Kapitel 100 - Westminster Abbey
Das war nicht wahr.
Das konnte nicht wahr sein.
Firey starrte einen rothaarigen, jungen Mann an, mit ebenfalls roten Augen, der sie ein wenig verschmitzt angrinste und den ihr Herz, aber nicht ihr Gehirn, als "Siberu Nakayama" erkannte. Sie starrte ihn fassungslos an und frage sich sofort, ob sie sich nicht lieber piksen sollte, um klar festzustellen, ob sie träumte oder nicht. Sie musste doch träumen, oder? Sie träumte doch... oder?! Es war nicht wirklich Siberu, der vor ihr stand?!
"Hat es dir die Sprache verschlagen, Flachbrett?" Firey blinzelte langsam und diese flüchtige Bewegung schien ihr Gehirn in neue Bahnen zu lenken: warum war sie eigentlich so schockiert - sie hatte Siberu doch schon einmal gesehen, aber... Firey blinzelte noch einmal... es war etwas anderes, ihn hier zu sehen. Hier. In London. Nicht auf einem Schlachtfeld. In London. Bei ihr.
"Nein... hat es nicht. Ich bin verwundert." Nichts als die Wahrheit, dennoch schüttelte Firey so hastig und schockiert den Kopf, als hätte sie etwas komplett Unsinniges oder Dummes gesagt und plötzlich schien sie von Energie und Tatendrang übermannt zu sein, was das Grinsen zurück auf Siberus Gesicht brachte, der Firey kurz stutzend angesehen hatte.
"Was machst du hier?! Hier in London?!"
"Hehe, so gefällst du mir schon besser", antwortete Siberu und schaffte es mit einem leicht schiefgelegten Grinsen, Firey zum Erröten und zum Stillstehenbleiben zu bringen. Sie hatte zwar ihre Energie und die Kraft ihrer Stimme wiedergefunden, aber dennoch, sie... sie war mit der Situation überfordert - und die Röte in ihrem Gesicht half ihr nicht gerade weiter. Siberu. Hier. In Londo-
"Komm!" Siberu, der sich einen Witz daraus zu machen schien, dass Firey zu einer verwirrten Salzsäule geworden war, packte mit einem erfreuten Ausruf den Arm der völlig überrumpelten Firey und bugsierte sie zur Schlange, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, um Einlass zur Kirche zu erhalten. Er stellte sich ebenfalls an, ließ ihren Arm los und sah ganz entspannt nach vorne, beobachtete, wie die Schlange sich langsam vorwärtsbewegte, ganz wie die Menschen vor ihnen und das Paar, das sich hinter ihnen anstellte. Firey kam aus dem Blinzeln gar nicht mehr raus, auch wenn die Stimmen, die sie anherrschten, sich doch endlich zusammenzunehmen, in ihrem Kopf immer lauter wurden.
"Nochmal, Siberu, was machen wir hier, nein, was machst du hier?!" Das Grinsen des Angesprochenen verschwand hinter einem Lächeln und für einen Augenblick veränderte sich der Ausdruck seiner Augen. Firey sah ihn ganz unverhohlen an, beobachtete ihn und bemerkte die Veränderung in seinen Augen, die sie jedoch nicht beschreiben konnte - für einen Moment schien er an etwas Bedrückendes zu denken, obwohl seine Lippen immer noch ein Lächeln zeigten.
""Siberu", huh..." Firey spürte etwas Kaltes in sich, obwohl gerade ein warmer Wind aufkam und deren rote Haare packte.
"... so wurde ich wirklich lange nicht mehr genannt." War das nun... positiv? Negativ? Hätte sie es nicht tun sollen? Er wirkte wie "Siberu". Deswegen hatte sie es ganz automatisch gesagt, es war ihr einfach herausgerutscht... Sollte sie sich entschuldigen und ihn fragen, wie er gerne genannt wurde? Moment. Fragte er sie denn, ob sie von ihm Flachbrett genannt werden wollte?! Wohl kaum! Firey, reiß dich zusammen!
"Ich erwarte übrigens, dass du bezahlst." Er grinste wieder und sah sie nun auch wieder an:
"Das Flachbrett ist doch eine reiche Dame von Welt, hehe!"
"Nenn mich nicht so!" Er hatte es herausgefordert. Er hatte es eindeutig herausgefordert - und als sie ihren Fuß auf seinem niedersausen ließ, um ihm für die Beleidigung die Leviten zu lesen, begannen sie - kurz nach einem empörten "Autsch!" von Silver - zu lachen.
"Du hast dich gar nicht verändert, Flachbrett!"
"Gleichfalls, Bakayama, gleichfalls!"
"Aber ich kann dir sagen, dass das nicht wehgetan hat. Mein "Autsch" war das "Autsch" eines Cavaliers: Ich trage immerhin Stahlkappen, guck."
"Machen die dich nicht langsamer?"
"Ne, nicht sonderlich. Wenn ich die einem Wächter mit hoher Geschwindigkeit ins Gesicht ramme, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich seinen Kopf... ehm, das ist sicherlich nicht das richtige Thema."
"Du bist nicht der Einzige, der unterrichtet wurde." Firey sah ihn wieder an:
"So leicht schockierst du mich nicht mehr. Einige Dinge haben sich eben doch verändert."
"In meinen Augen wirkst du immer noch genauso wie damals."
"Damals... es ist gar nicht sonderlich lange her."
"Du bist aber größer geworden, oder?"
"... ein wenig. Du aber auch, oder?"
"Haha, ganze 10 Zentimeter! Obenrum hat es aber keine Fortschritte gemacht bei dir---"
"Vorsicht, Bakayama, ich kann mein Feuer mittlerweile ganz gut kontrollieren..."
"Ich muss zugeben, dass ich das zu gerne mal sehen würde..."
"Deswegen bist du aber offensichtlich nicht hier, sondern um eine Kirche zu besuchen - für die man übrigens nichts bezahlen muss. Das ist eine Kirche. Für Kirchen bezahlt man nicht. Und eingeladen hätte ich dich auch nicht, was denkst du von mi-"
"In sieben Teufels Namen, Firey..." Firey spürte, wie das Blut ihr in den Kopf rauschte - warum konnte sie es so absolut gar nicht vertragen, wenn er sie bei ihrem richtigen Namen nannte?! Okay, es war nicht einmal ihr richtiger Name, ihr Spitzname war es, ihr Wächter-Name war es, aber dennoch... "Flachbrett" war eine verdammte Beleidigung; warum also...
"... ich bin wegen dir hier. Nicht wegen einer Kirche. Bin ich denn mein Bruder?" Wie froh war Firey nicht darüber, dass sie nun an der Reihe waren. Zum Glück. Die Röte und das Herzklopfen waren ja nicht auszuhalten und einen Moment lang huschte ihr sogar der Gedanke durch den Kopf, ob die Scanngeräte der Sicherheitsbeamten ihr beschleunigtes Herz wohlmöglich noch hören könnten---
Aber nichts piepte alarmierend und Firey kam unbehelligt ins Innere der Kirche, wo sich einige Touristengruppen bereits um einen Guide gesammelt hatten, der ihnen die Geschichte der Kirche erklärte. Trotz der vielen Menschen war es ruhig, bedrückend ruhig - aber die fluchende Stimme Silvers drang dennoch zu ihr, denn er kam nicht unbehelligt durch den Sicherheitscheck. Der Metalldetektor reagierte auf jene Stiefel, von denen er gerade noch geprahlt hatte und Firey konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken als sie sah, wie er sich die Schuhe ausziehen musste, um zu beweisen, dass sich in seinen Stiefel nichts Gefährliches verbarg. Und sie kam aus dem Schmunzeln gar nicht mehr raus, als sie sein Englisch hörte - es war ein ganz typisches, japanisches Englisch, dem man raushörte, dass es lange nicht mehr benutzt worden war. Firey musste ein Kichern unterdrücken, unterdrückte es aber nicht gut genug und empört und beschämt sah der dämonische Rotschopf auf und errötete leicht, genau wie sie es eben getan hatte.
"Hör auf zu lachen, Flachbrett!", herrschte er sie an, als er endlich neben ihr stand:
"In Sprachen habe ich lange keinen Unterricht mehr bekommen!" Firey, die immer noch über seine empörten, roten Wangen kicherte - es war ein herrlicher Anblick - fühlte sich keineswegs bedroht; Silver allerdings, als das Sicherheitspersonal ihn nun anherrschte:
"Put the volume down, boy!" Nicht nur das Sicherheitspersonal, sondern auch die Touristen sahen ihn, den Ruhestörer dieser heiligen Stille, anklagend an und anstatt ihnen zu antworten, schlug Silver mit entschlossenen Schritten, aber immer noch erröteten Wangen, zusammen mit einer grinsenden Firey den Weg durch das östliche Schiff der Kirche ein.
"Du wolltest ja unbedingt hier rein."
"Pah!" Kaum, dass Silvers Antwort verklungen war, senkte sich die bedrückende Stille über sie wie ein unsichtbarer, alles einnehmender Nebel. Ihre langsamen Schritte waren ebenfalls kaum hörbar; die Stimmen der anderen Menschen waren verschwunden, gingen unter in der Stille, verschluckt von dem Klang des Nichts und den dunklen Schatten der wuchtigen Kirche. Draußen schien die Sonne und es war warm: hier drinnen sah man davon nur die Reflexionen der Buntfenster, die ihre farbig strahlenden Muster auf den Boden malten. Es roch nach Staub und vergangenen Zeiten, vergangener, kalter Luft.
Keine von ihnen sprach ein Wort und dennoch musste Firey daran denken, dass ihr erstes Gespräch nach so langer Zeit ausgerechnet in so einem Gebäude stattfand. In einem Gebäude, das die Jahrhunderte und mehrere gewaltige Kriege überstanden hatte. Die Engel ruhten hier immer noch, genau wie die Seelen der Könige und Königinnen und der verstorbenen großen Denker dieses Landes, die in den Krypten ihren Tod fristeten. Mehr als tausend Jahre stand dieses Gemäuer schon. Sie trafen sich in einem Gebäude, in dem Menschen heirateten und zur Ruhe gebettet wurden, während sie selbst in einen Krieg verwickelt waren, zwei verschiedenen Fronten angehörten...
"Ich war schon einmal hier." Silver war stehengeblieben: vor dem Grab von Isaac Newton, wie Firey verwundert feststellte.
"Blue wollte hier unbedingt hin. Das ist..." Firey sah sein Gesicht nicht, aber sie hörte seine bedrückte Stimme.
"... aber schon lange her." Seine Stimme schlug um, als er sich grinsend zu ihr wandte und auf die Holzstühle des Mittelschiffes zeigte, die von kleinen, roten Lampen sachte erhellt wurden:
"Ich bin da eingeschlafen, so lange hat es gedauert, bis er mit jedem Grab fertig war und ich kann dir sagen, das ist nicht bequem!" Firey schmunzelte wieder, nachdem sie aufgebend seufzend festgestellt hatte, dass es doch nur Silver einfallen konnte, in einer so schönen Kirche einzuschlafen. Aber wegen noch etwas Anderem musste sie schmunzeln: Sie... redeten ganz schön ruhig. Sie stritten sich gar nicht. Lag das an der allumfassenden Stille dieses Ortes oder... an etwas Anderem... eigentlich sollte sie sich lieber darüber wundern, dass sie überhaupt miteinander sprachen, egal ob sie sich stritten oder nicht. Sie spürte Befremdlichkeit in diesem Beisammensein, aber nicht so viel wie sie es sollte.
"Ist das der Grund, weshalb du hier rein wolltest?" Silver schüttelte den Kopf:
"Wir sind hier ungestört." Bis auf die Touristengruppen versteht sich, dachte Firey, als sie gerade von einer Horde Amerikaner beiseitegeschoben wurde, die ein Gruppenfoto vor dem Grab von Isaac Newton machen wollte.
"Du hast den ganzen Tag frei, oder?", fragte Silver, sobald er und Firey wieder in eine andere Richtung gingen, so weit weg wie möglich von den aufgeregten Touristen. Firey nickte und musste wieder daran denken, dass er gesagt hatte, dass er wegen ihr hier war. Sie nahm dies nicht als Kompliment, sondern als etwas... Beunruhigendes. Was konnte er von ihr wollen? Und was... dachte Firey, während sie durch die dunklen Seitenalleen der wuchtigen Kirche gingen... würde passieren, wenn jemand erfuhr, dass ein Dämon und ein Wächter gerade einen Rundgang in einer Kirche machten? Was würde Green sagen? Ja... was würde Green sagen...?
"Warum bist du hier... Silver? Warum wolltest du mich treffen?"
""Siberu"..." Firey drehte sich nun doch zu ihm herum:
"... ist in Ordnung." Sofort wandte sich Firey wieder ab; sie wollte ihm nicht ihr erleichtertes Schmunzeln zeigen.
"So oft hast du mich gar nicht so genannt. Wenn ich so zurückdenke, finde ich, dass ich "Bakayama" öfter aus deinem Mund gehört habe." Die Bedrückung, die die Stimmung kurzweilig herniedergedrückt hatte, verflog und Firey fand zu einem verschmitzten Grinsen zurück:
"Ich wusste aber schon, wie du heißt."
"Oh ,ich auch..." Silver lehnte sich grinsend zu ihr herüber:
"Flachbrett." Firey kam nicht drum herum, sein Grinsen zu erwidern, als wäre es ein Kompliment - aber es war einfach irgendwie so befreiend, ja, schön...
"Ah, es ist so schön, dass du dich gar nicht verändert hast!" Huh! Das hatte sie gerade über Silver denken wollen, welcher nun wieder Abstand zu ihr einnahm:
"Blue ist ganz anders als früher..." Silver grinste noch, aber Firey sah ihm an, dass er mit diesem Grinsen Schmerzen zur Seite drängen wollte:
"... und ich denke, Green ebenfalls. Aber wir nicht. Wir sind dieselben wie immer!" Die Feuerwächterin lächelte zwar, denn sie fand seine Freude darüber wirklich unglaublich herzerwärmend, aber so ohne Weiteres konnte sie sich diesen Worten eigentlich nicht anschließen, auch wenn sie nickte. Hätte sich nichts verändert, dann würden sie nicht so ruhig in einer Kirche miteinander reden, weil sie... streng genommen nicht sonderlich viel miteinander geredet hatten - und wenn, dann hatten sie sich gestritten. Nun sprachen sie aber normal miteinander, wie alte Bekannte, die sich eigentlich ganz gut verstanden hatten... vielleicht hatten sie das auch. Ja, vielleicht hatten sie das eigentlich. Jedenfalls verspürte Firey nicht den Drang danach, sich mit ihm anzulegen oder ihm aus dem Weg zu gehen - auch wenn ihr dies hier immer noch sehr surreal vorkam. Sie wollte es auszunutzen, auskosten, so lange es möglich war - sich daran erfreuen, auch wenn sie spürte, dass es ein Thema sein würde, welches bedrückend war. Aber als er das Thema endlich ansprach, war sie dennoch überrascht:
"Ich bin hier wegen Blue." Wegen seinem Bruder? Aber was hatte sie denn mit seinem Bruder zu schaffen? Außerdem musste Firey zugeben, dass sie von Blue gar nicht so viel hören wollte... aber sie ließ ihn fortfahren, ohne ihn zu unterbrechen, während sie weiterhin unter den dunklen Säulen hindurchgingen.
"Er ist nicht mehr Teil unseres Gebiets. Also... er gehört nicht mehr zu Ri-Il." War das... ein normales Gesprächsthema... oder ein Austausch von Kriegsinformationen?
"Er ist zu Nocturn übergelaufen, dieser Idiot. Zu diesem Wahnsinnigen!" Okay, das war definitiv eine Kriegsinformation - und eine sehr Wichtige obendrein!
"Ich will ihn am liebsten so schnell wie möglich aus Paris wegschleifen; k.o. schlagen, Beine brechen und ihn einfach packen und mitnehmen, aber ich denke nicht, dass Ri-Il ihn wieder zurücknehmen würde... eigentlich wundert es mich sogar, dass er ihn am Leben gelassen hat... Aber gut, das ist nicht das, weshalb ich mit dir reden möchte." Doch, das bemerkte Silver jetzt - das war es. Er hatte mit jemandem darüber reden wollen; jemandem, der nicht Rui war. Mit Rui hatte er reden können, aber er hatte nicht das Gefühl, dass es sie wirklich interessierte oder sie ihm wirklich zuhörte - sie hatte einfach kein Interesse an Blue. Eigentlich hatte sie auch kein Interesse an Silvers Problemen; er hatte gefälligst einfach der zu sein, den sie kannte und liebte. Der coole Silver. Mekare... Mekare wollte er nicht belasten. Sie war wegen Blue "Verrat" - oder wie auch immer man das nennen wollte - schon traurig genug. Firey sollte er wohl auch nicht belasten, aber er hatte das Gefühl, dass es bei ihr etwas Anderes war, weil auch sie eine Last zu tragen hatte. Sie vier... sein Bruder, Green, Firey und er... waren... von dem Rest der Welt abgetrennt. Irgendwie. Er konnte es auch nicht richtig beschreiben oder verstehen; es war nur ein Gefühl.
"Über was möchtest du denn mit mir reden?" Auch wenn Silver "zum Reden" hergekommen war, so wusste er nicht, was er auf diese Frage antworten sollte - ja, über was wollte er mit ihr reden...? Nein, er wusste, worüber er reden wollte; er wusste nur nicht, wie er es verpacken sollte. Sie - er und Rui - hatten sich so viele Gedanken um das Timing gemacht, aber Gedanken darüber, wie er Firey etwas erklären sollte, welche Worte er benutzen sollte... die hatte er sich nicht gemacht. Eigentlich war das auch nie etwas, was er im Voraus plante, aber in diesem Fall wäre es vielleicht angebracht gewesen.
"Wie geht es Green-chan?" Firey sah ihn verdutzt an, genau wie Silver stehen bleibend. Wie es... Green ging? Und er nannte sie noch bei ihrem alten Spitznamen? Irgendwie war das... niedlich.
"Ich dachte, es ginge um deinen Bruder?"
"Geht es auch. Es... hängt zusammen. Es geht ihr nicht gut, oder? Es geht ihr sicherlich ziemlich schlecht, oder? Ich meine, sie muss irgendeinen Idioten heiraten, den sie nicht liebt, da kann es einem ja nur schlecht gehen... ich habe ihr zwar eigentlich vor... nun, als wir noch in Tokyo waren... gesagt, dass sie sich einen netten Wächter suchen soll - ich hoffe ja wohl, dass er nett ist?! - aber ich habe meine Meinung geändert. Ich denke, Green-chan und mein Bruder sollten wieder zusammenfinden. Vielleicht können sie so wieder glücklich sein." Immer noch sah Firey ihn verdutzt an, aber langsam zeigte sich auf ihrem Gesicht, dass sie die Ironie des Ganzen erkannte. Silver war hier... aus genau demselben Grund wie der, der Firey in die Welt der Dämonen getrieben hatte: die Überzeugung, dass Green nur von Blue von ihrem Unglück befreit werden konnte. Das war nur zwei Wochen her. Vor zwei Wochen hätte Firey sich Silver noch freudestrahlend angeschlossen, in der Mission alles ungeschehen zu machen, alles, was mit dem Auftrag zu tun hatte, einfach auszulöschen und in die Vergessenheit zu verbannen, aber... jetzt konnte sie ihn nur voller Mitleid ansehen; ihn, den sie ansah, als wäre er ihr Spiegelbild.
"Bist du nicht derselben Meinung wie ich?", fragte Silver, der natürlich Fireys bedrückten Gesichtsausdruck nicht gerade als Motivation empfand.
"Liebt sie den Typen etwa?" Firey sah weg:
"Nein, aber das ist eigentlich nebensächlich. Green ist nicht glücklich, das stimmt, aber... es geht ihr auch nicht so schlecht. Sie arbeitet sehr hart an sich und ihren Fähigkeiten zur Regime-Führerin und... ich glaube, sie schafft das auch ohne... deinen Bruder. Sie wird sich nicht unterkriegen lassen und weitermachen, immer weiter und irgendwann eine ganz tolle Hikari werden." Das gefiel Silver nicht zu hören - und... es tat Firey leid es ihm zu sagen, dafür zu sorgen, dass er weder grinste noch lächelte, aber sie musste es aussprechen. Natürlich war Silver besorgt um Blue, aber es ging hier nicht nur um ihn. Für Firey ging es um Green. Vordergründig um Green.
"Green-chan wollte nie eine Hikari werden", erwiderte Silver etwas irritiert, aber auch getroffen.
"Ich rede auch nicht davon, dass sie wie die anderen Hikari werden wird. Sondern eine Hikari nach ihrer eigenen Definition." Das traf Silver noch mehr: er sah richtig erschrocken und verletzt aus. Das hatte er nicht erwartet zu hören. Natürlich nicht... er hatte hören wollen, dass es Green ganz schrecklich ging, mindestens genauso schlecht wie Blue. Was ihr auch sagte, dass es Blue wirklich sehr schlecht gehen musste... aber das erregte Fireys Mitleid nicht. Er hatte Grey getötet. Er hatte dafür gesorgt, dass Green den Trauerzug ihres Bruders hatte führen müssen!
"Das... klingt nach Green-chan." Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
"Sie ist nicht in allen Punkten anders als früher."
"Sie... macht sich also gut?" Immer noch versuchte er zu lächeln, womit er Fireys Worte immer mehr erschwerte, weshalb sie nur nickte - er... würde doch wohl hoffentlich nicht gleich fragen, ob Green sie vermisste? Oh, bitte nicht, Firey wusste darauf doch gar nichts zu antworten...
"Das freut mich. Nein, wirklich, das freut mich. Das freut Blue sicherlich auch. Sicher... lich..." Oh nein, würde er anfangen zu weinen? Firey war sich sicher, dass seine Augen nur deshalb so glasig wurden, weil sich Tränen in seinen roten Augen sammelten - und sofort ohne darüber nachzudenken, wollte sie sich nach ihm ausstrecken, aber Silver bemerkte es nicht, sondern ging weiter, wie um sich ablenken zu müssen.
"Ich glaube aber... sie verdrängt vieles...", begann Firey sachte, nicht weitergehend:
"... manchmal sieht sie sehr traurig aus."
"Mein Bruder sah das gesamte letzte Jahr traurig aus." Plötzlich spürte Firey eine Wut in sich aufsteigen - sollte sie dafür etwa Mitleid haben?! Es war wohl kaum Green, die irgendeinen verdammten Auftrag ausgeführt hatte und es war bestimmt nicht Green gewesen, die Grey umgebracht hatte!
"Ganz egal wie schlecht es Green nun geht oder nicht - dein Bruder hat Grey umgebracht!"
"Das hat er nicht!" Silvers frustrierter Aufschrei weckte die Wut einiger anderer Touristen, aber es interessierte den Rotschopf nicht, der auf Firey zuging, die seinen zornigen Blick jedoch fest erwiderte.
"Blue hat Grey nicht umgebracht!"
"Du weißt, dass alles dafürspricht?"
"Es ist mir egal, was alles dafürspricht! Es ist mir auch egal, ob er es selbst sagt! Er war es nicht! Blue würde das niemals tun! Bei allem..." Frustriert schlug Silver mit dem Arm aus, gestikulierte zitternd:
"... was er tut, denkt er immer nur an mich oder an Green-chan! Er würde niemals Grey umbringen; es passt nicht zu ihm! Es passt auch nicht, überhaupt in den Tempel zu gehen, weil er Green-chan angeblich vermisst hätte..." Worüber sprach er da...? Blue hatte Green vermisst? Deswegen war er im Tempel? Was?!
"... Wir haben Green-chan beide die gesamte Zeit vermisst und er hat dennoch nicht nachgegeben. Er hatte keinen Grund; keinen Auslöser, um es jetzt zu tun. Blue ist nicht egoistisch oder von seinen Gefühlen geleitet so wie ich. Das ist einer von seinen Fehlern, aber er ist es nun einmal nicht. Er wäre seinem eigenen Wunsch nie nachgegangen, weil es Green-chan nichts nützt. Er hat den Auftrag doch nur ausgeführt, weil er geglaubt hat, dass er nicht Teil von Green-chans Leben sein kann, ohne ihr zu schaden! Er hat das Ganze nur für sie aufgenommen! Es gab keinen Grund, Grey umzubringen."
"Aber Grey ist nun einmal tot. Wir haben ihn erst vor kurzem beigesetz...", beharrte Firey weiterhin, auch wenn sie ihn am liebsten trösten wollte:
"Er ist tot - und Blue war im Tempel; seine Fingerabdrücke sind auf der Waffe, die Grey getötet hat..." Das hatte Silver nicht gewusst; sie sah es kurz in seinen sich weitenden Augen und sie fuhr mit einer etwas behutsameren Stimme fort:
"... und Blues Blut wurde überall gefunden. Das sind schon sehr eindeutige Indizien..."
"Dafür gibt es irgendeine Erklärung."
"Ja, dass er Grey..."
"Nein. Das ist nicht die Erklärung. Firey, wirklich, er hat keinen Grund dafür."
"Grey war ein hochrangiger Wächter, das reicht doch als Grund." Silver lachte:
"Du hast offensichtlich nicht viel über Ri-Il gelernt! Mein Lehrmeister würde niemals so etwas Unintelligentes formulieren wie einen Auftrag, der darauf hinausgeht, Blue im Alleingang in den Tempel zu schicken, um Grey zu töten. Gerade weil Grey ein starker Wächter war, wäre er nie davon ausgegangen, dass Blue ihn alleine packen könnte. Er hat es zwar als erfolgreiche Mission verbucht, die auf sein Konto geht, aber er hat es garantiert nicht in Auftrag gegeben. Er hat den Tod von Grey nur eingeheimst, weil es gut klingt, dass eines seiner Hordenmitglieder es im Alleingang geschafft hat. Da war definitiv kein Auftrag. Ich wüsste es, wenn es einen gegeben hätte." Firey sah ihn zweifelnd an; für sie klang das... so sehr sie ihm auch glauben wollte... wie ein Fischen nach Hoffnung. Verzweifeltes... nicht an die Wirklichkeit gebundenes Ringen nach Hoffnung.
"Firey, wirklich..." Oh nein, jetzt legte er auch noch seine Hände auf Fireys Schultern. Wie gerne würde sie ihn nicht trösten! Er sah so sehr danach aus, als würde er Trost benötigen! Sie wollte ihm sagen, dass sie ihm natürlich glaubte, alles versichern, was er hören wollte, aber das konnte sie nicht. Aber was sollte sie tun! Sie wusste gar nicht, was sie sagen sollte... sie konnte sich doch unmöglich darauf einlassen... nichts konnte Blue und Green wieder zusammenführen. Nichts sollte sie zusammenführen. Natürlich machte Silver sich Sorgen um seinen großen Bruder, natürlich machte er das und Firey würde ihm diese Sorge gerne nehmen, ihm so gerne helfen, aber...
"... Blue war es ni..." Etwas an Fireys Handgelenk begann zu piepen. Sie wusste natürlich, was es war; es war das dünne, unauffällige Armband, die sie alle tragen mussten, wenn sie den Tempel verließen - ein kleiner, brauner Riemen mit einem kleinen Kristall in der Mitte, der aufleuchtete, wenn sie zum Einsatz gerufen wurden.
"Was ist das?", fragte Silver, der irritiert die Hände von Firey löste und versuchte, das Geräusch zu lokalisieren, ehe er es an Fireys Handgelenk fand, auch wenn sie gerade ihre Hand über das piepende Gerät legte, als wollte sie es ignorieren - aber sie konnte nicht. Es war immerhin eine Schlacht... wenn sie sich nicht in den Tempel aufmachte, dann war das Befehlsverweigerung, die schwer bestraft wurde, denn natürlich war auch dieses kleine Piepen ein Befehl.
"Ich muss... in den Tempel." Sie zögerte - nicht nur, weil sie nicht in eine Schlacht wollte und sie vor dem Kämpfen Angst hatte. Sie wollte nicht weg von Silver - ein Gefühl, ein Drang, der sich in ihren Augen zeigte, als sie ihn ansah, die Finger um ihr Handgelenk geklammert, wo das Piepen aufgehört hatte.
"Das ist... der Befehl, dass ich zurückmuss." Die Feuerwächterin spürte eine warme, kribbelnde Scham in sich aufkommen, als hätte sie ganz offen zugegeben, dass sie Silver nicht verlassen wollte - als hätte sie es ausgesprochen. Dabei sahen sie sich nur an - nichts weiter. Sie sahen sich einfach nur an hier unter der blauen, gewölbten Decke mit den goldenen Sternen.
Firey musste wegsehen; ihre Wangen hatten sich errötet. Eigentlich müsste Silver es gesehen haben und sie erwartete einen neckischen Kommentar - aber er kam nicht. Nichts, er sagte gar nichts, aber Firey glaubte, dass er sie noch musterte - und plötzlich, ohne dass sie genau sagen konnte warum, wandte sie ihm ihr Gesicht wieder zu und... packte sogar seinen Arm, genau wie er es zuvor bei ihr getan hatte.
"Aber wir müssen uns wiedertreffen. Wir müssen. Ich möchte..." Sie versuchte, Silvers verwirrten Gesichtsausdruck zu ignorieren, der sich scheinbar nicht erklären konnte, was in Firey gefahren war:
"... dir gerne helfen. Ich weiß nicht wie, aber ich möchte es. Ich bin mit deiner Strategie..."
"Welcher Strategie? Ich hab doch noch gar nicht kei-" Firey ließ ihm nicht die Zeit auszuformulieren:
"... nicht einverstanden, aber wir..." Mein Gott, Firey - sie musste sich zusammennehmen! Nicht stottern! Nicht nach den Worten suchen! Nicht unnötig um den heißen Brei reden - und erst recht nicht rot werden!
"... sollten uns wiedersehen und dann ein längeres Gespräch führen." Firey sprach mit vollem Ernst: feierlich, wie bei ihrer ersten Kriegsrede. Sie verstärkte sogar noch den Druck ihrer Hand, die immer noch seinen Arm umschlossen hielt, ehe sie sich von ihm löste, dem etwas verwundert aussehenden Dämon ungehemmt in die Augen sehend. Doch Silver teilte diese feierliche Ernsthaftigkeit nicht - er begann zu grinsen.
"Gut, das machen wir. Aber lass uns keine Zeit und keinen Ort abmachen, dafür eignet sich unser Alltag nicht gerade. Ich werde dich finden; ich werde ja trotz allem weniger überwacht als du - bei mir piept auf jeden Fall nichts." Bei ihm könnte etwas ganz anderes geschehen, dachte Silver, denn natürlich schätzte Ri-Il Verspätung nicht, aber das ließ er nun unkommentiert.
"Wird es lange dauern?", fragte Firey und wurde erst nach dem Stellen der Frage rot, weil sie bemerkte, dass man diese Frage auch anders verstehen konnte - und sie wurde noch röter, als Silver sich vorbeugte und sie direkt angrinste:
"Keine Sorge, du wirst mich nicht allzu lange vermissen müssen."
"Wer würde einen Idioten wie dich auch vermissen", antwortete sie zwar, aber sie erwiderte sein Grinsen mit einem Lächeln. Wie schön es war, dieses von Nahem zu sehen; zu wissen, dass er sie angrinste, dass er wegen ihr so freudig grinste...
"Ich glaube du."
"Darauf würde ich nicht wetten, Bakayama."
"Wirklich", begann Silver, sich zurücklehnend:
"Wir haben uns gar nicht verändert. Wir sollten darauf schwören." Firey sah die Hand, die Silver ihr reichte, verwundert an.
"Darauf, dass wir immer dieselben bleiben werden." Silvers... Siberus... Grinsen war so schrecklich ansteckend und vielseitig. Es konnte einen beleidigen, einen schlecht fühlen lassen - und dann schenkte es einem wieder Stärke und Zuversicht - Gefühle, die Firey durchströmten, als sie seine Hand nahm:
"Ja. Schwören wir darauf."
Wie dankbar war Green nicht dafür, dass sich die Welt um sie herum auflöste. Der Schrei der sterbenden Dämonin saß ihr immer noch in den Knochen - nein, nicht in den Knochen. In ihrem Element. Vielleicht war das gar nicht so weit hergeholt, wenn Green an Hikaris Gesicht zurückdachte und daran, wie sehr das Herz der beiden anderen Lichtgötter geschmerzt hatte. Vielleicht konnte man diesen Schrei mit gutem Recht... den Urschrei nennen.
Den Urschrei des Krieges.
Langsam nahm die Welt um sie herum wieder Form an - sie waren aber jetzt an einem anderen Ort und wenn sie immer noch am selben Tag waren, dann musste es ein paar Stunden später sein, denn der Himmel war nicht länger lavendel und golden, sondern schwarz... weit am Horizont, dort, wo die Sonne untergegangen war, zeichnete sich ein schmaler, roter Strich ab. Was für ein... düsterer Abend.
Dank dem, was Green mittlerweile schon erfahren hatte, konnte sie sich zusammenreimen, dass sie sich jetzt in dem Territorium der Dämonen befand und zwar im Thronsaal des Dämonenherrschers, denn der Boden war aus schwarzem und roten Marmor, genau wie die hohen, mächtigen Säulen, die eine Decke bildeten, die aussah wie ein Blätterwerk; ein Blätterwerk aus Marmor. Während Green sich so umsah, wurde ihr schnell bewusst, dass die damaligen Dämonen ihr Handwerk wirklich beherrscht hatten: Die Säulen waren aufwendig verziert, die herunterhängenden, roten Lampen aus Glas mit Liebe zum Detail ausgearbeitet worden. Die Säulengänge hoch und offen - bei Tageslicht würde überraschend viel Licht hineinscheinen. Es sah sicherlich hübsch aus, denn die oberen Hälften der Torbögen waren mit buntem Glas ausgelegt, so dass die bunten Lichter auf den Boden gemalt wurden, wenn die Sonne hineinschien... es war auch sehr sauber und ordentlich und genau wie Light gesagt hatte, so konnte man sich im Boden spiegeln. Auch wenn der große Saal jetzt mit seinen roten Lampen unheimlich und bedrohlich wirkte, sah er bei Tageslicht und besserem Wetter sicherlich wunderschön aus.
Aber das Wetter war wahrlich grausam; Green spürte es nicht, aber sie sah wie aufgebrachte Wolken über den Himmel jagten und wie die Bäume sich im Wind bogen. Es war ein Wetter, das Unheil verkündete - und unheilvoll schien die Botschaft wahrlich zu sein, wenn Green sich die sieben Gesichter der sieben Teufel ansah.
Es war eigenartig, sie, nun ja, in "echt" zu sehen. Green hatte das Fach, das die anderen Wächterkinder drei Jahre studierten, von Hizashi nur als eine Art schnellen Crashkurs bekommen - Dämonologie schien für Shaginai und sein Trainingsprogramm nicht so relevant zu sein und Green hatte sich nicht beschwert, da Hizashis Unterricht recht trocken und fordernd war - aber dennoch wusste sie, dass diese sieben Teufel von den Dämonen immer noch hochgehalten wurden. Sieben war nicht umsonst die Zahl der Dämonen, hatte Hizashi erwähnt und weiter erklärt, dass die sieben Teufel angeblich die Urväter der Dämonen waren; die sieben Urrassen, von denen alle Dämonen abstammten, was aber schwer nachzuweisen wäre, denn die Spuren hätten sich durch die Zeit zu sehr verwischt. Fakt war jedoch, dass die sieben Teufel jeder für einer der sieben Sünden - oder eher "Mächte" - standen.
"Das entspricht der Wahrheit. Aber die Teufel verkörpern sie nicht nur. Sie sind das, was die Dämonen heute die sieben Mächte nennen. Genau wie Hikaru und ich von unserer Mutter geschaffen worden sind, sind die Teufel ebenfalls erschaffen worden und zwar von ihm, dem Dämonenherrscher. Den sieben Charaktereigenschaften, die ihn und sein Sein dominierten, gab er Form und hauchte ihnen Leben ein. Damals waren sie weder als "Mächte" noch als "Sünden" bekannt; sie waren seine Ratgeber und seine Familie."
Die Teufel sahen gebannt und angespannt auf eine Übertragung, die wohl direkt aus der Gedankenwelt des namenlosen Dämonenherrschers stammte, denn sie zeigte den Tod der Dämonin. Während dieser grausame Sterbeprozess die Gesichter der Teufel erstarren und erbleichen ließ, fuhr Light fort mit seiner Erklärung, obwohl Green nicht um sie gebeten hatte:
"Mammon kennst du bereits. Er ist der Meister des Hammers gewesen; dank ihm erblühten viele Städte zur prunkvollen Pracht. Neben ihm sitzt der ruhigste von ihnen, Astaroth. Er ist für die Kommunikation zwischen unseren zwei Reichen verantwortlich gewesen. Dann kommt Leviathan, der für die Versorgung der Dämonen stand, zusammen mit Baal. Gegenüber der kreativste Kopf unter ihnen, Belphegor, der für sämtliche Freuden im Reich sorgte und stets mit Beleth zusammenarbeitete, der rechts von ihm saß. Unter ihm erblühte das Kunsthandwerk der Dämonen und die zahlreichen Dekorationen ihrer Gebäude. Zu guter letzt... Luzifer, Berater und die rechte Hand seines Gebieters und der einzige, auf dessen Wort er hörte."
"Er hat Leben geschaffen? Einfach... so?! Und gleich mal sieben?!"
"Er ist sehr mächtig."
Dann wunderte Green sich aber wirklich, warum man nie etwas von ihm hörte. Von den sieben Teufeln hatte Green öfter mal etwas gehört, aber von dem namenlosen Dämonenherrscher hatte sie nur ein einziges Mal etwas erfahren - und das war in dem Buch von Tao. Er wurde nie behandelt. Dabei war er es doch, der die sieben angeblich stärksten Dämonen erschaffen hatte.
"Fällt dir etwas auf?"
Die Frage Lights war sehr vorsichtig gestellt, wie Green bemerkte, aber sie wusste nicht, warum er so einen zögerlichen Tonfall hatte, als traue er sich nicht, die Frage zu stellen. Green wusste allerdings weder, was ihr auffallen sollte, noch warum sein Tonfall sich verändert hatte. Sie sah, genau wie die Teufel, auf die Projektion, die aussah wie eine glatte, sich nur leicht kräuselnde Wasseroberfläche.
"Was soll mir auffallen?" Light schwieg kurz, aber dann antwortete er:
"Unter den Teufeln gab es niemanden, der dafür zuständig war, die Dämonen den Kampf zu lehren... tatsächlich ist keiner der Teufel der Kampflehre mächtig."
Das zu hören verwunderte Green, aber sie wusste nicht so recht, was sie mit dem Wissen anfangen sollte. Die Dämonin in der Übertragung litt derweil ihren abstoßenden Sterbekampf und es wunderte Green nicht, dass eine der ersten Fragen lautete, ob das wirklich ein Werk von Hikari war.
"Ja, kaum zu glauben, aber das ist es", antwortete der Dämonenherrscher an der Spitze des Tisches mit einer auffällig unbeeindruckten Stimme. Kurzes, sehr angespanntes Schweigen nach dieser Antwort ihres Herrschers, den sie auch alle entgeistert ansahen. Wenn dieser allerdings angespannt war, dann ließ er es sich nicht anmerken - war er wirklich nicht besorgt, oder war er einfach nur so ein guter Machthaber, dass er seine Souveränität angesichts dieser ersten, wirklichen Bedrohung, nicht verlor?
"Ist das... ein Kriegsakt?", fragte Astaroth. Es war eigenartig, den Dämon mit den hohen, nach innen gebogenen Hörnern jetzt namentlich zuordnen zu können, nachdem Green sie alle nur als eine große Masse angesehen hatte. Wenn sie sie jetzt so sah, bemerkte sie, dass sie alle unterschiedlich aussahen... sie sahen ihrem Erschaffer nicht einmal ähnlich, ganz anders als Light und Hikaru, denen man schon ansehen konnte, dass sie von Hikari abstammten oder in ihrem Bildnis geschaffen worden waren... oder wie auch immer man das sagen sollte. Aber bei den sieben Teufeln war das ganz sicherlich nicht so gewesen; das einzige, was sie gemeinsam hatten, war die beträchtliche Höhe, dass sie alle männlich waren und dass sie alle sehr imposante, aber unterschiedliche, Hörner besaßen. Dass sie allerdings nach einer Sünde, Charaktereigenschaft oder was auch immer geschaffen worden waren, sah man ihnen nicht an. Ob das nur ihr "Grundbaustein" war und sie sich dann selbst entwickelt hatten?
"Es war ein Unfall. Kein Kriegsakt", erwiderte Luzifer ernst, aber ruhig, dessen Augen immer noch auf die Projizierung gerichtet waren, die sich nun aber auflöste, als der namenlose Dämonenherrscher die Oberfläche mit einem Finger berührte.
"Aber jetzt wissen wir - und sie - dass sie die Waffen haben, um einen Krieg führen zu können." Luzifers goldene Augen huschten zu Beleth, der dies gesagt hatte und antwortete mit zischender Stimme:
"Die Sonne hat uns bis heute keinen Schaden zugefügt, also warum sollte sie es jetzt wollen?"
"Die Lichtwächter sind auch nur drei und können sich nicht vermehren. Kein Grund um in Panik zu geraten. Auch wenn das..." Mammon machte eine fahrige Bewegung dorthin, wo die Dämonin gerade vor ihren Augen gestorben war:
"... eindeutig besorgniserregend ist." Leviathan meinte nun, dass er immer noch mehr Respekt vor den Feuerwächtern hätte; Luzifer hielt sich raus, aber Green bemerkte, dass er zum namenlosen Dämonenherrscher sah, der sich ebenfalls zurückhielt. Er schien zu grübeln - und immer noch war da dieses kleine Anzeichen eines Lächelns...
"Warum lächelst du?" Green fand, dass das eine äußerst angebrachte Frage war, aber dennoch blickte der namenlose Dämonenherrscher verwirrt über die Schulter, als Luzifer sich ihm näherte. Sie befanden sich auf einem großen, runden Balkon, überdacht von einem immer noch sehr aufgebrachten Himmelszelt, das nur ab und zu ein paar Sterne durchfunkeln ließ. Der Balkon war auf Eterniya gerichtet, aber dort sah man nur ein paar kleine Lichter - der Horizont sah trostlos aus, genauso finster wie Luzifers Gesicht, als sein Herrscher antwortete:
"Was sollte ich deiner Meinung nach denn sonst tun, Luzifer? Weinen? Ich kannte das arme Ding nicht, also warum sollte ich ihren Tod beweinen? Weil er ekelerregend war?"
"Manchmal widerst du mich an." Irrte Green sich da, oder blitzte da kurz Schmerz auf in den Augen des Dämonenherrschers? Als er sich herumwandte, war jedenfalls jede Schalkhaftigkeit aus seinem Gesicht verschwunden.
"Du weißt genau, was zu diesem Unglück geführt hat. Hättest du es so einem verletzlichen Herz nicht schonend beibringen können, ohne dass der Himmel brennt?"
"Noch brennt der Himmel nicht", erwiderte der namenlose Dämonenherrscher, sich an dem Geländer des Balkons abstützend und immer noch grinsend, aber dieses verging ihm, als Luzifers Stimme sich voller Zorn erhob und ihn in seinen Worten unterbrach:
"Der Himmel soll auch nicht brennen!" Der Dämonenherrscher schwieg - nicht eingeschüchtert, wie es Green schien, sondern erschrocken. Luzifer war wohl sehr selten wütend...
"Manchmal..." Die Stimme Luzifers zitterte immer noch, ebenso wie seine Augen, die vor Zorn bebten:
"... frage ich mich, ob wir nicht alle nur deine Spielfiguren sind, die deiner Unterhaltung dienen. Ich inklusive."
"Luzifer!" Verzweiflung hatte in seiner Stimme gelegen und verzweifelt war auch die Geste des namenlosen Dämonenherrschers, als er Luzifers Hand ergriff, gerade als dieser ihn verlassen wollte. Aber dessen Blick blieb kalt, als er sich zu ihm herumwandte und genauso kalt war auch seine Stimme:
"Wenn du meinen Respekt nicht verlieren willst, dann verhinderst du einen Krieg." Kurz sahen sie sich an - erstarrte Augen in kalte, zornige - dann riss Luzifer seine Hand aus dem Griff des namenlosen Dämonenherrschers los und drehte sich herum, die Hand schon an der Tür---
"Und dein Herz?" Nur ein kurzer, ernster Blick über die Schulter, aber keine Antwort.
Das konnte nicht wahr sein.
Firey starrte einen rothaarigen, jungen Mann an, mit ebenfalls roten Augen, der sie ein wenig verschmitzt angrinste und den ihr Herz, aber nicht ihr Gehirn, als "Siberu Nakayama" erkannte. Sie starrte ihn fassungslos an und frage sich sofort, ob sie sich nicht lieber piksen sollte, um klar festzustellen, ob sie träumte oder nicht. Sie musste doch träumen, oder? Sie träumte doch... oder?! Es war nicht wirklich Siberu, der vor ihr stand?!
"Hat es dir die Sprache verschlagen, Flachbrett?" Firey blinzelte langsam und diese flüchtige Bewegung schien ihr Gehirn in neue Bahnen zu lenken: warum war sie eigentlich so schockiert - sie hatte Siberu doch schon einmal gesehen, aber... Firey blinzelte noch einmal... es war etwas anderes, ihn hier zu sehen. Hier. In London. Nicht auf einem Schlachtfeld. In London. Bei ihr.
"Nein... hat es nicht. Ich bin verwundert." Nichts als die Wahrheit, dennoch schüttelte Firey so hastig und schockiert den Kopf, als hätte sie etwas komplett Unsinniges oder Dummes gesagt und plötzlich schien sie von Energie und Tatendrang übermannt zu sein, was das Grinsen zurück auf Siberus Gesicht brachte, der Firey kurz stutzend angesehen hatte.
"Was machst du hier?! Hier in London?!"
"Hehe, so gefällst du mir schon besser", antwortete Siberu und schaffte es mit einem leicht schiefgelegten Grinsen, Firey zum Erröten und zum Stillstehenbleiben zu bringen. Sie hatte zwar ihre Energie und die Kraft ihrer Stimme wiedergefunden, aber dennoch, sie... sie war mit der Situation überfordert - und die Röte in ihrem Gesicht half ihr nicht gerade weiter. Siberu. Hier. In Londo-
"Komm!" Siberu, der sich einen Witz daraus zu machen schien, dass Firey zu einer verwirrten Salzsäule geworden war, packte mit einem erfreuten Ausruf den Arm der völlig überrumpelten Firey und bugsierte sie zur Schlange, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, um Einlass zur Kirche zu erhalten. Er stellte sich ebenfalls an, ließ ihren Arm los und sah ganz entspannt nach vorne, beobachtete, wie die Schlange sich langsam vorwärtsbewegte, ganz wie die Menschen vor ihnen und das Paar, das sich hinter ihnen anstellte. Firey kam aus dem Blinzeln gar nicht mehr raus, auch wenn die Stimmen, die sie anherrschten, sich doch endlich zusammenzunehmen, in ihrem Kopf immer lauter wurden.
"Nochmal, Siberu, was machen wir hier, nein, was machst du hier?!" Das Grinsen des Angesprochenen verschwand hinter einem Lächeln und für einen Augenblick veränderte sich der Ausdruck seiner Augen. Firey sah ihn ganz unverhohlen an, beobachtete ihn und bemerkte die Veränderung in seinen Augen, die sie jedoch nicht beschreiben konnte - für einen Moment schien er an etwas Bedrückendes zu denken, obwohl seine Lippen immer noch ein Lächeln zeigten.
""Siberu", huh..." Firey spürte etwas Kaltes in sich, obwohl gerade ein warmer Wind aufkam und deren rote Haare packte.
"... so wurde ich wirklich lange nicht mehr genannt." War das nun... positiv? Negativ? Hätte sie es nicht tun sollen? Er wirkte wie "Siberu". Deswegen hatte sie es ganz automatisch gesagt, es war ihr einfach herausgerutscht... Sollte sie sich entschuldigen und ihn fragen, wie er gerne genannt wurde? Moment. Fragte er sie denn, ob sie von ihm Flachbrett genannt werden wollte?! Wohl kaum! Firey, reiß dich zusammen!
"Ich erwarte übrigens, dass du bezahlst." Er grinste wieder und sah sie nun auch wieder an:
"Das Flachbrett ist doch eine reiche Dame von Welt, hehe!"
"Nenn mich nicht so!" Er hatte es herausgefordert. Er hatte es eindeutig herausgefordert - und als sie ihren Fuß auf seinem niedersausen ließ, um ihm für die Beleidigung die Leviten zu lesen, begannen sie - kurz nach einem empörten "Autsch!" von Silver - zu lachen.
"Du hast dich gar nicht verändert, Flachbrett!"
"Gleichfalls, Bakayama, gleichfalls!"
"Aber ich kann dir sagen, dass das nicht wehgetan hat. Mein "Autsch" war das "Autsch" eines Cavaliers: Ich trage immerhin Stahlkappen, guck."
"Machen die dich nicht langsamer?"
"Ne, nicht sonderlich. Wenn ich die einem Wächter mit hoher Geschwindigkeit ins Gesicht ramme, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich seinen Kopf... ehm, das ist sicherlich nicht das richtige Thema."
"Du bist nicht der Einzige, der unterrichtet wurde." Firey sah ihn wieder an:
"So leicht schockierst du mich nicht mehr. Einige Dinge haben sich eben doch verändert."
"In meinen Augen wirkst du immer noch genauso wie damals."
"Damals... es ist gar nicht sonderlich lange her."
"Du bist aber größer geworden, oder?"
"... ein wenig. Du aber auch, oder?"
"Haha, ganze 10 Zentimeter! Obenrum hat es aber keine Fortschritte gemacht bei dir---"
"Vorsicht, Bakayama, ich kann mein Feuer mittlerweile ganz gut kontrollieren..."
"Ich muss zugeben, dass ich das zu gerne mal sehen würde..."
"Deswegen bist du aber offensichtlich nicht hier, sondern um eine Kirche zu besuchen - für die man übrigens nichts bezahlen muss. Das ist eine Kirche. Für Kirchen bezahlt man nicht. Und eingeladen hätte ich dich auch nicht, was denkst du von mi-"
"In sieben Teufels Namen, Firey..." Firey spürte, wie das Blut ihr in den Kopf rauschte - warum konnte sie es so absolut gar nicht vertragen, wenn er sie bei ihrem richtigen Namen nannte?! Okay, es war nicht einmal ihr richtiger Name, ihr Spitzname war es, ihr Wächter-Name war es, aber dennoch... "Flachbrett" war eine verdammte Beleidigung; warum also...
"... ich bin wegen dir hier. Nicht wegen einer Kirche. Bin ich denn mein Bruder?" Wie froh war Firey nicht darüber, dass sie nun an der Reihe waren. Zum Glück. Die Röte und das Herzklopfen waren ja nicht auszuhalten und einen Moment lang huschte ihr sogar der Gedanke durch den Kopf, ob die Scanngeräte der Sicherheitsbeamten ihr beschleunigtes Herz wohlmöglich noch hören könnten---
Aber nichts piepte alarmierend und Firey kam unbehelligt ins Innere der Kirche, wo sich einige Touristengruppen bereits um einen Guide gesammelt hatten, der ihnen die Geschichte der Kirche erklärte. Trotz der vielen Menschen war es ruhig, bedrückend ruhig - aber die fluchende Stimme Silvers drang dennoch zu ihr, denn er kam nicht unbehelligt durch den Sicherheitscheck. Der Metalldetektor reagierte auf jene Stiefel, von denen er gerade noch geprahlt hatte und Firey konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken als sie sah, wie er sich die Schuhe ausziehen musste, um zu beweisen, dass sich in seinen Stiefel nichts Gefährliches verbarg. Und sie kam aus dem Schmunzeln gar nicht mehr raus, als sie sein Englisch hörte - es war ein ganz typisches, japanisches Englisch, dem man raushörte, dass es lange nicht mehr benutzt worden war. Firey musste ein Kichern unterdrücken, unterdrückte es aber nicht gut genug und empört und beschämt sah der dämonische Rotschopf auf und errötete leicht, genau wie sie es eben getan hatte.
"Hör auf zu lachen, Flachbrett!", herrschte er sie an, als er endlich neben ihr stand:
"In Sprachen habe ich lange keinen Unterricht mehr bekommen!" Firey, die immer noch über seine empörten, roten Wangen kicherte - es war ein herrlicher Anblick - fühlte sich keineswegs bedroht; Silver allerdings, als das Sicherheitspersonal ihn nun anherrschte:
"Put the volume down, boy!" Nicht nur das Sicherheitspersonal, sondern auch die Touristen sahen ihn, den Ruhestörer dieser heiligen Stille, anklagend an und anstatt ihnen zu antworten, schlug Silver mit entschlossenen Schritten, aber immer noch erröteten Wangen, zusammen mit einer grinsenden Firey den Weg durch das östliche Schiff der Kirche ein.
"Du wolltest ja unbedingt hier rein."
"Pah!" Kaum, dass Silvers Antwort verklungen war, senkte sich die bedrückende Stille über sie wie ein unsichtbarer, alles einnehmender Nebel. Ihre langsamen Schritte waren ebenfalls kaum hörbar; die Stimmen der anderen Menschen waren verschwunden, gingen unter in der Stille, verschluckt von dem Klang des Nichts und den dunklen Schatten der wuchtigen Kirche. Draußen schien die Sonne und es war warm: hier drinnen sah man davon nur die Reflexionen der Buntfenster, die ihre farbig strahlenden Muster auf den Boden malten. Es roch nach Staub und vergangenen Zeiten, vergangener, kalter Luft.
Keine von ihnen sprach ein Wort und dennoch musste Firey daran denken, dass ihr erstes Gespräch nach so langer Zeit ausgerechnet in so einem Gebäude stattfand. In einem Gebäude, das die Jahrhunderte und mehrere gewaltige Kriege überstanden hatte. Die Engel ruhten hier immer noch, genau wie die Seelen der Könige und Königinnen und der verstorbenen großen Denker dieses Landes, die in den Krypten ihren Tod fristeten. Mehr als tausend Jahre stand dieses Gemäuer schon. Sie trafen sich in einem Gebäude, in dem Menschen heirateten und zur Ruhe gebettet wurden, während sie selbst in einen Krieg verwickelt waren, zwei verschiedenen Fronten angehörten...
"Ich war schon einmal hier." Silver war stehengeblieben: vor dem Grab von Isaac Newton, wie Firey verwundert feststellte.
"Blue wollte hier unbedingt hin. Das ist..." Firey sah sein Gesicht nicht, aber sie hörte seine bedrückte Stimme.
"... aber schon lange her." Seine Stimme schlug um, als er sich grinsend zu ihr wandte und auf die Holzstühle des Mittelschiffes zeigte, die von kleinen, roten Lampen sachte erhellt wurden:
"Ich bin da eingeschlafen, so lange hat es gedauert, bis er mit jedem Grab fertig war und ich kann dir sagen, das ist nicht bequem!" Firey schmunzelte wieder, nachdem sie aufgebend seufzend festgestellt hatte, dass es doch nur Silver einfallen konnte, in einer so schönen Kirche einzuschlafen. Aber wegen noch etwas Anderem musste sie schmunzeln: Sie... redeten ganz schön ruhig. Sie stritten sich gar nicht. Lag das an der allumfassenden Stille dieses Ortes oder... an etwas Anderem... eigentlich sollte sie sich lieber darüber wundern, dass sie überhaupt miteinander sprachen, egal ob sie sich stritten oder nicht. Sie spürte Befremdlichkeit in diesem Beisammensein, aber nicht so viel wie sie es sollte.
"Ist das der Grund, weshalb du hier rein wolltest?" Silver schüttelte den Kopf:
"Wir sind hier ungestört." Bis auf die Touristengruppen versteht sich, dachte Firey, als sie gerade von einer Horde Amerikaner beiseitegeschoben wurde, die ein Gruppenfoto vor dem Grab von Isaac Newton machen wollte.
"Du hast den ganzen Tag frei, oder?", fragte Silver, sobald er und Firey wieder in eine andere Richtung gingen, so weit weg wie möglich von den aufgeregten Touristen. Firey nickte und musste wieder daran denken, dass er gesagt hatte, dass er wegen ihr hier war. Sie nahm dies nicht als Kompliment, sondern als etwas... Beunruhigendes. Was konnte er von ihr wollen? Und was... dachte Firey, während sie durch die dunklen Seitenalleen der wuchtigen Kirche gingen... würde passieren, wenn jemand erfuhr, dass ein Dämon und ein Wächter gerade einen Rundgang in einer Kirche machten? Was würde Green sagen? Ja... was würde Green sagen...?
"Warum bist du hier... Silver? Warum wolltest du mich treffen?"
""Siberu"..." Firey drehte sich nun doch zu ihm herum:
"... ist in Ordnung." Sofort wandte sich Firey wieder ab; sie wollte ihm nicht ihr erleichtertes Schmunzeln zeigen.
"So oft hast du mich gar nicht so genannt. Wenn ich so zurückdenke, finde ich, dass ich "Bakayama" öfter aus deinem Mund gehört habe." Die Bedrückung, die die Stimmung kurzweilig herniedergedrückt hatte, verflog und Firey fand zu einem verschmitzten Grinsen zurück:
"Ich wusste aber schon, wie du heißt."
"Oh ,ich auch..." Silver lehnte sich grinsend zu ihr herüber:
"Flachbrett." Firey kam nicht drum herum, sein Grinsen zu erwidern, als wäre es ein Kompliment - aber es war einfach irgendwie so befreiend, ja, schön...
"Ah, es ist so schön, dass du dich gar nicht verändert hast!" Huh! Das hatte sie gerade über Silver denken wollen, welcher nun wieder Abstand zu ihr einnahm:
"Blue ist ganz anders als früher..." Silver grinste noch, aber Firey sah ihm an, dass er mit diesem Grinsen Schmerzen zur Seite drängen wollte:
"... und ich denke, Green ebenfalls. Aber wir nicht. Wir sind dieselben wie immer!" Die Feuerwächterin lächelte zwar, denn sie fand seine Freude darüber wirklich unglaublich herzerwärmend, aber so ohne Weiteres konnte sie sich diesen Worten eigentlich nicht anschließen, auch wenn sie nickte. Hätte sich nichts verändert, dann würden sie nicht so ruhig in einer Kirche miteinander reden, weil sie... streng genommen nicht sonderlich viel miteinander geredet hatten - und wenn, dann hatten sie sich gestritten. Nun sprachen sie aber normal miteinander, wie alte Bekannte, die sich eigentlich ganz gut verstanden hatten... vielleicht hatten sie das auch. Ja, vielleicht hatten sie das eigentlich. Jedenfalls verspürte Firey nicht den Drang danach, sich mit ihm anzulegen oder ihm aus dem Weg zu gehen - auch wenn ihr dies hier immer noch sehr surreal vorkam. Sie wollte es auszunutzen, auskosten, so lange es möglich war - sich daran erfreuen, auch wenn sie spürte, dass es ein Thema sein würde, welches bedrückend war. Aber als er das Thema endlich ansprach, war sie dennoch überrascht:
"Ich bin hier wegen Blue." Wegen seinem Bruder? Aber was hatte sie denn mit seinem Bruder zu schaffen? Außerdem musste Firey zugeben, dass sie von Blue gar nicht so viel hören wollte... aber sie ließ ihn fortfahren, ohne ihn zu unterbrechen, während sie weiterhin unter den dunklen Säulen hindurchgingen.
"Er ist nicht mehr Teil unseres Gebiets. Also... er gehört nicht mehr zu Ri-Il." War das... ein normales Gesprächsthema... oder ein Austausch von Kriegsinformationen?
"Er ist zu Nocturn übergelaufen, dieser Idiot. Zu diesem Wahnsinnigen!" Okay, das war definitiv eine Kriegsinformation - und eine sehr Wichtige obendrein!
"Ich will ihn am liebsten so schnell wie möglich aus Paris wegschleifen; k.o. schlagen, Beine brechen und ihn einfach packen und mitnehmen, aber ich denke nicht, dass Ri-Il ihn wieder zurücknehmen würde... eigentlich wundert es mich sogar, dass er ihn am Leben gelassen hat... Aber gut, das ist nicht das, weshalb ich mit dir reden möchte." Doch, das bemerkte Silver jetzt - das war es. Er hatte mit jemandem darüber reden wollen; jemandem, der nicht Rui war. Mit Rui hatte er reden können, aber er hatte nicht das Gefühl, dass es sie wirklich interessierte oder sie ihm wirklich zuhörte - sie hatte einfach kein Interesse an Blue. Eigentlich hatte sie auch kein Interesse an Silvers Problemen; er hatte gefälligst einfach der zu sein, den sie kannte und liebte. Der coole Silver. Mekare... Mekare wollte er nicht belasten. Sie war wegen Blue "Verrat" - oder wie auch immer man das nennen wollte - schon traurig genug. Firey sollte er wohl auch nicht belasten, aber er hatte das Gefühl, dass es bei ihr etwas Anderes war, weil auch sie eine Last zu tragen hatte. Sie vier... sein Bruder, Green, Firey und er... waren... von dem Rest der Welt abgetrennt. Irgendwie. Er konnte es auch nicht richtig beschreiben oder verstehen; es war nur ein Gefühl.
"Über was möchtest du denn mit mir reden?" Auch wenn Silver "zum Reden" hergekommen war, so wusste er nicht, was er auf diese Frage antworten sollte - ja, über was wollte er mit ihr reden...? Nein, er wusste, worüber er reden wollte; er wusste nur nicht, wie er es verpacken sollte. Sie - er und Rui - hatten sich so viele Gedanken um das Timing gemacht, aber Gedanken darüber, wie er Firey etwas erklären sollte, welche Worte er benutzen sollte... die hatte er sich nicht gemacht. Eigentlich war das auch nie etwas, was er im Voraus plante, aber in diesem Fall wäre es vielleicht angebracht gewesen.
"Wie geht es Green-chan?" Firey sah ihn verdutzt an, genau wie Silver stehen bleibend. Wie es... Green ging? Und er nannte sie noch bei ihrem alten Spitznamen? Irgendwie war das... niedlich.
"Ich dachte, es ginge um deinen Bruder?"
"Geht es auch. Es... hängt zusammen. Es geht ihr nicht gut, oder? Es geht ihr sicherlich ziemlich schlecht, oder? Ich meine, sie muss irgendeinen Idioten heiraten, den sie nicht liebt, da kann es einem ja nur schlecht gehen... ich habe ihr zwar eigentlich vor... nun, als wir noch in Tokyo waren... gesagt, dass sie sich einen netten Wächter suchen soll - ich hoffe ja wohl, dass er nett ist?! - aber ich habe meine Meinung geändert. Ich denke, Green-chan und mein Bruder sollten wieder zusammenfinden. Vielleicht können sie so wieder glücklich sein." Immer noch sah Firey ihn verdutzt an, aber langsam zeigte sich auf ihrem Gesicht, dass sie die Ironie des Ganzen erkannte. Silver war hier... aus genau demselben Grund wie der, der Firey in die Welt der Dämonen getrieben hatte: die Überzeugung, dass Green nur von Blue von ihrem Unglück befreit werden konnte. Das war nur zwei Wochen her. Vor zwei Wochen hätte Firey sich Silver noch freudestrahlend angeschlossen, in der Mission alles ungeschehen zu machen, alles, was mit dem Auftrag zu tun hatte, einfach auszulöschen und in die Vergessenheit zu verbannen, aber... jetzt konnte sie ihn nur voller Mitleid ansehen; ihn, den sie ansah, als wäre er ihr Spiegelbild.
"Bist du nicht derselben Meinung wie ich?", fragte Silver, der natürlich Fireys bedrückten Gesichtsausdruck nicht gerade als Motivation empfand.
"Liebt sie den Typen etwa?" Firey sah weg:
"Nein, aber das ist eigentlich nebensächlich. Green ist nicht glücklich, das stimmt, aber... es geht ihr auch nicht so schlecht. Sie arbeitet sehr hart an sich und ihren Fähigkeiten zur Regime-Führerin und... ich glaube, sie schafft das auch ohne... deinen Bruder. Sie wird sich nicht unterkriegen lassen und weitermachen, immer weiter und irgendwann eine ganz tolle Hikari werden." Das gefiel Silver nicht zu hören - und... es tat Firey leid es ihm zu sagen, dafür zu sorgen, dass er weder grinste noch lächelte, aber sie musste es aussprechen. Natürlich war Silver besorgt um Blue, aber es ging hier nicht nur um ihn. Für Firey ging es um Green. Vordergründig um Green.
"Green-chan wollte nie eine Hikari werden", erwiderte Silver etwas irritiert, aber auch getroffen.
"Ich rede auch nicht davon, dass sie wie die anderen Hikari werden wird. Sondern eine Hikari nach ihrer eigenen Definition." Das traf Silver noch mehr: er sah richtig erschrocken und verletzt aus. Das hatte er nicht erwartet zu hören. Natürlich nicht... er hatte hören wollen, dass es Green ganz schrecklich ging, mindestens genauso schlecht wie Blue. Was ihr auch sagte, dass es Blue wirklich sehr schlecht gehen musste... aber das erregte Fireys Mitleid nicht. Er hatte Grey getötet. Er hatte dafür gesorgt, dass Green den Trauerzug ihres Bruders hatte führen müssen!
"Das... klingt nach Green-chan." Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
"Sie ist nicht in allen Punkten anders als früher."
"Sie... macht sich also gut?" Immer noch versuchte er zu lächeln, womit er Fireys Worte immer mehr erschwerte, weshalb sie nur nickte - er... würde doch wohl hoffentlich nicht gleich fragen, ob Green sie vermisste? Oh, bitte nicht, Firey wusste darauf doch gar nichts zu antworten...
"Das freut mich. Nein, wirklich, das freut mich. Das freut Blue sicherlich auch. Sicher... lich..." Oh nein, würde er anfangen zu weinen? Firey war sich sicher, dass seine Augen nur deshalb so glasig wurden, weil sich Tränen in seinen roten Augen sammelten - und sofort ohne darüber nachzudenken, wollte sie sich nach ihm ausstrecken, aber Silver bemerkte es nicht, sondern ging weiter, wie um sich ablenken zu müssen.
"Ich glaube aber... sie verdrängt vieles...", begann Firey sachte, nicht weitergehend:
"... manchmal sieht sie sehr traurig aus."
"Mein Bruder sah das gesamte letzte Jahr traurig aus." Plötzlich spürte Firey eine Wut in sich aufsteigen - sollte sie dafür etwa Mitleid haben?! Es war wohl kaum Green, die irgendeinen verdammten Auftrag ausgeführt hatte und es war bestimmt nicht Green gewesen, die Grey umgebracht hatte!
"Ganz egal wie schlecht es Green nun geht oder nicht - dein Bruder hat Grey umgebracht!"
"Das hat er nicht!" Silvers frustrierter Aufschrei weckte die Wut einiger anderer Touristen, aber es interessierte den Rotschopf nicht, der auf Firey zuging, die seinen zornigen Blick jedoch fest erwiderte.
"Blue hat Grey nicht umgebracht!"
"Du weißt, dass alles dafürspricht?"
"Es ist mir egal, was alles dafürspricht! Es ist mir auch egal, ob er es selbst sagt! Er war es nicht! Blue würde das niemals tun! Bei allem..." Frustriert schlug Silver mit dem Arm aus, gestikulierte zitternd:
"... was er tut, denkt er immer nur an mich oder an Green-chan! Er würde niemals Grey umbringen; es passt nicht zu ihm! Es passt auch nicht, überhaupt in den Tempel zu gehen, weil er Green-chan angeblich vermisst hätte..." Worüber sprach er da...? Blue hatte Green vermisst? Deswegen war er im Tempel? Was?!
"... Wir haben Green-chan beide die gesamte Zeit vermisst und er hat dennoch nicht nachgegeben. Er hatte keinen Grund; keinen Auslöser, um es jetzt zu tun. Blue ist nicht egoistisch oder von seinen Gefühlen geleitet so wie ich. Das ist einer von seinen Fehlern, aber er ist es nun einmal nicht. Er wäre seinem eigenen Wunsch nie nachgegangen, weil es Green-chan nichts nützt. Er hat den Auftrag doch nur ausgeführt, weil er geglaubt hat, dass er nicht Teil von Green-chans Leben sein kann, ohne ihr zu schaden! Er hat das Ganze nur für sie aufgenommen! Es gab keinen Grund, Grey umzubringen."
"Aber Grey ist nun einmal tot. Wir haben ihn erst vor kurzem beigesetz...", beharrte Firey weiterhin, auch wenn sie ihn am liebsten trösten wollte:
"Er ist tot - und Blue war im Tempel; seine Fingerabdrücke sind auf der Waffe, die Grey getötet hat..." Das hatte Silver nicht gewusst; sie sah es kurz in seinen sich weitenden Augen und sie fuhr mit einer etwas behutsameren Stimme fort:
"... und Blues Blut wurde überall gefunden. Das sind schon sehr eindeutige Indizien..."
"Dafür gibt es irgendeine Erklärung."
"Ja, dass er Grey..."
"Nein. Das ist nicht die Erklärung. Firey, wirklich, er hat keinen Grund dafür."
"Grey war ein hochrangiger Wächter, das reicht doch als Grund." Silver lachte:
"Du hast offensichtlich nicht viel über Ri-Il gelernt! Mein Lehrmeister würde niemals so etwas Unintelligentes formulieren wie einen Auftrag, der darauf hinausgeht, Blue im Alleingang in den Tempel zu schicken, um Grey zu töten. Gerade weil Grey ein starker Wächter war, wäre er nie davon ausgegangen, dass Blue ihn alleine packen könnte. Er hat es zwar als erfolgreiche Mission verbucht, die auf sein Konto geht, aber er hat es garantiert nicht in Auftrag gegeben. Er hat den Tod von Grey nur eingeheimst, weil es gut klingt, dass eines seiner Hordenmitglieder es im Alleingang geschafft hat. Da war definitiv kein Auftrag. Ich wüsste es, wenn es einen gegeben hätte." Firey sah ihn zweifelnd an; für sie klang das... so sehr sie ihm auch glauben wollte... wie ein Fischen nach Hoffnung. Verzweifeltes... nicht an die Wirklichkeit gebundenes Ringen nach Hoffnung.
"Firey, wirklich..." Oh nein, jetzt legte er auch noch seine Hände auf Fireys Schultern. Wie gerne würde sie ihn nicht trösten! Er sah so sehr danach aus, als würde er Trost benötigen! Sie wollte ihm sagen, dass sie ihm natürlich glaubte, alles versichern, was er hören wollte, aber das konnte sie nicht. Aber was sollte sie tun! Sie wusste gar nicht, was sie sagen sollte... sie konnte sich doch unmöglich darauf einlassen... nichts konnte Blue und Green wieder zusammenführen. Nichts sollte sie zusammenführen. Natürlich machte Silver sich Sorgen um seinen großen Bruder, natürlich machte er das und Firey würde ihm diese Sorge gerne nehmen, ihm so gerne helfen, aber...
"... Blue war es ni..." Etwas an Fireys Handgelenk begann zu piepen. Sie wusste natürlich, was es war; es war das dünne, unauffällige Armband, die sie alle tragen mussten, wenn sie den Tempel verließen - ein kleiner, brauner Riemen mit einem kleinen Kristall in der Mitte, der aufleuchtete, wenn sie zum Einsatz gerufen wurden.
"Was ist das?", fragte Silver, der irritiert die Hände von Firey löste und versuchte, das Geräusch zu lokalisieren, ehe er es an Fireys Handgelenk fand, auch wenn sie gerade ihre Hand über das piepende Gerät legte, als wollte sie es ignorieren - aber sie konnte nicht. Es war immerhin eine Schlacht... wenn sie sich nicht in den Tempel aufmachte, dann war das Befehlsverweigerung, die schwer bestraft wurde, denn natürlich war auch dieses kleine Piepen ein Befehl.
"Ich muss... in den Tempel." Sie zögerte - nicht nur, weil sie nicht in eine Schlacht wollte und sie vor dem Kämpfen Angst hatte. Sie wollte nicht weg von Silver - ein Gefühl, ein Drang, der sich in ihren Augen zeigte, als sie ihn ansah, die Finger um ihr Handgelenk geklammert, wo das Piepen aufgehört hatte.
"Das ist... der Befehl, dass ich zurückmuss." Die Feuerwächterin spürte eine warme, kribbelnde Scham in sich aufkommen, als hätte sie ganz offen zugegeben, dass sie Silver nicht verlassen wollte - als hätte sie es ausgesprochen. Dabei sahen sie sich nur an - nichts weiter. Sie sahen sich einfach nur an hier unter der blauen, gewölbten Decke mit den goldenen Sternen.
Firey musste wegsehen; ihre Wangen hatten sich errötet. Eigentlich müsste Silver es gesehen haben und sie erwartete einen neckischen Kommentar - aber er kam nicht. Nichts, er sagte gar nichts, aber Firey glaubte, dass er sie noch musterte - und plötzlich, ohne dass sie genau sagen konnte warum, wandte sie ihm ihr Gesicht wieder zu und... packte sogar seinen Arm, genau wie er es zuvor bei ihr getan hatte.
"Aber wir müssen uns wiedertreffen. Wir müssen. Ich möchte..." Sie versuchte, Silvers verwirrten Gesichtsausdruck zu ignorieren, der sich scheinbar nicht erklären konnte, was in Firey gefahren war:
"... dir gerne helfen. Ich weiß nicht wie, aber ich möchte es. Ich bin mit deiner Strategie..."
"Welcher Strategie? Ich hab doch noch gar nicht kei-" Firey ließ ihm nicht die Zeit auszuformulieren:
"... nicht einverstanden, aber wir..." Mein Gott, Firey - sie musste sich zusammennehmen! Nicht stottern! Nicht nach den Worten suchen! Nicht unnötig um den heißen Brei reden - und erst recht nicht rot werden!
"... sollten uns wiedersehen und dann ein längeres Gespräch führen." Firey sprach mit vollem Ernst: feierlich, wie bei ihrer ersten Kriegsrede. Sie verstärkte sogar noch den Druck ihrer Hand, die immer noch seinen Arm umschlossen hielt, ehe sie sich von ihm löste, dem etwas verwundert aussehenden Dämon ungehemmt in die Augen sehend. Doch Silver teilte diese feierliche Ernsthaftigkeit nicht - er begann zu grinsen.
"Gut, das machen wir. Aber lass uns keine Zeit und keinen Ort abmachen, dafür eignet sich unser Alltag nicht gerade. Ich werde dich finden; ich werde ja trotz allem weniger überwacht als du - bei mir piept auf jeden Fall nichts." Bei ihm könnte etwas ganz anderes geschehen, dachte Silver, denn natürlich schätzte Ri-Il Verspätung nicht, aber das ließ er nun unkommentiert.
"Wird es lange dauern?", fragte Firey und wurde erst nach dem Stellen der Frage rot, weil sie bemerkte, dass man diese Frage auch anders verstehen konnte - und sie wurde noch röter, als Silver sich vorbeugte und sie direkt angrinste:
"Keine Sorge, du wirst mich nicht allzu lange vermissen müssen."
"Wer würde einen Idioten wie dich auch vermissen", antwortete sie zwar, aber sie erwiderte sein Grinsen mit einem Lächeln. Wie schön es war, dieses von Nahem zu sehen; zu wissen, dass er sie angrinste, dass er wegen ihr so freudig grinste...
"Ich glaube du."
"Darauf würde ich nicht wetten, Bakayama."
"Wirklich", begann Silver, sich zurücklehnend:
"Wir haben uns gar nicht verändert. Wir sollten darauf schwören." Firey sah die Hand, die Silver ihr reichte, verwundert an.
"Darauf, dass wir immer dieselben bleiben werden." Silvers... Siberus... Grinsen war so schrecklich ansteckend und vielseitig. Es konnte einen beleidigen, einen schlecht fühlen lassen - und dann schenkte es einem wieder Stärke und Zuversicht - Gefühle, die Firey durchströmten, als sie seine Hand nahm:
"Ja. Schwören wir darauf."
Wie dankbar war Green nicht dafür, dass sich die Welt um sie herum auflöste. Der Schrei der sterbenden Dämonin saß ihr immer noch in den Knochen - nein, nicht in den Knochen. In ihrem Element. Vielleicht war das gar nicht so weit hergeholt, wenn Green an Hikaris Gesicht zurückdachte und daran, wie sehr das Herz der beiden anderen Lichtgötter geschmerzt hatte. Vielleicht konnte man diesen Schrei mit gutem Recht... den Urschrei nennen.
Den Urschrei des Krieges.
Langsam nahm die Welt um sie herum wieder Form an - sie waren aber jetzt an einem anderen Ort und wenn sie immer noch am selben Tag waren, dann musste es ein paar Stunden später sein, denn der Himmel war nicht länger lavendel und golden, sondern schwarz... weit am Horizont, dort, wo die Sonne untergegangen war, zeichnete sich ein schmaler, roter Strich ab. Was für ein... düsterer Abend.
Dank dem, was Green mittlerweile schon erfahren hatte, konnte sie sich zusammenreimen, dass sie sich jetzt in dem Territorium der Dämonen befand und zwar im Thronsaal des Dämonenherrschers, denn der Boden war aus schwarzem und roten Marmor, genau wie die hohen, mächtigen Säulen, die eine Decke bildeten, die aussah wie ein Blätterwerk; ein Blätterwerk aus Marmor. Während Green sich so umsah, wurde ihr schnell bewusst, dass die damaligen Dämonen ihr Handwerk wirklich beherrscht hatten: Die Säulen waren aufwendig verziert, die herunterhängenden, roten Lampen aus Glas mit Liebe zum Detail ausgearbeitet worden. Die Säulengänge hoch und offen - bei Tageslicht würde überraschend viel Licht hineinscheinen. Es sah sicherlich hübsch aus, denn die oberen Hälften der Torbögen waren mit buntem Glas ausgelegt, so dass die bunten Lichter auf den Boden gemalt wurden, wenn die Sonne hineinschien... es war auch sehr sauber und ordentlich und genau wie Light gesagt hatte, so konnte man sich im Boden spiegeln. Auch wenn der große Saal jetzt mit seinen roten Lampen unheimlich und bedrohlich wirkte, sah er bei Tageslicht und besserem Wetter sicherlich wunderschön aus.
Aber das Wetter war wahrlich grausam; Green spürte es nicht, aber sie sah wie aufgebrachte Wolken über den Himmel jagten und wie die Bäume sich im Wind bogen. Es war ein Wetter, das Unheil verkündete - und unheilvoll schien die Botschaft wahrlich zu sein, wenn Green sich die sieben Gesichter der sieben Teufel ansah.
Es war eigenartig, sie, nun ja, in "echt" zu sehen. Green hatte das Fach, das die anderen Wächterkinder drei Jahre studierten, von Hizashi nur als eine Art schnellen Crashkurs bekommen - Dämonologie schien für Shaginai und sein Trainingsprogramm nicht so relevant zu sein und Green hatte sich nicht beschwert, da Hizashis Unterricht recht trocken und fordernd war - aber dennoch wusste sie, dass diese sieben Teufel von den Dämonen immer noch hochgehalten wurden. Sieben war nicht umsonst die Zahl der Dämonen, hatte Hizashi erwähnt und weiter erklärt, dass die sieben Teufel angeblich die Urväter der Dämonen waren; die sieben Urrassen, von denen alle Dämonen abstammten, was aber schwer nachzuweisen wäre, denn die Spuren hätten sich durch die Zeit zu sehr verwischt. Fakt war jedoch, dass die sieben Teufel jeder für einer der sieben Sünden - oder eher "Mächte" - standen.
"Das entspricht der Wahrheit. Aber die Teufel verkörpern sie nicht nur. Sie sind das, was die Dämonen heute die sieben Mächte nennen. Genau wie Hikaru und ich von unserer Mutter geschaffen worden sind, sind die Teufel ebenfalls erschaffen worden und zwar von ihm, dem Dämonenherrscher. Den sieben Charaktereigenschaften, die ihn und sein Sein dominierten, gab er Form und hauchte ihnen Leben ein. Damals waren sie weder als "Mächte" noch als "Sünden" bekannt; sie waren seine Ratgeber und seine Familie."
Die Teufel sahen gebannt und angespannt auf eine Übertragung, die wohl direkt aus der Gedankenwelt des namenlosen Dämonenherrschers stammte, denn sie zeigte den Tod der Dämonin. Während dieser grausame Sterbeprozess die Gesichter der Teufel erstarren und erbleichen ließ, fuhr Light fort mit seiner Erklärung, obwohl Green nicht um sie gebeten hatte:
"Mammon kennst du bereits. Er ist der Meister des Hammers gewesen; dank ihm erblühten viele Städte zur prunkvollen Pracht. Neben ihm sitzt der ruhigste von ihnen, Astaroth. Er ist für die Kommunikation zwischen unseren zwei Reichen verantwortlich gewesen. Dann kommt Leviathan, der für die Versorgung der Dämonen stand, zusammen mit Baal. Gegenüber der kreativste Kopf unter ihnen, Belphegor, der für sämtliche Freuden im Reich sorgte und stets mit Beleth zusammenarbeitete, der rechts von ihm saß. Unter ihm erblühte das Kunsthandwerk der Dämonen und die zahlreichen Dekorationen ihrer Gebäude. Zu guter letzt... Luzifer, Berater und die rechte Hand seines Gebieters und der einzige, auf dessen Wort er hörte."
"Er hat Leben geschaffen? Einfach... so?! Und gleich mal sieben?!"
"Er ist sehr mächtig."
Dann wunderte Green sich aber wirklich, warum man nie etwas von ihm hörte. Von den sieben Teufeln hatte Green öfter mal etwas gehört, aber von dem namenlosen Dämonenherrscher hatte sie nur ein einziges Mal etwas erfahren - und das war in dem Buch von Tao. Er wurde nie behandelt. Dabei war er es doch, der die sieben angeblich stärksten Dämonen erschaffen hatte.
"Fällt dir etwas auf?"
Die Frage Lights war sehr vorsichtig gestellt, wie Green bemerkte, aber sie wusste nicht, warum er so einen zögerlichen Tonfall hatte, als traue er sich nicht, die Frage zu stellen. Green wusste allerdings weder, was ihr auffallen sollte, noch warum sein Tonfall sich verändert hatte. Sie sah, genau wie die Teufel, auf die Projektion, die aussah wie eine glatte, sich nur leicht kräuselnde Wasseroberfläche.
"Was soll mir auffallen?" Light schwieg kurz, aber dann antwortete er:
"Unter den Teufeln gab es niemanden, der dafür zuständig war, die Dämonen den Kampf zu lehren... tatsächlich ist keiner der Teufel der Kampflehre mächtig."
Das zu hören verwunderte Green, aber sie wusste nicht so recht, was sie mit dem Wissen anfangen sollte. Die Dämonin in der Übertragung litt derweil ihren abstoßenden Sterbekampf und es wunderte Green nicht, dass eine der ersten Fragen lautete, ob das wirklich ein Werk von Hikari war.
"Ja, kaum zu glauben, aber das ist es", antwortete der Dämonenherrscher an der Spitze des Tisches mit einer auffällig unbeeindruckten Stimme. Kurzes, sehr angespanntes Schweigen nach dieser Antwort ihres Herrschers, den sie auch alle entgeistert ansahen. Wenn dieser allerdings angespannt war, dann ließ er es sich nicht anmerken - war er wirklich nicht besorgt, oder war er einfach nur so ein guter Machthaber, dass er seine Souveränität angesichts dieser ersten, wirklichen Bedrohung, nicht verlor?
"Ist das... ein Kriegsakt?", fragte Astaroth. Es war eigenartig, den Dämon mit den hohen, nach innen gebogenen Hörnern jetzt namentlich zuordnen zu können, nachdem Green sie alle nur als eine große Masse angesehen hatte. Wenn sie sie jetzt so sah, bemerkte sie, dass sie alle unterschiedlich aussahen... sie sahen ihrem Erschaffer nicht einmal ähnlich, ganz anders als Light und Hikaru, denen man schon ansehen konnte, dass sie von Hikari abstammten oder in ihrem Bildnis geschaffen worden waren... oder wie auch immer man das sagen sollte. Aber bei den sieben Teufeln war das ganz sicherlich nicht so gewesen; das einzige, was sie gemeinsam hatten, war die beträchtliche Höhe, dass sie alle männlich waren und dass sie alle sehr imposante, aber unterschiedliche, Hörner besaßen. Dass sie allerdings nach einer Sünde, Charaktereigenschaft oder was auch immer geschaffen worden waren, sah man ihnen nicht an. Ob das nur ihr "Grundbaustein" war und sie sich dann selbst entwickelt hatten?
"Es war ein Unfall. Kein Kriegsakt", erwiderte Luzifer ernst, aber ruhig, dessen Augen immer noch auf die Projizierung gerichtet waren, die sich nun aber auflöste, als der namenlose Dämonenherrscher die Oberfläche mit einem Finger berührte.
"Aber jetzt wissen wir - und sie - dass sie die Waffen haben, um einen Krieg führen zu können." Luzifers goldene Augen huschten zu Beleth, der dies gesagt hatte und antwortete mit zischender Stimme:
"Die Sonne hat uns bis heute keinen Schaden zugefügt, also warum sollte sie es jetzt wollen?"
"Die Lichtwächter sind auch nur drei und können sich nicht vermehren. Kein Grund um in Panik zu geraten. Auch wenn das..." Mammon machte eine fahrige Bewegung dorthin, wo die Dämonin gerade vor ihren Augen gestorben war:
"... eindeutig besorgniserregend ist." Leviathan meinte nun, dass er immer noch mehr Respekt vor den Feuerwächtern hätte; Luzifer hielt sich raus, aber Green bemerkte, dass er zum namenlosen Dämonenherrscher sah, der sich ebenfalls zurückhielt. Er schien zu grübeln - und immer noch war da dieses kleine Anzeichen eines Lächelns...
"Warum lächelst du?" Green fand, dass das eine äußerst angebrachte Frage war, aber dennoch blickte der namenlose Dämonenherrscher verwirrt über die Schulter, als Luzifer sich ihm näherte. Sie befanden sich auf einem großen, runden Balkon, überdacht von einem immer noch sehr aufgebrachten Himmelszelt, das nur ab und zu ein paar Sterne durchfunkeln ließ. Der Balkon war auf Eterniya gerichtet, aber dort sah man nur ein paar kleine Lichter - der Horizont sah trostlos aus, genauso finster wie Luzifers Gesicht, als sein Herrscher antwortete:
"Was sollte ich deiner Meinung nach denn sonst tun, Luzifer? Weinen? Ich kannte das arme Ding nicht, also warum sollte ich ihren Tod beweinen? Weil er ekelerregend war?"
"Manchmal widerst du mich an." Irrte Green sich da, oder blitzte da kurz Schmerz auf in den Augen des Dämonenherrschers? Als er sich herumwandte, war jedenfalls jede Schalkhaftigkeit aus seinem Gesicht verschwunden.
"Du weißt genau, was zu diesem Unglück geführt hat. Hättest du es so einem verletzlichen Herz nicht schonend beibringen können, ohne dass der Himmel brennt?"
"Noch brennt der Himmel nicht", erwiderte der namenlose Dämonenherrscher, sich an dem Geländer des Balkons abstützend und immer noch grinsend, aber dieses verging ihm, als Luzifers Stimme sich voller Zorn erhob und ihn in seinen Worten unterbrach:
"Der Himmel soll auch nicht brennen!" Der Dämonenherrscher schwieg - nicht eingeschüchtert, wie es Green schien, sondern erschrocken. Luzifer war wohl sehr selten wütend...
"Manchmal..." Die Stimme Luzifers zitterte immer noch, ebenso wie seine Augen, die vor Zorn bebten:
"... frage ich mich, ob wir nicht alle nur deine Spielfiguren sind, die deiner Unterhaltung dienen. Ich inklusive."
"Luzifer!" Verzweiflung hatte in seiner Stimme gelegen und verzweifelt war auch die Geste des namenlosen Dämonenherrschers, als er Luzifers Hand ergriff, gerade als dieser ihn verlassen wollte. Aber dessen Blick blieb kalt, als er sich zu ihm herumwandte und genauso kalt war auch seine Stimme:
"Wenn du meinen Respekt nicht verlieren willst, dann verhinderst du einen Krieg." Kurz sahen sie sich an - erstarrte Augen in kalte, zornige - dann riss Luzifer seine Hand aus dem Griff des namenlosen Dämonenherrschers los und drehte sich herum, die Hand schon an der Tür---
"Und dein Herz?" Nur ein kurzer, ernster Blick über die Schulter, aber keine Antwort.