Kapitel 99 - Göttlicher Purpur
Green hatte mittlerweile schon viele Dämonen sterben sehen. Mit ihrem Licht hatte sie vielen Dämonen das Leben genommen und obwohl sie ganz genau wusste, wie schmerzvoll für Dämonen der Tod durch Lichtmagie war, dass Lichtmagie die Körper der Dämonen von innen auffraß und auseinanderriss, so hatte sie das beim eigentlichen Tötungsakt irgendwie... vergessen. Sie war gelehrt worden, Dämonen schnell zu töten. Sie hatte nicht viele Dämonen sterben gesehen. Warum? Weil es von den Regeln her so vorgesehen war: Dämonen foltern war verboten; es stecke an, verunreinige das Herz - und Lichtmagie war für die Dämonen eine Folter. Wie deutlich man es in diesem Moment nicht hören konnte... wie sie schrie! Wie diese Dämonin ihr Herz und ihre Seele aus dem Leib schrie - ein lauter, langer Ton der innersten, tiefsten Qual, der den Horror, den Green da mit eigenen Augen beobachtete, nur noch unterstrich.
Hikari hatte nur ihren Arm getroffen; Green war sich nicht einmal sicher, ob die Lichtgöttin ihn nicht nur gestreift hatte... aber das war wohl nebensächlich, denn ihre Hand hatte bei dem Akt des Wegstoßens geglüht - und sie war die Lichtgöttin, sie war das Licht in Person. Es hatte ausgereicht.
Sich windend und krümmend lag die Dämonin, die Hikari einfach nur hatte helfen wollen, auf dem Boden der Arena, litt ihren Todeskampf, den Hikari in einem absoluten Schockzustand anstarrte. Sie war erstarrt: Ihr ohnehin schon weißes Gesicht war von Schrecken verzerrt, geformt zu einem Schrei, einem tonlosen, aber entstellendem Schrei. Sie konnte sich nicht von dem abwenden, was sie getan hatte; ihre kleinen, weißen Augen starrten die Dämonin an ohne irgendetwas zu sagen oder tun zu können. Wie deutlich man es diesem komplett verängstigten Wesen nicht ansehen konnte! Wie deutlich man nicht sehen konnte, wie sie zu Bruch ging! Sie war wie ein kleines Kind, dem mit einem Mal all seine Unschuld genommen wurde; ein Kind, das mitten hinein in einen abgrundtiefen Horror geworfen wurde - den Horror, an dem es selbst Schuld hatte, das wusste dieses Kind, es rannte nicht vor dieser schrecklichen Verantwortung davon, nein, diese Verantwortung war es, die die Risse ausmachte, die das zerbrechliche Porzellan, aus dem sie gefertigt worden war, zersplittern ließ.
Die ganze Situation war grausam, aber Green konnte sich der Ironie nicht entziehen. Zwar waren die Hikari alle darauf trainiert, schnell und schmerzlos zu töten, aber sie alle waren sich im Klaren darüber, wie ihre Magie funktionierte und sie hatten den Todeskampf natürlich trotz allen "schnellen" Tötens schon gesehen. Niemand würde heute so reagieren, wie Hikari es in diesem Moment tat: Für die folgenden Generationen waren Dämonen keine Wesen, deren Leid sie irgendwie erreichen konnte. Für sie war Licht eine Waffe; eine Waffe, die die effektivste war gegen die Dämonen und die sie demnach auch genauso anwandten - und hier saß die Göttin des Lichts, die Urquelle ihres Elements und zerbrach angesichts dieses Schreckens. Ja, auch Green spürte Übelkeit in sich angesichts dieses wahrlich widerlichen Geschehens. Aber dieses Gefühl war nicht einmal besonders stark. Sie zersplitterte nicht, genauso wenig wie die anderen Hikari vor ihr.
War es, weil sie schon zersplittert waren?
Hikaru verspürte offensichtlich ebenfalls keine Abscheu. Hikari ungeachtet, hatte Hikaru sich langsam der sterbenden Dämonin genähert - nein, nicht langsam... sondern ehrfürchtig. Sie wurde angezogen davon; sie, deren weißes Gesicht von kleinen roten Sprenkeln übersät wurde, das Blut des Wesens, das zu ihren Füßen starb. Sie sah auf es herab, gänzlich von Faszination betäubt.
Erst da, als Green einen Ekel vor Hikaru in sich aufkommen spürte, sah die jetzige Vertreterin des Lichts, dass Hikaru ihre Hand immer noch über ihrer Brust verkrampft hatte. Lights Stimme bestätigte ihren Verdacht:
"Ja - wir spürten den Schmerz unserer Mutter."
Und dennoch sah Hikarus Gesicht so ruhig aus, so selig, als wäre dieser Schmerz und alles, was um sie herum geschah, etwas Positives - dass nicht nur Green Gräuel empfand, hörte sie deutlich aus Lights Stimme heraus. Aber warum verspürte Green Gräuel?
Sie hatte keine Zeit, sich dieser Frage zu widmen, denn gerade als Hikaru wieder zu lächeln begonnen hatte, kam eine weitere Person angerannt; eine Person, die Green bereits einmal in einer anderen Erinnerung kennengelernt hatte - Yami, die Mutter von Silence und Youma. Die Göttin der Dunkelheit, stolz, stark, schön und genauso schockiert wie ihre Zwillingsschwester, die sie stürmisch in die Arme schloss. Sie stellte keine Fragen, sie sagte nichts, sondern drückte das kleine zitternde und weinende Häufchen Elend einfach nur an sich, drückte ihren Kopf an ihre Brust und umarmte sie, die nun auch ihre Arme um Yami herumschlang, froh erlöst zu werden - aber sie war nicht erlöst.
Es hatte erst begonnen.
Yami hatte keiner Worte bedurft. Sie hatte gespürt, was geschehen war - doch auch wenn sie es gespürt hatte, auch in ihrem schönen Gesicht zeichnete sich der Schrecken ab. Ob sie sich fragte, wie ihr unschuldiger Zwilling überhaupt zu so etwas fähig sein konnte? Ob sie sich fragte, wie so etwas überhaupt möglich sein konnte? Warum tat eigentlich niemand etwas, um der Dämonin zu helfen? Sie versuchten es ja nicht einmal. Waren sie, die doch noch nie mit so etwas konfrontiert gewesen waren, in einer beschützten Welt gelebt hatten, trotz aller Göttlichkeit etwa mit der Situation überfordert?
Auch als die beiden ersten Dämonen, nämlich der namenlose Dämonenherrscher und Luzifer, gleichzeitig mit Light ankamen, taten sie nichts. Luzifer war sichtlich genauso schockiert wie Yami und Hikari, doch auf eine andere Art, immerhin war es eine seiner Artgenossen, die da vor sich hinsiechte, deren Brustkorb nun offen lag, weil die Haut schon...
Light, dessen Brust offensichtlich enorm schmerzte, eilte mit aufgerissenem Mund zu Yami und Hikaru ohne, dass er die kleinen Augen von der sterbenden Dämonin abwenden konnte. Luzifer dagegen nahm angewidert und auch verängstigt Abstand, leicht wankend, die Hand vor dem Mund, während das Gesicht des namenlosen Dämonenherrschers nach dem ersten Schock unberührt blieb. Etwas, was Luzifer nicht unbemerkt blieb, denn seine Augen huschten kurz zu ihm - und dann war es vorbei. Das Trauerspiel, das Green so vorkam, als hätte es Stunden gedauert, aber was eigentlich nur fünf Minuten gewesen waren - es war vorbei. Zu einem Ende gekommen. Aber das war ein Irrglaube.
Etwas war in Gang gesetzt worden, etwas, das nicht mehr aufgehalten werden konnte, obwohl an diesem Tag keine Worte mehr gesagt worden waren - aber Worte waren nicht immer von Nöten. Luzifer und Yami hatten es beide gesehen.
Yami hatte gesehen, wie Hikaru der Dämonin lächelnd beim Sterben zugesehen hatte, genau wie Luzifer gesehen hatte, wie sein Herrscher es ebenfalls getan hatte.
White war wieder im Einsatz. Wieder auf dem Schlachtfeld.
Nie wieder hatte sie hierhin gewollt; nie wieder die Schreie hören wollen; nie wieder so viel Blut und Schmutz an den Händen haben wollen. Trotzdem war sie hier, auf einem Schlachtfeld unter dem roten Himmel der Hölle, denn wenn sie eines gelernt hatte, wenn ihr die Titanaugen ihres Vaters eines beigebracht hatten... dann dass es unwichtig war, was man wollte und ganz besonders, was man nicht wollte. Als sie ins Diesseits aufgebrochen war und Shaginai sie bis zur Eingangshalle des Jenseits begleitet hatte, da hatte sie auch das Gefühl, dass sie wieder am Leben war. 18 Jahre jung, gerade Mutter geworden und schon wieder mit ihrem Stab in der Hand, statt Grey in den Schlaf zu singen...
Ihr Vater hatte ihr keine motivierenden Worte mitgegeben, doch in seinen Augen lag eine gewisse Erwartungshaltung: Er und auch der Rest ihrer Familie waren gespannt darauf, welche Wunder White noch vollbringen konnte. Es interessierte sie nicht, ob White mit den Gedanken und ihren Sorgen bei Green war - die einzige Frage, die wichtig war, war die, ob White noch genauso gut funktionierte wie vor 19 Jahren.
Whites Ruf eilte ihr wieder voraus: Niemand des Bataillons Perassion fragte nach Green, Kaira und Daichi verneigten sich vor ihr und überließen White wie selbstverständlich das Kommando. Es waren andere Wächter; der Fürst und dessen Gebiet, welches sie zu bekämpfen hatten, ein anderer und doch war alles wie vor 19 Jahren. Dieselben Worte, dieselben Attacken, dieselben sterbenden Dämonen, derselbe Kampf... und das traurige, bittere Gefühl Whites, welches ihr sagte, dass sie hierhin gehörte. Hier war sie am besten. Hier funktionierte sie am besten.
Hierfür war sie gemacht worden.
Hierfür war sie geboren.
White wollte es nicht; sie hasste es, das zu denken, sie hasste es, das zu fühlen und doch war es alles so gewohnt und so einfach, als wäre sie nach Hause zurückgekehrt - in ein verhasstes Zuhause... aber doch den Ort, wo sie hingehörte: das Schlachtfeld.
"Hach!", seufzte Mary begeistert, weit, weit entfernt im Jenseits, wo die Hikari dem Kampf folgten:
"Ich liebe es, wenn White ihre Sandalen auszieht und über das Schlachtfeld gleitet wie eine Feengestalt! Es ist schön, dass wir das noch einmal sehen können." Natürlich war Mary die schönste Hikari - das legte ja bereits ihr Name fest - aber für sie, die eine Freundin des ästhetischen Kämpfens war, war es eine Freude, White in der Schlacht zu sehen. Ihre leuchtenden Füße, die, wenn sie den blutigen Boden unter ihr berührten, mächtige Bannkreise heraufbeschwören konnten, um in einem Umkreis von zehn oder sogar zwanzig Metern alle Dämonen auszulöschen und ihre Mitwächter zu heilen, ohne sie überhaupt zu berühren! Mary selbst hatte ihr diese Technik beigebracht, aber White hatte sie perfektioniert und es erfüllte Mary mit Stolz, ihre Technik zu solcher Schönheit perfektioniert zu sehen. Der Eciencé-Körper Whites schien keine Behinderung zu sein; White schien sogar noch leichter zu sein als früher, wie sie elegant und leichtfüßig über den Dreck des Bodens glitt, als wäre der sandige, blutige Untergrund Henels aus Eis und sie eine Schlittschuhläuferin.
"Der Vergleich mit ihrer Tochter ist schmerzlich", fuhr Mary fort, dabei an Greens Auftritt in Kanada erinnernd, wo Green ihre Schuhe an den Kopf der Dämonen geschmissen hatte - White hatte ihre galant abgelegt und einem für die Schlacht geschulten Sanitäter-Tempelwächter überlassen, der sie hütete, als wären sie aus Gold.
"Du hast noch einen weiten Weg vor mit deiner Enkelin, Shaginai-kun." Mary zwirbelte ihre weißen Haare, während sie Shaginai, der zwei Sitze weiter saß, einen neckenden Blick zuwarf, welcher allerdings völlig unberührt blieb:
"Yogosu wird niemals wie Ihre Mutter."
"Ja, diese Hoffnung kann mal wohl..." Mary unterbrach sich, als ein gleißender Lichtstrahl die Hologramme erleuchtete und Hizashi übernahm das Wort: Doch sein Wort war gewiss nicht lobender Natur.
"So viel Licht auf einmal zu entfesseln! Welch Anfängerfehler." Hizashi lachte in sich hinein, während Seigi beleidigt dabei zusah, wie White Dämonen tötete, die er eigentlich hatte töten wollen.
"White-san sollte besser Acht geben", kritisierte Hizashi weiter.
"Ihr Herz schlägt nicht mehr. Wenn sie zu viel Licht auf einmal entfesselt, dann könnten sie und ihr Eciencé-Körper verpuffen, ehe sie genug Dämonen eliminiert hat." Noch einmal lachte Hizashi, doch niemand schloss sich seinem Lachen an, besonders nicht Adir, der neben ihm saß, denn er hatte schon gesehen und verstanden, warum White diesen "Anfängerfehler" begangen hatte, ebenso wie Shaginai, dessen Augen sich nun skeptisch verengten, denn keiner der beiden hatte den Disput vergessen, den dieser Dämon zwischen White und Shaginai ausgelöst hatte - ein Dämon, der das Déjà-Vu perfekt machte.
"White! Ma chérie ♥!" White hatte so einen heftigen Schüttelfrost verspürt, als sie Nocturns Stimme gehört hatte, dass sie tatsächlich den Anfängerfehler begangen hatte und einen viel zu großen Lightspirit entfesselt hatte - eine unkluge Abwehrreaktion, für die sie sich selbst ärgerte ohne die Worte Hizashis gehört zu haben, denn natürlich war Nocturn diesem Strahl mit Leichtigkeit ausgewichen. Andere Dämonen hatte es in Funken zerrissen, aber Nocturn landete spielerisch mit offensichtlicher Freude mit der Hand nirgendwo anders als auf ihrem Stab.
"Ich habe dich ebenfalls vermisst, mein Engel." Er grinste sie an mit flatternden Haaren und Umhang, doch White ließ sich nicht auf seine Wiedersehensfreude ein und ohne sein Wort oder sein Grinsen zu erwidern, holte sie mit einer eisernen Miene mit der linken, leuchtenden Hand aus, doch da war Nocturn schon über sie hinweggesprungen.
"Ach White!", rief Nocturn sich noch in der Luft befindend:
"Wie froh bin ich nicht darüber dich zu sehen! Befreie mich von der Langeweile, die meine Seele zerreißt!" Und es geschah, was auch vor 19 Jahren geschehen wäre. Gleichzeitig bündelten die beiden Spiegelbilder voneinander ihre Magie in der rechten, beziehungsweise linken Hand und streckten sie in genau demselben Moment einander zu, womit die verschiedenen Magien einer Explosion gleich über das Schlachtfeld fegten; über die Dämonen, die Wächter, sowie Steine und Wolken, die hinweggefegt wurden von dieser Druckwelle.
Nocturn lachte manisch; Whites Blick wurde ernster und ausgefahrene Fingernägel prallten mit einem lauten Quietschen gegen Whites Kreuzstab, die zurückwich, da ihre Körperstärke es nicht mit Nocturns aufnehmen konnte - dafür aber ihre Magie, die sich unter Nocturns Füßen bündelte und ihn beinahe gepackt hätte, wäre er nicht lachend in die Höhe gesprungen. Er machte einen Salto, landete wieder und strahlte White so entschlossen und erfreut an, als würde er zum ersten Mal seit Monaten wieder leben - was wahrscheinlich der Wahrheit entsprach.
"Oh White, wie dankbar bin ich nicht dafür, dass du deine Magie wiederhast!" Nocturn errötete, als White die Felsen unter ihren nackten Füssen aufleuchten ließ - als wäre dies etwas Gutes für ihn - und bewunderte, wie das Licht ihre Haare zum Leuchten brachte: genau wie Mary liebte er diese Technik. Er fand allerdings nicht, dass sie aussah wie eine Fee - sondern wie ein leibhaftiger Engel!
Nocturns Freudentaumel wurde allerdings vom Fürsten Narn unterbrochen, der dieses Gebiet und diese Schlacht führte - mit einem feurigen Satz war er plötzlich in ihrer Mitte aufgetaucht, die Nocturn eigentlich für sich und White beansprucht hatte.
"Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten, du verfickter Verräter!" Die Wortwahl - die ihn an den vulgären Frevler Lycram erinnerte - machte Nocturn wütend und störte ihn, doch er wollte sich ihm nicht widmen. Er wollte nur White sehen.
"Dann versuch doch mich aufzuhalten, mich zu stören, in meinem Freudentanz!" Schon sprang Nocturn rückwärts, als Whites Bannkreis sich ausbreitete wie ein Ring auf dem Wasser und der nächste sogleich folgte, dieses Mal jedoch als Ring, der um Whites Hand herum lag, der auf Nocturns Brust gerichtet war - und sofort war Nocturns breites Lächeln wieder da, als Whites Hand ihn streifte und er das stechende Kribbeln ihrer Magie auf seiner Haut spürte.
Oh ja, er würde definitiv jeden töten, der ihn stören würde bei diesem Fest!
Doch Narn hatte seine Meinung geändert - zu groß war sein Respekt vor Whites Magie. Er zog sich lieber zurück, doch gänzlich konnte er dem Schauspiel nicht den Rücken zukehren, genau wie viele seiner Hordenmitglieder, die, so musste Youma erstaunt feststellen, Nocturn begeistert in seinem Kampf zusahen. Es war nämlich doch nicht alles so wie vor 19 Jahren: von Nocturn und White unbemerkt beobachtete Youma, in der Luft schwebend, von Weitem deren Kampf mit einer Mischung aus Staunen, Neid und auch ein wenig Empörung. Denn was sah er da? Benutzte Nocturn da beide seine Hände? Das hatte er noch nie in einem Kampf mit Youma getan... er sagte immer, dass er das nicht brauchte... aber scheinbar musste er das doch in einem Kampf gegen White. Er hatte auch eindeutig mehr Freude an diesem Kampf - auch wenn diese Freude recht beängstigend war - als in einem Kampf gegen Youma; er musste sich anstrengen, setzte andere Techniken ein und... Youma musste mit knirschenden Zähnen leider feststellen, dass Nocturn wirklich sehr... sehr gut war. Er machte aus einem Kampf eine Vorführung, von der man nur schwer die Augen abwenden konnte: leichtfüßige, spielende Bewegungen, die den nächsten Angriff schwer vorhersehbar machten - die White aber dennoch parierte, anders als Youma... - präzise Stechtattacken gepaart mit tänzelnden Bewegungen, als tanze er mit White, anstatt zu versuchen, sie auszulöschen. Ob er sie töten konnte, wenn er es wollte? Whites Magie war sehr groß, das spürte Youma deutlich, obwohl er gute 500 Meter entfernt war. Aber nein, das wollte Nocturn natürlich gar nicht, denn auch das sah Youma Nocturn an: Er vergötterte diese Frau.
Youma verzog noch weiter das Gesicht, als abermals eine starke Magiewelle über sie hinweg preschte und seine Haare aufgeregt um ihn herumwirbelten - das war ein ganz anderes Level an Können, was er hier sah, als beide wieder auseinandersprangen und sichtlich nicht verletzt waren. Ein ganz anderes Level als das, auf welchem er sich befand... Im Vergleich hierzu kämpfte Nocturn, wenn er mit Youma trainierte, mit einem Kind.
Der eingeschnappte Yami hatte Lust sich einfach nach Paris aufzumachen, nur um das hier nicht länger mitanzusehen - obwohl er trotzdem nicht die Augen von diesem Magieschauspiel abwenden konnte - aber er konnte nicht. Er sollte nicht. Er war auch hier, um zu kämpfen. Lacrimosa hatte deutlich gemacht, dass auch er sich von seiner "besten Seite" zeigen sollte und aus diesen Grund hatte er auch seine Sense in Paris gelassen, da wahre Dämonen ja nicht mit Waffen kämpften... Youma himmelte mit den Augen und verspürte garantiert nicht die kleinste Lust zu kämpfen, besonders nicht, wenn er Nocturns erfreutes Lachen hörte. Im Kampf gegen ihn war das einzige, was Youma hörte, ein Lachen, welches ihn auslachte...
In diesem Moment hätte Youma es auch verdient, von Nocturn ausgelacht zu werden, denn er wurde plötzlich Opfer eines Fehlers. Nocturn hatte ihm schon mehr als einmal gesagt, dass er sich nicht zu lange in der Luft befinden sollte, ansonsten machte er sich zur Zielscheibe - und genau das war passiert. Nur in letzter Millisekunde hatte Youma die auf ihn zurasende Magie bemerkt und war seitlich ausgewichen, ansonsten hätte das violette Geschoss seinen Kopf abgerissen anstatt nur seiner Wange.
Über sich selbst fluchend und sich seines Fehlers bewusst, setzte Youma eilends zur Landung an, doch noch ehe seine Füße den Boden berührten, schoss auch schon Kairas violett leuchtender Sekundenzeiger hervor.
Wieder einmal verleitete Youma Nocturn zu einem schadenfrohen Lachen: Denn er war nicht so sehr in seinem Kampf vertieft, dass er nicht den fatalen Fehler seines "Schülers" übersehen hätte - der wahre Anfängerfehler in dieser Nacht. Nocturn hatte auch gesehen, dass es ausgerechnet eine Elementarwächterin war, die sich Youmas Dummheit zu Nutze gemacht hatte: hoffentlich würde sie ihm Schmerzen zufügen, denn Fehler mussten wehtun, ansonsten lernte man nichts aus ihnen, dachte Nocturn mit einem Grinsen, ehe er sich wieder in die Lüfte emporschwang, sich wie in einer Pirouette drehte und rot- und schwarzleuchtende Geschosse auf White abfeuerte, die sie mit ihren leuchtenden Händen abwehrte und das so geschickt, dass sie andere Dämonen damit traf. Ah, das war Können!
"Habe ich dir schon gesagt, dass du heute Nacht wunderschön bist, White?" Es folgte keine Antwort, aber Nocturn hatte schon durchschaut wieso, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich darüber zu pikieren:
"Es ist nicht nett..." Mit einem Ruck seiner linken Hand verlängerte der Flötenspieler seine Fingernägel, so dass sie mehr als einen Meter lang wurden.
"... mit Schweigen auf Komplimente zu reagieren, wenn sie so von Herzen kommen!" Wie als wäre Nocturn selbst ein Speer raste er auf White zu - aber nicht von vorne, sondern von hinten. White wirbelte rechtzeitig alarmiert herum - genau wie Nocturn es sich gedacht hatte--- und riss ihr Kommunikationsgerät vom Kopf. Das schwarze Gerät flog in die Luft und landete auf einem Stein, genau vor einem weiteren Nocturn, der das Gerät unter seinen Stiefeln zerbrach, während seine Kopie sich hinter White auflöste.
"Jetzt können wir ungestört reden, Ma chérie."
"Ich habe nichts mit dir zu bereden, Nocturn." Das Lächeln des Dämons wurde breiter.
"Solch schmerzende Worte." Nocturn schüttelte den Kopf, mit dem Fuß die letzten Überreste des Gerätes zerstörend:
"Aber ich bin sie ja von dir gewohnt, ungnädiger Engel. Dabei kann ich sehen, dass dich etwas bedrückt!" Mit einem Satz war Nocturn vor White - genau vor White, genau vor ihrem Gesicht, es ganz genau in Augenschein nehmend, mit den Armen hinter dem Rücken, als wäre ihm jedes Gebot der Privatsphäre fremd.
"Es liegt eine sehr plagende Sorge hinter deinen weißen Augen verborgen." White rührte sich nicht. Sie bewegte sich nicht zurück, sie zuckte nicht zusammen und sie griff ihn nicht an; nur ihre Augen verengten sich ein wenig. Sie mochte es nicht, wenn ausgerechnet Nocturn als einziger bemerkte, dass sie Sorgen hatte. Sie mochte es jetzt nicht und sie hatte es auch damals nicht gemocht.
"Es ist wegen deinem Augenstern, nicht wahr? Deinem kleinen Mädchen, welches die Weihe macht, die unter soooo einem schlechten Stern steht..."
"Sprich nicht über Green."
"Wieso nicht?", fragte Nocturn in offensichtlicher Verwirrung:
"Mit wem sprichst du denn sonst über deine Sorgen?" Die Wahrheit zu hören - ganz besonders nach dem Disput mit ihrem Vater - war bitter, aber nicht so bitter, dass es sie lähmte und da Nocturn so nah an sie herangekommen war, musste sie nur ihre leuchtende Hand auf seine Brust zu legen und schon wäre da ein Loch, wäre nicht Nocturn ihr Gegner, der die Attacke zwar nicht hatte kommen gesehen, sich aber eilig einige Meter in die Höhe teleportierte, ehe der Schaden zu groß wurde. Blut rann dennoch von seinen Lippen herunter, denn das Licht hatte seine Lunge erreicht.
"Wie gemein von dir." White war überrascht weder ein Lächeln noch ein ironisches Grinsen zu sehen - scheinbar meinte er diese Worte ernst. Er war eingeschnappt; eingeschnappt wie ein kleines Kind, welches seinen Willen nicht bekommen hatte. Auf seine Schmerzen achtete er nicht; dafür achtete er aber umso mehr auf Whites Gesicht, als seine aus Blut geformten Dornen von hinten ihren Körper durchbohrten.
"Wenn du noch hättest bluten können, dann hätte es hübscher ausgesehen..."
Youma wusste, gegen wen er kämpfte, auch wenn er Kaira noch nie zuvor gesehen hatte: Er hatte sich selbstverständlich alle Elementarwächter gemerkt, nicht nur die der jetzigen Generation, sondern auch die der letzten und der vor ihnen - man konnte nie wissen, wozu man dieses Wissen gebrauchen konnte.
Im Moment war es jedenfalls absolut unnütz!
Die Elementarwächterin der Zeit war alles andere als eine einfache Gegnerin, die Youma mal eben umbringen konnte und er fluchte innerlich so sehr, dass er seine Sense nicht bei sich hatte, um die sehr zielsicheren Angriffe der Toki parieren zu können. Mit Müh und Not gelang es ihm auszuweichen - ein Blocken sollte er vermeiden, denn eine Berührung mit ihrem viel zu langen, viel zu spitzen Sekundenzeiger war lähmend. Ihren ersten Angriff hatte er mit der Hand abgefangen, die in dunkle Magie gehüllt war - aber diese hatte ihn auch nicht davor bewahrt, dass er seine rechte Hand nicht länger spürte, als existiere sie gar nicht mehr. Unablässig jagte sie ihn durch den Sand, über die Klippen, ohne dabei auch nur die geringste Atemnot anzudeuten: Entschlossen waren ihre braunen Augen auf Youma gerichtet und sie würden nicht von ihm ablassen, ehe er Funken war, so viel war sicher.
"Du kämpfst immer noch nicht wie ein Dämon es tut, Kronprinzcheeen!", hörte Youma Nocturn in seinen Gedanken, ihn verspottend, als er wieder nur auswich, anstatt anzugreifen. Nur knapp verfehlte der Sekundenzeiger sein Gesicht und schnitt nur seine Haare anstatt seine Wange. Er hörte Nocturn lachen: so wie er ihn schon so oft ausgelacht hatte und fluchte über sich und seine Fähigkeiten... und beugte sich nach hinten, so wie Nocturn es schon so oft bei ihm getan hatte - ihr Stich ging daneben und mit Schwung fegte Youmas rechtes Bein nach oben, rammte Kairas Kinn und warf sie zurück, ehe Youma sich mit der rechten Hand abfing und eine Rolle in der Luft machte, ehe er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Er durfte nicht zögern; er musste diesen Moment ausnutzen und wie sagte Nocturn es nicht immer - Youmas einziger Vorteil war seine Magie und sein Vorrat dessen.
Zum ersten Mal weiteten sich auch Kairas Augen, als sie den Strahl schwarzer Magie auf sich zurasen sah - doch anstatt dass sie parierte, verschwand sie und da ein Anti-Teleportationsbannkreis gelegt worden war, wusste Youma, dass sie sich nicht teleportiert hatte---- sie war in der Zeit verschwunden, um gleich wieder aufzutauchen und sie konnte nur einen Punkt aussuchen, um wieder im "Jetzt" anzukommen und zwar genau----
--- vor seinen Augen.
Doch zum Glück für Youma hatte er den Trick rechtzeitig durchschaut und so hatte er die Spitze des Sekundenzeigers genau vor seinen Augen, anstatt in seinem Kopf, denn die Magie, die er eben noch abgefeuert hatte, hatte er nun dazu genutzt, einen Schild zu bündeln, der ihn nun beschützte. Doch diese Furie von einer Wächterin gab immer noch nicht auf! Anstatt zurückzuweichen oder zurückzuspringen und sich einen neuen Sekundenzeiger zu erschaffen, stemmte sie sich gegen Youma und seine Magie und Youma musste den Kopf in den Nacken legen, um nicht von der immer näherkommenden Spitze berührt zu werden. Seine rechte Hand war taub - was würde passieren, wenn der Sekundenzeiger seinen Kopf berühren würde? Einmal in der Zeit eingesperrt sein hatte ihm genügt!
"Du wirst sterben." Youmas Augen weiteten sich langsam beim Klang dieser Stimme, die aus Kairas Mund kam, die aber keine Frauenstimme war und die in keiner anderen Sprache als Edou gesprochen war. Youma rann es kalt den Rücken runter seine Muttersprache zu hören. Diese Stimme zu hören. Er kannte sie. Er kannte ihn.
"Halbkind." Youmas Stimme war ein ersticktes Keuchen:
"Gott Toki."
Durch die aufgescheuchte Dunkelheit hindurch, die ihren Träger immer noch beschützte, aber deutliche Risse bekam, erkannte Youma purpur leuchtende Augen, von denen er sich sicher war, dass sie vorher braun gewesen waren. Aber es überraschte ihn nicht, denn Toki, der Gott der Zeit, hatte solche Augen gehabt - und es war seine Stimme, die mit ihm sprach und seine Magie, die die Risse vergrößerte...
"Du hast meine jüngste Tochter entzwei geteilt..." ... und seine Augen, die sich in ihn bohrten.
"... und die Zeit vergisst niemals." Aber Youma hatte es getan. Er wusste, dass er in jener Nacht viele getötet hatte, aber er wusste nicht wen. Er wusste nicht, ob Wächter oder Dämon, ob Mann oder Frau, ob Kind oder erwachsen. Er wusste es nicht. Von dieser Nacht wusste er nichts anderes mehr als Blut... Blut und Licht. Hikarus Licht... und Silence... und Silence, die ihn... Es war alles verschwommen und am Lautesten war der Schrei seines Glöckchens und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.
Die Schuld darüber, was er getan hatte - und was er vergessen hatte - zeichnete sich so deutlich in Youmas Gesicht ab, dass es für einen Moment so aussah, als wäre er eben aus einem seiner unzähligen Albträume erwacht; doch erweichte dies den Gott nicht, dessen Sekundenzeiger die Form änderte. Wie eine Libelle breiteten sich links und rechts zwei Flügel aus, die nur eine Absicht verfolgten und die von der Dunkelheit nicht aufzuhalten waren, welche viel zu erschüttert war.
"Schuld wird die Untat nicht ungeschehen machen, Halbkind!" Nein, das würde es nicht, aber die harten, beinahe geschrienen Worte, weckten Youma aus seinem Schockzustand--- die drei Spitzen schossen auf seine Stirn zu, doch sie trafen ihn nicht, denn er ließ sich abermals nach hinten fallen - dieses Mal jedoch in seinen Schatten hinein. Er musste weg: er musste fliehen. Diesen Kampf konnte und wollte er nicht länger ausfechten.
Die Dämonenwelt war groß; groß und dunkel, voller Schatten und es gelang Youma weit, weit weg zu gelangen, ohne, dass ihn jemand sah oder aufhielt. Als er wieder auftauchte, wie ein Schwimmer aus dem Wasser ausbrach, war er so weit weg vom Schlachtfeld, dass er die Schreie nicht mehr hören konnte. Er stand oben auf einem hohen Ast, dem Ast eines alten, toten Baumes, mit Tausenden von Ästen, die alle irgendwann einmal Blätter getragen hatten, nun aber nur noch schwarz waren. Die Schlacht sah er nur noch durch die Äste, weit, weit weg am Horizont und doch fühlte Youma sich nicht in Sicherheit. Ja, er fühlte sich so unsicher, dass seine linke Hand immer noch im Schatten steckte, bereit jederzeit wieder hineinzutauchen, dorthin, wo ihm niemand folgen konnte. Er presste die Augen zusammen, welche wieder schwarz waren, versuchte seinen Atem zu beruhigen und sah in die entgegengesetzte Richtung, über das Gebiet Narns hinweg... ein weites Land mit so vielen toten Bäumen... und war sich mehr denn je bewusst, dass er nicht jede Nacht aus einem Albtraum erwachte - er war in einem. In einem einzig langen, endlosen Albtraum, den er sich selbst geschaffen hatte.
Youma kniff die Augen zusammen, als konnte er nicht ertragen, was er sah, aber er öffnete sie wieder langsam, als er spürte, dass er nicht mehr alleine war - und richtig, sein Gespür hatte sich nicht geirrt: neben ihm schwebte Nocturn in der Luft, ihn genauestens beobachtend. Youma sagte nichts, obwohl es ihn störte, dass Nocturn ihn so genau in Augenschein nahm und machte sich bereit für die übliche Schadenfreude und die Kritik. Er hatte den Kampf nicht gewonnen, war geflohen und hatte auch allgemein keine gute Figur abgegeben - wenn Nocturn es denn gesehen hatte und nicht zu sehr von seinem ach so tollen Kampf abgelenkt gewesen war. Aber Nocturn sagte nichts. Er sah auch nicht ernst aus, sondern schlicht... neugierig und etwas verwundert. Warum war er hier? Warum kämpfte er nicht noch gegen White?
"Dein Gesicht ist das letzte, was ich jetzt gerade sehen möchte", zischte Youma recht still und mit keiner sonderlich starken Stimme und er schämte sich auch sofort für seine unwirschen Worte, denn zur Abwechslung mal war Nocturn nicht Schuld an den ihn quälenden Gefühlen. Die unwirschen Worte ließen Nocturn aber scheinbar unberührt; verärgert sah er jedenfalls nicht aus. Immer noch musterte er Youma, dessen rechte Hand immer noch im Schatten des Baumes verschwunden war. Er hatte Lust Nocturns Blick auszuweichen, aber das würde ihm abermals so vorkommen, als würde er fliehen - und er war zu oft an diesem Tag vor etwas geflohen.
"Gut, wenn das der Wunsch des Kronprinzen ist." Und noch ehe Youma etwas sagen konnte, verschwand er... womit Youma plötzlich alleine war, mehr alleine, als er es eigentlich gewollt hatte. Eigentlich wollte er gar nicht alleine sein; nicht jetzt und nicht in dieser schrecklichen Welt, die nicht sein Zuhause...
"Besser?" Youmas Augen weiteten sich und überrascht drehte er sich herum - und sah, dass Nocturn sich gar nicht wieder nach Paris teleportiert hatte, sondern nur auf die andere Seite des Baumstammes, an welchem Youma sich abstützte. Er sah ihn so nicht... er sah nur seinen Umhang und seine Locken, wenn sie sich bewegten. Youma war sprachlos. Hatte Nocturn etwa gewusst, dass... nein... niemals.
"Hast du ein Problem mit Zeitwächtern?"
"Ein... Problem?", wiederholte Youma immer noch merkwürdig verwirrt, während er sich wieder herumdrehte und nach vorne sah, etwas peinlich ertappt.
"Ein persönliches Problem." Als Youma immer noch nicht antwortete, fuhr Nocturn fort:
"Der Kampf hat dich mitgenommen." Der Kronprinz traute seinen Ohren nicht. Versuchte Nocturn ihn da gerade... versuchte er ernsthaft ihn zu... verstehen? Wozu? Um sich besser über ihn lustig zu machen? Zielsicheres Ärgern? Es lag nichts Triezendes in seiner Stimme, kein Lachen, aber... bei Nocturn wusste man es nie.
"Sie war eine starke Gegnerin", erwiderte Youma nach einem kurzen Zögern, aber er konnte sich nicht dazu bringen zu sagen "sonst nichts".
"So geplagt sieht man nicht aus, wenn man gegen einen starken Gegner kämpft. So wie du aussiehst, sieht man aus, wenn man seinem Alptraum begegnet ist." Kurz übermannte Youma Wut - Wut darüber, wie absolut treffend Nocturn dies formulierte, wie gut er ihn durchschaut hatte... als könnte er seine Gedanken doch lesen. Aber genauso schnell wie die Wut gekommen war, flaute sie auch schon ab und Worte wie "das geht dich gar nichts an", blieben Youma im Hals stecken... stattdessen kämpfte sich eine Frage empor.
"Kannst du dich an alle erinnern, die du umgebracht hast?" Nocturn sah zu ihm, aber Youma sah immer noch geradeaus und bemerkte es nicht. Er wartete gespannt auf die Antwort, sich ein wenig dafür... schämend, dass er die Frage gestellt hatte.
"Egal wie irre mich andere auch nennen mögen; ich habe ein gutes Gedächtnis. Ja, ich erinnere mich an alle. Ich kenne nicht ihre Namen, aber ich erinnere mich an ihre Gesichter. Allgemein bin ich eher aus auf Qualität als auf Quantität. Der Tod muss kunstvoll sein!" Nocturn schien weiter über sein Lieblingsthema reden zu wollen: Ja, er war gerade richtig davon gebissen und Youma bereute es nun noch mehr, dass er ehrlich gewesen war, aber er war sehr überrascht, als Nocturn sich selbst unterbrach - und das ohne Youma überhaupt sehen zu können.
"War es ein Kind?" Die Worte, komplett ohne Vorwurf, trafen Youma und ließen sein Gesicht erbleichen.
"Wie kommst du darauf?", fragte er, doch seine tonlose Stimme verriet ihn bereits.
"Du besitzt die Sentimentalität dafür, dich von dem Tod eines Kindes treffen zu lassen, als sei es dein eigenes." Youma wusste nicht, was er antworten sollte. Er hatte nie mit Nocturn über Kinder gesprochen...? Woher wusste er, dass es Youma gewiss nicht egal war, wie alt sein Gegner war?
Youmas Schweigen schien für Nocturn Antwort und Erklärung genug zu sein und obwohl Youma ihm keinen Anlass gab zu glauben, dass er wollte, dass das eher einseitige Gespräch fortgesetzt wurde, nahm er den Faden wieder auf, nachdem er noch einen kleinen Blick über die Schulter geworfen hatte.
"Das Gewissen der Wächter lässt sich nicht von unserem Alter beirren, Youma." Nun war es Youma, der über die Schulter sah - so ernst hatte er Nocturn selten sprechen hören.
"Für sie sind wir alle nur eine große, namenlose Masse, die sie auslöschen müssen. Nur die Fürsten und die Könige haben Namen. Das sind 25 Dämonen von 255.000 oder wie viele wir im Moment sind. So viele Namenlose, die sie einfach töten, ohne darüber nachzudenken, wie alt wir sind und ob wir Familie haben. Ich habe sehr viele Gedanken von Wächtern gelesen und nur sehr selten habe ich Skrupel oder ein Gewissen entdeckt, das sich dem Ableben von Dämonen widmet. In ihren Augen sind wir nur Monster, ohne Namen, ohne Identität, ohne Familie, ohne Wurzeln. Pfft, einige von ihnen glauben sogar, dass wir gar nicht sprechen können; dass wir gänzlich ohne jegliche soziale Struktur existieren würden. Wir sind nur da, um bekämpft, getötet und ausgelöscht zu werden. Das macht das Ganze sehr viel einfacher, nicht wahr?" Nocturn lachte etwas hohl:
"Wenn dich also ein Vater oder eine Mutter angreift und Rache ausüben will für ein Kind, welches du aus Versehen getötet hast, dann finde ich das sehr heuchlerisch." Youma glaubte seinen Ohren nicht und er starrte immer noch Nocturns Rücken an. War das gerade ein Versuch ihn... aufzuheitern? Wollte er ihm die Schuld abnehmen?
"Für mich macht es..." Youma war so verunsichert, dass er schlucken musste. Abgelenkt hatte Nocturn ihn auf jeden Fall!
"... allerdings einen Unterschied und die Tat quält mich... ebenso wie das Vergessen dieser."
"Ich weiß", antwortete Nocturn mit einem kurzen Lachen, welches allerdings so gar nicht nach einem Lachen klang, welches Youma ärgern sollte.
"Alles andere würde mich auch sehr verwundern."
"Macht es für dich einen Unterschied?" Jetzt war es Nocturn, der nicht sofort antwortete, aber seine Stimme klang unbeeindruckt von der Frage und auch wieder ein wenig schalkhaft, als er zu einer Antwort fand:
"Sehe ich aus wie jemand, der Kinder tötet?" Youma kam nicht zum Antworten, denn Nocturn fuhr fort:
"Ich will bei mir niemals etwas ausschließen, weil alles passieren könnte, aber an sich steht das Töten von Kindern nicht in meinem Drehbuch. So!" Nocturn sprang mit einem Satz vom Baum herunter und landete auf den Spitzen seiner schwarzen Stiefel, seinen Umhang über sich erhoben wie ein schwarzer, einsamer Flügel.
"Jetzt genug von diesen Grundsatzdiskussionen. Mich verlangt es nach etwas Süßem; nach einem Crêpe!" Youma immer noch den Rücken zuwendend entfernte er sich von ihm und erhob dabei spielerisch die Hand wie zum Abschiedsgruße.
"Am Place des Vosges machen sie die besten überhaupt, oder vielleicht mit Aussicht auf La Tour Eiffel..."
"Nocturn!" Der Flötenspieler senkte die Hand und drehte sich nun endlich zu Youma herum, der immer noch oben auf dem Baum stand und plötzlich den Faden verloren hatte, als Nocturn zu ihm hochsah. Doch er fasste sich wieder und zog seine starre Hand aus dem Schatten heraus:
"Hast du Erfahrungen hiermit?" Nocturn sah auf die Hand, auf die der noch bewegliche Finger zeigte und grinste mit einem kleinen Lachen:
"Na, hat sie dich erwischt..." Die Wangen des Yami wurden leicht rot, aber das sah Nocturn nicht:
"Du kannst froh sein, dass es nur deine Hand ist!" Wie eine theatralische Ballerina streckte Nocturn sein linkes Bein in einem perfekten 90 Grad Winkel hoch.
"Mir hat mal eine Zeitwächterin das gesamte linke Bein in die Zeit festgefroren! Eine ganze Woche sah ich so aus." Das ausgestreckte Bein wackelte nach oben und nach unten:
"Und das schlimmste daran war, dass Black überhaupt nicht gelacht hat. Es war so peinlich und Black hat überhaupt nicht die kleinste Mine verzogen! Ich sah sieben Tage lang aus wie eine Ballerina auf einer Spieluhr und Black hat NICHTS gesagt, es hat mich wahnsinnig gemacht!" Er hätte gerne gehabt, dass er ihn auslachte? Youma musste schmunzeln, ohne sich erklären zu können wieso oder wieso Nocturn hatte ausgelacht werden wollen... obwohl, vielleicht verstand Youma das doch. Vielleicht hatte Nocturn nicht ausgelacht werden wollen... sondern mit jemandem zusammen darüber lachen wollen - denn es sah ja auch wirklich witzig aus.
Nocturn senkte das Bein wieder, drehte sich herum, ermahnte Youma wieder, dass er sich nicht direkt in die Wohnung teleportieren durfte, sondern den Eingang benutzen sollte wie jeder normale Mensch es tat und verschwand, sich irgendwohin teleportierend, wo er sein Crêpe essen konnte.
Youma blieb noch auf dem Baum, auf den Punkt sehend, wo Nocturn verschwunden war, immer noch mit einem leichten Lächeln.
Lacrimosa hatte Recht.
Er konnte wirklich nett sein... und er hatte eine interessante, lustige Art zu gehen.
Nur noch ein Tag und es war so weit: Er würde Firey wiedersehen!
Silver konnte es immer noch nicht fassen! Vielleicht waren es seine müden Knochen, die er dem harten Training zu verdanken hatte - denn auch, wenn er den anderen Hordenmitgliedern das Ausweichen beibringen sollte, so hatte er eher das Gefühl, dass er es war, der ausweichen musste. Er hatte eigentlich erwartet, dass man ihm zuhören würde! Er war doch jetzt Lehrmeister - aber irgendwie klang das nur gut, besonders gut fühlte es sich jedenfalls nicht an. Wahrscheinlich war er mit den falschen Erwartungen daran gegangen; hatte geglaubt, dass auf ihn eine Gruppe Dämonen warten würde, die alle begierig darauf waren, etwas von ihm zu lernen - das klang doch echt gut, oder?! - aber leider war das nicht so. Er musste sich den Respekt verdienen, von dem er irgendwie erwartet hatte, dass er ihm zugeflogen kam. Vor Ri-Il hatte er immer Respekt gehabt - nun ja, fast immer - und auch vor Darius hatte er sich fast nie - aber eben nur fast - getraut Faxen zu machen. Doch die Dämonen, die er trainieren sollte, schienen da ganz anderer Meinung zu sein; sie respektierten einen 17-jährigen "halbstarken" Halbdämon nicht und zwar sagte es niemand, aber Silver war sich ziemlich sicher, dass viele von ihnen dieselbe Meinung hatten wie Darius: nur weil Silver von Ri-Il persönlich trainiert worden war, würden sie ihm garantiert nicht die Füße küssen.
Als ob es was bringen würde, Ri-Ils persönlicher Lehrling zu sein! Zugegeben, am ersten Tag hatte Silver eigentlich vorgehabt, Ri-Il davon zu unterrichten, aber er war ihm zuvorgekommen; hatte gemeint, dass er hoffe, dass Silver gute Arbeit leiste und dass es sicherlich nicht einfach sei für so einen jungen Dämon wie ihn sich Respekt zu erarbeiten, aber dass das genau der Grund war, weshalb Ri-Il ihm diesen Posten gegeben hatte... und er vertraute ihm. Er würde es schon schaffen und an der Herausforderung reifen.
Thema abgeschlossen. Keine Mimimis.
Und es war wirklich eine Herausforderung, aber Silver war entschlossen, sie zu meistern - nicht nur, weil er nicht wollte, dass Ri-Il seine Entscheidung bereute, sondern auch um sich Darius gegenüber zu beweisen, der ihn hämisch angegrinst hatte, nachdem er irgendwie spitzbekommen hatte, dass Silver hatte petzen wollen. Wie ein kleines Kind, das zu seiner Mami lief, huh?
Pah! Ihm würde das Grinsen schon vergehen! Pah! Und nochmals Pah!
Erst einmal stand jedoch etwas anderes auf dem Programm, nämlich das morgige Treffen mit Firey. Dieses Treffen hatte Silver Sho zu verdanken; dieses kleine Schlitzohr, das sofort gewusst hatte, dass Silver Firey treffen wollte.
"Firey lebt nicht mehr hier. Sie ist wieder nach London zurückgekehrt beziehungsweise angeblich. Sie lebt jetzt da oben irgendwo." Sho hatte dabei in den Himmel gedeutet:
"Aber morgen hat sie ihren freien Tag, ich könnte also ein Treffen arrangieren... Aber du kennst mich ja, Silver-kun, nichts ist umsonst!"
"Hehe, natürlich! Alles andere hätte mich auch enttäuscht! Du bekommst einen Kuss auf die Wange." Oh, wie Sho gelacht hatte!
"Haha, Silver-kun! Sind wir denn im Kindergarten!?" Auch Ruis Blick war unbezahlbar gewesen. Von einem Moment auf den anderen war sie blass und rot zugleich geworden, aber zugegeben, Silver befürchtete, dass Sho dasselbe fordern würde wie Rui, aber sie dachten beide fehl:
"Informationen, mein Lieber, Informationen! Firey erzählt mir so gut wie nie was..."
"Es ist ja auch nicht erlaubt."
"Jaaah, ich weiß... bei den Wächtern. Aber bei den Dämonen sieht es sicherlich anders aus, oder, Silver-kun? Ich würde sagen wir gehen eine Runde Eis essen wie früher und dann erzählst du mir ein wenig, ja?"
Sho hatte vollkommen recht gehabt - Silver war kein Wächter und wenn er nur durch ein wenig plaudern ein Treffen mit Firey arrangieren konnte, warum nicht? Sho versprach, dass es kein Interview war - auch wenn es sich nach einem anfühlte - und dass sie nur ihre Neugierde befriedigen wollte, nichts weiter.
Er konnte es kaum fassen, aber es war wirklich wahr! Dank ein paar Schilderungen wie die Dämonenwelt aussah würde er morgen Firey wiedersehen. Gut, es war gar nicht sooo entsetzlich lange her, dass sie sich getroffen hatten, aber diesen kurzen Moment konnte man wohl kaum ein Treffen nennen. Es war mehr ein chaotischer Kampf mit einem kurzen Erhaschen von Firey gewesen - aber morgen würden sie sich wirklich wiedersehen und das gänzlich ohne Kampf; das hoffte Silver jedenfalls. Er hatte sich sogar vorgenommen sich zurückzuhalten. Ob ihm das gelingen würde oder nicht, das war etwas anderes, aber vorgenommen hatte er es sich! Ganz würde es ihm sicherlich nicht gelingen, zu sehr spürte Silver, wie es ihm unter den Fingern juckte sie wieder "Flachbrett" zu nennen. So war es doch und so gehört es sich doch auch, oder? So kannte sie es doch sicherlich auch nicht anders?
Ja, genau so musste es sein.
Wie sehr Firey sich nicht auf diesen Tag gefreut hatte! Endlich einen Tag frei, endlich. Endlich dieser komischen Situation im Tempel entfliehen können... ah, sie schämte sich schon für diesen Gedanken; er gehörte sich ja eigentlich nicht. Sie mochte es doch im Tempel zu sein. Er war ja ihr Zuhause und dort fühlte sie sich ja auch wohl. Eigentlich. Leider war da ein großes "eigentlich". Denn im Moment fühlte sie sich dort nicht wohl. Im Tempel war es beklemmend und auf Sanctu Ele’Saces war das ewige Rauschen der Tausenden von Glocken unheimlich. Auch ihr kam es vor wie ein Wiegenlied - ein Wiegenlied, das sie dafür verurteilte, dass sie noch nicht schlief, dass sie sich nicht einlullen ließ... oder bildete sie sich das alles nur ein? Bildete sie sich nur ein, sich vom Wasser verfolgt zu fühlen, das sie immer noch nicht getrunken hatte? Sie musste und würde es wahrscheinlich noch trinken, denn sie wollte nicht schuld daran sein, dass die Weihe scheiterte... wer wusste, was dann mit Green geschehen würde? Es hing so viel von der Weihe ab; alle Wächter setzten so viele Hoffnungen in die Weihe und ihren Erfolg. Sie fieberten dem letzten Tag richtig entgegen - warum nur konnte Firey sich nicht freuen?
Die junge Feuerwächterin schüttelte den Kopf: sie wollte doch jetzt nicht darüber nachdenken! Das war ihr freier Tag. Sie war fernab von allen Gefahren, fernab von jeder Weihe und jedem Gedanken daran - sie war in London, auf Shos Eintreffen wartend, vor der Westminster Abbey, der gigantischen Kirche in der Nähe der Big Ben. Sie trug weder ihre Uniform, noch war das Wasser aus ihrer Flasche irgendwie weiß. Nein, es war ganz so wie es sein sollte - durchscheinend und klar. Es tat wirklich gut, hier in der Sonne zu stehen und nicht ihre Uniform zu tragen; sie mochte sie, aber gerade war Firey froh, einfach nur ihren Lieblingsstreifenpullover tragen zu können und einfach... Mensch zu sein.
Das hatte sie vermisst. Sie hatte London allgemein vermisst... diese Welt, die Menschen. Es war wie immer voller Touristen; Menschen, die begierig darauf waren, in die alte, geschichtsträchtige Kirche Einlass zu erhalten. Vor den großen Doppeltüren der Westminster Abbey hatte sich eine lange Schlange gebildet; Touristen, die darauf warteten, die Taschen kontrolliert zu bekommen, damit sie die Kirche betreten konnten, um ein Foto nach dem anderen zu schießen.
Firey war ebenfalls eine von jenen, die die Kirche gerne mochten. Als sie sie das erste Mal betreten hatte, hatte sie auch Unmengen von Fotos gemacht. Sie schmunzelte, wenn sie daran zurückdachte - sie hatte sich von ihrem eigenen Geld eine Einwegkamera gekauft und eine gesamte Kamera in der Kirche verbraucht... sie war eben sehr groß und sehr schön. Damals hatte sie auch geglaubt, sie würde in dieser Kirche eines Tages heiraten.
Ihr Herz beschleunigte sich ein wenig, wenn sie daran zurückdachte, auch wenn sie mittlerweile wusste, dass sich das wohl nicht umsetzen ließ - die Kirche war zu berühmt und sie als Mensch zu unberühmt. Wie Wächter wohl heirateten? Hm, darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht... urgh, aber bald würde sie es herausfinden, wenn Green Saiyon heiraten würde.
Sie wollte es immer noch nicht! Nein, Firey wollte das nicht! Das war einfach nicht richtig. Green machte sich damit nur unglücklich... unglücklicher als sie es ohnehin schon war. Das konnte man doch nicht zulassen... aber es schien so sein zu müssen. Sie wollte es ja selbst und das war das Schlimmste daran.
Ob sie Sho davon erzählen sollte? Obwohl Firey natürlich Shos neugieriges Leuchten in den Augen nicht entfiel, so hatte sie ihrem Drängen nie nachgegeben - aber Sho war nicht nur Greens Adoptivschwester, sondern auch ihre Freundin. Sollte sie es nicht erfahren? Und was war mit deren Eltern? Ob Green sich darüber schon Gedanken gemacht hatte? Ach, was, warum sollte sie - Green hatte Wichtigeres zu tun als Gästelisten für eine Hochzeit zu schreiben, die sowieso noch in den Sternen stand. Sollte sie auch! Umso weiter weg sie in den Sternen stand umso besser, jawohl!
Aber eigentlich war das ein komischer Ort, um sich mit Sho zu treffen. Ihre Schwester hatte nämlich garantiert kein Interesse an Kirchen oder an sonstigen Bauten von kulturellem oder geschichtlichem Wert. Wenn sie sich in London trafen, dann eigentlich in Fireys Wohnung oder bei Harrods... das war eigentlich wirklich---
"Hey, Firey!"
Das glaubte sie jetzt nicht.
Das konnte nicht sein. Sie... sie... irrte sich... oder? Aber wenn sie sich irrte... nein, sie irrte sich nicht - dieses Grinsen auf dem Gesicht desjenigen, der gerade ihren Namen genannt hatte und zu dem sie sich nun herumwandte, während dieser lässig eine Sonnenbrille in den Pony schob...
"Lange nicht gesehen, Flachbrett!"
... war Siberu?!
Hikari hatte nur ihren Arm getroffen; Green war sich nicht einmal sicher, ob die Lichtgöttin ihn nicht nur gestreift hatte... aber das war wohl nebensächlich, denn ihre Hand hatte bei dem Akt des Wegstoßens geglüht - und sie war die Lichtgöttin, sie war das Licht in Person. Es hatte ausgereicht.
Sich windend und krümmend lag die Dämonin, die Hikari einfach nur hatte helfen wollen, auf dem Boden der Arena, litt ihren Todeskampf, den Hikari in einem absoluten Schockzustand anstarrte. Sie war erstarrt: Ihr ohnehin schon weißes Gesicht war von Schrecken verzerrt, geformt zu einem Schrei, einem tonlosen, aber entstellendem Schrei. Sie konnte sich nicht von dem abwenden, was sie getan hatte; ihre kleinen, weißen Augen starrten die Dämonin an ohne irgendetwas zu sagen oder tun zu können. Wie deutlich man es diesem komplett verängstigten Wesen nicht ansehen konnte! Wie deutlich man nicht sehen konnte, wie sie zu Bruch ging! Sie war wie ein kleines Kind, dem mit einem Mal all seine Unschuld genommen wurde; ein Kind, das mitten hinein in einen abgrundtiefen Horror geworfen wurde - den Horror, an dem es selbst Schuld hatte, das wusste dieses Kind, es rannte nicht vor dieser schrecklichen Verantwortung davon, nein, diese Verantwortung war es, die die Risse ausmachte, die das zerbrechliche Porzellan, aus dem sie gefertigt worden war, zersplittern ließ.
Die ganze Situation war grausam, aber Green konnte sich der Ironie nicht entziehen. Zwar waren die Hikari alle darauf trainiert, schnell und schmerzlos zu töten, aber sie alle waren sich im Klaren darüber, wie ihre Magie funktionierte und sie hatten den Todeskampf natürlich trotz allen "schnellen" Tötens schon gesehen. Niemand würde heute so reagieren, wie Hikari es in diesem Moment tat: Für die folgenden Generationen waren Dämonen keine Wesen, deren Leid sie irgendwie erreichen konnte. Für sie war Licht eine Waffe; eine Waffe, die die effektivste war gegen die Dämonen und die sie demnach auch genauso anwandten - und hier saß die Göttin des Lichts, die Urquelle ihres Elements und zerbrach angesichts dieses Schreckens. Ja, auch Green spürte Übelkeit in sich angesichts dieses wahrlich widerlichen Geschehens. Aber dieses Gefühl war nicht einmal besonders stark. Sie zersplitterte nicht, genauso wenig wie die anderen Hikari vor ihr.
War es, weil sie schon zersplittert waren?
Hikaru verspürte offensichtlich ebenfalls keine Abscheu. Hikari ungeachtet, hatte Hikaru sich langsam der sterbenden Dämonin genähert - nein, nicht langsam... sondern ehrfürchtig. Sie wurde angezogen davon; sie, deren weißes Gesicht von kleinen roten Sprenkeln übersät wurde, das Blut des Wesens, das zu ihren Füßen starb. Sie sah auf es herab, gänzlich von Faszination betäubt.
Erst da, als Green einen Ekel vor Hikaru in sich aufkommen spürte, sah die jetzige Vertreterin des Lichts, dass Hikaru ihre Hand immer noch über ihrer Brust verkrampft hatte. Lights Stimme bestätigte ihren Verdacht:
"Ja - wir spürten den Schmerz unserer Mutter."
Und dennoch sah Hikarus Gesicht so ruhig aus, so selig, als wäre dieser Schmerz und alles, was um sie herum geschah, etwas Positives - dass nicht nur Green Gräuel empfand, hörte sie deutlich aus Lights Stimme heraus. Aber warum verspürte Green Gräuel?
Sie hatte keine Zeit, sich dieser Frage zu widmen, denn gerade als Hikaru wieder zu lächeln begonnen hatte, kam eine weitere Person angerannt; eine Person, die Green bereits einmal in einer anderen Erinnerung kennengelernt hatte - Yami, die Mutter von Silence und Youma. Die Göttin der Dunkelheit, stolz, stark, schön und genauso schockiert wie ihre Zwillingsschwester, die sie stürmisch in die Arme schloss. Sie stellte keine Fragen, sie sagte nichts, sondern drückte das kleine zitternde und weinende Häufchen Elend einfach nur an sich, drückte ihren Kopf an ihre Brust und umarmte sie, die nun auch ihre Arme um Yami herumschlang, froh erlöst zu werden - aber sie war nicht erlöst.
Es hatte erst begonnen.
Yami hatte keiner Worte bedurft. Sie hatte gespürt, was geschehen war - doch auch wenn sie es gespürt hatte, auch in ihrem schönen Gesicht zeichnete sich der Schrecken ab. Ob sie sich fragte, wie ihr unschuldiger Zwilling überhaupt zu so etwas fähig sein konnte? Ob sie sich fragte, wie so etwas überhaupt möglich sein konnte? Warum tat eigentlich niemand etwas, um der Dämonin zu helfen? Sie versuchten es ja nicht einmal. Waren sie, die doch noch nie mit so etwas konfrontiert gewesen waren, in einer beschützten Welt gelebt hatten, trotz aller Göttlichkeit etwa mit der Situation überfordert?
Auch als die beiden ersten Dämonen, nämlich der namenlose Dämonenherrscher und Luzifer, gleichzeitig mit Light ankamen, taten sie nichts. Luzifer war sichtlich genauso schockiert wie Yami und Hikari, doch auf eine andere Art, immerhin war es eine seiner Artgenossen, die da vor sich hinsiechte, deren Brustkorb nun offen lag, weil die Haut schon...
Light, dessen Brust offensichtlich enorm schmerzte, eilte mit aufgerissenem Mund zu Yami und Hikaru ohne, dass er die kleinen Augen von der sterbenden Dämonin abwenden konnte. Luzifer dagegen nahm angewidert und auch verängstigt Abstand, leicht wankend, die Hand vor dem Mund, während das Gesicht des namenlosen Dämonenherrschers nach dem ersten Schock unberührt blieb. Etwas, was Luzifer nicht unbemerkt blieb, denn seine Augen huschten kurz zu ihm - und dann war es vorbei. Das Trauerspiel, das Green so vorkam, als hätte es Stunden gedauert, aber was eigentlich nur fünf Minuten gewesen waren - es war vorbei. Zu einem Ende gekommen. Aber das war ein Irrglaube.
Etwas war in Gang gesetzt worden, etwas, das nicht mehr aufgehalten werden konnte, obwohl an diesem Tag keine Worte mehr gesagt worden waren - aber Worte waren nicht immer von Nöten. Luzifer und Yami hatten es beide gesehen.
Yami hatte gesehen, wie Hikaru der Dämonin lächelnd beim Sterben zugesehen hatte, genau wie Luzifer gesehen hatte, wie sein Herrscher es ebenfalls getan hatte.
White war wieder im Einsatz. Wieder auf dem Schlachtfeld.
Nie wieder hatte sie hierhin gewollt; nie wieder die Schreie hören wollen; nie wieder so viel Blut und Schmutz an den Händen haben wollen. Trotzdem war sie hier, auf einem Schlachtfeld unter dem roten Himmel der Hölle, denn wenn sie eines gelernt hatte, wenn ihr die Titanaugen ihres Vaters eines beigebracht hatten... dann dass es unwichtig war, was man wollte und ganz besonders, was man nicht wollte. Als sie ins Diesseits aufgebrochen war und Shaginai sie bis zur Eingangshalle des Jenseits begleitet hatte, da hatte sie auch das Gefühl, dass sie wieder am Leben war. 18 Jahre jung, gerade Mutter geworden und schon wieder mit ihrem Stab in der Hand, statt Grey in den Schlaf zu singen...
Ihr Vater hatte ihr keine motivierenden Worte mitgegeben, doch in seinen Augen lag eine gewisse Erwartungshaltung: Er und auch der Rest ihrer Familie waren gespannt darauf, welche Wunder White noch vollbringen konnte. Es interessierte sie nicht, ob White mit den Gedanken und ihren Sorgen bei Green war - die einzige Frage, die wichtig war, war die, ob White noch genauso gut funktionierte wie vor 19 Jahren.
Whites Ruf eilte ihr wieder voraus: Niemand des Bataillons Perassion fragte nach Green, Kaira und Daichi verneigten sich vor ihr und überließen White wie selbstverständlich das Kommando. Es waren andere Wächter; der Fürst und dessen Gebiet, welches sie zu bekämpfen hatten, ein anderer und doch war alles wie vor 19 Jahren. Dieselben Worte, dieselben Attacken, dieselben sterbenden Dämonen, derselbe Kampf... und das traurige, bittere Gefühl Whites, welches ihr sagte, dass sie hierhin gehörte. Hier war sie am besten. Hier funktionierte sie am besten.
Hierfür war sie gemacht worden.
Hierfür war sie geboren.
White wollte es nicht; sie hasste es, das zu denken, sie hasste es, das zu fühlen und doch war es alles so gewohnt und so einfach, als wäre sie nach Hause zurückgekehrt - in ein verhasstes Zuhause... aber doch den Ort, wo sie hingehörte: das Schlachtfeld.
"Hach!", seufzte Mary begeistert, weit, weit entfernt im Jenseits, wo die Hikari dem Kampf folgten:
"Ich liebe es, wenn White ihre Sandalen auszieht und über das Schlachtfeld gleitet wie eine Feengestalt! Es ist schön, dass wir das noch einmal sehen können." Natürlich war Mary die schönste Hikari - das legte ja bereits ihr Name fest - aber für sie, die eine Freundin des ästhetischen Kämpfens war, war es eine Freude, White in der Schlacht zu sehen. Ihre leuchtenden Füße, die, wenn sie den blutigen Boden unter ihr berührten, mächtige Bannkreise heraufbeschwören konnten, um in einem Umkreis von zehn oder sogar zwanzig Metern alle Dämonen auszulöschen und ihre Mitwächter zu heilen, ohne sie überhaupt zu berühren! Mary selbst hatte ihr diese Technik beigebracht, aber White hatte sie perfektioniert und es erfüllte Mary mit Stolz, ihre Technik zu solcher Schönheit perfektioniert zu sehen. Der Eciencé-Körper Whites schien keine Behinderung zu sein; White schien sogar noch leichter zu sein als früher, wie sie elegant und leichtfüßig über den Dreck des Bodens glitt, als wäre der sandige, blutige Untergrund Henels aus Eis und sie eine Schlittschuhläuferin.
"Der Vergleich mit ihrer Tochter ist schmerzlich", fuhr Mary fort, dabei an Greens Auftritt in Kanada erinnernd, wo Green ihre Schuhe an den Kopf der Dämonen geschmissen hatte - White hatte ihre galant abgelegt und einem für die Schlacht geschulten Sanitäter-Tempelwächter überlassen, der sie hütete, als wären sie aus Gold.
"Du hast noch einen weiten Weg vor mit deiner Enkelin, Shaginai-kun." Mary zwirbelte ihre weißen Haare, während sie Shaginai, der zwei Sitze weiter saß, einen neckenden Blick zuwarf, welcher allerdings völlig unberührt blieb:
"Yogosu wird niemals wie Ihre Mutter."
"Ja, diese Hoffnung kann mal wohl..." Mary unterbrach sich, als ein gleißender Lichtstrahl die Hologramme erleuchtete und Hizashi übernahm das Wort: Doch sein Wort war gewiss nicht lobender Natur.
"So viel Licht auf einmal zu entfesseln! Welch Anfängerfehler." Hizashi lachte in sich hinein, während Seigi beleidigt dabei zusah, wie White Dämonen tötete, die er eigentlich hatte töten wollen.
"White-san sollte besser Acht geben", kritisierte Hizashi weiter.
"Ihr Herz schlägt nicht mehr. Wenn sie zu viel Licht auf einmal entfesselt, dann könnten sie und ihr Eciencé-Körper verpuffen, ehe sie genug Dämonen eliminiert hat." Noch einmal lachte Hizashi, doch niemand schloss sich seinem Lachen an, besonders nicht Adir, der neben ihm saß, denn er hatte schon gesehen und verstanden, warum White diesen "Anfängerfehler" begangen hatte, ebenso wie Shaginai, dessen Augen sich nun skeptisch verengten, denn keiner der beiden hatte den Disput vergessen, den dieser Dämon zwischen White und Shaginai ausgelöst hatte - ein Dämon, der das Déjà-Vu perfekt machte.
"White! Ma chérie ♥!" White hatte so einen heftigen Schüttelfrost verspürt, als sie Nocturns Stimme gehört hatte, dass sie tatsächlich den Anfängerfehler begangen hatte und einen viel zu großen Lightspirit entfesselt hatte - eine unkluge Abwehrreaktion, für die sie sich selbst ärgerte ohne die Worte Hizashis gehört zu haben, denn natürlich war Nocturn diesem Strahl mit Leichtigkeit ausgewichen. Andere Dämonen hatte es in Funken zerrissen, aber Nocturn landete spielerisch mit offensichtlicher Freude mit der Hand nirgendwo anders als auf ihrem Stab.
"Ich habe dich ebenfalls vermisst, mein Engel." Er grinste sie an mit flatternden Haaren und Umhang, doch White ließ sich nicht auf seine Wiedersehensfreude ein und ohne sein Wort oder sein Grinsen zu erwidern, holte sie mit einer eisernen Miene mit der linken, leuchtenden Hand aus, doch da war Nocturn schon über sie hinweggesprungen.
"Ach White!", rief Nocturn sich noch in der Luft befindend:
"Wie froh bin ich nicht darüber dich zu sehen! Befreie mich von der Langeweile, die meine Seele zerreißt!" Und es geschah, was auch vor 19 Jahren geschehen wäre. Gleichzeitig bündelten die beiden Spiegelbilder voneinander ihre Magie in der rechten, beziehungsweise linken Hand und streckten sie in genau demselben Moment einander zu, womit die verschiedenen Magien einer Explosion gleich über das Schlachtfeld fegten; über die Dämonen, die Wächter, sowie Steine und Wolken, die hinweggefegt wurden von dieser Druckwelle.
Nocturn lachte manisch; Whites Blick wurde ernster und ausgefahrene Fingernägel prallten mit einem lauten Quietschen gegen Whites Kreuzstab, die zurückwich, da ihre Körperstärke es nicht mit Nocturns aufnehmen konnte - dafür aber ihre Magie, die sich unter Nocturns Füßen bündelte und ihn beinahe gepackt hätte, wäre er nicht lachend in die Höhe gesprungen. Er machte einen Salto, landete wieder und strahlte White so entschlossen und erfreut an, als würde er zum ersten Mal seit Monaten wieder leben - was wahrscheinlich der Wahrheit entsprach.
"Oh White, wie dankbar bin ich nicht dafür, dass du deine Magie wiederhast!" Nocturn errötete, als White die Felsen unter ihren nackten Füssen aufleuchten ließ - als wäre dies etwas Gutes für ihn - und bewunderte, wie das Licht ihre Haare zum Leuchten brachte: genau wie Mary liebte er diese Technik. Er fand allerdings nicht, dass sie aussah wie eine Fee - sondern wie ein leibhaftiger Engel!
Nocturns Freudentaumel wurde allerdings vom Fürsten Narn unterbrochen, der dieses Gebiet und diese Schlacht führte - mit einem feurigen Satz war er plötzlich in ihrer Mitte aufgetaucht, die Nocturn eigentlich für sich und White beansprucht hatte.
"Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten, du verfickter Verräter!" Die Wortwahl - die ihn an den vulgären Frevler Lycram erinnerte - machte Nocturn wütend und störte ihn, doch er wollte sich ihm nicht widmen. Er wollte nur White sehen.
"Dann versuch doch mich aufzuhalten, mich zu stören, in meinem Freudentanz!" Schon sprang Nocturn rückwärts, als Whites Bannkreis sich ausbreitete wie ein Ring auf dem Wasser und der nächste sogleich folgte, dieses Mal jedoch als Ring, der um Whites Hand herum lag, der auf Nocturns Brust gerichtet war - und sofort war Nocturns breites Lächeln wieder da, als Whites Hand ihn streifte und er das stechende Kribbeln ihrer Magie auf seiner Haut spürte.
Oh ja, er würde definitiv jeden töten, der ihn stören würde bei diesem Fest!
Doch Narn hatte seine Meinung geändert - zu groß war sein Respekt vor Whites Magie. Er zog sich lieber zurück, doch gänzlich konnte er dem Schauspiel nicht den Rücken zukehren, genau wie viele seiner Hordenmitglieder, die, so musste Youma erstaunt feststellen, Nocturn begeistert in seinem Kampf zusahen. Es war nämlich doch nicht alles so wie vor 19 Jahren: von Nocturn und White unbemerkt beobachtete Youma, in der Luft schwebend, von Weitem deren Kampf mit einer Mischung aus Staunen, Neid und auch ein wenig Empörung. Denn was sah er da? Benutzte Nocturn da beide seine Hände? Das hatte er noch nie in einem Kampf mit Youma getan... er sagte immer, dass er das nicht brauchte... aber scheinbar musste er das doch in einem Kampf gegen White. Er hatte auch eindeutig mehr Freude an diesem Kampf - auch wenn diese Freude recht beängstigend war - als in einem Kampf gegen Youma; er musste sich anstrengen, setzte andere Techniken ein und... Youma musste mit knirschenden Zähnen leider feststellen, dass Nocturn wirklich sehr... sehr gut war. Er machte aus einem Kampf eine Vorführung, von der man nur schwer die Augen abwenden konnte: leichtfüßige, spielende Bewegungen, die den nächsten Angriff schwer vorhersehbar machten - die White aber dennoch parierte, anders als Youma... - präzise Stechtattacken gepaart mit tänzelnden Bewegungen, als tanze er mit White, anstatt zu versuchen, sie auszulöschen. Ob er sie töten konnte, wenn er es wollte? Whites Magie war sehr groß, das spürte Youma deutlich, obwohl er gute 500 Meter entfernt war. Aber nein, das wollte Nocturn natürlich gar nicht, denn auch das sah Youma Nocturn an: Er vergötterte diese Frau.
Youma verzog noch weiter das Gesicht, als abermals eine starke Magiewelle über sie hinweg preschte und seine Haare aufgeregt um ihn herumwirbelten - das war ein ganz anderes Level an Können, was er hier sah, als beide wieder auseinandersprangen und sichtlich nicht verletzt waren. Ein ganz anderes Level als das, auf welchem er sich befand... Im Vergleich hierzu kämpfte Nocturn, wenn er mit Youma trainierte, mit einem Kind.
Der eingeschnappte Yami hatte Lust sich einfach nach Paris aufzumachen, nur um das hier nicht länger mitanzusehen - obwohl er trotzdem nicht die Augen von diesem Magieschauspiel abwenden konnte - aber er konnte nicht. Er sollte nicht. Er war auch hier, um zu kämpfen. Lacrimosa hatte deutlich gemacht, dass auch er sich von seiner "besten Seite" zeigen sollte und aus diesen Grund hatte er auch seine Sense in Paris gelassen, da wahre Dämonen ja nicht mit Waffen kämpften... Youma himmelte mit den Augen und verspürte garantiert nicht die kleinste Lust zu kämpfen, besonders nicht, wenn er Nocturns erfreutes Lachen hörte. Im Kampf gegen ihn war das einzige, was Youma hörte, ein Lachen, welches ihn auslachte...
In diesem Moment hätte Youma es auch verdient, von Nocturn ausgelacht zu werden, denn er wurde plötzlich Opfer eines Fehlers. Nocturn hatte ihm schon mehr als einmal gesagt, dass er sich nicht zu lange in der Luft befinden sollte, ansonsten machte er sich zur Zielscheibe - und genau das war passiert. Nur in letzter Millisekunde hatte Youma die auf ihn zurasende Magie bemerkt und war seitlich ausgewichen, ansonsten hätte das violette Geschoss seinen Kopf abgerissen anstatt nur seiner Wange.
Über sich selbst fluchend und sich seines Fehlers bewusst, setzte Youma eilends zur Landung an, doch noch ehe seine Füße den Boden berührten, schoss auch schon Kairas violett leuchtender Sekundenzeiger hervor.
Wieder einmal verleitete Youma Nocturn zu einem schadenfrohen Lachen: Denn er war nicht so sehr in seinem Kampf vertieft, dass er nicht den fatalen Fehler seines "Schülers" übersehen hätte - der wahre Anfängerfehler in dieser Nacht. Nocturn hatte auch gesehen, dass es ausgerechnet eine Elementarwächterin war, die sich Youmas Dummheit zu Nutze gemacht hatte: hoffentlich würde sie ihm Schmerzen zufügen, denn Fehler mussten wehtun, ansonsten lernte man nichts aus ihnen, dachte Nocturn mit einem Grinsen, ehe er sich wieder in die Lüfte emporschwang, sich wie in einer Pirouette drehte und rot- und schwarzleuchtende Geschosse auf White abfeuerte, die sie mit ihren leuchtenden Händen abwehrte und das so geschickt, dass sie andere Dämonen damit traf. Ah, das war Können!
"Habe ich dir schon gesagt, dass du heute Nacht wunderschön bist, White?" Es folgte keine Antwort, aber Nocturn hatte schon durchschaut wieso, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich darüber zu pikieren:
"Es ist nicht nett..." Mit einem Ruck seiner linken Hand verlängerte der Flötenspieler seine Fingernägel, so dass sie mehr als einen Meter lang wurden.
"... mit Schweigen auf Komplimente zu reagieren, wenn sie so von Herzen kommen!" Wie als wäre Nocturn selbst ein Speer raste er auf White zu - aber nicht von vorne, sondern von hinten. White wirbelte rechtzeitig alarmiert herum - genau wie Nocturn es sich gedacht hatte--- und riss ihr Kommunikationsgerät vom Kopf. Das schwarze Gerät flog in die Luft und landete auf einem Stein, genau vor einem weiteren Nocturn, der das Gerät unter seinen Stiefeln zerbrach, während seine Kopie sich hinter White auflöste.
"Jetzt können wir ungestört reden, Ma chérie."
"Ich habe nichts mit dir zu bereden, Nocturn." Das Lächeln des Dämons wurde breiter.
"Solch schmerzende Worte." Nocturn schüttelte den Kopf, mit dem Fuß die letzten Überreste des Gerätes zerstörend:
"Aber ich bin sie ja von dir gewohnt, ungnädiger Engel. Dabei kann ich sehen, dass dich etwas bedrückt!" Mit einem Satz war Nocturn vor White - genau vor White, genau vor ihrem Gesicht, es ganz genau in Augenschein nehmend, mit den Armen hinter dem Rücken, als wäre ihm jedes Gebot der Privatsphäre fremd.
"Es liegt eine sehr plagende Sorge hinter deinen weißen Augen verborgen." White rührte sich nicht. Sie bewegte sich nicht zurück, sie zuckte nicht zusammen und sie griff ihn nicht an; nur ihre Augen verengten sich ein wenig. Sie mochte es nicht, wenn ausgerechnet Nocturn als einziger bemerkte, dass sie Sorgen hatte. Sie mochte es jetzt nicht und sie hatte es auch damals nicht gemocht.
"Es ist wegen deinem Augenstern, nicht wahr? Deinem kleinen Mädchen, welches die Weihe macht, die unter soooo einem schlechten Stern steht..."
"Sprich nicht über Green."
"Wieso nicht?", fragte Nocturn in offensichtlicher Verwirrung:
"Mit wem sprichst du denn sonst über deine Sorgen?" Die Wahrheit zu hören - ganz besonders nach dem Disput mit ihrem Vater - war bitter, aber nicht so bitter, dass es sie lähmte und da Nocturn so nah an sie herangekommen war, musste sie nur ihre leuchtende Hand auf seine Brust zu legen und schon wäre da ein Loch, wäre nicht Nocturn ihr Gegner, der die Attacke zwar nicht hatte kommen gesehen, sich aber eilig einige Meter in die Höhe teleportierte, ehe der Schaden zu groß wurde. Blut rann dennoch von seinen Lippen herunter, denn das Licht hatte seine Lunge erreicht.
"Wie gemein von dir." White war überrascht weder ein Lächeln noch ein ironisches Grinsen zu sehen - scheinbar meinte er diese Worte ernst. Er war eingeschnappt; eingeschnappt wie ein kleines Kind, welches seinen Willen nicht bekommen hatte. Auf seine Schmerzen achtete er nicht; dafür achtete er aber umso mehr auf Whites Gesicht, als seine aus Blut geformten Dornen von hinten ihren Körper durchbohrten.
"Wenn du noch hättest bluten können, dann hätte es hübscher ausgesehen..."
Youma wusste, gegen wen er kämpfte, auch wenn er Kaira noch nie zuvor gesehen hatte: Er hatte sich selbstverständlich alle Elementarwächter gemerkt, nicht nur die der jetzigen Generation, sondern auch die der letzten und der vor ihnen - man konnte nie wissen, wozu man dieses Wissen gebrauchen konnte.
Im Moment war es jedenfalls absolut unnütz!
Die Elementarwächterin der Zeit war alles andere als eine einfache Gegnerin, die Youma mal eben umbringen konnte und er fluchte innerlich so sehr, dass er seine Sense nicht bei sich hatte, um die sehr zielsicheren Angriffe der Toki parieren zu können. Mit Müh und Not gelang es ihm auszuweichen - ein Blocken sollte er vermeiden, denn eine Berührung mit ihrem viel zu langen, viel zu spitzen Sekundenzeiger war lähmend. Ihren ersten Angriff hatte er mit der Hand abgefangen, die in dunkle Magie gehüllt war - aber diese hatte ihn auch nicht davor bewahrt, dass er seine rechte Hand nicht länger spürte, als existiere sie gar nicht mehr. Unablässig jagte sie ihn durch den Sand, über die Klippen, ohne dabei auch nur die geringste Atemnot anzudeuten: Entschlossen waren ihre braunen Augen auf Youma gerichtet und sie würden nicht von ihm ablassen, ehe er Funken war, so viel war sicher.
"Du kämpfst immer noch nicht wie ein Dämon es tut, Kronprinzcheeen!", hörte Youma Nocturn in seinen Gedanken, ihn verspottend, als er wieder nur auswich, anstatt anzugreifen. Nur knapp verfehlte der Sekundenzeiger sein Gesicht und schnitt nur seine Haare anstatt seine Wange. Er hörte Nocturn lachen: so wie er ihn schon so oft ausgelacht hatte und fluchte über sich und seine Fähigkeiten... und beugte sich nach hinten, so wie Nocturn es schon so oft bei ihm getan hatte - ihr Stich ging daneben und mit Schwung fegte Youmas rechtes Bein nach oben, rammte Kairas Kinn und warf sie zurück, ehe Youma sich mit der rechten Hand abfing und eine Rolle in der Luft machte, ehe er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Er durfte nicht zögern; er musste diesen Moment ausnutzen und wie sagte Nocturn es nicht immer - Youmas einziger Vorteil war seine Magie und sein Vorrat dessen.
Zum ersten Mal weiteten sich auch Kairas Augen, als sie den Strahl schwarzer Magie auf sich zurasen sah - doch anstatt dass sie parierte, verschwand sie und da ein Anti-Teleportationsbannkreis gelegt worden war, wusste Youma, dass sie sich nicht teleportiert hatte---- sie war in der Zeit verschwunden, um gleich wieder aufzutauchen und sie konnte nur einen Punkt aussuchen, um wieder im "Jetzt" anzukommen und zwar genau----
--- vor seinen Augen.
Doch zum Glück für Youma hatte er den Trick rechtzeitig durchschaut und so hatte er die Spitze des Sekundenzeigers genau vor seinen Augen, anstatt in seinem Kopf, denn die Magie, die er eben noch abgefeuert hatte, hatte er nun dazu genutzt, einen Schild zu bündeln, der ihn nun beschützte. Doch diese Furie von einer Wächterin gab immer noch nicht auf! Anstatt zurückzuweichen oder zurückzuspringen und sich einen neuen Sekundenzeiger zu erschaffen, stemmte sie sich gegen Youma und seine Magie und Youma musste den Kopf in den Nacken legen, um nicht von der immer näherkommenden Spitze berührt zu werden. Seine rechte Hand war taub - was würde passieren, wenn der Sekundenzeiger seinen Kopf berühren würde? Einmal in der Zeit eingesperrt sein hatte ihm genügt!
"Du wirst sterben." Youmas Augen weiteten sich langsam beim Klang dieser Stimme, die aus Kairas Mund kam, die aber keine Frauenstimme war und die in keiner anderen Sprache als Edou gesprochen war. Youma rann es kalt den Rücken runter seine Muttersprache zu hören. Diese Stimme zu hören. Er kannte sie. Er kannte ihn.
"Halbkind." Youmas Stimme war ein ersticktes Keuchen:
"Gott Toki."
Durch die aufgescheuchte Dunkelheit hindurch, die ihren Träger immer noch beschützte, aber deutliche Risse bekam, erkannte Youma purpur leuchtende Augen, von denen er sich sicher war, dass sie vorher braun gewesen waren. Aber es überraschte ihn nicht, denn Toki, der Gott der Zeit, hatte solche Augen gehabt - und es war seine Stimme, die mit ihm sprach und seine Magie, die die Risse vergrößerte...
"Du hast meine jüngste Tochter entzwei geteilt..." ... und seine Augen, die sich in ihn bohrten.
"... und die Zeit vergisst niemals." Aber Youma hatte es getan. Er wusste, dass er in jener Nacht viele getötet hatte, aber er wusste nicht wen. Er wusste nicht, ob Wächter oder Dämon, ob Mann oder Frau, ob Kind oder erwachsen. Er wusste es nicht. Von dieser Nacht wusste er nichts anderes mehr als Blut... Blut und Licht. Hikarus Licht... und Silence... und Silence, die ihn... Es war alles verschwommen und am Lautesten war der Schrei seines Glöckchens und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.
Die Schuld darüber, was er getan hatte - und was er vergessen hatte - zeichnete sich so deutlich in Youmas Gesicht ab, dass es für einen Moment so aussah, als wäre er eben aus einem seiner unzähligen Albträume erwacht; doch erweichte dies den Gott nicht, dessen Sekundenzeiger die Form änderte. Wie eine Libelle breiteten sich links und rechts zwei Flügel aus, die nur eine Absicht verfolgten und die von der Dunkelheit nicht aufzuhalten waren, welche viel zu erschüttert war.
"Schuld wird die Untat nicht ungeschehen machen, Halbkind!" Nein, das würde es nicht, aber die harten, beinahe geschrienen Worte, weckten Youma aus seinem Schockzustand--- die drei Spitzen schossen auf seine Stirn zu, doch sie trafen ihn nicht, denn er ließ sich abermals nach hinten fallen - dieses Mal jedoch in seinen Schatten hinein. Er musste weg: er musste fliehen. Diesen Kampf konnte und wollte er nicht länger ausfechten.
Die Dämonenwelt war groß; groß und dunkel, voller Schatten und es gelang Youma weit, weit weg zu gelangen, ohne, dass ihn jemand sah oder aufhielt. Als er wieder auftauchte, wie ein Schwimmer aus dem Wasser ausbrach, war er so weit weg vom Schlachtfeld, dass er die Schreie nicht mehr hören konnte. Er stand oben auf einem hohen Ast, dem Ast eines alten, toten Baumes, mit Tausenden von Ästen, die alle irgendwann einmal Blätter getragen hatten, nun aber nur noch schwarz waren. Die Schlacht sah er nur noch durch die Äste, weit, weit weg am Horizont und doch fühlte Youma sich nicht in Sicherheit. Ja, er fühlte sich so unsicher, dass seine linke Hand immer noch im Schatten steckte, bereit jederzeit wieder hineinzutauchen, dorthin, wo ihm niemand folgen konnte. Er presste die Augen zusammen, welche wieder schwarz waren, versuchte seinen Atem zu beruhigen und sah in die entgegengesetzte Richtung, über das Gebiet Narns hinweg... ein weites Land mit so vielen toten Bäumen... und war sich mehr denn je bewusst, dass er nicht jede Nacht aus einem Albtraum erwachte - er war in einem. In einem einzig langen, endlosen Albtraum, den er sich selbst geschaffen hatte.
Youma kniff die Augen zusammen, als konnte er nicht ertragen, was er sah, aber er öffnete sie wieder langsam, als er spürte, dass er nicht mehr alleine war - und richtig, sein Gespür hatte sich nicht geirrt: neben ihm schwebte Nocturn in der Luft, ihn genauestens beobachtend. Youma sagte nichts, obwohl es ihn störte, dass Nocturn ihn so genau in Augenschein nahm und machte sich bereit für die übliche Schadenfreude und die Kritik. Er hatte den Kampf nicht gewonnen, war geflohen und hatte auch allgemein keine gute Figur abgegeben - wenn Nocturn es denn gesehen hatte und nicht zu sehr von seinem ach so tollen Kampf abgelenkt gewesen war. Aber Nocturn sagte nichts. Er sah auch nicht ernst aus, sondern schlicht... neugierig und etwas verwundert. Warum war er hier? Warum kämpfte er nicht noch gegen White?
"Dein Gesicht ist das letzte, was ich jetzt gerade sehen möchte", zischte Youma recht still und mit keiner sonderlich starken Stimme und er schämte sich auch sofort für seine unwirschen Worte, denn zur Abwechslung mal war Nocturn nicht Schuld an den ihn quälenden Gefühlen. Die unwirschen Worte ließen Nocturn aber scheinbar unberührt; verärgert sah er jedenfalls nicht aus. Immer noch musterte er Youma, dessen rechte Hand immer noch im Schatten des Baumes verschwunden war. Er hatte Lust Nocturns Blick auszuweichen, aber das würde ihm abermals so vorkommen, als würde er fliehen - und er war zu oft an diesem Tag vor etwas geflohen.
"Gut, wenn das der Wunsch des Kronprinzen ist." Und noch ehe Youma etwas sagen konnte, verschwand er... womit Youma plötzlich alleine war, mehr alleine, als er es eigentlich gewollt hatte. Eigentlich wollte er gar nicht alleine sein; nicht jetzt und nicht in dieser schrecklichen Welt, die nicht sein Zuhause...
"Besser?" Youmas Augen weiteten sich und überrascht drehte er sich herum - und sah, dass Nocturn sich gar nicht wieder nach Paris teleportiert hatte, sondern nur auf die andere Seite des Baumstammes, an welchem Youma sich abstützte. Er sah ihn so nicht... er sah nur seinen Umhang und seine Locken, wenn sie sich bewegten. Youma war sprachlos. Hatte Nocturn etwa gewusst, dass... nein... niemals.
"Hast du ein Problem mit Zeitwächtern?"
"Ein... Problem?", wiederholte Youma immer noch merkwürdig verwirrt, während er sich wieder herumdrehte und nach vorne sah, etwas peinlich ertappt.
"Ein persönliches Problem." Als Youma immer noch nicht antwortete, fuhr Nocturn fort:
"Der Kampf hat dich mitgenommen." Der Kronprinz traute seinen Ohren nicht. Versuchte Nocturn ihn da gerade... versuchte er ernsthaft ihn zu... verstehen? Wozu? Um sich besser über ihn lustig zu machen? Zielsicheres Ärgern? Es lag nichts Triezendes in seiner Stimme, kein Lachen, aber... bei Nocturn wusste man es nie.
"Sie war eine starke Gegnerin", erwiderte Youma nach einem kurzen Zögern, aber er konnte sich nicht dazu bringen zu sagen "sonst nichts".
"So geplagt sieht man nicht aus, wenn man gegen einen starken Gegner kämpft. So wie du aussiehst, sieht man aus, wenn man seinem Alptraum begegnet ist." Kurz übermannte Youma Wut - Wut darüber, wie absolut treffend Nocturn dies formulierte, wie gut er ihn durchschaut hatte... als könnte er seine Gedanken doch lesen. Aber genauso schnell wie die Wut gekommen war, flaute sie auch schon ab und Worte wie "das geht dich gar nichts an", blieben Youma im Hals stecken... stattdessen kämpfte sich eine Frage empor.
"Kannst du dich an alle erinnern, die du umgebracht hast?" Nocturn sah zu ihm, aber Youma sah immer noch geradeaus und bemerkte es nicht. Er wartete gespannt auf die Antwort, sich ein wenig dafür... schämend, dass er die Frage gestellt hatte.
"Egal wie irre mich andere auch nennen mögen; ich habe ein gutes Gedächtnis. Ja, ich erinnere mich an alle. Ich kenne nicht ihre Namen, aber ich erinnere mich an ihre Gesichter. Allgemein bin ich eher aus auf Qualität als auf Quantität. Der Tod muss kunstvoll sein!" Nocturn schien weiter über sein Lieblingsthema reden zu wollen: Ja, er war gerade richtig davon gebissen und Youma bereute es nun noch mehr, dass er ehrlich gewesen war, aber er war sehr überrascht, als Nocturn sich selbst unterbrach - und das ohne Youma überhaupt sehen zu können.
"War es ein Kind?" Die Worte, komplett ohne Vorwurf, trafen Youma und ließen sein Gesicht erbleichen.
"Wie kommst du darauf?", fragte er, doch seine tonlose Stimme verriet ihn bereits.
"Du besitzt die Sentimentalität dafür, dich von dem Tod eines Kindes treffen zu lassen, als sei es dein eigenes." Youma wusste nicht, was er antworten sollte. Er hatte nie mit Nocturn über Kinder gesprochen...? Woher wusste er, dass es Youma gewiss nicht egal war, wie alt sein Gegner war?
Youmas Schweigen schien für Nocturn Antwort und Erklärung genug zu sein und obwohl Youma ihm keinen Anlass gab zu glauben, dass er wollte, dass das eher einseitige Gespräch fortgesetzt wurde, nahm er den Faden wieder auf, nachdem er noch einen kleinen Blick über die Schulter geworfen hatte.
"Das Gewissen der Wächter lässt sich nicht von unserem Alter beirren, Youma." Nun war es Youma, der über die Schulter sah - so ernst hatte er Nocturn selten sprechen hören.
"Für sie sind wir alle nur eine große, namenlose Masse, die sie auslöschen müssen. Nur die Fürsten und die Könige haben Namen. Das sind 25 Dämonen von 255.000 oder wie viele wir im Moment sind. So viele Namenlose, die sie einfach töten, ohne darüber nachzudenken, wie alt wir sind und ob wir Familie haben. Ich habe sehr viele Gedanken von Wächtern gelesen und nur sehr selten habe ich Skrupel oder ein Gewissen entdeckt, das sich dem Ableben von Dämonen widmet. In ihren Augen sind wir nur Monster, ohne Namen, ohne Identität, ohne Familie, ohne Wurzeln. Pfft, einige von ihnen glauben sogar, dass wir gar nicht sprechen können; dass wir gänzlich ohne jegliche soziale Struktur existieren würden. Wir sind nur da, um bekämpft, getötet und ausgelöscht zu werden. Das macht das Ganze sehr viel einfacher, nicht wahr?" Nocturn lachte etwas hohl:
"Wenn dich also ein Vater oder eine Mutter angreift und Rache ausüben will für ein Kind, welches du aus Versehen getötet hast, dann finde ich das sehr heuchlerisch." Youma glaubte seinen Ohren nicht und er starrte immer noch Nocturns Rücken an. War das gerade ein Versuch ihn... aufzuheitern? Wollte er ihm die Schuld abnehmen?
"Für mich macht es..." Youma war so verunsichert, dass er schlucken musste. Abgelenkt hatte Nocturn ihn auf jeden Fall!
"... allerdings einen Unterschied und die Tat quält mich... ebenso wie das Vergessen dieser."
"Ich weiß", antwortete Nocturn mit einem kurzen Lachen, welches allerdings so gar nicht nach einem Lachen klang, welches Youma ärgern sollte.
"Alles andere würde mich auch sehr verwundern."
"Macht es für dich einen Unterschied?" Jetzt war es Nocturn, der nicht sofort antwortete, aber seine Stimme klang unbeeindruckt von der Frage und auch wieder ein wenig schalkhaft, als er zu einer Antwort fand:
"Sehe ich aus wie jemand, der Kinder tötet?" Youma kam nicht zum Antworten, denn Nocturn fuhr fort:
"Ich will bei mir niemals etwas ausschließen, weil alles passieren könnte, aber an sich steht das Töten von Kindern nicht in meinem Drehbuch. So!" Nocturn sprang mit einem Satz vom Baum herunter und landete auf den Spitzen seiner schwarzen Stiefel, seinen Umhang über sich erhoben wie ein schwarzer, einsamer Flügel.
"Jetzt genug von diesen Grundsatzdiskussionen. Mich verlangt es nach etwas Süßem; nach einem Crêpe!" Youma immer noch den Rücken zuwendend entfernte er sich von ihm und erhob dabei spielerisch die Hand wie zum Abschiedsgruße.
"Am Place des Vosges machen sie die besten überhaupt, oder vielleicht mit Aussicht auf La Tour Eiffel..."
"Nocturn!" Der Flötenspieler senkte die Hand und drehte sich nun endlich zu Youma herum, der immer noch oben auf dem Baum stand und plötzlich den Faden verloren hatte, als Nocturn zu ihm hochsah. Doch er fasste sich wieder und zog seine starre Hand aus dem Schatten heraus:
"Hast du Erfahrungen hiermit?" Nocturn sah auf die Hand, auf die der noch bewegliche Finger zeigte und grinste mit einem kleinen Lachen:
"Na, hat sie dich erwischt..." Die Wangen des Yami wurden leicht rot, aber das sah Nocturn nicht:
"Du kannst froh sein, dass es nur deine Hand ist!" Wie eine theatralische Ballerina streckte Nocturn sein linkes Bein in einem perfekten 90 Grad Winkel hoch.
"Mir hat mal eine Zeitwächterin das gesamte linke Bein in die Zeit festgefroren! Eine ganze Woche sah ich so aus." Das ausgestreckte Bein wackelte nach oben und nach unten:
"Und das schlimmste daran war, dass Black überhaupt nicht gelacht hat. Es war so peinlich und Black hat überhaupt nicht die kleinste Mine verzogen! Ich sah sieben Tage lang aus wie eine Ballerina auf einer Spieluhr und Black hat NICHTS gesagt, es hat mich wahnsinnig gemacht!" Er hätte gerne gehabt, dass er ihn auslachte? Youma musste schmunzeln, ohne sich erklären zu können wieso oder wieso Nocturn hatte ausgelacht werden wollen... obwohl, vielleicht verstand Youma das doch. Vielleicht hatte Nocturn nicht ausgelacht werden wollen... sondern mit jemandem zusammen darüber lachen wollen - denn es sah ja auch wirklich witzig aus.
Nocturn senkte das Bein wieder, drehte sich herum, ermahnte Youma wieder, dass er sich nicht direkt in die Wohnung teleportieren durfte, sondern den Eingang benutzen sollte wie jeder normale Mensch es tat und verschwand, sich irgendwohin teleportierend, wo er sein Crêpe essen konnte.
Youma blieb noch auf dem Baum, auf den Punkt sehend, wo Nocturn verschwunden war, immer noch mit einem leichten Lächeln.
Lacrimosa hatte Recht.
Er konnte wirklich nett sein... und er hatte eine interessante, lustige Art zu gehen.
Nur noch ein Tag und es war so weit: Er würde Firey wiedersehen!
Silver konnte es immer noch nicht fassen! Vielleicht waren es seine müden Knochen, die er dem harten Training zu verdanken hatte - denn auch, wenn er den anderen Hordenmitgliedern das Ausweichen beibringen sollte, so hatte er eher das Gefühl, dass er es war, der ausweichen musste. Er hatte eigentlich erwartet, dass man ihm zuhören würde! Er war doch jetzt Lehrmeister - aber irgendwie klang das nur gut, besonders gut fühlte es sich jedenfalls nicht an. Wahrscheinlich war er mit den falschen Erwartungen daran gegangen; hatte geglaubt, dass auf ihn eine Gruppe Dämonen warten würde, die alle begierig darauf waren, etwas von ihm zu lernen - das klang doch echt gut, oder?! - aber leider war das nicht so. Er musste sich den Respekt verdienen, von dem er irgendwie erwartet hatte, dass er ihm zugeflogen kam. Vor Ri-Il hatte er immer Respekt gehabt - nun ja, fast immer - und auch vor Darius hatte er sich fast nie - aber eben nur fast - getraut Faxen zu machen. Doch die Dämonen, die er trainieren sollte, schienen da ganz anderer Meinung zu sein; sie respektierten einen 17-jährigen "halbstarken" Halbdämon nicht und zwar sagte es niemand, aber Silver war sich ziemlich sicher, dass viele von ihnen dieselbe Meinung hatten wie Darius: nur weil Silver von Ri-Il persönlich trainiert worden war, würden sie ihm garantiert nicht die Füße küssen.
Als ob es was bringen würde, Ri-Ils persönlicher Lehrling zu sein! Zugegeben, am ersten Tag hatte Silver eigentlich vorgehabt, Ri-Il davon zu unterrichten, aber er war ihm zuvorgekommen; hatte gemeint, dass er hoffe, dass Silver gute Arbeit leiste und dass es sicherlich nicht einfach sei für so einen jungen Dämon wie ihn sich Respekt zu erarbeiten, aber dass das genau der Grund war, weshalb Ri-Il ihm diesen Posten gegeben hatte... und er vertraute ihm. Er würde es schon schaffen und an der Herausforderung reifen.
Thema abgeschlossen. Keine Mimimis.
Und es war wirklich eine Herausforderung, aber Silver war entschlossen, sie zu meistern - nicht nur, weil er nicht wollte, dass Ri-Il seine Entscheidung bereute, sondern auch um sich Darius gegenüber zu beweisen, der ihn hämisch angegrinst hatte, nachdem er irgendwie spitzbekommen hatte, dass Silver hatte petzen wollen. Wie ein kleines Kind, das zu seiner Mami lief, huh?
Pah! Ihm würde das Grinsen schon vergehen! Pah! Und nochmals Pah!
Erst einmal stand jedoch etwas anderes auf dem Programm, nämlich das morgige Treffen mit Firey. Dieses Treffen hatte Silver Sho zu verdanken; dieses kleine Schlitzohr, das sofort gewusst hatte, dass Silver Firey treffen wollte.
"Firey lebt nicht mehr hier. Sie ist wieder nach London zurückgekehrt beziehungsweise angeblich. Sie lebt jetzt da oben irgendwo." Sho hatte dabei in den Himmel gedeutet:
"Aber morgen hat sie ihren freien Tag, ich könnte also ein Treffen arrangieren... Aber du kennst mich ja, Silver-kun, nichts ist umsonst!"
"Hehe, natürlich! Alles andere hätte mich auch enttäuscht! Du bekommst einen Kuss auf die Wange." Oh, wie Sho gelacht hatte!
"Haha, Silver-kun! Sind wir denn im Kindergarten!?" Auch Ruis Blick war unbezahlbar gewesen. Von einem Moment auf den anderen war sie blass und rot zugleich geworden, aber zugegeben, Silver befürchtete, dass Sho dasselbe fordern würde wie Rui, aber sie dachten beide fehl:
"Informationen, mein Lieber, Informationen! Firey erzählt mir so gut wie nie was..."
"Es ist ja auch nicht erlaubt."
"Jaaah, ich weiß... bei den Wächtern. Aber bei den Dämonen sieht es sicherlich anders aus, oder, Silver-kun? Ich würde sagen wir gehen eine Runde Eis essen wie früher und dann erzählst du mir ein wenig, ja?"
Sho hatte vollkommen recht gehabt - Silver war kein Wächter und wenn er nur durch ein wenig plaudern ein Treffen mit Firey arrangieren konnte, warum nicht? Sho versprach, dass es kein Interview war - auch wenn es sich nach einem anfühlte - und dass sie nur ihre Neugierde befriedigen wollte, nichts weiter.
Er konnte es kaum fassen, aber es war wirklich wahr! Dank ein paar Schilderungen wie die Dämonenwelt aussah würde er morgen Firey wiedersehen. Gut, es war gar nicht sooo entsetzlich lange her, dass sie sich getroffen hatten, aber diesen kurzen Moment konnte man wohl kaum ein Treffen nennen. Es war mehr ein chaotischer Kampf mit einem kurzen Erhaschen von Firey gewesen - aber morgen würden sie sich wirklich wiedersehen und das gänzlich ohne Kampf; das hoffte Silver jedenfalls. Er hatte sich sogar vorgenommen sich zurückzuhalten. Ob ihm das gelingen würde oder nicht, das war etwas anderes, aber vorgenommen hatte er es sich! Ganz würde es ihm sicherlich nicht gelingen, zu sehr spürte Silver, wie es ihm unter den Fingern juckte sie wieder "Flachbrett" zu nennen. So war es doch und so gehört es sich doch auch, oder? So kannte sie es doch sicherlich auch nicht anders?
Ja, genau so musste es sein.
Wie sehr Firey sich nicht auf diesen Tag gefreut hatte! Endlich einen Tag frei, endlich. Endlich dieser komischen Situation im Tempel entfliehen können... ah, sie schämte sich schon für diesen Gedanken; er gehörte sich ja eigentlich nicht. Sie mochte es doch im Tempel zu sein. Er war ja ihr Zuhause und dort fühlte sie sich ja auch wohl. Eigentlich. Leider war da ein großes "eigentlich". Denn im Moment fühlte sie sich dort nicht wohl. Im Tempel war es beklemmend und auf Sanctu Ele’Saces war das ewige Rauschen der Tausenden von Glocken unheimlich. Auch ihr kam es vor wie ein Wiegenlied - ein Wiegenlied, das sie dafür verurteilte, dass sie noch nicht schlief, dass sie sich nicht einlullen ließ... oder bildete sie sich das alles nur ein? Bildete sie sich nur ein, sich vom Wasser verfolgt zu fühlen, das sie immer noch nicht getrunken hatte? Sie musste und würde es wahrscheinlich noch trinken, denn sie wollte nicht schuld daran sein, dass die Weihe scheiterte... wer wusste, was dann mit Green geschehen würde? Es hing so viel von der Weihe ab; alle Wächter setzten so viele Hoffnungen in die Weihe und ihren Erfolg. Sie fieberten dem letzten Tag richtig entgegen - warum nur konnte Firey sich nicht freuen?
Die junge Feuerwächterin schüttelte den Kopf: sie wollte doch jetzt nicht darüber nachdenken! Das war ihr freier Tag. Sie war fernab von allen Gefahren, fernab von jeder Weihe und jedem Gedanken daran - sie war in London, auf Shos Eintreffen wartend, vor der Westminster Abbey, der gigantischen Kirche in der Nähe der Big Ben. Sie trug weder ihre Uniform, noch war das Wasser aus ihrer Flasche irgendwie weiß. Nein, es war ganz so wie es sein sollte - durchscheinend und klar. Es tat wirklich gut, hier in der Sonne zu stehen und nicht ihre Uniform zu tragen; sie mochte sie, aber gerade war Firey froh, einfach nur ihren Lieblingsstreifenpullover tragen zu können und einfach... Mensch zu sein.
Das hatte sie vermisst. Sie hatte London allgemein vermisst... diese Welt, die Menschen. Es war wie immer voller Touristen; Menschen, die begierig darauf waren, in die alte, geschichtsträchtige Kirche Einlass zu erhalten. Vor den großen Doppeltüren der Westminster Abbey hatte sich eine lange Schlange gebildet; Touristen, die darauf warteten, die Taschen kontrolliert zu bekommen, damit sie die Kirche betreten konnten, um ein Foto nach dem anderen zu schießen.
Firey war ebenfalls eine von jenen, die die Kirche gerne mochten. Als sie sie das erste Mal betreten hatte, hatte sie auch Unmengen von Fotos gemacht. Sie schmunzelte, wenn sie daran zurückdachte - sie hatte sich von ihrem eigenen Geld eine Einwegkamera gekauft und eine gesamte Kamera in der Kirche verbraucht... sie war eben sehr groß und sehr schön. Damals hatte sie auch geglaubt, sie würde in dieser Kirche eines Tages heiraten.
Ihr Herz beschleunigte sich ein wenig, wenn sie daran zurückdachte, auch wenn sie mittlerweile wusste, dass sich das wohl nicht umsetzen ließ - die Kirche war zu berühmt und sie als Mensch zu unberühmt. Wie Wächter wohl heirateten? Hm, darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht... urgh, aber bald würde sie es herausfinden, wenn Green Saiyon heiraten würde.
Sie wollte es immer noch nicht! Nein, Firey wollte das nicht! Das war einfach nicht richtig. Green machte sich damit nur unglücklich... unglücklicher als sie es ohnehin schon war. Das konnte man doch nicht zulassen... aber es schien so sein zu müssen. Sie wollte es ja selbst und das war das Schlimmste daran.
Ob sie Sho davon erzählen sollte? Obwohl Firey natürlich Shos neugieriges Leuchten in den Augen nicht entfiel, so hatte sie ihrem Drängen nie nachgegeben - aber Sho war nicht nur Greens Adoptivschwester, sondern auch ihre Freundin. Sollte sie es nicht erfahren? Und was war mit deren Eltern? Ob Green sich darüber schon Gedanken gemacht hatte? Ach, was, warum sollte sie - Green hatte Wichtigeres zu tun als Gästelisten für eine Hochzeit zu schreiben, die sowieso noch in den Sternen stand. Sollte sie auch! Umso weiter weg sie in den Sternen stand umso besser, jawohl!
Aber eigentlich war das ein komischer Ort, um sich mit Sho zu treffen. Ihre Schwester hatte nämlich garantiert kein Interesse an Kirchen oder an sonstigen Bauten von kulturellem oder geschichtlichem Wert. Wenn sie sich in London trafen, dann eigentlich in Fireys Wohnung oder bei Harrods... das war eigentlich wirklich---
"Hey, Firey!"
Das glaubte sie jetzt nicht.
Das konnte nicht sein. Sie... sie... irrte sich... oder? Aber wenn sie sich irrte... nein, sie irrte sich nicht - dieses Grinsen auf dem Gesicht desjenigen, der gerade ihren Namen genannt hatte und zu dem sie sich nun herumwandte, während dieser lässig eine Sonnenbrille in den Pony schob...
"Lange nicht gesehen, Flachbrett!"
... war Siberu?!