starb. Er musste alleine sterben. Aber wenigstens deine Freundin kannst du im Arm halten. Das willst du doch sicherlich auch, ja, ich denke auch, dass du das willst. Du willst bei ihr sein, wenn der letzte Tropfen Blut aus ihrem Körper rennt! Also komm, Fille, komm." Noch während er diese Worte gesagt hatte, hatte Greens sich ergebender Körper sich von alleine bewegt und ihre noch gesunde Hand in seine gelegt, womit er ihr auf die Beine half und sie den Weg zur blutenden Firey antraten.
Mit Greens leeren Augen und der Haltung eines Prinzen und einer Prinzessin. Doch Greens Inneres war zu leer gefegt; zu tot, um davon angewidert zu sein. Sie horchte auch nicht auf, als Nocturn wieder zu sprechen begann:
"Deine Heilmagie ist wirklich erbärmlich, wenn ich das sagen darf, Fille. Als ich damals vor so vielen Jahren das erste Mal gegen deine Mutter gekämpft habe, habe ich ihr genau die gleiche Wunde zugefügt - und wie schnell glaubst du ist sie verheilt? Ha! Deine Mutter ist auch noch wieder aufgestanden, wenn ich ihr beide Beine brach!" Green antwortete nicht; was sollte sie auch antworten? Sie wusste, dass er recht hatte, dass sie nur ein schlechter Abklatsch einer Hikari war und niemals aus dem Schatten ihrer Mutter heraustreten würde. Eigentlich wollte sie das auch nicht ... hatte es nie gewollt ... aber wenn das bedeutete, dass sie ihre Freunde nicht beschützen konnte, dass sie wegen ihr sterben würden ... nur, weil sie unfähig war ... wofür hatte sie ein ganzes Jahr lang trainiert, hart gearbeitet? Um hier zu sterben, Firey sterben zu sehen?
Nocturn hatte Green auf die Knie gehen lassen - viel anmutiger als es normalerweise ihre Natur war, die Falten ihres Rockes trotz blutender Hand glatt streichend - und hatte Firey in Greens Armen platziert, die bei diesem Akt einen erneuten - den letzten? - Blutschwall erbrach.
Da lag Firey nun. In ihren Armen. Sterbend. Und das nur, weil sie nicht stark genug war - ja, sie war bei Greys Tod kilometerweit entfernt gewesen, doch hätte ihre Anwesenheit etwas verändert? Jetzt war sie bei Firey, sie hielt sie in den Armen und spürte, wie ihr Leben mit jedem Tropfen Blut weiter aus ihr hinauslief; doch obwohl sie bei ihr war, konnte sie nichts tun, um sie am Leben zu halten. Sie hatte nichts tun können, um all dies zu verhindern ... sie besaß Heilmagie ... sie hatte so viel darüber gelernt ... und all das Lernen konnte sie nun nicht einsetzen, um Firey zu helfen, obwohl sie bei ihr lag und obwohl Green noch Lichtmagie übrig hatte, um ihr zu helfen, ganz gleich, ob sie selbst verletzt war! Und warum? Weil Nocturn ihren Körper kontrollierte ... weil er zu stark war ... und sie zu schwach, um seiner Magie etwas aussetzen zu können ...
"Na, na, petit Fille. Nicht weinen, das bringt dir auch nichts - du wirst noch so viele sterben sehen, an denen dir etwas liegt! Das ist Krieg!"
Dann ging alles plötzlich schnell. Nocturn hatte seine kalten Skeletthände über Firey hinweg gestreckt. Legte sie an Greens Wangen. Riss ihren Kopf ruckartig zu sich. Sie berührten sich an der Stirn und er sprach etwas auf Französisch, zu sich selbst, mit vor Hochstimmung und Anomalität geweiteten Augen und kleinen Pupillen - Green sah ihr verängstigtes Spiegelbild in seinen roten Augen und ---
Und tauchte so jäh auf, dass ihr Körper in sich zusammensackte und sofort wusste sie, sie hatte ihren Körper wieder. Green wirbelte nach rechts, doch Nocturn war schneller und noch im letzten Augenblick war er auf die Beine gesprungen und erfreut lachend dem gleichen Stab ausgewichen, welcher an Greens Gesicht vorbeirauschte.
Der kreuzförmige Stab, von White geführt.
1 "Blühender Knochenfresser!" (chinesisch)
"Jede Hikari hat ihre treuen Schäfchen, offensichtlich sogar eine unreine", urteilte Nocturn mit gelangweilt klingender Stimme.
"Lass sie in Ruhe!" Die Augen des Dämons huschten zu Green herüber und spöttisch grinste er:
"Oder was, Fille? Nein, nein, bleib du mal da unten liegen und genieße die Show."
"Ich wiederhole mich! Geh von ihr weg oder ich schieße!" Ein hohles Lachen war zu hören, welches nicht nur Green durch Mark und Bein ging, sondern auch Firey; und ihre Finger, die den Bogen auf Nocturn richteten, zitterten ohnehin. Doch die blanke Panik, welche sie in Greens Augen sah, konnte sie nicht nachempfinden; sie wusste zwar, wem sie gegenüberstand, da sie im Unterricht von ihm gehört hatte, aber sie wusste nicht viel mehr über Nocturn, als dass er ein A-Rang Dämon war, der eigentlich tot sein sollte. Ignes hatte ihn nur erwähnt und war nicht weiter auf Nocturn eingegangen, weshalb Firey sich keinen Reim daraus machen konnte, woher Greens Panik stammte; spürte sie etwa eine Aura, die Firey nicht spüren konnte?
Aber sie würde schnell herausfinden, was genau das für ein Dämon war, welcher sie einfach nur belustigt angrinste, während sie auf seinen Kopf zielte, genau wie sie es im Unterricht gelernt hatte. Ignes hatte ihr geraten, dass sie bei Dämonen nie auf das Herz zielen sollte, denn da sie nicht alle Dämonenrassen auswendig konnte, konnte sie nicht wissen, ob das Herz bei ihrem Gegner womöglich auf der anderen Seite saß. Daher war der Kopf stets das bessere Ziel.
Da Nocturn ihre Drohung nicht ernst nahm und Firey Greens mahnendes Gesicht übersah, wollten ihre Finger gerade den Feuerpfeil entfesseln, als ihr Arm sich plötzlich verselbstständigte und anstatt Nocturn den Kopf mit ihrem Pfeil abzureißen, schoss Firey ihn in den wolkenverhangenen Himmel - obwohl sie das überhaupt nicht vorgehabt hatte.
Entsetzt blickte Firey ihren ausgestreckten Arm an, welcher mitsamt ihrem Bogen nach wie vor in den Himmel zeigte, als wolle sie diesen aufspießen.
"Was zur ..."
"Ich glaube, deine kleine Freundin ist nicht sonderlich über meine Fähigkeiten aufgeklärt, was, Fille?" Anstatt Nocturn allerdings zu antworten, richtete Green sich an Firey und zwang ihr eigenes Bewusstsein dabei, sich zusammenzureißen:
"Firey! Du musst fliehen! Schnell!" Eigentlich wusste die Hikari, dass es bereits zu spät war, denn wenn Nocturn Fireys Arme kontrollierte, kontrollierte er natürlich auch ihre Beine - und plötzlich fiel Green wieder mit banger Vorahnung das ein, was ihre Mutter ihr einst erzählt hatte: dass Nocturn Hirey und Izerin, zwei beste Freunde, aufeinander losgehetzt hatte, bis einer der beiden den anderen umgebracht hatte ...
Und genau diesen Gedanken las Nocturn nun natürlich auch - das sagte sein Blick deutlich, als er über die Schulter hinweg zu ihr zurücksah und ihre Gedanken spottend kommentierte:
"Dir liegt viel an diesem Menschen, nicht wahr? Natürlich. Sie ist ja auch wegen dir zu einer Wächterin geworden." Green gelang es nicht, etwas zu sagen: Sie starrte ihn nur entgeistert an, versuchend, ihre Gedanken zum Stillstand zu bewegen, damit er nicht noch tiefer in ihre Seele hineinblicken konnte - doch wie tat man das? Wie sorgte man dafür, über etwas nicht nachzudenken? Sie wusste es nicht. Sie konnte nichts dagegen tun, dass sie Erinnerungen vor sich sah, zusammen mit den Schuldgefühlen, dass sie Firey ihr Menschendasein geraubt hatte.
Deutlich sah Green, wie das Grinsen auf Nocturns Gesicht breiter wurde, als ihm diese Gedanken zuteilwurden: Ganz offensichtlich freute er sich über dieses neue Futter. Green wollte aufstehen, wollte etwas tun, um das zu verhindern, was unweigerlich kommen würde, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht - Nocturn erlaubte ihr nicht, sich zu bewegen.
Er beherrschte Greens Körper genauso, wie er auch Fireys beherrschte, denn als Nocturn sich nun von Green abwandte und gelassen auf Firey zu schritt, senkte diesen im Takt mit seinen Schritten langsam den Bogen. Wäre Green nicht vollkommen von Angst und Sorge eingenommen, so wäre ihr wahrscheinlich aufgefallen, dass der Bogenstrang nach wie vor entflammt war, denn Nocturn konnte Fireys Element nicht kontrollieren und zum Erlöschen bringen. Stattdessen brachte er Firey dazu, den Bogen wegwerfen, welcher im hohen Bogen wirbelnd wie ein Feuerrad durch die Luft flog, um daraufhin im Dreck zu landen.
Langsam verstand Firey, woher Greens Panik stammte, aber das wahre Ausmaß von Nocturns Fähigkeiten wurde ihr erst bewusst, als er die Stimme erhob, so dass sie beide deutlich hören konnten, was er sagte, während er weiter auf sie zu ging:
"Du hast es wahrscheinlich noch nicht mitbekommen, Fille, aber deine kleine Freundin hat zwei gebrochene Rippen; das nehme ich jedenfalls an, denn das Knie, welches ihr Karou in den Brustkorb gerammt hat, war ziemlich zielsicher - und dort tut es dir auch weh, oder, Feuerwächterin?"
"Woher ...?", stammelte Firey verwirrt, denn Nocturn hatte recht. Es schmerzte fürchterlich, und zwar genau unter ihrer Brust, aber woher wusste er das?
"Karou?!" Nocturn achtete nicht auf Greens schockierten Einwurf, sondern fuhr fort, als hätte man ihn gar nicht unterbrochen:
"Denn das kleine Menschenmädchen wollte unbedingt die Rolle des Märtyrers spielen, ohne zu bemerken, dass sie die Rolle des Narren übernahm. Sie hat das Gespräch von dir und deinem Bruder belauscht, Fille, und ganz offensichtlich mag deine Freundin deinen Anwärter nicht - und du kennst deine Freundin, Fille. Sie machte sich auf nach, wie ihr so schön sagt, Henel ..."
"Nein! Sei ruhig!", rief Firey aufgebracht dazwischen, doch weder ihre Stimme noch ihr Körper waren in der Lage, ihn vom Weiterreden abzuhalten:
"... wurde dort bereits sehnsüchtig von Karou erwartet und machte Bekanntschaft mit seinem Labor - und seiner Hand. Siehst du diese schwarzen Male an ihrem Hals?" Nocturns Hand schnellte jäh hervor, als er dies sagte, und packte sie an ihren lockigen roten Haaren, um ihren Kopf abrupt zur Seite zu legen. Ein Keuchen entfloh Fireys Lippen, als er sie so fest an ihren Haaren packte, doch sie konnte sich auf die Lippen beißen - anders sah es allerdings aus, als Nocturn mit seiner anderen Hand ebenso unsanft an ihrem Kragen zerrte, so dass Fireys Hals freigelegt wurde und dieses Mal konnte sie sich nicht zurückhalten: ein Schrei, der deutlich von ihren Schmerzen zeugte, entfloh ihrer bereits so geschundenen Kehle.
Es war unzweifelhaft, wie sehr Nocturn nicht nur Fireys Schmerzen gefielen, sondern auch Greens vollkommen entgeisterter Blick, als sie sah, welche Schmerzen ihre beste Freundin verspürte, doch es war noch nicht vorbei:
"Du siehst dieses Mal ganz deutlich, oder, Fille? Du hast ihre Schmerzen gehört, nicht wahr? Kannst du dir vorstellen, wie es für sie war, dort gefangen zu sein? Karou ist nicht gerade der netteste Zeitgenosse - und hat er nicht etwas gegen Feuerwächter? Ich meine, mich daran erinnern zu können. Und warum glaubst du, hat sie es getan? Das alles auf sich genommen?"
"Nein! Hör auf!" Doch Fireys Einmischen brachte nichts; Nocturn brachte sie schnell zum Schweigen, indem er ihren Kopf ruppig in den Nacken riss.
"Ja, denn sie tat das alles nur für dich, Fille. Was für eine tolle Freundin du doch hast! Eine Freundin, die dir die Worte von vor einem Jahr nicht glauben wollte, die niemandem glauben wollte, sich naiv an eine Hoffnung geklammert hat, sie die ganze Zeit in sich vergraben hat und sie mit niemandem geteilt hat! Immer noch bewahrt sie nostalgisch ein Foto vergangener Zeit in ihrem Zimmer und sieht es immer an; immer und immer wieder - und wofür? Für eine Hoffnung, die schon längst gestorben ist!"
Und da geschah es.
Es war unklar, ob Nocturn es zugelassen hatte oder ob er Fireys Reaktion einfach unterschätzt hatte, denn für einen Augenblick sah er überrascht aus, als er sah, wie Firey sich aus seinem Griff losriss, dabei mehrere ihrer Haare herausreißend, doch sie waren ihr egal. Sie sackte zuerst auf den Boden, als sie sich aus seinem Griff befreit hatte, doch sie nutzte die Gelegenheit nicht, um sich sofort wieder aufzurichten, sondern nahm all ihre Kraft zusammen und rief mit voller Inbrunst und Kraft ihres Herzens:
"Das ist nicht wahr! Die Hoffnung ist nicht vergebens! Ich habe Siberu getroffen, Green! ICH HABE SIBERU GETROFFEN!"
Nocturn war nicht der einzige Dämon, der sich im Augenblick köstlich amüsierte: Viele andere seiner Art waren von einer wahren Euphorie befallen, ausgelöst durch die Befriedigung, die ihnen das Bekämpfen und Töten von Wächtern gab. Die, die den Kriegsanfang überlebten und wieder heil in die Dämonenwelt zurückkehrten, sprachen von einer Wiedergeburtserfahrung und sämtliche heimische Probleme waren vergessen - jedenfalls für den Moment, in welchem das Blut floss.
Lycram war ebenfalls von jenem Freudenrausch befallen - grinsend kämpfte er sich durch die Straßen Sanctu Ele'saces: Es war sein Verdienst, dass die Dämonen so weit vorgedrungen waren und es war auch seine Horde, die den Großteil der Dämonen ausmachte - und die, die nicht zu seiner Horde gehörten, überlegten sich, zu ihm überzuwechseln. Denn wenn es eine gute Art gab, für neue Mitglieder zu werben, dann war es, im Kampf eine gute Figur abzugeben - und das tat Lycram mit Bravour.
Ein konstantes blaues Leuchten erhellte die Umgebung um ihn herum und untermalte sein siegessicheres Grinsen mit unheimlichen Schatten - denn natürlich war ihm bewusst, dass er dabei war, gute Werbung für sich und sein Gebiet zu machen und umso mehr Wächterköpfe wegen seiner Fäden rollten, desto besser - und unter Jubel und Freudenrufen seiner treuen Hordenmitglieder, die ihrem Fürsten gerne den Vortritt ließen, fielen auch einige Gebäude mittels roher Gewalt in sich zusammen. Denn obwohl Lycram seine blauen Fäden, eine Familientechnik, die eigen war für Azzazellos und seine Rasse, wegen seiner Seltenheit und Effektivität mit Stolz führte, so gab es manches Mal doch nichts Befriedigenderes als mit der puren Faust Zerstörung zu verbreiten.
Es war jedoch nicht so, dass Lycram nicht auch auf starke Gegenwehr gestoßen war und Lacrimosas Schwestern hatten recht damit, dass Lycram verletzt war - umso besser! Wenn man als Fürst verletzt war und dennoch weiter kämpfte, bekam man enorm viele Pluspunkte, denn dann war man ein gutes Beispiel von dämonischer Stärke und Überlegenheit. Natürlich war es in den Augen des normalen Fußvolkes eine eindeutige Schwäche der Wächter, dass sie sich zum Heilen zurückzogen, wenn sie verletzt waren ... alles feige Schwächlinge!
Obwohl diese Einstellung bei den meisten Dämonen üblich war, so änderte sie nichts daran, dass Lycrams rechter Arm taub war. Ein Naturwächter - jetzt natürlich schon tot - hatte ihm eine klaffende Wunde an der Schulter zugefügt und dabei wohl einige Nerven beschädigt, die es Lycram unmöglich machten, den Arm zu bewegen. Da er wie viele andere Dämonen die Fähigkeit besaß, seine Gliedmaßen nachwachsen zu lassen, könnte er sich einfach von seinem Arm trennen, doch geschah das Nachwachsen nicht sofort - und mit einer blutfließenden Wunde würde auch er nicht lange eine gute Figur abgeben können. Er hatte sich daher eines Tricks bedient, den sein großer Bruder ihm beigebracht hatte. Denn er hatte herausgefunden, dass die Fäden nicht nur dafür gebraucht werden konnten, Knochen zu zerschneiden, sondern auch um Dinge zusammenzuhalten. Einen Augenblick hatte Lycram daher seinen Dämonen den Vorrang gelassen, um seinen Arm selbst wieder an seine Schulter zu nähen. Notdürftig konnte man diese Operation wohl nennen, aber sie verhinderte auf jeden Fall ein Verbluten, bis er wieder in seiner Heimat war.
"Lycram-sama!" Lycram sah auf, als er gerufen wurde. Er war gerade dabei gewesen, mit seinem Handrücken das Blut aus seinem Gesicht zu wischen, welches teilweise sein eigenes war - denn er war auch am Kopf von einer Attacke geschleift worden - und das der Wächter, die er getötet hatte, weshalb er auch wusste, dass er es sich nicht ablecken durfte, so wie es bei Dämonen so gut ankam; denn auch für Dämonen war das Blut der Wächter Gift und konnte zu schlimmen Blutvergiftungen wie auch zum Tode führen.
"Was ist?", fragte Lycram ein wenig unwirsch, denn er hatte förmlich im Gespür, dass ihm die Nachricht, die einer seiner drei Kommandeure ihm brachte, nicht gefallen würde.
"Die Barrieren! Sie sind wieder da und das bedeutet, dass wir nicht in unsere Heimat zurückkehren können." Vereinzelt begannen die Dämonen um Lycram herum miteinander zu tuscheln, doch ihr Fürst blieb unbeeindruckt. Genervt stemmte er seinen gesunden Arm in die Hüfte und erwiderte:
"Na und? Hast du etwa schon keine Lust mehr?"
"Ne-Nein, Lycram-sama, so ist es natürlich nicht ..."
"Na also, dann sehe ich auch keinen Grund, zurückzukehren." Er achtete nicht auf den Blick seines Kommandeurs, welcher sich nicht entscheiden konnte, ob er nun Lycrams Führungskraft anzweifeln oder von seinem Kampfeswillen beeindruckt sein sollte, und wandte sich an zwei Dämonen zu seiner Linken. Zuerst musterte er die beiden recht gleich aussehenden Rotschöpfe aufmerksam, dachte über etwas nach und schien dann zu einem Urteil zu kommen:
"Ihr zwei könntet von der Größe und Statur her als Wächter durchgehen." Beide nahmen das ganz offensichtlich nicht als Kompliment, doch sagten nichts und ließen Lycram ungehindert fortfahren:
"Sorgt dafür, dass ihr unbemerkt an den Rand der Insel gelangt - und wenn ich unbemerkt sage, meine ich unbemerkt, verstanden? - irgendwo am Rand müssten die Kugeln stehen, die für die Barriere zuständig sind. Die zerstört ihr - und zwar so, dass sie sie nicht wieder benutzen können." Die beiden Rotschöpfe sahen ihren Fürsten verwirrt an - und dass sie seinem Befehl nicht sofort Folge leisteten, sorgte schon dafür, dass Lycrams Stirn wütende Furchen zeigte:
"Seid ihr taub oder warum seid ihr noch hier?!" Beide fuhren zusammen und schneller als Lycram erwartet hätte, verschwanden sie auch schon in den brennenden Gassen von Sanctu Ele'saces, argwöhnisch beobachtet von Lycrams wütendem Blick.
"Wie fähig sind die beiden Winzlinge?", fragte er seinen Kommandeur unwirsch, doch der war den Tonfall seines Vorgesetzten schon gewohnt und antwortete gelassen:
"Sind nichts Besonderes. Mittelmäßig. Woher wisst Ihr eigentlich, dass Kugeln die Barriere schaffen?" Lycram grummelte etwas Unverständliches und hatte nicht im Sinn, es verständlich zu machen, denn er hatte nicht vor zuzugeben, dass er seinem großen Bruder einige Male mehr zugehört hatte, als dieser selbst glaubte.
Lycram wollte seinem Kommandeur gerade den Befehl dazu geben, die Rotschöpfe zu verfolgen, als er bemerkte, dass er seine Füße nicht anheben konnte - noch bevor er nach unten sah, um zu erkennen, was der Grund dafür war, spürte Lycram es bereits: Seine Füße waren an dem zuvor noch wässrigen, nun mit einer Eisschicht überzogenen Boden vereist.
"Lacrimosa?" Sein erster natürlicher Verdacht war jedoch falsch, wie Lycram schnell bemerkte, als er seinen Kopf über die Schulter wandte und Azura und Pelagius am Ende der Straße stehen stand. Das Vereisen der Straße war Azuras Werk, wie ihr mit Eis überzogenes rechtes Bein bewies - doch obwohl ihr Blick Entschlossenheit zeigte, hatte Lycram nur ein abwertendes Grinsen für sie übrig:
"Lacrimosa wäre eindeutig beängstigender gewesen als so eine Göre." Und damit riss Lycram sein vereistes Bein mit bloßer Körperkraft aus dem Eis und ging zum Angriff über.
Die ersehnte Verstärkung für die Wächter von Min Intarsier war dank Ukario und ihrer eigenen Vorstellungskraft auf ein schreckliches Szenario vorbereitet gewesen und viele Wächter waren nervöser gewesen, als sie es hätten zugeben wollen. Natürlich hatte es sich niemand anmerken lassen; auch Azuma nicht, der es auch sich selbst nicht eingestehen wollte und das leichte Zittern seiner Hände dadurch verbarg, dass er sie so fest zusammenballte, dass sie bereits weiß wurden. Als die auf alles vorbereiteten Wächter allerdings am äußersten Teleportationspunkt ankamen, weiteten sich trotz aller Vorbereitung ihre Augen, denn das, was sie dort sahen, hätten sie sich nicht vorstellen können.
Es war gut für sie gewesen, dass sie sich einen Teleportationspunkt ausgesucht hatten, der am Rand der Insel lag, denn vor ihnen befand sich kein schreckliches Kriegsszenario, sondern nur eine enorme, schwarze Kuppel, die die gesamte Insel bis auf einige Hundert Meter einnahm. Es war sehr still; doch nur so lange, bis die Hinzugekommenen versuchten, richtig hinzuhören - denn mit gespitzten Ohren waren verzerrt Geräusche zu vernehmen ... Stimmen. Doch sie waren gedämpft und nur überaus schwer zu hören, und wie sehr Saiyon seine Ohren auch anstrengte, konnte er die Stimmen nicht klarer erfassen. Aber Schreie waren es nicht. Saiyon wusste nicht warum, aber genau das machte ihn nervös.
"Hvad for helvede... Was zur Hölle ist das denn?"
"Das ist ein gewöhnlicher Noxzauber. Nur von einem ungewöhnlich hohen Kaliber", lautete Hizashis Erklärung, denn Shaginai und Adir hatten eine ähnliche Frage gestellt wie Azuma - wenn auch zurückhaltender formuliert. Mithilfe der Videoübertragung der angekommenen Wächter sahen die Hikari im Tempel nun das gleiche wie sie und ärgerten sich alle drei wieder einmal darüber, dass sie seit ihrem Tod keine Lichtmagie mehr einsetzen konnten - und was für ein perfektes Timing: diejenige, die es wieder konnte, hatte gerade den Tempel verlassen, wie der Computer ihnen mitteilte.
"Das erklärt auch, weshalb wir keine Verbindung mehr zu den Wächtern auf Min Intarsier haben. Die Wirkung des Noxzaubers stört das Signal."
"Wie viele Dämonen befinden sich aktuell auf Min Intarsier?", fragte Adir die Stirn in besorgte Falten gelegt, die Ruhe aber bewahrend.
"3516 - Anzahl leider nicht fallend, aber auch nicht steigend. Die Barrieren sind weiterhin aktiv", antwortete Hizashi und Adir erwiderte nachdenklich:
"In solch einem Fall hätten wir Green-san hier gut gebrauchen können. Der Noxzauber scheint zwar ein wenig zu mächtig für ihre Fähigkeiten zu sein, als dass sie ihn neutralisieren könnte ..." Abfällig schnaubte Shaginai; wohl um ihm recht zu geben - oder um weitere Kommentare über Greens Fähigkeiten zu unterdrücken.
"... aber Flächenangriffe wären jetzt die beste Alternative, um damit so viele Dämonen wie möglich auf einen Schlag auszulöschen, ohne dabei unsere Mitstreiter zu verletzen."
"Yogosu kann weder die eine noch die andere Technik zur vollsten Effektivität anwenden."
"Eine solche Strategie kommt ohnehin nicht infrage", unterbrach Hizashi Shaginai und Adir, nachdem er Tinami den Befehl gegeben hatte, die Wächter auf Min Intarsier über den Noxzauber zu informieren. Zwar sollten sie alle die Vorgehensweisen bei einer solchen Technik während ihrer Ausbildung gelernt haben, doch Hizashi rechnete immer die Inkompetenz anderer mit ein.
"Es sind zu viele Dämonen, als dass es zweckmäßig wäre, sie systematisch einen nach dem anderen zu töten; reine Zeit- und Magieverschwendung. Geben Sie mir ein paar Minuten Stille und ich werde den Urheber des Noxzaubers herausfiltern - und Sie ...", er wandte sich an die aufblickende Tinami:
"... informieren bitte Seigi und den Offizier, dass sie auf weitere Befehle warten sollen, ehe sie sich nach Min Intarsier aufmachen." Und ohne auf eine Antwort zu warten, widmete Hizashi sich wieder dem Hauptbildschirm zu, platzierte seine weißen Finger auf die Tastatur und schon flimmerten die Daten über den Bildschirm.
"Wie genau will er bei 3516 Dämonen herausfinden, wer eine ihrer Standardattacken angewandt hat?", fragte Shaginai, die Arme abwartend über der Brust verschränkt und unzufrieden dreinblickend. Auch er hätte genau wie Adir eher dazu tendiert, die einsatzbereiten Wächter flächendeckende Attacken einsetzen zu lassen, um so irgendwann den richtigen Dämonen zu erwischen.
Auch Adir konnte nicht genau sagen, wie Hizashi den verantwortlichen Dämon finden wollte:
"Vielleicht mithilfe des Radius oder der Magieverdichtung? Gab es da nicht eine Formel ..."
"Ich habe um Ruhe gebeten!"
Beide Mitglieder der Erhabenen Drei verstummten sofort, als Hizashi sie mit einem giftigen Blick bedachte und sich dann beschwerend wieder umwandte, um ohne Umschweife wieder an seine Arbeit zurückzukehren. Es gab nicht viele Personen oder Situationen, die Shaginai zum Schweigen bringen konnten, aber wenn Hizashi seinen giftigen Lehrerblick herausholte, wusste auch er, dass Schweigen angebracht war - denn immerhin waren sie alle, ohne Ausnahme, von ihm einst unterrichtet worden.
Tinami hatte die Wächter, die Min Intarsier zu Hilfe eilen sollten, allesamt über den Noxzauber informiert - und auch alle anderen sich auf Min Intarsier befindenden Wächter, die irgendwie an ein Kommunikationsgerät gelangt waren. Zwar kamen keine Signale in der Kommandozentrale an, doch vielleicht war es andersherum möglich? Leider war die Hoffnung vergeblich - denn Ilang und die anderen Wächter hörten nur Rauschen, gerade nachdem sie sich gefreut hatten, wieder Verbindung zum Tempel zu haben. Die Verstärkung war von Tinami darüber informiert worden, dass sie alle einen speziellen Modus ihres Kommunikationsgerätes einschalten mussten, um der Dunkelheit und den darauffolgenden Wahnvorstellungen nicht zum Opfer zu fallen - genau dies hatte auch Ilang getan, womit sie nun alles in einem dunklen, grünen und leicht verzerrten Filter sah. Aber sie hatte keine Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, wer der Urheber des Noxzaubers war oder sich von eben diesem beirren zu lassen, denn sie musste sich vor ihrem Verfolger verstecken, welcher sich ebenfalls nicht von der plötzlichen Dunkelheit ablenken ließ - warum auch, er war immerhin vor Wahnvorstellungen sicher, da der Zauber keine Wirkung auf seine Art hatte.
Mit der Hand auf ihren Mund gepresst, um ihr stoßartiges Atmen zu unterdrücken, war es Ilang noch in der letzten Sekunde gelungen, sich hinter einer Biegung zu verstecken, die eigentlich weiter nach unten führte in das Gewächshaus, welches sie wie ihre Westentasche kannte - genauso wusste sie aber, dass der einzige Ausgang der war, den ihr Verfolger genau im Blick hatte. Ihre Aura konnte er wegen dem Ingnix nicht spüren, aber er würde sie schon bald finden - oder einfach das Gewächshaus abbrennen, samt ihr. Doch das Gewächshaus und der damit verbundene Anbau von Heilkräutern war ohnehin genauso verloren wie der Rest der Insel ... Viel entscheidender war, dass sie dem Dämon hilflos ausgeliefert war, wenn er ihr Kommunikationsgerät vom Kopf reißen würde - genauso hilflos, wie viele ihrer Mitwächter es waren, die fernab von den Gewächshäusern verängstigt in ihre eigenen Wahnvorstellungen untergingen und somit zu kompletten Spielzeugen der Dämonen wurden. Wenn sie ihr Kommunikationsgerät verlieren würde, würde sie genauso enden ...
Aber ihr blieb gar keine andere Möglichkeit; wenn sie nicht kampflos sterben wollte, dann musste sie sich wehren, denn sie hörte, dass die Schritte des Dämons näherkamen - das Knirschen der Glassplitter war in dieser bedrückenden Stille so laut wie ein Donnergrollen. Langsam löste Ilang ihre Hand von ihrem Mund und formte tonlos die Beschwörung ihrer Attacke, um ihn hoffentlich schon bei ihrem ersten Angriff zu töten - und mochten die Pflanzen und Kräuter ihr verzeihen, sie würde sie alle wieder anbauen und zu neuer Blüte bringen.
Ilang hörte, wie die Fliesen auseinanderbrachen, wie die dornenüberzogenen Ranken nach ihrem Ziel schnappten, Krüge fielen herunter, Keramik zersprang, Erde wurde verschüttet - aber ihre Attacke hatte ihr Ziel verfehlt, wie sie schnell zu spüren bekam; in dem Moment, als sie sich ein Stückchen von der Wand gelöst hatte, sprang der Dämon jäh hervor und schon wurde Ilang die Treppen heruntergeschlagen. Mitten auf den Stufen, die zum Gerätekeller führten, schlug sie mit dem Rücken zuerst auf und ein Schmerzensschrei entfuhr ihr. Ihr Sichtfeld verschwamm, aber gerade noch rechtzeitig sah sie, wie er mit einer violett leuchtenden Hand ausholte, die einen Strahl entfesselte - welcher auf ihren Kopf gerichtet war.
Hastig und dabei nicht auf ihre Schmerzen achtend riss sie ihren Kopf beiseite, ihre Hand zu einem erneuten Versuch erhoben:
"SHÉNGKAI DE SUÌ GÛ!"1
Da geschah es - der dünne Magiestrahl hatte Ilang nicht getroffen, allerdings ihren Kopf gestreift. Mit einem Knacken brach das Kommunikationsgerät auseinander, im gleichen Moment, wie die Ranken dieses Mal den Dämon zu fassen bekommen hatten und augenblicklich wurde alles um sie herum dunkel.
Unwirklich, komplett in Schwarz getaucht, als wäre Ilang in einer Welt gefangen, die auf einer schwarzen Leinwand gemalt worden war, sah sie die Treppenstufen über ihr. Ihr Atem beschleunigte sich schlagartig, ihr eigener Herzschlag pochte in ihren Ohren, ihre Augen begannen zu zittern; ihr ganzer Körper zitterte.
Was war das? Am Ende der Treppe, da ... da stand doch jemand? Jemand ... der auf sie herunter sah? Sie konnte die Person nicht erkennen, da sie komplett schwarz war, aber es schmerzte, sie anzusehen, denn sie kannte sie ... ja, Ilang wusste, wer dort stand und verurteilend auf sie herabblickte. Aber ... warum sah er sie denn so an? Was hatte sie getan, weshalb sie seine Kälte verdient hatte?
"W-Warum ... warum siehst du mich so an? Grey! Grey, oh bitte, sieh mich nicht so kalt an!" Ja, es war Grey - sie erkannte ihn jetzt, doch seine Augen ähnelten nicht dem Himmel, sondern glichen mit ihrer Kälte viel mehr Eis, das auch dann nicht schmolz, als Ilang versuchte, sich unter Schmerzen aufzurichten, die Hand nach ihm ausstreckte - und dann mit einem Schrecken bemerkte, dass sich unter ihr eine Blutlache aufgetan hatte; es war das gleiche Blut, das jetzt über ihre ausgestreckte Hand nach unten tropfte. Schneller und immer schneller wurde Ilangs Atem, als sie an sich herunterblickte und bemerkte, dass ihr Unterleib die Quelle des Blues war - das Kind! Ihr Kind! Das Kind von Grey und ihr!
Schritte rissen sie aus ihrer Panik heraus, ihr Kopf schnellte nach oben und sie sah, wie Grey sich abwandte, als ginge ihn der Anblick Ilangs nichts an - nein, schlimmer noch, als würde es ihn anwidern. Aber es waren nicht seine Schritte gewesen; es waren federleichte Schritte einer dritten Person gewesen, die jetzt auch Greys Hand nahm und ihn wegführen wollte.
"Grey! Bitte, bitte, geh nicht! Ich - WIR! - Wir brauchen dich!" Die dritte Person lächelte und Grey wandte sich diesem Lächeln zu, erwiderte es, sah Ilang nicht mehr-
"Nein ... nein! Bitte ... bitte ... Grey, hilf mir!"
"...nee-sama!"
"Geh nicht! Grey! Das ist deine Schwester! Sie wird dir...Unglück bringen! Sie wird dich..."
"Onee-sama! Hörst du ..."
"... umbringen! Grey, geh nicht, du darfst nicht sterben! GREY!"
"Ilang!"
Grey wandte sich kein einziges Mal um, ehe die Nacht verschwand und alles auf einmal grün wurde - und Ilang mit einem Keuchen Daichi vor sich sah. Ihren kleinen Bruder - um sie besorgt, schmutzig und mit Schrammen im Gesicht. Aber als sie die Augen öffnete, lächelte er. Doch Ilang konnte nicht lächeln. Alles, was sie tun konnte, war ihre Hände über ihren Unterleib zu legen und verzagt zu weinen.
"Akai!", entfuhr es Hizashi plötzlich nach exakt neun Minuten Stille und dieses Mal, ohne Shaginai oder Adir zurechtweisen zu müssen:
"Es ist "der rote" Akai, der Fürst des 11. Gebietes - wie praktisch, dass Seigi bereits auf ihn angesetzt ist." Dennoch rasten seine Finger kurz über die Tastatur, woraufhin eine Karte von Min Intarsier auf dem Bildschirm erschien. Kurz überblickte er sie, legte seine jugendhaft wirkende Stirn in Falten, tippelte kurz mit den Fingerkuppeln auf seiner Stuhllehne, erwünschte kein Kommentar von Shaginai und Adir, die sich weiterhin zurückhielten, und griff dann wieder zum Mikrofon, um mit Seigi und Shitaya Kontakt aufzunehmen - ohne sich vorher mit Shaginai und Adir zu beraten:
"Wie ihr bereits von eurer Mitwächterin informiert worden seid, ist weitaus mehr als der Großteil der Insel in einen Noxzauber eingeschlossen - ich denke, ich muss euch nicht darüber informieren, welche Konsequenzen das auch für euren Kampf hat; auch dich nicht, nicht wahr, Seigi? Nehmt dennoch den südlichsten Teleportationspunkt, womit ihr euch direkt in das Wirkungsfeld des Noxzaubers teleportiert. Kontrolliert daher vorher, ob eure Kommunikationsgeräte fehlerfrei sind. Nichts darf euch behindern; auch eure eigenen Mitwächter nicht! Haltet euch zurück und lasst Seigi den Fürsten verfolgen. Töte Akai schnell, Seigi. Spiel nicht, hast du gehört!?" Hizashi schien nicht auf eine Antwort zu warten, sondern kappte die Verbindung sofort und lehnte sich abwartend zurück. Diese Chance ergriff Adir:
"Mich würde wirklich interessieren, wie du herausgefunden hast, dass es sich bei dem Urheber um Akai handelt?" Langsam wandte Hizashi sich herum und sah in das neugierige Gesicht Adirs und in das eher skeptische Shaginais, welches ihm sagte, dass dieser genauso gespannt auf die Erklärung war wie Adir:
"Ihr zwei mögt zu den fähigsten Hikari der Geschichte gehören, aber keiner von euch beiden hat in meinem Unterricht einen Rang eins belegt - und dass ihr eine solche Frage stellt, beweist, warum euer Wissen nicht gereicht hat, um die Abschlussklausur mit Bravour zu bestehen."
Nachdem sowohl Shaginai als auch Adir ein wenig beschämt dreinblickend das Schweigen vorgezogen hatten, hatten sie sich wieder dem Krieg zugewandt, indem sie der wartenden Verstärkung vor dem Wirkungskreis des Noxzaubers den Befehl gaben, sich jetzt vorsichtig vorwagen zu dürfen. "Vorsichtig" war leichter gesagt als getan, denn kaum betraten sie die unwirkliche, dunkle Welt, zu der das grüne Min Intarsier geworden war, bemerkten sie, dass nicht alleine die vielen Dämonen eine Herausforderung darstellten, sondern vor allen Dingen ihre eigenen Mitwächter, die zwischen Freund und Feind nicht länger unterscheiden konnten und sich auf die, die ihnen eigentlich zu Hilfe kommen wollten, nun verzweifelt und illusioniert stürzten, unter dem schadenfrohen Lachen der Dämonen, für die es ein lustiges Schauspiel war - denn sie konnten natürlich nicht verstehen, warum die ihre Mitwächter nicht einfach töteten, wenn diese sie angriffen.
"Versucht, sie bewusstlos zu schlagen!", rief Saiyon in sein Mikro, dabei gleichzeitig einem Mitwindwächter ausweichend, welcher ihn tatsächlich mit Wind hatte angreifen wollen:
"Aber tötet sie nicht! Und passt auf, dass sie euch nicht eure Kommunikationsgeräte entreißen!" Leichter gesagt als getan, dachte Azuma, als Minare das gleiche an sein Bataillon durchgegeben hatte: wich man einem Wächter aus, kam hinter einem schon ein Dämon hervorgeschnellt - und es war ja nicht so, dass die Wächter sie alle angriffen. Einige klammerten sich auch verzweifelt an einen und schon mehr als einmal musste Azuma einen Wächter brutal wegtreten, ansonsten wäre er von einem Dämon zweigeteilt worden.
"Das ist eine mega Behinderung!", rief er Minare zu, obwohl sie gerade Rücken an Rücken standen, um den jeweils anderen zu decken, doch das Geschrei und die vielen panischen Magieentladungen waren zu laut, als dass es möglich gewesen wäre, in einer normalen Lautstärke miteinander kommunizieren zu können.
"Hast du einen besseren Vorschlag?! Ich bin ganz Ohr!" Nein, das hatte Azuma zugegebenermaßen nicht, denn er hatte oft genug gehört, dass die oberste Regel lautete, keinen Mitwächter töten zu dürfen und auch er sah ein, dass sie nicht die gesamte Bevölkerung von Min Intarsier - oder das, was von ihr übrig geblieben war - töten konnten. Es war nur eben ... verdammt ... schwer, so kämpfen zu müssen.
Sie waren wieder gezwungen, auseinander zu springen und obwohl Minare gerade noch ins Mikro geschrien hatte, dass sie zusammenbleiben mussten, bemerkte Azuma nach einigen weiteren toten Dämonen, weiteren verteilten Fußtritten - gegen Fußtritte stand hoffentlich nichts in den Regeln - dass er dabei war, von den anderen seines Bataillons getrennt zu werden. Die Ursache dafür war nicht sein eigenes Verlangen, sich von der Gruppe zu trennen, sondern, dass er gegen seinen Willen in einen Zweitkampf mit einem weiblichen Dämon geraten war, die seinen Steinspeeren auf erstaunliche Art entgehen konnte, weshalb es Azuma bis jetzt noch kein einziges Mal gelungen war, einen Treffer zu landen; denn sobald er sie traf, löste sich der Körper der überaus gelenkigen Dämonin in eine ölähnliche Substanz auf - nur um ihn dann aus dem Hinterhalt anzugreifen. Doch auch seine Verteidigung war nicht zu unterschätzen und keiner ihrer Angriffe war durch seine Sandwände gedrungen. Das Positive an diesem Zweikampf war, dass Azuma nun nicht mehr das Problem hatte, dass ihn andere Wächter behinderten - denn die einzigen anderen Wächter, die sich hier befanden, lagen tot auf dem Boden und waren nicht mehr in der Lage, ihn irgendwie zu behindern - es sei denn er stolperte über ihre reglosen Körper.
Mit einigen grazilen Saltos rückwärts, dabei achtlos über die Leichen springend, sprang die Dämonin nach einer weiteren wirkungslosen Attacke von ihm weg.
"Du beeindruckst mich!", lobte die Dämonin ihn mit einer extrem hellen Stimme, mit der sie garantiert einigen in den Ohren schmerzte; jedenfalls übertönte ihre Stimme den Wasserfall zu deren linker Hand, dessen tosendes Wasser auf eine weiter unten gelegene Insel stürzte und darauf in einem großen See mündete, in welchem die Wächter gerne mit ihren Familien zu baden pflegten. Azuma wunderte sich über die Einladung zu einem Gespräch, aber nicht so sehr, als dass er seine Angriffsposition aufgab: die rechte Hand ausgestreckt vor sich, in einem absoluten 90° Grad Winkel, wie Ignes es ihn gelehrt hatte, und die andere Hand am Körper angelegt - eine zum Angriff, eine zur Verteidigung. Seinen Stab hatte er noch als goldenen Anhänger um seinen Hals hängen, da er eigentlich nur für Flächenangriffe vorgesehen war, die er jetzt natürlich nicht anwenden durfte, auch wenn es ihm in den Fingern juckte.
"Wieso?", antwortete Azuma auf Englisch, worauf die Dämonin sofort die Augenbrauen hob;
"Weil ich kein Problem habe, eine Frau zu schlagen?"
"Wow, dein Englisch ist ziemlich gut für einen Wächter", erwiderte sie nun ebenfalls in einem tadellosen Englisch.
"Tja, in Dänemark haben wir eben keine Synchronisation", erklärte Azuma mit einem Grinsen, doch wollte sie gerade wieder angreifen, da er ein Gespräch mit jemandem, den er ohnehin töten würde, als ziemlich sinnlos erachtete - doch das sah sie offensichtlich anders:
"Ich diene Chernobog-sama-"
"Schön für dich, und ich diene niemandem - könnten wir-"
"... und mein Name ist Nilminie, aber du darfst mich Nil nennen. Jüngchen, du solltest jemanden nicht unterbrechen, wenn er sich vorstellt. Ich dachte, ihr Wächter wärt so höflich?" "Jüngchen"? Sie sah nicht sonderlich viel älter aus als er, auch wenn man das bei Dämonen ja nie genau sagen konnte - zugeben, sie sah gut aus, allerdings auf eine eher exotische Art - die exotische Art, die einem sagte, dass man sie nicht anfassen sollte, ähnlich wie giftige Pflanzen oder Tiere. Sie trug eng anliegende Kleidung in einer Mischung aus grellen Lila- und Grüntönen, die eher wie ein Teil ihres Körpers wirkte, als aus Stoff genähte Kleidung. Ihre schwarzen Haare waren kurz und ihre verschiedenfarbenen Augen - das eine lila, das andere grün - umrandet von Kajalschminke, trugen zu ihrem exotischen Aussehen bei; besonders üppige Rundungen besaß sie allerdings nicht.
"Obwohl ich nicht gerade als typischer Wächter bekannt bin, halte ich mich dennoch an die Regeln - und ich glaube sich vorzustellen bricht ein paar."
"Du solltest froh sein, dass ich mich vorstelle, denn die, die meinen Namen kennen, die töte ich nicht beim ersten Treffen: Die bewahre ich mir nämlich auf."
"Ach? Du nimmst den Mund ganz schon voll dafür, dass du mich noch kein einziges Mal getroffen hast." Ihr vorher noch schelmisches Lächeln wurde zu einem Fangzähne entblößenden Grinsen, als sie ihn neckisch angrinste und ein glockenhelles Kichern übertönte das Tosen des Wasserfalles. Azuma wusste nicht, was es war, was seinen Instinkt alarmiert hatte, doch genau in letzten Augenblick sprang er hastig rückwärts einige Meter hinter sich; weg von einer sich unter ihm plötzlich auftuenden Pfütze aus Öl. Nur einen kurzen Augenblick hatte er in ihr gestanden und doch hatte er einen heftigen Zug gespürt, als wäre er mitten in Treibsand gestanden. Ungefährlich war diese unscheinbare Pfütze tatsächlich nicht, denn dort, wo Azumas Stiefel Kräuselungen auf der Oberfläche hinterlassen hatten, schossen jäh dünngeformte Pfähle auf ihn zu. Zwar konnte Azuma sich nicht vorstellen, wie etwas aus Öl Geformtes ihn verletzten konnte, doch er ließ es nicht auf ein Risiko ankommen und nutzte seine Sandmauer, um die Pfähle zu parieren - und zu seiner Überraschung drangen sie hindurch.
Azuma war nicht schnell genug, um auszuweichen und so trafen ihn beide Pfähle - der eine bohrte sich in seinen rechten Ellenbogen, der andere streifte seine Wange nur, doch riss sie auf, als wäre es kein Öl, sondern Metall gewesen. Doch die Wunde an sich war weder in seinem Gesicht noch an seinem Ellbogen, was ihn sofort dazu brachte, mit pochendem Herzen Minare zu kontaktieren:
"Ich bin vergiftet! Minare ..."
"Na, du willst mir doch nicht meinen Triumph kaputtmachen, dich nun doch getroffen zu haben?" Bestürzt wirbelte Azuma herum - doch zu spät. Denn er konnte nicht verhindern, dass Nilminie ihm das Kommunikationsgerät ganz einfach vom Kopf nahm und ihn in die Dunkelheit des Noxzaubers stürzte.
Die Schmerzen seines Armes und die in seinem Gesicht steigerten sich augenblicklich ins Unerträgliche; dennoch war es etwas anderes, dass seine Panik schürte. Es war die plötzliche Orientierungslosigkeit, denn er hatte absolut nichts in dieser Dunkelheit, an dem er sich orientieren konnte; keine Konturen, keine Geräusche - nur Schmerzen, die in seinem Kopf pochten und pochten. Doch! Doch da war ein Geräusch ... was war das? Wasser. Das Meer. Wellen. Aber nur leichter Wellengang. War es die Nordsee oder die Ostsee? Er mochte die Nordsee lieber. Salzwasser würde ihm jetzt sicherlich helfen ... es würde seine Wunden heilen können, so wie es früher immer gewesen war. Zuerst tat es weh. Dann wurde es aber langsam gut.
"Geh nicht ins Wasser!" Azuma hielt sofort inne, obwohl er schon mit den Knöcheln im Wasser stand und die Wellen sanft um seine Beine herum spülten.
"Da draußen kannst du nicht stehen und die Strömung ist zu stark. Sie wird dich rausziehen! Hörst du, Kristian?"
"P-Pernille?"
Firey blickte auf, nachdem sie die Worte gerufen hatte, die auf ihrer Seele gelastet hatten: stoßweise atmete sie, als wäre sie gerade aus dem Wasser aufgetaucht und das Heben des Kopfes fiel ihr schwer, doch sie musste Greens Gesicht sehen ... sie musste sehen, wie sie auf diese lang ersehnten Worte reagierte ...
Die Worte hatten Green schockiert.
Das sah Firey in ihren kleinen, geröteten Augen. Sie hatte nicht erwartet, das zu hören. Sie hatte nicht erwartet, diesen Namen überhaupt jemals wieder zu hören. Komm schon, dachte Firey, komm schon, ein Lächeln, bitte, Green, sei erleichtert ... ich bitte dich ...
Und nun war es Firey, die schockiert war, denn ihre Freundin reagierte anders, als sie es für möglich gehalten hatte: der Schock legte sich in Greens Augen, verschwand. Und zurück blieb etwas, was Firey im ersten Moment nicht zu deuten vermochte, ihr dann jedoch bewusst wurde.
Mitleid. Und Schuldgefühle. Reue. Aber keine Freude. Keine Erleichterung. Nichts von dem, was Firey erwartet und erhofft hatte.
"Es tut mir Leid, Firey ... dass du so viel durchmachen musstest und das alles nur, weil ich so naiv war..." Tränen rannten Green über die Wunden, die Nocturn ihrer rechten Wange zugefügt hatten:
"Ich schwöre, ich mache das wieder gut ... ich schwöre dir, dass du nicht durch das gleiche ..." Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Feuerwächterin den Schmerz ignoriert, welcher sich jetzt jedoch aufdrängte, da er an einem Punkt angelangt war, an dem er unaufhaltsam geworden war, weshalb Nocturn auch nicht eingeschritten war, um die Konversation der beiden Freundinnen zu unterbrechen. Nun sah er abwertend dabei zu, wie Firey Bäche aus Blut erbrach und zu Boden stürzte.
"Dummes Menschenmädchen. Wenn man die Rippen gebrochen hat, steht man gerade, ansonsten bohren sie sich in die Lunge." Firey hörte seine Worte schon nicht mehr: Ihr Rachen quellte über vor Blut, welches ungehindert aus ihrem Mund sprudelte und auf die feuchte Erde strömte.
"FIREY!" Doch Firey hörte es nicht. Ihre Sinne trübten sich und sie bemerkte auch nicht, als Nocturn sich neben sie hinkniete und achtlos ihren Kopf an ihren Haaren emporzog und sich im Flüsterton an sie richtete. Obwohl die Worte leise waren, konnte Firey sie jedoch deutlich hören und jedes bohrte sich in ihr Herz:
"Aber das Alles stimmt nicht ganz, oder, Menschenmädchen? Du wolltest nur so tun, als ob du der Märtyrer wärst. In Wahrheit hast du einfach nur desperat nach einer Entschuldigung gesucht, einer billigen Ausrede, um dein eigenes Gewissen auszutricksen, welches dich davon abgehalten hatte, in die Welt der Dämonen zu gehen. Du warst nichts weiter als egoistisch. Aber es klingt gut, wenn man sagt, man habe es für seine beste Freundin getan, oder? Das klingt nach etwas Vertretbarem ... und nun wirst du verbluten, denn deine ach so tolle Freundin wird dich nicht heilen können. Also stirb. Für deine Rolle ist in diesem Drama kein Platz." Damit ließ er ihre Haare wieder los, und obwohl Green zu weit weg war, um die Worte zu hören, sah sie nun, wie Firey reglos auf dem Boden liegen blieb - und spürte, wie ihre Aura immer schwächer wurde.
Greens Mund stand offen, zu einem stummen Schrei geformt - doch zu Worten war sie nicht fähig. Sie konnte nur die reglose Firey anstarren, bemerkte auch nicht, wie Nocturn sich wieder neben sie teleportierte und nun beobachtend auf sie herabsah, deutlich auf etwas wartend, was nicht einzutreffen schien, denn als Green nach verstrichenen Sekunden immer noch nichts tat, beugte er sich zu der bebenden Hikari hin und reichte ihr manierlich seine dürre Hand. Erst diese Geste brachte Greens Pupillen dazu, sich zu bewegen, indem sie sich auf Nocturn und sein viel zu gelassenes Lächeln richteten, als wären sie auf einem Tanzparkett und er nur ein möglicher Tanzpartner, sie um einen Tanz bittend.
"Deine Freundin wird in ein paar Minuten verblutet sein - und du willst sicherlich bei ihr sein, wenn es so weit ist, nicht wahr? Deinem Bruder konntest du immerhin nicht beistehen, als er starb. Er musste alleine sterben. Aber wenigstens deine Freundin kannst du im Arm halten. Das willst du doch sicherlich auch, ja, ich denke auch, dass du das willst. Du willst bei ihr sein, wenn der letzte Tropfen Blut aus ihrem Körper rennt! Also komm, Fille, komm." Noch während er diese Worte gesagt hatte, hatte Greens sich ergebender Körper sich von alleine bewegt und ihre noch gesunde Hand in seine gelegt, womit er ihr auf die Beine half und sie den Weg zur blutenden Firey antraten.
Mit Greens leeren Augen und der Haltung eines Prinzen und einer Prinzessin. Doch Greens Inneres war zu leer gefegt; zu tot, um davon angewidert zu sein. Sie horchte auch nicht auf, als Nocturn wieder zu sprechen begann:
"Deine Heilmagie ist wirklich erbärmlich, wenn ich das sagen darf, Fille. Als ich damals vor so vielen Jahren das erste Mal gegen deine Mutter gekämpft habe, habe ich ihr genau die gleiche Wunde zugefügt - und wie schnell glaubst du ist sie verheilt? Ha! Deine Mutter ist auch noch wieder aufgestanden, wenn ich ihr beide Beine brach!" Green antwortete nicht; was sollte sie auch antworten? Sie wusste, dass er recht hatte, dass sie nur ein schlechter Abklatsch einer Hikari war und niemals aus dem Schatten ihrer Mutter heraustreten würde. Eigentlich wollte sie das auch nicht ... hatte es nie gewollt ... aber wenn das bedeutete, dass sie ihre Freunde nicht beschützen konnte, dass sie wegen ihr sterben würden ... nur, weil sie unfähig war ... wofür hatte sie ein ganzes Jahr lang trainiert, hart gearbeitet? Um hier zu sterben, Firey sterben zu sehen?
Nocturn hatte Green auf die Knie gehen lassen - viel anmutiger als es normalerweise ihre Natur war, die Falten ihres Rockes trotz blutender Hand glatt streichend - und hatte Firey in Greens Armen platziert, die bei diesem Akt einen erneuten - den letzten? - Blutschwall erbrach.
Da lag Firey nun. In ihren Armen. Sterbend. Und das nur, weil sie nicht stark genug war - ja, sie war bei Greys Tod kilometerweit entfernt gewesen, doch hätte ihre Anwesenheit etwas verändert? Jetzt war sie bei Firey, sie hielt sie in den Armen und spürte, wie ihr Leben mit jedem Tropfen Blut weiter aus ihr hinauslief; doch obwohl sie bei ihr war, konnte sie nichts tun, um sie am Leben zu halten. Sie hatte nichts tun können, um all dies zu verhindern ... sie besaß Heilmagie ... sie hatte so viel darüber gelernt ... und all das Lernen konnte sie nun nicht einsetzen, um Firey zu helfen, obwohl sie bei ihr lag und obwohl Green noch Lichtmagie übrig hatte, um ihr zu helfen, ganz gleich, ob sie selbst verletzt war! Und warum? Weil Nocturn ihren Körper kontrollierte ... weil er zu stark war ... und sie zu schwach, um seiner Magie etwas aussetzen zu können ...
"Na, na, petit Fille. Nicht weinen, das bringt dir auch nichts - du wirst noch so viele sterben sehen, an denen dir etwas liegt! Das ist Krieg!"
Dann ging alles plötzlich schnell. Nocturn hatte seine kalten Skeletthände über Firey hinweg gestreckt. Legte sie an Greens Wangen. Riss ihren Kopf ruckartig zu sich. Sie berührten sich an der Stirn und er sprach etwas auf Französisch, zu sich selbst, mit vor Hochstimmung und Anomalität geweiteten Augen und kleinen Pupillen - Green sah ihr verängstigtes Spiegelbild in seinen roten Augen und ---
Und tauchte so jäh auf, dass ihr Körper in sich zusammensackte und sofort wusste sie, sie hatte ihren Körper wieder. Green wirbelte nach rechts, doch Nocturn war schneller und noch im letzten Augenblick war er auf die Beine gesprungen und erfreut lachend dem gleichen Stab ausgewichen, welcher an Greens Gesicht vorbeirauschte.
Der kreuzförmige Stab, von White geführt.
1 "Blühender Knochenfresser!" (chinesisch)