Kapitel 98 - Oh unschuldiges, reines Herz
Natürlich konnte Green nicht spüren, wie das Element in Aufruhr geraten war. Im Endeffekt sah sie immerhin nur eine Erinnerung; sah zu, wie sich die Geschehnisse entfalteten, wie sie Form annahmen - sie war nur ein Zuschauer. Ein Zuschauer ohne Substanz, geführt von Light, der in diesem Moment genau wie sie zusah, wie sein damaliges Ich sich von den Dämonen löste und die Straße wieder hinaufrannte.
Doch obwohl sie nur ein Zuschauer war, obwohl sie mit dieser Szene an sich überhaupt nichts zu tun hatte, war ihr, als könne sie die Unruhe, die Light in diesem Moment in sich spürte, ebenfalls vernehmen - als hätte sie die Ringe auf der Wasseroberfläche, nein, die Wellen, so hatte Light es genannt, ebenfalls spüren können. War es, weil sie das Geschehene aus Lights Augen sah? Weil es seine Erinnerungen waren? War sie eins mit dieser Erinnerung und daher auch eins mit seinen Gefühlen? War es das?
Aber auch noch jemand anderes sah Light hinterher: Luzifer und der namenlose Dämonenherrscher taten es ebenfalls. In Luzifers ernste Augen war wieder Besorgnis getreten. Der Namenlose dagegen... er schien es zu genießen, als wäre das, was er sah - einen zutiefst besorgten Light - eine angenehme Aussicht. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt; in sich hinein lächelnd, mit einem eigenartigen Glühen in den roten Augen. Ein vorfreudiges Glühen? Ein Glühen, das sich freute, weil es etwas mit Spannung erwartete?
Luzifer schien dieses Leuchten genauso wenig zu gefallen wie Green, denn als er sich herum wandte, wurden seine goldenen Augen düster und es lag ein Vorwurf in ihnen. Wusste er etwa schon, was geschehen war oder was im Begriff war zu geschehen? Oder machte er ihm einen Vorwurf dafür, dass der Namenlose sich so diebisch freute? Das Grinsen des Namenlosen verschwand auch nicht, als er sich an seine rechte Hand wandte und den Blick Luzifers natürlich genauso sah wie Green - und natürlich auch verstand:
"Warum fürchtet ihr alle euch nur so vor Veränderung? Warum wollt ihr alle immer in demselben Glashaus sitzen, obwohl es Risse hat?" Während er diese in Greens Ohren recht philosophisch klingenden Worte an Luzifer gerichtet hatte, hatte er auch die Hand nach ihm ausgestreckt, nach seinem Gesicht wie Green stirnrunzelnd bemerkte - aber ehe er es berühren konnte, schlug Luzifer mit einem entschiedenen Hieb seine Hand weg.
"Weil Risse auch repariert werden können." Und dann wandte er sich ab, nicht darauf achtend, dass das Gesicht seines Herrschers nicht länger von einem Lächeln geziert wurde - aber das Lächeln kehrte zurück, begleitet von einem kleinen Seufzen:
"Immer wieder dieselben Risse zu flicken ist doch langweilig."
"Meine Güte, der Typ hat sie doch nicht mehr alle." Dieses Kommentar hatte Green nicht unterdrücken können - aber es wurde nicht erwidert. Light antwortete nicht.
Das Geschehnis, das die Risse des Glashauses für immer irreparabel hinterlassen würde, fand in dem Kolosseum statt, welches sie vor ein paar Stunden noch friedlich verlassen hatten. Light hatte nicht selbst, in Person, gesehen, was geschehen war, doch er hatte das Geschehnis durch Hikaris Augen gesehen, durch ihr Herz, ebenso wie Hikaru es getan hatte. Für seine Schwester war es ein Geschenk des Himmels; ein Wunder.
Hikari wollte sich nicht daran erinnern können, doch sie konnte es nicht aus ihren Erinnerungen löschen. Dieser Moment hatte sich in ihrem unschuldigen Herzen eingebrannt und würde niemals mehr verschwinden, ganz egal wie sehr sie weinte oder schrie oder flehte.
Der Moment, in dem die weiße Farbe des Lichts zum ersten Mal rot wurde.
Ja, es war ein Fehler, ein schrecklicher, tragischer Fehler. Es war ein Irrtum gewesen, dass Hikari sich ausgerechnet in den mächtigsten und unseriösesten Dämon verliebt hatte. Es war dumm gewesen, aber Liebe war kein Gefühl, welches nach Intelligenz fragte. Hikari war die Göttin des Lichts; unschuldig und bis in das Tiefste ihrer Seele unverdorben. Sie war so rein wie das Strahlen ihres Lichtes; so unbefleckt wie das Licht der Sonne. Sie kannte keine Abgründe; die Düsternis der Welt war an ihrem leuchtenden Glauben und ihrer Unschuld abgeprallt. Sie war naiv gewesen; ein naives und doch so mächtiges Wesen, das immer an das Gute in allem geglaubt hatte; das Böse nicht kannte und nicht verstand.
Und so hatte sie nicht sehen können, dass der Dämonenherrscher nur mit ihr spielte. Er hatte sie einmal aufgefangen, vor einem Sturz bewahrt und sie in den Armen gehalten. Mehr war nicht von Nöten gewesen, um das kleine Lichtherz zum Beschleunigen zu bringen. Ihre Naivität war so weiß wie ihr Licht - Worte zeigten keinen Sinn. Man hatte sie belächelt, genau wie der namenlose Dämonenherrscher ihre offensichtliche Verliebtheit belächelte und sich einen Spaß daraus machte. Niemand hatte Hikaris Gefühle ernst genommen, niemand ihr Herz verstanden.
Aber man hatte es unterschätzt - alle hatten es unterschätzt und niemand hatte die Folgen eines gebrochenen Herzens vorhergesehen.
Mit jenem gebrochenen Herzen pochend in der Brust hatte Hikari sich zurück in die nun verlassene Arena geflüchtet; hatte sich im Schatten der Tribüne auf den sandigen Boden gleiten lassen; die Arme um ihre Beine geschlungen, schluchzend und in sich hinein weinend. Sie hatte nicht zurück nach Eterniya gewollt, dort, wo sie vermutete, dass Hikaru sein würde - Hikaru würde sie und ihre Tränen verurteilen, das wusste Hikari. Aber sie wollte zu Yami, ihrer teuren Zwillingsschwester... sie war auch in Eterniya, aber sie würde bald kommen, ja - sie würde ihren Schmerz spüren und sie finden, sie musste...
Tropf, tropf - eine Träne nach der anderen fiel auf das Glöckchen - Tropf, Tropf. Es tat weh, warum tat es denn so weh?! Dieser Schmerz! Er hielt in nicht aus!
Es waren universelle Schmerzen; auch Light spürte sie, Hikaru ebenfalls, die beide ihre Hand über ihren Herzen zusammengekrampft hatten, da sie beide, nein, alle drei dasselbe spürten - die Schmerzen eines gebrochenen Herzens, ein Element, das sich zusammenzog, ein Licht, das flackerte, ein Licht, dessen Strahlen nachließ, umso mehr Tränen auf das Glöckchen herniedertropften - umso mehr verzogen sich die Gesichter Hikarus und Lights, die beide begannen nach Atem zu ringen. Light musste sich sogar abstützen, konnte kurz nicht weiter rennen, im gleichen Moment wie Hikari die Hände vor ihre Augen warf und sich ihrer Verzweiflung hingab.
Jemand sagte etwas; was es war, das verstand Hikari nicht, sie war zu aufgelöst, zu deutlich sah sie das schalkhafte, spöttische Lächeln des Dämonenherrschers vor sich.
"Nein, kleine Hikari, ich liebe dich nicht und ich verlange auch nicht nach dir. Mein Herz schlägt für jemand anderen." Hikari hatte versucht zu lächeln, auch als er gesagt hatte, dass es daher auch nur eine Person gab, die seinen Namen kannte, da er ihn nur jener Person gesagt hatte und er es nur einer Person sagen würde, die er von ganzem Herzen liebte. Die ihm wichtig genug war. Ah, das Ganze war schrecklich peinlich und Hikari wollte einfach nur weg, nichts mehr hören, dieses Lächeln nicht mehr sehen, keine Hand auf ihrem Kopf spüren die sie streichelte wie eine Katze, kein Lachen vernehmen---
"Aber auch wenn es ihn nicht gäbe, so hätte mein Herz doch niemals für jemanden wie dich schlagen können!"
Hikari riss ihren Arm los, die Person redete noch mehr auf sie ein; verstand sie denn nicht, dass Hikari nichts mehr hören wollte? Es war bereits zu viel gesagt worden! Zu viele schwere, schmerzende Worte! Aufhören - die Worte, der Schmerz - er sollte aufhören!
AUFHÖREN!
In dem Moment geschah es.
Die Person, die Hikari nur hatte helfen wollen, was sie aber in diesem Moment nicht vernommen hatte, war eine Dämonin gewesen. Hikari hatte ihre Hand das erste Mal abgeschüttelt, als die Dämonin es allerdings ein zweites Mal versuchte, hatte Hikari den Arm ausgestreckt. Warum? Um Abstand zu erlangen? Um sich zu beschützen? Um ihr deutlich zu machen, dass sie sich ihr nicht nähern sollte? Ein zu inbrünstig geschrienes "Verschwinde!"?
Warum war es geschehen?
Warum war genau in diesem Augenblick Hikaru in der Arena aufgetaucht?
Warum war es ausgerechnet sie gewesen, die gesehen hatte, wie das Licht... wie das Element des Lichtes... Ein Element, von dem sie alle, auch sie, glaubten, es sei das schwächste Element von allen... ein Element, das nur heilen konnte, aber ansonsten zu nichts gut war... die Dunkelheit erhellen, das konnte auch das Feuer... das Licht, was konnte es schon...
Es konnte töten. Es konnte Dämonen töten.
Sie hatten es nicht gewusst - jetzt aber sahen sie es, durch diesen bedauernswerten Unfall, bei dem Hikari die Kontrolle über ihre Gefühle verlor und das Licht die Dämonin durchbohrte wie ein Kanonenschuss. Aber noch effektiver, noch zerstörerischer war das Blut, das auf Hikarus Gesicht spritzte. Die warme Flüssigkeit tropfte an ihren weißen Augenlidern herunter, auf ihre Wangen. Zitternd, wie in Ekstase, hob sie ihre kleinen Finger an ihre Wange, berührte das Blut mit ihren Fingerspitzen, während die Dämonin schrie und schrie und schrie und Hikari mit tränenverschmiertem Gesicht festgefroren war in ihrem Schock. Die Dämonin focht ihren Todeskampf aus; das Licht verätzte sie von innen, entblößte die wahre Hässlichkeit dieses Körpers; ein Prozess, bei dem Hikaru zusah ohne zu blinzeln, als wären diese alles verätzenden Funken ein Kunstwerk.
Dann sah sie auf das Blut auf ihren Fingern und begann zu lächeln.
Silver hätte nicht geglaubt, dass er es so genießen würde, den Himmel zu sehen. Einen... blauen Himmel. Einen strahlenden, blauen Himmel, über den die Wolken schnell vorbeizogen, denn es wehte ein kräftiger Wind, den Silver ebenfalls mit geschlossenen Augen genoss. Die Luft war nicht einmal besonders rein - immerhin befand er sich in Tokio - und dennoch hatte er das Gefühl, als ginge sein Herz auf. Es war eigenartig; dabei fühlte er sich in der Dämonenwelt, in dem Gebiet Ri-Ils, doch gar nicht mal so unwohl. Ja, es war kein leichtes Leben und die Lebensumstände waren manchmal sehr hart: Essen und Wasser gab es genauso viel, wie man brauchte, nicht so viel, wie man wollte, aber dennoch war es sein Zuhause. Doch dieser Himmel, dieser strahlend, blaue Himmel über den Hochhäusern - er zog ihn in den Bann. Er schaffte es immer wieder - ob das daher kam, weil er schon lange nicht mehr in der Menschenwelt gewesen war? Obwohl, fiel Silver gerade ein: Er war doch erst vor kurzem in der Menschenwelt gewesen, er war doch in Paris gewesen, um Blue zurückzuholen... aber da war es Nacht gewesen - und Paris war nicht Tokio. Mit Paris verband er nichts, nur seinen Entschluss, das Jetzige zu verändern. Anders sah es da mit Tokio aus: mit Tokio verband er viel.
Und genau deswegen war er hier.
Hier auf der Straße, die er früher seinen Schulweg genannt hatte. Eigentlich war es nur irgendeine Straße in Roppongi, irgendeine Straße von vielen hier in dieser riesigen Stadt, aber für ihn war es eine wichtige Straße. Komisch, dass Straßen etwas Wichtiges werden konnten - aber sie war wichtig für ihn. Wie oft waren sein Bruder und er nicht diese Straße entlang gegangen, sie beide und Green. Sie waren sie sicherlich auch mal alleine gegangen, aber Silver erinnerte sich nicht mehr daran: Er erinnerte sich nur noch daran, wie es gewesen war, sie mit Green zusammen zu gehen - denn so hatte es ein müssen. Nicht wegen irgendeinem dummen Auftrag, sondern weil... es einfach so sein musste! Und so würde es wieder sein; Silver würde dafür kämpfen, dass sie wieder zusammen gehen konnten, dass sie wieder zusammen lächeln konnten. Egal auf welcher Straße. Denn so sollte es sein, nicht so, wie es jetzt war - mit einem Bruder, der in Paris geweint hatte. Und Green? Wie ging es Green? Sie war nicht tot; sie war auch nicht ernsthaft verletzt - das würde er schon erfahren, dann, wenn es schon zu spät war und er ihr nicht mehr helfen konnte. So sollte es nicht sein!
Und Firey? Irgendetwas hatte Firey ihm sagen wollen; irgendetwas Dringendes... hätte Firey sich sonst in die Dämonenwelt aufgemacht? Firey, die doch eigentlich so vorsichtig war? Nein, sie hatte einen Grund gehabt, irgendeinen Grund, der mit Green verknüpft war - und Silver würde herausfinden, was es war.
Deswegen war er nach Tokio gekommen - und da tauchte auch schon das Mädchen auf, auf das er gewartet hatte.
Ah, wie lange war es her, dass er diese Schuluniform gesehen hatte! Silver spürte sofort ein Grinsen auf seinem Gesicht und fühlte sich einige Jahre in die Zeit zurückgeworfen, zurück in ein anderes Leben. Ah nein, so durfte er nicht denken! Es war kein anderes Leben - es war seins! Sollte Blue doch denken, was er wollte, Silver würde ihn schon eines Besseren belehren! Dieses Leben, das sie beide so genossen hatten und das ein so tiefes Loch in ihnen hinterlassen hatte, es war nicht abgeschlossen und in irgendeinen Abgrund hineingeworfen worden - es war noch da. Es war noch erreichbar. Es war noch ein Teil von ihnen - und selbst wenn es in irgendeinen Abgrund herumlag, dann würde Silver auch da herunterklettern, jawohl!
"Hey, Sho!" Ah, wie schön war es nicht, seine Stimme zu hören, dachte Rui, die bis jetzt einfach nur still neben Silver gestanden hatte, beide halb verborgen von den Schatten eines hohen Baumes. Seine Stimme klang so heiter und ausgelassen... und sein Grinsen war so natürlich - da ging ihr gleich das Herz auf. Sie wusste, dass das, was sie hier taten, verboten war, aber Rui fand, dass sie dennoch das richtige taten. Ja, es war gut, dass sie hierhergekommen waren - denn das war das Gesicht, das sie vermisst hatte. Sie brauchte sich wirklich keine Sorgen machen; jetzt sah er wieder genauso aus wie vor einem, nein zwei Jahren.
Auch Sho erkannte Silver, der nun aus dem Schatten des Baumes heraustrat, sofort. Sie blinzelte, ließ ihre geschulterte Tasche auf den Asphalt fallen, blinzelte noch einmal und zeigte sich gänzlich fassungslos, während Silver sie einfach nur ansah mit einem freudigen Grinsen, denn er freute sich auch, Sho wiederzusehen. Sie hatte sich verändert! Sie hatte ein wenig an Gewicht verloren, aber am auffälligsten waren ihre Haare: Leider trug sie sie jetzt nicht mehr als Zopf, sondern offen und - Silver weinte ein wenig - kurz. Es stand ihr, es sah frisch und keck aus, aber Silver zog immer lange Haare vor, eindeutig.
"Siberu!" Oh wie lange war es her, dass - aber da hatte der perplexe Rotschopf den anderen Rotschopf bereits in die Arme geschlossen, denn Sho hatte ihre Gefühle nicht unterdrücken können und umarmte Silver nun stürmisch, unter den skeptischen Augen Ruis. Aber sie hatte Silver lange nicht mehr gesehen, sie ließ es also... durchgehen. Wenn auch unzufrieden.
"Sho! Ich freu mich auch, dich zu sehen-" Aber mit so einer stürmischen Wiedersehensfreude hätte er dennoch nicht gerechnet. Gut, sie hatten sich immer gut verstanden, aber dass sie ihn so sehr vermisst hatte...
"Oh Siberu! Lass mich dich anschauen!" Sie löste sich wieder von ihm und inspizierte den immer noch ein wenig überrumpelten Dämon gründlich. Dieser bereitete sich schon auf die Cosplay-Frage vor, denn er hatte keine Möglichkeit gehabt, sich umzuziehen - weder Zeit noch... nun ja, er hatte keine Kleidung mehr, die nun besonders nach Tokio gepasst hätte. Es hatte für ihn keine andere Wahl gegeben als seine schwarze, ärmellose Uniform anzulassen, ganz egal, wie sehr er damit auffiel.
"Gut siehst du aus!" Ja, das hörte man doch gerne, da grinste man doch automatisch.
"Deine Haare sind ein wenig länger geworden, oder? Aber du pflegst sie nicht mehr so gut wie früher - Siberu, ich bin enttäuscht!" Das hörte man natürlich weniger gerne, aber es war ja die Wahrheit - eine Wahrheit, die Silver auch immer wieder beweinte, wenn er sich im Spiegel sah. Er konnte aber nichts dagegen tun: Er bekam kein Taschengeld mehr und wenn er etwas haben wollte, dann musste er Ri-Il fragen - nicht, dass Silver sich davon aufhalten ließ, aber sein Lehrmeister schien Silvers teure - teuer, pfft! - Haarpflegeprodukte nicht als eine lohnenswerte Ausgabe zu sehen. Wenn er so sehr um sein Aussehen besorgt war, dann war er womöglich besser im Freudenhausensemble aufbewahrt als in der Horde, huh? Ri-Il hatte dafür nicht einmal von seinen Dokumenten aufgesehen, dachte Silver mit einem Schmollmund - er hatte darüber nur gelacht und das, wo es doch so ein wichtiges Thema war!
"Deine Klamotten sehen ziemlich cool aus - das ist deine Uniform nehme ich an? Trägt man so was als Dämon?" Silver wollte gerade lachen, als ihm Shos Worte bewusst wurden.
Sie---- wusste es?!
Es war für Shitaya nicht sonderlich schwer, mit Shaginai in Kontakt zu kommen. Säil hatte lange genug im Sanctuarian gearbeitet, um zu wissen, dass Shaginai seine älteste Tochter überaus regelmäßig besuchte - sie hatte zwar in der Dämonie-Abteilung gearbeitet, die einige Etagen von der Nexres-Abteilung entfernt lag, aber dennoch wusste sie von Shaginais Routine. So etwas sprach sich rum; dafür musste man nicht einmal ein Experte für Klatsch und Tratsch sein. Es war doch so eine tragische und bewegende Geschichte - und solche Geschichten verbreiteten sich am besten, über so etwas wollte man doch reden! Der ernste Shaginai, der resolute, erbarmungslose Richter - besuchte jeden Tag seine geliebte Tochter und hielt ihr die Hand!
Natürlich redete man nicht zu laut darüber; das würde Shaginai nicht dulden, das war allen klar - und Privatsphäre wurde doch besonders im Sanctuarian sehr hochgehalten.
Dort war momentan kein großer Andrang. Natürlich, die üblichen Verletzten, aber nichts im Vergleich zur Kriegseröffnung. Es waren eher die Nachwehen dessen - Wächter, die sich wegen den Verletzungen, die sie sich bei den Kämpfen zugezogen hatten, wieder einfanden für überprüfende Untersuchungen.
Genau wie von Säil vorhergesehen und berechnet, traf Shitaya Shaginai in der Nexres-Abteilung an - er hatte gerade das Zimmer seiner Tochter verlassen und war mit wehendem Umhang auf dem Weg den Gang hinunter. Shitaya beschleunigte seine Schritte; nicht, dass er ihn aus den Augen verlor. Was hatte er für große, zielsichere Schritte! Er schien den Gang in zwei Sekunden durchqueren zu wollen! Es war wirklich wahr, was man sagte: Hikari hatten es immer eilig, obwohl sie doch die Ewigkeit besaßen.
"Hikari-Shaginai-sama!" Scheinbar hatte Shaginai Shitayas Aura vorher ignoriert - denn bemerkt hatte er sie auf jeden Fall - denn er sah etwas irritiert aus, als er über die Schulter sah. Aber er blieb stehen. Das war doch ein Erfolg.
"Wenn Ihr mir eine Minute Eurer Ewigkeit schenken könntet, Hikari-Shaginai-sama." Sofort verbeugte Shitaya sich, als er bei Shaginai angekommen war, weshalb er auch die hochgezogenen Augenbrauen Shaginais nicht sah:
"Shitaya-san, wenn ich mich nicht irre? Was ist es für ein Anliegen, was Sie nicht mit ihrem Heerführer klären können?"
"Es ist ein Anliegen, welches ich nur mit Euch besprechen kann", erwiderte Shitaya, sich wieder aufrichtend und mit geradem Rücken, was bei Shaginai zwar einen guten Eindruck hinterließ, ihn aber dennoch nicht erweichte:
"Dann lassen Sie Ihr Anliegen hören! Auf meinem Tagesplan stehen noch sehr viele andere Anliegen und ich nehme an auf Ihrem ebenfalls!" Das ließ der Klimawächter sich nicht zwei Mal sagen und er wusste genug über Shaginai, um zu wissen, dass dieser es nicht mochte, wenn man um den heißen Brei herumsprach, weshalb er es direkt ansprach.
"Es handelt sich um ihre jüngere Enkeltochter." Shaginai stutzte kurz, dann wurde er noch ernster und seine Augen forderten deutlich nach einer Ausführung, die Shitaya ihm auch sofort gab:
"Meine Gattin und ich sind uns bewusst, dass es sich bei Pink-san um einen Dämonie-Fall handelt." Warum nicht mit offenen Karten spielen...
"Wie haben Sie das bemerkt?" Scheinbar war Shaginai derselben Meinung.
"Meine Gattin arbeitete hier in der Dämonie-Abteilung - aber das ist nicht der einzige Grund - und das ist auch die Ursache, weshalb ich mit Euch sprechen wollte, Hikari-Shaginai-sama. Pink-san kann das heilige Wasser nicht in sich aufnehmen. Sie, nun, sie übergibt sich, versucht es aber dennoch immer wieder. Säil, meine Gattin, beschrieb es wie einen Drang, den Pink-san nicht in der Lage ist zu kontrollieren." Für einen kurzen Moment war ganz deutlich, dass Shaginai diese Nachricht nicht erwartet hatte - und dass sie ihn auch bestürzte. Aber seine Augen gewannen schnell an Härte und Undurchdringbarkeit, doch ehe er fortfahren konnte, fügte Shitaya hinzu:
"Daher haben wir uns dazu entschlossen, es Ihnen mitzuteilen, denn unter den gegebenen Umständen besteht immerhin die Gefahr, dass die Weihe scheitern könnte."
"Dafür gibt es keine Garantie." Der Klimawächter runzelte die Stirn über diese unerwartete Reaktion:
"Nein, das ist wahr, aber kann ein reibungsloser Ablauf der Weihe garantiert werden, wenn einer der 12 Wächter von einem Dämon besessen ist?"
"Bei der großen Menge an Magie, die zum Zeitpunkt der Weihe freigesetzt wird, wird jede Unreinheit und somit auch jeder Dämon ausgelöscht. Ich denke, dessen sind Sie sich im Klaren."
"Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr die Weihe als eine... Läuterung benutzen wollt? Um den Dämon aus Pink-san herauszutreiben?" Shaginai, der sich gerade halb von ihm abgewandt hatte, drehte sich nun wieder zu ihm herum - und da spürte Shitaya schon zwei Finger auf seiner Stirn.
"Genau das will ich damit sagen."
Rui und Silver starrten Sho einen Augenblick lang verdattert an - was hatte sie da gerade gesagt? War das ein Zufall? Hatte sie es nur so gesagt? Nein, das wusste Silver genau, denn er erinnerte sich an dieses Glänzen in ihren Augen - das neugierige, wissbegierige Leuchten; das gerissene Leuchten einer Journalistin!
"Ich wusste es - du bist ein Dämon, nicht wahr, Siberu?" Rui und Silver warfen sich verdatterte Blicke zu, die Sho zu einem Grinsen brachte.
"Du... du weißt davon, Sho?" Ihr Grinsen wurde noch breiter:
"Aber ja, ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, dass ihr so ein großes Geheimnis ewig vor mir verbergen könntet?" Ganz ohne Zweifel war Sho mächtig stolz auf sich - sie erwähnte natürlich nicht, dass sie von Firey von ihrem Schicksal als Wächter des Feuers erfahren hatte. Aber zu dem Schluss, dass ihr Gegenüber ein Dämon war, war sie tatsächlich selbst gekommen. So schwer war das ja nun auch nicht gewesen! Man musste ja nur die vielen Male bedenken, bei denen die beiden Brüder gefehlt hatten, ein bisschen beherzte Interpretation in einige vergangene Blicke investieren, die Kleidung Ruis; die roten Augen... nein, so schwer war das wirklich nicht zu erraten gewesen.
"Und ich kann mir sogar denken, warum du jetzt hier bist, Siberu!" Jetzt wurde es Rui aber langsam zu bunt und mit entschlossener Stimme mischte sie sich ein:
""Siberu" ist ein Deckname, ein Pseudonym!"
"Aha! Das habe ich mir schon irgendwie gedacht!", antwortete Sho und schnippte zufrieden mit den Fingern, was die Skepsis in Ruis Augen nur noch vergrößerte, während Silvers Augen größer und verwunderter wurden: So hatte er sich deren erstes Treffen nach so langer Zeit nicht vorgestellt.
"Dann ist "Silver" also dein richtiger Name! Ja, was guckt ihr mich denn so an?" Sho kicherte zufrieden über die Blicke der beiden Dämonen:
"Als ob das so schwer zu erraten wäre, hihi! Wie oft habe ich dich nicht "Silver-sama" kreischen gehört? Als ob ich das vergessen würde! So etwas merke ich mir doch natürlich! Vor mir könnt ihr sowas nicht verbergen; außerdem ist "Siberu" nun alles andere als ein japanischer Name. Das ist mir von Anfang an schon Spanisch vorgekommen; die Schreibweise ist einfach sehr unnatür-"
"Du sagtest, du weißt, warum wir hier sind?", fiel Silver nun Sho ins Wort, die aber darüber keineswegs pikiert war.
"Aber ja. Du willst wissen, wo Firey ist, habe ich nicht recht?" Die beiden sahen sich kurz schweigend an, dann seufzte Siberu aufgebend - und dann grinste er.
"Man kann einer Journalistin wie dir einfach nichts vormachen: Stimmt, ich habe Sehnsucht nach einem gewissen Flachbrett!"
Das war Willkür gewesen. Shaginai war sich dessen bewusst. Er hatte eine Regel gebrochen - er! Und dann auch noch eine, die wahrlich weiter oben im Strafregister zu finden war. Die verbotenen Techniken waren nicht umsonst verboten - sie durften nur angewandt werden, wenn der Rat es abgesegnet hatte und nur dann. Wie viele Wächter hatte er nicht schon wegen der Benutzung der verbotenen Techniken bestraft? Und jetzt hatte er sie selbst ohne Genehmigung angewandt. Aber ihm war keine Wahl geblieben: Wenn der Rat von Pinks Zustand erfuhr, dann würde sie nicht nur ausgeschlossen werden von der Weihe, sondern auch hingerichtet werden, wie es in jedem schweren Dämonie-Fall geschehen würde. Das Prozedere sah immer gleich aus, Shaginai kannte es zur Genüge. Zuerst wurde in mehreren Etappen versucht, den Dämon auszutreiben. Zeigte dies keine Wirkung, dann wurde der besessene Wächter wie ein Dämon behandelt und dementsprechend natürlich getötet. Es gab da keine Alternative und auch kein langes Zögern. Es durfte nicht zugelassen werden, dass Dämonen sich im Wächtertum aufhielten: Es war eine zu große Lücke, eine zu große Gefahr. Diese Gefahr sah Shaginai zwar in Pinks Fall gebannt, da diese von sämtlichen Informationsquellen abgeschirmt wurde, aber würde das der Rat ebenfalls so sehen? Nein, Shaginai hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass nicht lange gezögert werden würde; er selbst würde nicht zögern... und es würde darüber diskutiert werden ob die Weihe abgebrochen werden sollte.
Mit einem düsteren Blick sah Shaginai hinauf zum Turm der Reinheit, der sich vor ihm in der Sonne abhob. Hier stand er, in seinen Gedanken versunken, vor dem Turm, in dem bereits die Weihe in vollem Gang war - das Wasser, das immer noch beständig mit einem sanften Gurgeln aus dem Turm sprudelte, war der deutlichste Beweis dafür - und während Shaginai hier stand und dem Geräusch des Wassers lauschte, dessen Geschmack er plötzlich deutlich auf der Zunge hatte, erzählte Shitaya Säil wohl gerade, dass Shaginai ihm versichert hatte, dass es absolut keine Bedenken gab und dass die Weihe fortgesetzt wurde wie geplant.
Sie wurde auch fortgesetzt wie geplant. Aber die viel wichtigere Frage war, ob sie auch zu Ende geführt werden würde. Wenn sie wie alle anderen vor ihr abgeschlossen werden würde, dann würde es Pink ohne Zweifel helfen - eine mächtigere und effektivere Art, einen Dämon auszutreiben, gab es nicht. Ganz gleich ob sie hier von einem Dämon wie Ri-Il sprachen oder nicht.
Shaginais weiße Augen blickten auf die drei geflügelten Hikari oberhalb der Pforte, die sich in acht Tagen öffnen würde. Hikari-kami-sama von goldener und strahlender Glorie erhellt, die auch jetzt deutlich zu strahlen schien, umringt von Light und Hikaru mit denselben Flügeln wie sie. Sie schienen zu singen.
Ob es ein Abgesang werden würde, würde sich in acht Tagen zeigen.
Doch obwohl sie nur ein Zuschauer war, obwohl sie mit dieser Szene an sich überhaupt nichts zu tun hatte, war ihr, als könne sie die Unruhe, die Light in diesem Moment in sich spürte, ebenfalls vernehmen - als hätte sie die Ringe auf der Wasseroberfläche, nein, die Wellen, so hatte Light es genannt, ebenfalls spüren können. War es, weil sie das Geschehene aus Lights Augen sah? Weil es seine Erinnerungen waren? War sie eins mit dieser Erinnerung und daher auch eins mit seinen Gefühlen? War es das?
Aber auch noch jemand anderes sah Light hinterher: Luzifer und der namenlose Dämonenherrscher taten es ebenfalls. In Luzifers ernste Augen war wieder Besorgnis getreten. Der Namenlose dagegen... er schien es zu genießen, als wäre das, was er sah - einen zutiefst besorgten Light - eine angenehme Aussicht. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt; in sich hinein lächelnd, mit einem eigenartigen Glühen in den roten Augen. Ein vorfreudiges Glühen? Ein Glühen, das sich freute, weil es etwas mit Spannung erwartete?
Luzifer schien dieses Leuchten genauso wenig zu gefallen wie Green, denn als er sich herum wandte, wurden seine goldenen Augen düster und es lag ein Vorwurf in ihnen. Wusste er etwa schon, was geschehen war oder was im Begriff war zu geschehen? Oder machte er ihm einen Vorwurf dafür, dass der Namenlose sich so diebisch freute? Das Grinsen des Namenlosen verschwand auch nicht, als er sich an seine rechte Hand wandte und den Blick Luzifers natürlich genauso sah wie Green - und natürlich auch verstand:
"Warum fürchtet ihr alle euch nur so vor Veränderung? Warum wollt ihr alle immer in demselben Glashaus sitzen, obwohl es Risse hat?" Während er diese in Greens Ohren recht philosophisch klingenden Worte an Luzifer gerichtet hatte, hatte er auch die Hand nach ihm ausgestreckt, nach seinem Gesicht wie Green stirnrunzelnd bemerkte - aber ehe er es berühren konnte, schlug Luzifer mit einem entschiedenen Hieb seine Hand weg.
"Weil Risse auch repariert werden können." Und dann wandte er sich ab, nicht darauf achtend, dass das Gesicht seines Herrschers nicht länger von einem Lächeln geziert wurde - aber das Lächeln kehrte zurück, begleitet von einem kleinen Seufzen:
"Immer wieder dieselben Risse zu flicken ist doch langweilig."
"Meine Güte, der Typ hat sie doch nicht mehr alle." Dieses Kommentar hatte Green nicht unterdrücken können - aber es wurde nicht erwidert. Light antwortete nicht.
Das Geschehnis, das die Risse des Glashauses für immer irreparabel hinterlassen würde, fand in dem Kolosseum statt, welches sie vor ein paar Stunden noch friedlich verlassen hatten. Light hatte nicht selbst, in Person, gesehen, was geschehen war, doch er hatte das Geschehnis durch Hikaris Augen gesehen, durch ihr Herz, ebenso wie Hikaru es getan hatte. Für seine Schwester war es ein Geschenk des Himmels; ein Wunder.
Hikari wollte sich nicht daran erinnern können, doch sie konnte es nicht aus ihren Erinnerungen löschen. Dieser Moment hatte sich in ihrem unschuldigen Herzen eingebrannt und würde niemals mehr verschwinden, ganz egal wie sehr sie weinte oder schrie oder flehte.
Der Moment, in dem die weiße Farbe des Lichts zum ersten Mal rot wurde.
Ja, es war ein Fehler, ein schrecklicher, tragischer Fehler. Es war ein Irrtum gewesen, dass Hikari sich ausgerechnet in den mächtigsten und unseriösesten Dämon verliebt hatte. Es war dumm gewesen, aber Liebe war kein Gefühl, welches nach Intelligenz fragte. Hikari war die Göttin des Lichts; unschuldig und bis in das Tiefste ihrer Seele unverdorben. Sie war so rein wie das Strahlen ihres Lichtes; so unbefleckt wie das Licht der Sonne. Sie kannte keine Abgründe; die Düsternis der Welt war an ihrem leuchtenden Glauben und ihrer Unschuld abgeprallt. Sie war naiv gewesen; ein naives und doch so mächtiges Wesen, das immer an das Gute in allem geglaubt hatte; das Böse nicht kannte und nicht verstand.
Und so hatte sie nicht sehen können, dass der Dämonenherrscher nur mit ihr spielte. Er hatte sie einmal aufgefangen, vor einem Sturz bewahrt und sie in den Armen gehalten. Mehr war nicht von Nöten gewesen, um das kleine Lichtherz zum Beschleunigen zu bringen. Ihre Naivität war so weiß wie ihr Licht - Worte zeigten keinen Sinn. Man hatte sie belächelt, genau wie der namenlose Dämonenherrscher ihre offensichtliche Verliebtheit belächelte und sich einen Spaß daraus machte. Niemand hatte Hikaris Gefühle ernst genommen, niemand ihr Herz verstanden.
Aber man hatte es unterschätzt - alle hatten es unterschätzt und niemand hatte die Folgen eines gebrochenen Herzens vorhergesehen.
Mit jenem gebrochenen Herzen pochend in der Brust hatte Hikari sich zurück in die nun verlassene Arena geflüchtet; hatte sich im Schatten der Tribüne auf den sandigen Boden gleiten lassen; die Arme um ihre Beine geschlungen, schluchzend und in sich hinein weinend. Sie hatte nicht zurück nach Eterniya gewollt, dort, wo sie vermutete, dass Hikaru sein würde - Hikaru würde sie und ihre Tränen verurteilen, das wusste Hikari. Aber sie wollte zu Yami, ihrer teuren Zwillingsschwester... sie war auch in Eterniya, aber sie würde bald kommen, ja - sie würde ihren Schmerz spüren und sie finden, sie musste...
Tropf, tropf - eine Träne nach der anderen fiel auf das Glöckchen - Tropf, Tropf. Es tat weh, warum tat es denn so weh?! Dieser Schmerz! Er hielt in nicht aus!
Es waren universelle Schmerzen; auch Light spürte sie, Hikaru ebenfalls, die beide ihre Hand über ihren Herzen zusammengekrampft hatten, da sie beide, nein, alle drei dasselbe spürten - die Schmerzen eines gebrochenen Herzens, ein Element, das sich zusammenzog, ein Licht, das flackerte, ein Licht, dessen Strahlen nachließ, umso mehr Tränen auf das Glöckchen herniedertropften - umso mehr verzogen sich die Gesichter Hikarus und Lights, die beide begannen nach Atem zu ringen. Light musste sich sogar abstützen, konnte kurz nicht weiter rennen, im gleichen Moment wie Hikari die Hände vor ihre Augen warf und sich ihrer Verzweiflung hingab.
Jemand sagte etwas; was es war, das verstand Hikari nicht, sie war zu aufgelöst, zu deutlich sah sie das schalkhafte, spöttische Lächeln des Dämonenherrschers vor sich.
"Nein, kleine Hikari, ich liebe dich nicht und ich verlange auch nicht nach dir. Mein Herz schlägt für jemand anderen." Hikari hatte versucht zu lächeln, auch als er gesagt hatte, dass es daher auch nur eine Person gab, die seinen Namen kannte, da er ihn nur jener Person gesagt hatte und er es nur einer Person sagen würde, die er von ganzem Herzen liebte. Die ihm wichtig genug war. Ah, das Ganze war schrecklich peinlich und Hikari wollte einfach nur weg, nichts mehr hören, dieses Lächeln nicht mehr sehen, keine Hand auf ihrem Kopf spüren die sie streichelte wie eine Katze, kein Lachen vernehmen---
"Aber auch wenn es ihn nicht gäbe, so hätte mein Herz doch niemals für jemanden wie dich schlagen können!"
Hikari riss ihren Arm los, die Person redete noch mehr auf sie ein; verstand sie denn nicht, dass Hikari nichts mehr hören wollte? Es war bereits zu viel gesagt worden! Zu viele schwere, schmerzende Worte! Aufhören - die Worte, der Schmerz - er sollte aufhören!
AUFHÖREN!
In dem Moment geschah es.
Die Person, die Hikari nur hatte helfen wollen, was sie aber in diesem Moment nicht vernommen hatte, war eine Dämonin gewesen. Hikari hatte ihre Hand das erste Mal abgeschüttelt, als die Dämonin es allerdings ein zweites Mal versuchte, hatte Hikari den Arm ausgestreckt. Warum? Um Abstand zu erlangen? Um sich zu beschützen? Um ihr deutlich zu machen, dass sie sich ihr nicht nähern sollte? Ein zu inbrünstig geschrienes "Verschwinde!"?
Warum war es geschehen?
Warum war genau in diesem Augenblick Hikaru in der Arena aufgetaucht?
Warum war es ausgerechnet sie gewesen, die gesehen hatte, wie das Licht... wie das Element des Lichtes... Ein Element, von dem sie alle, auch sie, glaubten, es sei das schwächste Element von allen... ein Element, das nur heilen konnte, aber ansonsten zu nichts gut war... die Dunkelheit erhellen, das konnte auch das Feuer... das Licht, was konnte es schon...
Es konnte töten. Es konnte Dämonen töten.
Sie hatten es nicht gewusst - jetzt aber sahen sie es, durch diesen bedauernswerten Unfall, bei dem Hikari die Kontrolle über ihre Gefühle verlor und das Licht die Dämonin durchbohrte wie ein Kanonenschuss. Aber noch effektiver, noch zerstörerischer war das Blut, das auf Hikarus Gesicht spritzte. Die warme Flüssigkeit tropfte an ihren weißen Augenlidern herunter, auf ihre Wangen. Zitternd, wie in Ekstase, hob sie ihre kleinen Finger an ihre Wange, berührte das Blut mit ihren Fingerspitzen, während die Dämonin schrie und schrie und schrie und Hikari mit tränenverschmiertem Gesicht festgefroren war in ihrem Schock. Die Dämonin focht ihren Todeskampf aus; das Licht verätzte sie von innen, entblößte die wahre Hässlichkeit dieses Körpers; ein Prozess, bei dem Hikaru zusah ohne zu blinzeln, als wären diese alles verätzenden Funken ein Kunstwerk.
Dann sah sie auf das Blut auf ihren Fingern und begann zu lächeln.
Silver hätte nicht geglaubt, dass er es so genießen würde, den Himmel zu sehen. Einen... blauen Himmel. Einen strahlenden, blauen Himmel, über den die Wolken schnell vorbeizogen, denn es wehte ein kräftiger Wind, den Silver ebenfalls mit geschlossenen Augen genoss. Die Luft war nicht einmal besonders rein - immerhin befand er sich in Tokio - und dennoch hatte er das Gefühl, als ginge sein Herz auf. Es war eigenartig; dabei fühlte er sich in der Dämonenwelt, in dem Gebiet Ri-Ils, doch gar nicht mal so unwohl. Ja, es war kein leichtes Leben und die Lebensumstände waren manchmal sehr hart: Essen und Wasser gab es genauso viel, wie man brauchte, nicht so viel, wie man wollte, aber dennoch war es sein Zuhause. Doch dieser Himmel, dieser strahlend, blaue Himmel über den Hochhäusern - er zog ihn in den Bann. Er schaffte es immer wieder - ob das daher kam, weil er schon lange nicht mehr in der Menschenwelt gewesen war? Obwohl, fiel Silver gerade ein: Er war doch erst vor kurzem in der Menschenwelt gewesen, er war doch in Paris gewesen, um Blue zurückzuholen... aber da war es Nacht gewesen - und Paris war nicht Tokio. Mit Paris verband er nichts, nur seinen Entschluss, das Jetzige zu verändern. Anders sah es da mit Tokio aus: mit Tokio verband er viel.
Und genau deswegen war er hier.
Hier auf der Straße, die er früher seinen Schulweg genannt hatte. Eigentlich war es nur irgendeine Straße in Roppongi, irgendeine Straße von vielen hier in dieser riesigen Stadt, aber für ihn war es eine wichtige Straße. Komisch, dass Straßen etwas Wichtiges werden konnten - aber sie war wichtig für ihn. Wie oft waren sein Bruder und er nicht diese Straße entlang gegangen, sie beide und Green. Sie waren sie sicherlich auch mal alleine gegangen, aber Silver erinnerte sich nicht mehr daran: Er erinnerte sich nur noch daran, wie es gewesen war, sie mit Green zusammen zu gehen - denn so hatte es ein müssen. Nicht wegen irgendeinem dummen Auftrag, sondern weil... es einfach so sein musste! Und so würde es wieder sein; Silver würde dafür kämpfen, dass sie wieder zusammen gehen konnten, dass sie wieder zusammen lächeln konnten. Egal auf welcher Straße. Denn so sollte es sein, nicht so, wie es jetzt war - mit einem Bruder, der in Paris geweint hatte. Und Green? Wie ging es Green? Sie war nicht tot; sie war auch nicht ernsthaft verletzt - das würde er schon erfahren, dann, wenn es schon zu spät war und er ihr nicht mehr helfen konnte. So sollte es nicht sein!
Und Firey? Irgendetwas hatte Firey ihm sagen wollen; irgendetwas Dringendes... hätte Firey sich sonst in die Dämonenwelt aufgemacht? Firey, die doch eigentlich so vorsichtig war? Nein, sie hatte einen Grund gehabt, irgendeinen Grund, der mit Green verknüpft war - und Silver würde herausfinden, was es war.
Deswegen war er nach Tokio gekommen - und da tauchte auch schon das Mädchen auf, auf das er gewartet hatte.
Ah, wie lange war es her, dass er diese Schuluniform gesehen hatte! Silver spürte sofort ein Grinsen auf seinem Gesicht und fühlte sich einige Jahre in die Zeit zurückgeworfen, zurück in ein anderes Leben. Ah nein, so durfte er nicht denken! Es war kein anderes Leben - es war seins! Sollte Blue doch denken, was er wollte, Silver würde ihn schon eines Besseren belehren! Dieses Leben, das sie beide so genossen hatten und das ein so tiefes Loch in ihnen hinterlassen hatte, es war nicht abgeschlossen und in irgendeinen Abgrund hineingeworfen worden - es war noch da. Es war noch erreichbar. Es war noch ein Teil von ihnen - und selbst wenn es in irgendeinen Abgrund herumlag, dann würde Silver auch da herunterklettern, jawohl!
"Hey, Sho!" Ah, wie schön war es nicht, seine Stimme zu hören, dachte Rui, die bis jetzt einfach nur still neben Silver gestanden hatte, beide halb verborgen von den Schatten eines hohen Baumes. Seine Stimme klang so heiter und ausgelassen... und sein Grinsen war so natürlich - da ging ihr gleich das Herz auf. Sie wusste, dass das, was sie hier taten, verboten war, aber Rui fand, dass sie dennoch das richtige taten. Ja, es war gut, dass sie hierhergekommen waren - denn das war das Gesicht, das sie vermisst hatte. Sie brauchte sich wirklich keine Sorgen machen; jetzt sah er wieder genauso aus wie vor einem, nein zwei Jahren.
Auch Sho erkannte Silver, der nun aus dem Schatten des Baumes heraustrat, sofort. Sie blinzelte, ließ ihre geschulterte Tasche auf den Asphalt fallen, blinzelte noch einmal und zeigte sich gänzlich fassungslos, während Silver sie einfach nur ansah mit einem freudigen Grinsen, denn er freute sich auch, Sho wiederzusehen. Sie hatte sich verändert! Sie hatte ein wenig an Gewicht verloren, aber am auffälligsten waren ihre Haare: Leider trug sie sie jetzt nicht mehr als Zopf, sondern offen und - Silver weinte ein wenig - kurz. Es stand ihr, es sah frisch und keck aus, aber Silver zog immer lange Haare vor, eindeutig.
"Siberu!" Oh wie lange war es her, dass - aber da hatte der perplexe Rotschopf den anderen Rotschopf bereits in die Arme geschlossen, denn Sho hatte ihre Gefühle nicht unterdrücken können und umarmte Silver nun stürmisch, unter den skeptischen Augen Ruis. Aber sie hatte Silver lange nicht mehr gesehen, sie ließ es also... durchgehen. Wenn auch unzufrieden.
"Sho! Ich freu mich auch, dich zu sehen-" Aber mit so einer stürmischen Wiedersehensfreude hätte er dennoch nicht gerechnet. Gut, sie hatten sich immer gut verstanden, aber dass sie ihn so sehr vermisst hatte...
"Oh Siberu! Lass mich dich anschauen!" Sie löste sich wieder von ihm und inspizierte den immer noch ein wenig überrumpelten Dämon gründlich. Dieser bereitete sich schon auf die Cosplay-Frage vor, denn er hatte keine Möglichkeit gehabt, sich umzuziehen - weder Zeit noch... nun ja, er hatte keine Kleidung mehr, die nun besonders nach Tokio gepasst hätte. Es hatte für ihn keine andere Wahl gegeben als seine schwarze, ärmellose Uniform anzulassen, ganz egal, wie sehr er damit auffiel.
"Gut siehst du aus!" Ja, das hörte man doch gerne, da grinste man doch automatisch.
"Deine Haare sind ein wenig länger geworden, oder? Aber du pflegst sie nicht mehr so gut wie früher - Siberu, ich bin enttäuscht!" Das hörte man natürlich weniger gerne, aber es war ja die Wahrheit - eine Wahrheit, die Silver auch immer wieder beweinte, wenn er sich im Spiegel sah. Er konnte aber nichts dagegen tun: Er bekam kein Taschengeld mehr und wenn er etwas haben wollte, dann musste er Ri-Il fragen - nicht, dass Silver sich davon aufhalten ließ, aber sein Lehrmeister schien Silvers teure - teuer, pfft! - Haarpflegeprodukte nicht als eine lohnenswerte Ausgabe zu sehen. Wenn er so sehr um sein Aussehen besorgt war, dann war er womöglich besser im Freudenhausensemble aufbewahrt als in der Horde, huh? Ri-Il hatte dafür nicht einmal von seinen Dokumenten aufgesehen, dachte Silver mit einem Schmollmund - er hatte darüber nur gelacht und das, wo es doch so ein wichtiges Thema war!
"Deine Klamotten sehen ziemlich cool aus - das ist deine Uniform nehme ich an? Trägt man so was als Dämon?" Silver wollte gerade lachen, als ihm Shos Worte bewusst wurden.
Sie---- wusste es?!
Es war für Shitaya nicht sonderlich schwer, mit Shaginai in Kontakt zu kommen. Säil hatte lange genug im Sanctuarian gearbeitet, um zu wissen, dass Shaginai seine älteste Tochter überaus regelmäßig besuchte - sie hatte zwar in der Dämonie-Abteilung gearbeitet, die einige Etagen von der Nexres-Abteilung entfernt lag, aber dennoch wusste sie von Shaginais Routine. So etwas sprach sich rum; dafür musste man nicht einmal ein Experte für Klatsch und Tratsch sein. Es war doch so eine tragische und bewegende Geschichte - und solche Geschichten verbreiteten sich am besten, über so etwas wollte man doch reden! Der ernste Shaginai, der resolute, erbarmungslose Richter - besuchte jeden Tag seine geliebte Tochter und hielt ihr die Hand!
Natürlich redete man nicht zu laut darüber; das würde Shaginai nicht dulden, das war allen klar - und Privatsphäre wurde doch besonders im Sanctuarian sehr hochgehalten.
Dort war momentan kein großer Andrang. Natürlich, die üblichen Verletzten, aber nichts im Vergleich zur Kriegseröffnung. Es waren eher die Nachwehen dessen - Wächter, die sich wegen den Verletzungen, die sie sich bei den Kämpfen zugezogen hatten, wieder einfanden für überprüfende Untersuchungen.
Genau wie von Säil vorhergesehen und berechnet, traf Shitaya Shaginai in der Nexres-Abteilung an - er hatte gerade das Zimmer seiner Tochter verlassen und war mit wehendem Umhang auf dem Weg den Gang hinunter. Shitaya beschleunigte seine Schritte; nicht, dass er ihn aus den Augen verlor. Was hatte er für große, zielsichere Schritte! Er schien den Gang in zwei Sekunden durchqueren zu wollen! Es war wirklich wahr, was man sagte: Hikari hatten es immer eilig, obwohl sie doch die Ewigkeit besaßen.
"Hikari-Shaginai-sama!" Scheinbar hatte Shaginai Shitayas Aura vorher ignoriert - denn bemerkt hatte er sie auf jeden Fall - denn er sah etwas irritiert aus, als er über die Schulter sah. Aber er blieb stehen. Das war doch ein Erfolg.
"Wenn Ihr mir eine Minute Eurer Ewigkeit schenken könntet, Hikari-Shaginai-sama." Sofort verbeugte Shitaya sich, als er bei Shaginai angekommen war, weshalb er auch die hochgezogenen Augenbrauen Shaginais nicht sah:
"Shitaya-san, wenn ich mich nicht irre? Was ist es für ein Anliegen, was Sie nicht mit ihrem Heerführer klären können?"
"Es ist ein Anliegen, welches ich nur mit Euch besprechen kann", erwiderte Shitaya, sich wieder aufrichtend und mit geradem Rücken, was bei Shaginai zwar einen guten Eindruck hinterließ, ihn aber dennoch nicht erweichte:
"Dann lassen Sie Ihr Anliegen hören! Auf meinem Tagesplan stehen noch sehr viele andere Anliegen und ich nehme an auf Ihrem ebenfalls!" Das ließ der Klimawächter sich nicht zwei Mal sagen und er wusste genug über Shaginai, um zu wissen, dass dieser es nicht mochte, wenn man um den heißen Brei herumsprach, weshalb er es direkt ansprach.
"Es handelt sich um ihre jüngere Enkeltochter." Shaginai stutzte kurz, dann wurde er noch ernster und seine Augen forderten deutlich nach einer Ausführung, die Shitaya ihm auch sofort gab:
"Meine Gattin und ich sind uns bewusst, dass es sich bei Pink-san um einen Dämonie-Fall handelt." Warum nicht mit offenen Karten spielen...
"Wie haben Sie das bemerkt?" Scheinbar war Shaginai derselben Meinung.
"Meine Gattin arbeitete hier in der Dämonie-Abteilung - aber das ist nicht der einzige Grund - und das ist auch die Ursache, weshalb ich mit Euch sprechen wollte, Hikari-Shaginai-sama. Pink-san kann das heilige Wasser nicht in sich aufnehmen. Sie, nun, sie übergibt sich, versucht es aber dennoch immer wieder. Säil, meine Gattin, beschrieb es wie einen Drang, den Pink-san nicht in der Lage ist zu kontrollieren." Für einen kurzen Moment war ganz deutlich, dass Shaginai diese Nachricht nicht erwartet hatte - und dass sie ihn auch bestürzte. Aber seine Augen gewannen schnell an Härte und Undurchdringbarkeit, doch ehe er fortfahren konnte, fügte Shitaya hinzu:
"Daher haben wir uns dazu entschlossen, es Ihnen mitzuteilen, denn unter den gegebenen Umständen besteht immerhin die Gefahr, dass die Weihe scheitern könnte."
"Dafür gibt es keine Garantie." Der Klimawächter runzelte die Stirn über diese unerwartete Reaktion:
"Nein, das ist wahr, aber kann ein reibungsloser Ablauf der Weihe garantiert werden, wenn einer der 12 Wächter von einem Dämon besessen ist?"
"Bei der großen Menge an Magie, die zum Zeitpunkt der Weihe freigesetzt wird, wird jede Unreinheit und somit auch jeder Dämon ausgelöscht. Ich denke, dessen sind Sie sich im Klaren."
"Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr die Weihe als eine... Läuterung benutzen wollt? Um den Dämon aus Pink-san herauszutreiben?" Shaginai, der sich gerade halb von ihm abgewandt hatte, drehte sich nun wieder zu ihm herum - und da spürte Shitaya schon zwei Finger auf seiner Stirn.
"Genau das will ich damit sagen."
Rui und Silver starrten Sho einen Augenblick lang verdattert an - was hatte sie da gerade gesagt? War das ein Zufall? Hatte sie es nur so gesagt? Nein, das wusste Silver genau, denn er erinnerte sich an dieses Glänzen in ihren Augen - das neugierige, wissbegierige Leuchten; das gerissene Leuchten einer Journalistin!
"Ich wusste es - du bist ein Dämon, nicht wahr, Siberu?" Rui und Silver warfen sich verdatterte Blicke zu, die Sho zu einem Grinsen brachte.
"Du... du weißt davon, Sho?" Ihr Grinsen wurde noch breiter:
"Aber ja, ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, dass ihr so ein großes Geheimnis ewig vor mir verbergen könntet?" Ganz ohne Zweifel war Sho mächtig stolz auf sich - sie erwähnte natürlich nicht, dass sie von Firey von ihrem Schicksal als Wächter des Feuers erfahren hatte. Aber zu dem Schluss, dass ihr Gegenüber ein Dämon war, war sie tatsächlich selbst gekommen. So schwer war das ja nun auch nicht gewesen! Man musste ja nur die vielen Male bedenken, bei denen die beiden Brüder gefehlt hatten, ein bisschen beherzte Interpretation in einige vergangene Blicke investieren, die Kleidung Ruis; die roten Augen... nein, so schwer war das wirklich nicht zu erraten gewesen.
"Und ich kann mir sogar denken, warum du jetzt hier bist, Siberu!" Jetzt wurde es Rui aber langsam zu bunt und mit entschlossener Stimme mischte sie sich ein:
""Siberu" ist ein Deckname, ein Pseudonym!"
"Aha! Das habe ich mir schon irgendwie gedacht!", antwortete Sho und schnippte zufrieden mit den Fingern, was die Skepsis in Ruis Augen nur noch vergrößerte, während Silvers Augen größer und verwunderter wurden: So hatte er sich deren erstes Treffen nach so langer Zeit nicht vorgestellt.
"Dann ist "Silver" also dein richtiger Name! Ja, was guckt ihr mich denn so an?" Sho kicherte zufrieden über die Blicke der beiden Dämonen:
"Als ob das so schwer zu erraten wäre, hihi! Wie oft habe ich dich nicht "Silver-sama" kreischen gehört? Als ob ich das vergessen würde! So etwas merke ich mir doch natürlich! Vor mir könnt ihr sowas nicht verbergen; außerdem ist "Siberu" nun alles andere als ein japanischer Name. Das ist mir von Anfang an schon Spanisch vorgekommen; die Schreibweise ist einfach sehr unnatür-"
"Du sagtest, du weißt, warum wir hier sind?", fiel Silver nun Sho ins Wort, die aber darüber keineswegs pikiert war.
"Aber ja. Du willst wissen, wo Firey ist, habe ich nicht recht?" Die beiden sahen sich kurz schweigend an, dann seufzte Siberu aufgebend - und dann grinste er.
"Man kann einer Journalistin wie dir einfach nichts vormachen: Stimmt, ich habe Sehnsucht nach einem gewissen Flachbrett!"
Das war Willkür gewesen. Shaginai war sich dessen bewusst. Er hatte eine Regel gebrochen - er! Und dann auch noch eine, die wahrlich weiter oben im Strafregister zu finden war. Die verbotenen Techniken waren nicht umsonst verboten - sie durften nur angewandt werden, wenn der Rat es abgesegnet hatte und nur dann. Wie viele Wächter hatte er nicht schon wegen der Benutzung der verbotenen Techniken bestraft? Und jetzt hatte er sie selbst ohne Genehmigung angewandt. Aber ihm war keine Wahl geblieben: Wenn der Rat von Pinks Zustand erfuhr, dann würde sie nicht nur ausgeschlossen werden von der Weihe, sondern auch hingerichtet werden, wie es in jedem schweren Dämonie-Fall geschehen würde. Das Prozedere sah immer gleich aus, Shaginai kannte es zur Genüge. Zuerst wurde in mehreren Etappen versucht, den Dämon auszutreiben. Zeigte dies keine Wirkung, dann wurde der besessene Wächter wie ein Dämon behandelt und dementsprechend natürlich getötet. Es gab da keine Alternative und auch kein langes Zögern. Es durfte nicht zugelassen werden, dass Dämonen sich im Wächtertum aufhielten: Es war eine zu große Lücke, eine zu große Gefahr. Diese Gefahr sah Shaginai zwar in Pinks Fall gebannt, da diese von sämtlichen Informationsquellen abgeschirmt wurde, aber würde das der Rat ebenfalls so sehen? Nein, Shaginai hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass nicht lange gezögert werden würde; er selbst würde nicht zögern... und es würde darüber diskutiert werden ob die Weihe abgebrochen werden sollte.
Mit einem düsteren Blick sah Shaginai hinauf zum Turm der Reinheit, der sich vor ihm in der Sonne abhob. Hier stand er, in seinen Gedanken versunken, vor dem Turm, in dem bereits die Weihe in vollem Gang war - das Wasser, das immer noch beständig mit einem sanften Gurgeln aus dem Turm sprudelte, war der deutlichste Beweis dafür - und während Shaginai hier stand und dem Geräusch des Wassers lauschte, dessen Geschmack er plötzlich deutlich auf der Zunge hatte, erzählte Shitaya Säil wohl gerade, dass Shaginai ihm versichert hatte, dass es absolut keine Bedenken gab und dass die Weihe fortgesetzt wurde wie geplant.
Sie wurde auch fortgesetzt wie geplant. Aber die viel wichtigere Frage war, ob sie auch zu Ende geführt werden würde. Wenn sie wie alle anderen vor ihr abgeschlossen werden würde, dann würde es Pink ohne Zweifel helfen - eine mächtigere und effektivere Art, einen Dämon auszutreiben, gab es nicht. Ganz gleich ob sie hier von einem Dämon wie Ri-Il sprachen oder nicht.
Shaginais weiße Augen blickten auf die drei geflügelten Hikari oberhalb der Pforte, die sich in acht Tagen öffnen würde. Hikari-kami-sama von goldener und strahlender Glorie erhellt, die auch jetzt deutlich zu strahlen schien, umringt von Light und Hikaru mit denselben Flügeln wie sie. Sie schienen zu singen.
Ob es ein Abgesang werden würde, würde sich in acht Tagen zeigen.