Kapitel 60 - Sensenmann und Flötenspieler III
Teri konnte nicht verhehlen, dass sie sich ungemein freute, als sie das Handy klingeln hörte, welches sie einzig und allein für einen eventuellen Anrufer besorgt hatte - Youma. Sofort brach helle Aufregung in der kleinen Hütte aus; jedes Kind wollte gerne mit ihm sprechen, aber im Endeffekt war es dann doch deren Mutter, die siegreich davonging und nun den Anruf entgegennahm, während drei ihrer acht Kinder um sie herum tänzelten, darum bettelnd, ebenfalls mit ihm reden zu dürfen.
"Youma! Was für eine angenehme Überraschung - wo hat es dich denn hin verschlagen?"
"Guten Abend, Teri-san." Hach, immer so höflich, der Gute!
"Ich halte mich momentan in...eh... Parii auf..."
"Du meinst wohl Paris; die Stadt der Liebe! Ou, du rufst doch nicht etwa an wegen einem Date, oder etwa doch? Die Kinder würden sich freuen, nicht wahr?" Sofort ertönte helle Zustimmung und Youma konnte in Paris nicht drumherum, ein wenig darüber zu lächeln, doch er kehrte schnell wieder zu seiner gewohnten Professionalität zurück:
"Verzeih, dass ich dich wieder darauf hinweisen muss, dass ich verlobt bin ..."
"Jaja - er redet wieder Schwachsinn, Kinder!"
"... und dass ich wegen einer anderen Angelegenheit anrufe."
"Ich bin ganz Ohr, Schatzi." Und irgendwo in Paris wurde ein Halbdämon gerade rot, doch er zwang sich dazu, seine Gesichtsfarbe zu ignorieren:
"Weißt du zufällig etwas von einem kleinen Mädchen, das sich in Nocturns Begleitung aufgehalten hat?"
"Von einem kleinen ..." Teri tat so, als müsse sie nachdenken, obwohl sie sofort wusste, von wem er sprach; aber es schadete nicht, ihn ein wenig auf die Folter zu spannen:
"Du musst Feullé meinen."
"Vielleicht. Ich wüsste gerne, ob sie noch am Leben ist."
"Das weiß ich nicht", log Teri geradeaus, doch Youma erkannte die Lüge nicht.
"Da musst du Lacrimosa fragen. Sie weiß es." Das war eine Antwort, die den Sensenmann zu überraschen wusste:
"Lacrimosa-san? Warum, wenn ich fragen darf?"
"Weil sie sehr gut mit Nocturn befreundet war und daher sicherlich weiß, was mit dem Mädchen passiert ist."
"Was?! Ich dachte, sie ... hasse alle Männer?"
"Keine Regel ohne Ausnahme, Herzchen."
"Das ist natürlich sehr ... interessant." Noch ein Grund mehr, diesen eigentümlichen Dämon dazu zu überreden, sein Partner zu werden, dachte Youma mit einem sehr zufriedenen Lächeln, welches Teri in seinem Tonfall hören konnte, weshalb sie nun nachbohrte:
"Youma, wenn du nicht gerade Nocturn über den Weg gelaufen bist - und das bezweifle ich, denn er ist tot - bringt dir deren Freundschaft rein gar nichts."
"Oh, mir rennen so einige totgeglaubte Dämonen über den Weg", entgegnete Youma einen bedeutsamen Blick zu dem Hochhaus werfend, von welchem er sich gerade entfernte. Teri lachte am anderen Ende der Leitung:
"Youma, du bist größenwahnsinnig! Das ist sicherlich auch das, was deine Verlobte an dir liebt, oder?" Eher nicht, dachte Youma ein wenig grinsend, ließ Teri aber fortfahren, ohne sie zu korrigieren:
"Größenwahnsinnige Männer schüren mein Verlangen - es macht sie so pedantisch." Youma wollte gerade erwidern, dass das wohl kaum ein Kompliment war, als Teri ihm schon zuvorkam:
"Dann spitz mal deine Ohren, Herzchen!"
Der sich in seinen Träumen als nächster Machthaber der Dämonen Ansehende hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Nocturn zu seinem Partner machen würde - ob dieser es nun wollte oder nicht und ob es nun so schlau war, an Plan A festzuhalten oder nicht, war ihm dabei vollkommen egal. Nocturn hatte ihn in seinem Stolz verletzt und das ließ Youma nicht auf sich sitzen. Nun sah er es als Herausforderung an, was kindisch und vielleicht auch ziemlich dumm war, doch Youma rechtfertigte seine Taten damit, dass die Fähigkeiten Nocturns und die Verbindung zu Lacrimosa - die immerhin die größte Horde der Dämonenwelt besaß! - die Gründe für sein Tun waren und nicht irgendein trotziger Stolz. Diese wunderbaren Gedankenlesefähigkeiten würden seinen Plan perfekt ergänzen und sowieso wäre Plan B - die Suche nach einem anderen Dämon, den er zu seinem Partner machen konnte - mit sehr viel Aufwand verbunden. Die Vorstellung, einen ebenbürtigen Partner mit solch praktischen Fähigkeiten an seiner Seite zu haben, war schon überaus attraktiv; viel attraktiver, als sich einen anderen, um einiges schwächeren Dämon zu suchen, der vielleicht eher ein Klotz am Bein wäre als das Gegenteil.
Doch der einzige Anhaltspunkt, den Youma hatte, war das blonde Mädchen - Nocturn hatte zwar vorgegeben, dass er davon überzeugt sei, dass es dem Mädchen gut ging, aber die Unsicherheit in den Augen des Dämons hatte eine andere Sprache gesprochen. Wenn Youma beweisen konnte, dass es dem Mädchen nicht gut ging oder es sogar tot wäre, würde er ihn sicherlich zum Handeln bringen - und wenn es dem Mädchen gut ging, würde es Nocturn vielleicht dazu bringen können, sich ihm anzuschließen. Fakt war auf jeden Fall, dass das Mädchen sein einziges Bindeglied zu Nocturn war, denn um seine Mitarbeit betteln - nein, betteln würde er niemals!
Zum Glück hatte Teri ihm weiterhelfen können; er hätte sich natürlich auch an Karou wenden können, da dieser ihm sicherlich behilflich sein konnte, doch Youma hatte nicht vor, den Eindruck zu hinterlassen, dass er von Karou abhängig war. Youma war Karou gegenüber viel zu skeptisch, um ihn irgendwie in seinen Stab aufzunehmen. Nein, ihm war sehr wohl klar, dass Karou einer seiner Feinde war und mit der Wiederbelebung Nocturns war ihre kurzweilige Partnerschaft beendet. Zwar wusste Youma nicht, warum Karou und diese eigenartige Frau ihn wieder unter den Lebenden gewünscht hatten, doch wusste er, dass Karou es ihm gewiss nicht mitteilen würde. Wenn Nocturn sich nicht selbst mit ihnen in Kontakt setzen würde, würde Karou seine Wiederauferstehung auch nicht bemerken - und Nocturn hatte nicht gerade den Eindruck vermittelt, dass er mit irgendjemandem wieder in Kontakt treten würde. Nun, wenn Youma mit dem Mädchen im Schlepptau bei ihm auftauchte, dann würde er ihn schon reinlassen, ha.
Also hatte Youma sich zum Gebiet Lacrimosas aufgemacht; genauer gesagt an die Grenze zu ihrem Gebiet, genau wie Teri es ihm geraten hatte. Der Temperaturumschwung war deutlich zu spüren und der rote Himmel war kaum durch das Dickicht der Wolken zu erkennen. Noch befand er sich nicht auf ihrem Gebiet sondern auf dem von Gaossou, doch auch hier fielen in unregelmäßigen Abständen ein paar Flöckchen vom Himmel; schmolzen allerdings sofort wieder, als sie den felsigen Boden berührten.
In weiser Voraussicht hatte Youma seinen Ingnix in seinem Hotelzimmer gelassen, was seine Aura für alle deutlich spürbar machte und die hier lebenden Dämonen von ihm fernhielt, denn auch sie vernahmen den Unterschied zwischen ihrer mickrigen Stärke und der Youmas. Er hatte sogar seine Sense in seinem Hotelzimmer gelassen, sich ganz auf die Autorität seiner Aura verlassend und natürlich auf seine eigenen Fähigkeiten, falls es doch zu einem Kampf kommen würde.
Es schien zu funktionieren: die hier lebenden Dämonen beäugten den Unbekannten zwar skeptisch und manchmal auch mit gewetzten Zähnen, doch ließen ihn ungehindert passieren.
Die Landschaft war von spitzen Felsformationen gekennzeichnet, durch die sich kleine Pfade schlängelten: kaum so breit, dass zwei Personen nebeneinander auf diesem Weg wandeln konnten. Youma war sich bewusst, dass diese Wege für viele andere Passanten sicherlich Todesfallen waren, denn er hörte und fühlte deutlich, dass sich um ihn herum auf den Klippen und zwischen den spitzen Felsen Dämonen aufhielten und konnte sich gut vorstellen, dass diese schmalen Pfade sich sicherlich hervorragend für Hinterhalte eigneten.
Der Sensenmann glaubte bereits, dass er ohne besondere Ereignisse an die Grenze von Lacrimosas Gebiet gelangen würde, bis sich vor ihm plötzlich ein Hindernis auftat, mit welchem er so gar nicht gerechnet hatte: eine Mauer, obendrein eine aus Stahl.
Überrascht weitete Youma die Augen und fragte sich sofort, was denn eine Mauer für einen Sinn hatte, wenn sicherlich alle hier lebenden Wesen das Teleportieren beherrschten und es somit ein Kinderspiel war, diese zehn Meter hohe Mauer zu überwinden. Schnell fand Youma allerdings heraus, dass die rot leuchtenden Kugeln, die in die Mauer hineingearbeitet worden waren, einen Anti-Teleportationszauber wirkten, der es ihm unmöglich machte, sich einfach aufzulösen und auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Auch der Versuch, einfach über die Mauer hinweg zu fliegen, scheiterte kläglich, denn kaum dass Youma die zehn Meter emporgestiegen war, bauten sich ganz automatisch nochmal zehn Meter obendrauf, indem sich in Windeseile Abertausende von kleinen Vierecken zu einer stabilen Mauer zusammenfanden.
Verwundert, aber auch ein wenig beeindruckt über diese eigentümliche Art, seine Grenzen zu beschützen, sah Youma sie einen Moment lang schweigend an, bis er unter sich plötzlich Auren spürte und ehe er nach unten sehen konnte, drang bereits eine harte Stimme zu ihm herauf:
"Probleme?" Der Halbdämon blickte nach unten und entdeckte sofort die Person, die zu ihm gesprochen hatte: ein Dämon, dessen Kopf kahl geschoren war und mit roten Augen, die von Argwohn definiert zu sein schienen, sah mit eben diesem Misstrauen zu ihm herauf und seine dünnen schwarzen Pupillen folgten Youma, während er sich wieder auf den Boden hinabgleiten ließ. Dabei bemerkte Youma, wie groß der Dämon vor ihm war: er, der selbst fast einsneunzig groß war, musste nämlich zu ihm hochsehen, um mit dem kräftigen Dämon reden zu können. Youma konnte nicht beurteilen, ob es Muskeln waren, die ihn so kräftig erscheinen ließen, oder die Tatsache, dass der plötzlich aufgetauchte Dämon seine Uniform mit Metall ausgestattet hatte.
Der Dämon war nicht alleine gekommen: hinter ihm befanden sich drei weitere, die ihm in puncto Körperbreite in nichts nachstanden, an seinen skeptischen Blick allerdings nicht herankamen; sie schienen eher von dümmlichen Charakter zu sein.
"Ja, in der Tat, ich habe Probleme", begann Youma im Versuch, sich höflich zu zeigen, denn er hatte keine Lust auf einen sinnlosen Kampf:
"Ich wollte zu Lacrimosa-san und ich muss gestehen, dass diese Mauer mir in diesem Bestreben im Weg ist." Misstrauisch hob der Dämon ihm gegenüber die Augenbraue und antwortete brummend:
"Wieso? Bist du eine Frau?" Youma musste zugeben, dass diese Antwort ihn verärgerte, denn er fand nicht, dass er aussah wie eine Frau:
"Nein, ich bin ein Mann."
"Was hast du dann da drüben verloren? Wenn du ein Mann bist und dir deine Eier lieb sind, solltest du keinen Schritt weitergehen." Diese vulgäre Wortwahl brachte Youma zum verblüfften Schweigen und einen Moment war er angesichts dieser sprachlos, einen Moment, den sein Gegenüber nutzte, um Youma zu fragen, wie dieser in sein Gebiet gelangt war.
"Ich... bin hierhin teleportiert. Ich war noch nie in Lacrimosa-sans Gebiet ..."
"Nein, das habe ich mir gedacht."
"... und hielt es für klüger, mich von hier aus ihrem Gebiet zu nähern." Plötzlich schien Youma an Interesse verloren zu haben, denn sein Gegenüber wandte sich an den Dämon links von ihm:
"Sag mal, ich glaube, ich habe mich nicht verhört, als ich gehört habe, dass diese verdammt teure Mauer dafür sorgen würde, dass hier niemand rein oder raus teleportieren kann?"
"Also, Gaossou-sama, ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich das gehört hatte ..." Das war also der Fürst dieses Gebietes, schlussfolgerte Youma überrascht, doch lauschte lieber dem Gespräch, in welches sich nun auch der Dämon zu Gaossous Rechten einmischte:
"Vielleicht ist er ja ein Halbdämon, auch wenn ich mir da nicht so sicher bin. Ich meine, ich bin mir ja nicht so sicher, aber vielleicht schützt die Mauer uns ja nur vor Teleportationen innerhalb unserer Welt? Wie gesagt, ich bin mir nicht so sicher ..."
"Wie bitte?! Was wurde mir denn da für ein Scheiß angedreht?!"
"Aber Gaossou-sama, die Mauer schützt Euch immerhin vor ziemlich vielen!"
"Ich will aber eine Mauer, die mich vor allen schützt! Vor allen, habt ihr mich verstanden?!" Youma räusperte sich hörbar, nachdem er bemerkte, dass das Gespräch in eine uninteressante Richtung zu gehen schien und sofort hatte er auch wieder alle Aufmerksamkeit, welche er höflich belächelte:
"Wie ich sehe, sind Sie der Fürst dieses Gebietes?"
"Der bin ich, Schönling", antwortete Gaossou gehässig; einen Tonfall, den Youma überhörte:
"Dann können Sie sicherlich auch dafür sorgen, dass ich Lacrimosa-san einen Besuch abstatten kann - sehe ich das richtig?" Natürlich wollte Gaossou Youma diesen Gefallen nicht tun: das sah man ihm deutlich an, doch genauso deutlich zu sehen war auch die Tatsache, dass dieser Fürst nicht auf den Kopf gefallen war, denn anstatt seinem ersten Gedanken nachzugeben, schien er nachzudenken, wobei sein Blick zuerst lange auf Youma ruhte, ehe er zur Mauer schielte.
"Von mir aus", meinte er dann schlussendlich mit einem selbstzufriedenen Lächeln, als wäre er stolz über das, was er ausgeheckt hatte. Sein Gefolge allerdings schien die Gedankengänge ihres Fürsten nicht nachvollziehen zu können, denn die Dämonen sahen ihn überrascht an, was Youma sagte, dass es sicherlich nicht Gaossous Art war, einem Fremden einen Gefallen zu tun. Dies tat er nun mit dem Schnippen seiner Finger, wodurch sich plötzlich eine Tür in der Mauer öffnete, als wäre diese schon die ganze Zeit vorhanden gewesen. Sie war nicht besonders groß, doch groß genug, dass Youma hindurchpassen konnte. Argwöhnisch sahen alle Anwesenden, inklusive Youma, durch die entstandene Öffnung, durch die sie nichts außer einer weißen, weiten, aber ausgestorbenen Schneelandschaft erblicken konnten.
"Beeil dich! Ich will nicht, dass eine von denen auf die Idee kommt, hier rüber zu kommen - die Mauer ist nicht umsonst da!" Youma zögerte nicht lange und verschwand schon durch die Tür, welche sich - nach einem weiteren Schnippen des Fürsten - sofort hinter ihm schloss. Doch obwohl sie Youmas Rücken nicht mehr sehen konnten, starrten die vier Dämonen ihm immer noch hinterher, als könnten sie nicht fassen, dass irgendein Mann sich freiwillig auf das Gebiet Lacrimosas begab.
"Der Typ muss ganz schön lebensmüde sein", konstatierte einer von Gaossous Gefolgsleuten, woraufhin der andere erwiderte:
"Ja, oder ziemlich notgeil." Gaossou räusperte sich und straffte seinen wehenden Umhang, um zu verdeutlichen, dass er wieder in sein wohlgesichertes Schloss zurückwollte, doch kam nicht um eine Antwort herum, ehe sie dies taten:
"Egal was sein Grund war: den sehen wir nicht wieder. Seine Aura war zwar ziemlich beunruhigend, aber das Problem ist nun auch abgehakt. Auch er wird untergehen, wenn sie sich auf ihn stürzen."
Sie. Das war das Sicherheitskommando Lacrimosas. Eine Reihe weiblicher Dämonen, die die Grenze beschützten und sich auf jeden männlichen Dämon sofort stürzten und ihn im besten Falle gefangennahmen, wenn sie meinten, dass er sich zur Reproduktion eignete - wenn nicht, töteten sie ihn auf der Stelle. Diese Dämonen bewegten sich in großer Zahl an der Grenze entlang, in komplett weiße Kleidung gehüllt und das Gesicht weiß bemalt: die perfekte Tarnung in solch einer Umgebung. Zwar waren ihre Auren spürbar, doch ihre große Anzahl machte es unmöglich zu erahnen, wo sie sich nun gerade befanden und von wo aus sie angreifen würden; besonders für den Besucher, der absolut keine Ahnung hatte, was auf ihn zukam, so wie es bei Youma der Fall war. Gänzlich unvorbereitet bemerkte er schnell die vielen Auren um sich, doch war nicht davon ausgegangen, dass sie ihn sofort angreifen würden - und natürlich fand er schnell heraus, dass er sich da irrte. Eigentlich hatte er geglaubt, dass er jemanden nach dem Weg zu Lacrimosa würde fragen können, wenn er nur höflich wäre und seine Aura seinem Gegenüber schon mitteilen würde, dass sie sich besser nicht mit ihm anlegen sollten... Doch schneller als dass er seine höflichen Floskeln in Gebrauch nehmen konnte, wurde er bereits von um die 20 Frauen überrumpelt, die sich wie ein Rudel hungriger Wölfe über ihn stürzten und ihm gar keine Gelegenheit ließen, sich zu wehren - weder mit Worten noch mit Taten.
Der Halbdämon hatte allerdings Glück im Unglück, denn sein vorteilhaftes Aussehen schützte ihn davor, umgebracht zu werden und auf Umwegen fand er so zum Eispalast Lacrimosas. Im Palast angekommen, wurde Youma, dem man Hand- und Fußschellen angelegt hatte, drei anderen Frauen übergeben, die Youma von Kopf bis Fuß begutachteten und das nicht nur mit ihren Augen; auch mit ihren Händen tasteten sie seinen Körper ab, was Youma absolut nicht witzig fand und sogar spürte, wie er rot wurde:
"Könnten Sie das bitte sein lassen; ich versichere Ihnen, dass ich keine bösen Absichten verfolge. Ich wünsche einfach nur, mit Lacrimosa-san zu - ah!? Entschuldigen Sie bitte?! Ich bin verlobt!" Nun wusste Youma, was Gaossou gemeint hatte und ließ plötzlich alle Höflichkeit fallen, als eine der drei Frauen ihn in einem Bereich seines Körpers berührt hatten, der gewiss einzig und allein für Silence reserviert war - und abermals schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, den er seit seiner Gefangennahme in seinem Kopf herumgeistern hatte: warum hatte Teri ihn denn vor diesen Frauen nicht gewarnt?!
Als Youma dies jedoch mit hochrotem Kopf verkündet hatte, begannen die drei Frauen herzhaft zu lachen:
"Ich denke, er ist sehr gut für die Fortpflanzung geeignet, meint ihr nicht auch, Schwestern?"
"F-Fortpflanzung ...?!" , stotterte Youma und seine rote Gesichtsfarbe wechselte nun von rot zu weiß, als ihm plötzlich klar wurde, warum sie ihn so abgetastet hatten: in einem Gebiet voller Frauen brauchten sie natürlich dennoch ab und zu mal einen Mann, um dafür zu sorgen, dass ihre Horde ihre Größe behielt. Aber gewiss nicht ihn!
"Ja, seht euch doch nur mal diese Haare an! Habt ihr die schon angefasst, Schwestern? So geschmeidig und glatt!"
"Ahja, da kommen sicherlich hübsche Mädchen bei raus ... und so stark wie seine Aura ist gewiss auch keine Schwachen!" Während die drei Mädchen über irgendwelche zukünftigen Nachkommen schwärmten, wurde Youma langsam schwindelig, denn dieser Gedanke war schlimmer als ... so einige andere jedenfalls. Es widerstrebte ihm, Frauen zu verletzten, aber er musste sich befreien. Er konnte und durfte nicht zulassen, dass eine andere Frau außer Silence ...
Plötzlich bemerkte Youma jemand Bekannten aus den Augenwinkeln und sofort wandte er sich so gut es ging herum - und ehe er genauer darüber nachgedacht hatte, rief er laut:
"Ich gehöre zu ihm!"
Der Jemand, zu dem Youma seiner Aussage nach gehörte, war kein geringerer als Nocturn, welcher sich ebenfalls in Begleitung zweier Frauen befand, aber, wie Youma wütend bemerkte, nicht angekettet war, sondern sich bestem Komfort erfreute, als er sich zu Youma herumdrehte.
Zuerst musterte er ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, doch als er bemerkte, in was für einer Situation er sich befand, grinste er breit:
"Ich weiß nicht, was dieser arme Tropf meint: Ich kenne seinen Namen nicht, demnach gehört er wohl kaum zu mir."
"Wir kamen einfach noch nicht dazu, uns einander vorzustellen, das ist alles!" Nocturn ignorierte die nahende Verzweiflung in Youmas Stimme gekonnt, als er ratlos mit den Schultern zuckte:
"Ich weiß nicht, wovon er redet, denn ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Aber auch ich denke, dass er sich sicherlich hervorragend für neue Kinder eignet!" Youma knirschte errötend mit den Zähnen und anstatt seine Wut gegen die Frauen zu richten, wollte er nun am liebsten Nocturn an die Gurgel springen.
Doch seine Wut verrauchte, als eine weitere Frau zu dem munteren Treffen stieß: Lacrimosa kam in eben diesem Moment durch die Tür geschneit. Sie wirkte genervt und erschöpft, doch als sie den kleinen Tumult in ihrem Gang bemerkte, lockerte die Verwunderung ihren Gesichtsausdruck auf: zuerst sah sie Youma an, musterte ihn gründlich von Kopf bis Fuß und schien zufrieden zu sein mit dem, was sie sah, denn sie nickte zufrieden mit den Kopf, was Youma einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Als ihr Blick jedoch zu Nocturn wanderte, huschten ihre schmalen Augenbrauen überrascht nach oben und dann sah Youma Teris Aussage bestätigt, dass die beiden befreundet waren, denn ihr Gesicht hellte automatisch auf:
"Nocturn-kun?! Du--- lebst?! Ich--- wir alle dachten, du seist tot!"
"Tja ja, das dachte ich auch", antwortete Nocturn zuerst gelassen, seine Worte jedoch abrundend mit einem finsteren Blick zu Youma, womit er Lacrimosas pfeilschnellem Faustschlag nicht ausweichen konnte, der aus dem Nichts angeflogen gekommen war und den überrumpelten Dämon mit blutender Nase einige Schritte rückwärts stolpern ließ, ehe Lacrimosa seinen Kragen packte und ihn nah an ihr zorniges Gesicht zog:
"Du warst die ganze Zeit am Leben, du verfluchter Arsch!? Wie kannst du es wagen, jetzt hier aufzukreuzen?! Was bist du eigentlich für ein verdammter Rabenvater?!"
"Sie lebt also!? Es ist also alles glatt gelaufen; ich wusste, ich könnte mich auf dich verlassen!" Nocturn versuchte trotz blutender Nase zu lächeln, aber Lacrimosas eiskalter Blick ließ ihn erstarren:
"Noch ein Wort von dir und ich vergesse unsere Freundschaft - dann kannst du die gleiche Behandlung erfahren wie alle anderen Männer, die unser Gebiet betreten, verstanden?!" Sie ließ seinen Kragen los und entfernte sich stirnmassierend von dem etwas dumm dreinblickenden Nocturn.
"Ich muss mich erst mal abreagieren ..." Und zu Youmas Furcht wandte sie sich ihm zu, der immer noch von den Frauen umringt und festgekettet war:
"Ihr könnt ihn mir überlassen - sowas Hübsches ist jetzt genau das richtige für meine Nerven." Nun verlor Youma gänzlich an Farbe und sah von einem Moment auf den anderen aus wie ein Geist, was Nocturn in sich hineinlachend aufnahm, ehe er zu Youmas Erleichterung dem Ganzen ein Ende setzte:
"Es tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen, aber... er wird euch leider keine Kinder schenken können, denn er ist... wie soll ich sagen... vom Leben hart bestraft worden." Die drei Frauen sahen sich fragend an, dann wieder zu Youma, der gewiss keine Dankbarkeit in seinem Blick liegen hatte, sondern sein Gegenüber zutiefst wütend anfunkelte.
"Gehört der "vom Leben hart Bestrafte" etwa zu dir, Nocturn-kun?", fragte Lacrimosa neugierig den Kopf schief gelegt, ihre Wut offenbar kurz vergessend, woraufhin der Angesprochene ein wenig ratlos mit den Schultern zuckte und zu Youmas Überraschung antwortete:
"Das sieht wohl ganz danach aus."
Erst nachdem Youma seine Hand- und Fußschellen los und sein Erbmaterial von jeglicher Gefahr befreit worden war, nahm er sich die Zeit, sich in diesem wahrlich eisigen Palast umzusehen. Lacrimosa hatte die beiden Dämonen in einen großen Saal beordert, in welchem sich ein großer, langer Speisetisch befand, der aus einem zierlich wirkenden schwarzen Material bestand - aus dem selben Material waren auch die gepolsterten Stühle, die sich um den Tisch herum befanden. Die Wände, der Boden und die Decke schienen aus Eis zu bestehen, auch wenn sich Youma diese Konstruktion nicht so ganz erklären konnte, genauso wenig wie die blauen Flammen, welche in kleinen, verzierten Kugeln von der Decke herunterhingen sowie neben den großen Doppeltüren des Saales. Die Wände wurden nicht von gemalten Gemälden geziert, sondern von in das Eis gehauenen Fresken, die alle ausnahmslos Frauen zeigten. Es war eisig kalt, aber irgendwie nicht ungemütlich, denn das Polster der Korbstühle am Rande des Saales, gleich neben langen, schlanken Fenstern, wärmte gut. Dort hatten es sich die beiden Dämonen gemütlich gemacht, während sie auf Lacrimosa warteten, die sie dort mit den Worten platziert hatte, dass sie sich zuerst umziehen wollte, ehe sie ein "klärendes Gespräch" mit Nocturn führen würde. Diese Chance wusste Youma selbstverständlich zu nutzen:
"Ich hoffe, ich deute deine Worte richtig und du gehst auf mein Angebot ein?" Nocturn, den spitzen Ellenbogen auf der Lehne des Korbstuhls platziert und sein Gesicht mit der Faust abstützend, warf ihm einen ärgerlichen Seitenblick zu, antwortete allerdings nicht. Erst als Youma sich mit einer höflichen Geste vorstellte, regte er sich:
"Bilde dir bloß nichts Falsches ein. Ich bin nur hier, um mich davon zu vergewissern, dass es Feullé gut geht. Das ist alles." Youma, verärgert über die Unhöflichkeit Nocturns, antwortete besserwisserisch:
"Das wage ich anzuzweifeln. Wenn du dich gänzlich aus den politischen Begebenheiten der Dämonenwelt heraushalten wollen würdest, hättest du dich hier nicht blicken lassen; du hättest mittels deines Gedankenlesens auf viel einfachere und unauffälligere Art herausfinden können, ob das Mädchen noch am Leben ist. Daraus schließe ich, dass du dich vielleicht bewusst noch nicht dazu entschieden hast, mein Partner zu werden, aber vielleicht unterbewusst." Mit jedem weiteren Wort aus Youmas Mund hatten sich die Augen seines Gesprächspartners weiter verengt und schneidend konterte Nocturn:
"Du bildest dir sehr viel auf deine Intelligenz ein, nicht wahr?" Youma vollführte eine selbstgefällige Handbewegung, die so viel sagen sollte, dass er das nicht leugnen konnte, doch schnell wurde er von seinem hohen Ross heruntergeholt, als sich Nocturn in seinem Sessel zurücklehnte und triumphierend antwortete:
"Doch scheinbar bist du nicht intelligent genug, denn du hast eine entscheidende Sache vergessen", ein Grinsen breitete sich nun auf seinem Gesicht aus, als er belehrend seinen Zeigefinger hob:
"Ich kann nicht nur Gedanken lesen, sondern diese auch manipulieren. Mit anderen Worten kann ich Lacrimosa und alle anderen, die mich gesehen haben, mein Auftreten hier einfach vergessen lassen; nichts leichter als das und genau das habe ich auch vor, zu tun." Nun war Youma an der Reihe finster dreinzublicken, was Nocturn zu einem kindischen Lachen brachte:
"Ahahaha! Wie tut es mir leid, dass ich deine Interpretation zerstört habe. Ich bin untröstlich!" Dieses Gespräch wäre wahrscheinlich noch zum Streit geworden, wäre Lacrimosa in diesem Moment nicht zurückgekehrt. Neu eingekleidet und beladen mit einer Schüssel dampfenden Wassers samt warm aussehenden Pantoffeln gesellte sie sich zu ihnen, doch ehe sie etwas sagte, tauchte sie erleichtert aufseufzend ihre nackten Füße in die Schüssel.
"Die Schuhe haben mich fast umgebracht!" Youma und Nocturn warfen sich einen fragenden Blick zu, nicht sicher, ob sie etwas dazu sagen sollten, doch anscheinend war ihr eine Antwort auch egal, denn sie begann damit, sich weiterhin darüber zu beschweren, dass sie noch Blasen bekommen würde. Nach fast fünf Minuten schien sie zu bemerken, dass die beiden Männer herzlich wenig mit solchen Problemen anzufangen wussten und richtete ihre Aufmerksamkeit daraufhin an Nocturn:
"Ich habe keine Ahnung, wo du die letzten 18 Jahre warst, mein Lieber, aber du bist ein verantwortungsloses Arschloch und ein schlechter Vater obendrauf!" Bevor Nocturn jedoch auf ihren Vorwurf eingehen konnte, mischte sich Youma ein:
"Vater? Sie ist deine ... Tochter?!"
"Ja, was hast du denn bitte geglaubt?!"
"Naja, ich habe ja schon mitbekommen, dass du etwas ... seltsam bist."
"Darf ich das nochmal haben, was genau hast du geglaubt, was Feullé und ich sind?!"
"Lenk nicht vom Thema ab!", fauchte Lacrimosa dazwischen, womit sie seine Aufmerksamkeit wieder hatte:
"Du hast keine Ahnung, was du ihr angetan hast! Was auch immer du in den letzten Jahren getrieben hast, es ist keine Entschuldigung für das, was die kleine Feullé durchmachen musste. Nicht einmal der Tod wäre eine ausreichende Erklärung!" Nocturn runzelte die Stirn, schien aber nichts gegen die Vorwürfe Lacrimosas sagen zu wollen, wahrscheinlich weil er ja nach eigener Aussage nicht wollte, dass Lacrimosa sich an dieses Treffen erinnerte. Aber Lacrimosa schien es sehr zu interessieren:
"Warst du bei der Bannkreiserschaffung auf der falschen Seite?" Lacrimosa unterbrach sich selbst stirnrunzelnd, beide fragend anvisierend:
"Obwohl ... Wie kommt ihr eigentlich hierher? Ihr seid doch keine Halbdämonen?" Youma fluchte innerlich: nicht schon wieder dieses leidige Thema.
"Also ich nicht, aber er", antwortete Nocturn mit einem Fingerzeig seines Daumens auf Youma, der ihm einen finsteren Blick zuwarf, da er eigentlich nicht wollte, dass es in die Welt hinausposaunt wurde. Es war schlimm genug, dass es Nocturn schon aufgefallen war.
"Du warst also doch auf der richtigen Seite, Nocturn-kun?" Sie lächelte, aber es war so falsch und hatte einen so gefährlichen Unterton, dass Youma es kalt den Rücken herunterlief; Nocturn blieb unbeeindruckt.
"Ich bin eben erst hier angekommen."
"Nocturn-kun... ich erwarte nicht, dass du mir alles erzählst, aber ich erwarte, dass du mich nicht anlügst. Als reiner Dämon kannst du hier nicht einfach "mal eben angekommen" sein."
"Gut", begann Nocturn, sich zurücklehnend und sich selbst zunickend, ehe er mit seiner Erzählung anfing, bei der Lacrimosa Wort für Wort an Fassung verlor:
"Ich nehme an, dass der Bannkreis keinen Effekt auf mich hat, weil ich ihn mit geschaffen habe."
"... du hast was."
"Das ist natürlich nur eine Vermutung von mir, denn meine begehrte White hat mir keine ausführliche Erklärung gegeben, bevor ich ihr meine Macht gegeben habe, damit sie die eine Hälfte des Bannkreises schaffen konnte ..."
"Wie bitte---"
"...Es ist nämlich so, dass es zwei absolut gleich mächtige Wesen benötigt, um den Bannkreis zu schaffen; zwei, die sich ähnlicher sind als Zwillinge, Spiegelbilder, die sich für immer vereinen - ist das nicht einfach perfekt; ist das nicht romantisch!?" Begeistert von seiner eigenen Erzählung fuhr Nocturn fort, ohne auf Youmas und Lacrimosas fassungslose Blicke zu achten:
"Es war viel besser, als ich zu träumen gehofft hatte! Du weißt ja, ich habe alles perfekt vorbereitet, aber man kann planen was man will, das Leben schreibt doch die besten Drehbücher! Aber unser Tod... hach! Sie hat mich erstochen, als wir uns küssten, womit sie auch ihren eigenen Tod besiegelte, denn Dämonenblut ist ja Gift für Wächter ..." Ergriffen schwieg Nocturn plötzlich errötet, auf den Fingernagel des kleinen Fingers beißend, ohne auf Youmas leicht angewiderten Blick zu achten, da er gänzlich in seinen Erinnerungen vertieft war.
"Offensichtlich kann White nicht zielen, denn du siehst sehr lebendig aus, Nocturn-kun. Aber freut mich, dass du deinen ersehnten Kuss bekommen hast." Diese Worte holten Nocturn von seiner Erinnerungswolke herunter:
"Das ist nicht Whites Schuld - das ist ganz alleine seine Schuld!" Wen er meinte war unübersehbar, denn der Blick, den er Youma sandte, war tödlich.
"Mein Tod war mehr als perfekt und dann kommt der und belebt mich wieder!" Der Angeschriene himmelte genervt mit den Augen, kam aber nicht dazu, mehr zu erwidern als das, denn Lacrimosa unterbrach den Streit, bevor er zu einem werden konnte:
"Bis zu diesem Punkt glaube ich es dir, Nocturn-kun, und bitte tu mir den Gefallen und erzähle es niemand anderem - aber als ob du wiederbelebt wurdest! Glaubst du wirklich, ich sei so dumm, leichtgläubig und naiv?! Steh wenigstens dazu-"
"Zu was denn?!"
"Zu was auch immer du in den letzten 17 Jahren getrieben hast!"
"Ich war tot!"
"Das kannst du Feullé-chan erzählen, damit sie es leichter verkraftet, dass du sie im Stich gelassen hast! Du hast nämlich nicht alles perfekt einkalkuliert, mein Lieber! Was Feullé-chan anging, ist nämlich einiges schiefgelaufen - und sie hätte deine Hilfe benötigt, oh ja, das hätte sie!" Nocturns Wut flaute ab und schlechtes Gewissen begann sich in seinem Gesicht abzuzeichnen, wie Lacrimosa mit Genugtuung feststellte.
"Was ist denn geschehen? Ist Black denn nicht wie verabredet hier erschienen und hat Feullé bei dir abgeliefert?"
"Ich bin noch nicht fertig mit dir, Freundchen, noch lange nicht!" Lacrimosa streckte anklagend den Zeigefinger nach ihm aus, sich nun in Rage redend:
"Was hast du in der ganzen Zeit gemacht, zur Hölle nochmal?! Warst du irgendwo in Paris und hast dich amüsiert, du egoistischer Arsch, während du die kleine Feullé-chan, die einzige, die eeeeiiiiinzigeeee, die immer daran geglaubt hat, dass du nicht tot seist, ihrem Schicksal überlassen lasst?!"
"Ich habe sie nicht ihrem Schicksal ..."
"Und ich! Ich hielt dich für einen Märtyrer, der zwar den Bannkreis nicht verhindern konnte - jetzt weiß ichs ja besser! - aber uns doch wenigstens White noch vom Hals geschafft hat. Ha! Was für ein Irrtum, was für ein Irrtum! Unsere Freundschaft sollte ich kündigen, auf der Stelle, rauswerfen sollte ich dich! Männer! Alle gleich!" Wow, dachte Youma beeindruckt: Lacrimosa war nicht nur sehr hübsch, sondern offensichtlich auch eine Person, die ihre Meinung nicht hinter dem Berg hielt - er war verwundert, dass Nocturn sich überhaupt traute, etwas zu erwidern; er jedenfalls war ziemlich eingeschüchtert, besonders wenn er daran dachte, dass sie ihn auch schon geschlagen hatte.
"Was ist denn jetzt eigentlich geschehen?!" Lacrimosa senkte den Finger wieder, doch ihr Blick blieb anklagend.
"Nichts ist geschehen, das ist das Problem. Black kam nicht und damit kam Feullé-chan auch nicht. Ich habe Black die letzten 18 Jahre nicht gesehen; niemand hat ihn gesehen. Er muss in der Menschenwelt gewesen sein, als das Siegel aktiviert wurde." Lacrimosa seufzte erschöpft und fuhr dann, nicht weniger beherzt, fort:
"Nachdem du dich in Luft aufgelöst hast, ist Feullé-chan nicht sofort zu mir gekommen. Ich meine, das Mädchen war nicht mal sechs Jahre alt, sie konnte sich gar nicht teleportieren. Black sollte sie zu mir bringen, das stimmt, und nachdem Black nicht an dem verabredeten Tag zu mir gekommen ist, bin ich selbst in dein Appartement in Paris eingedrungen - aber da war sie nicht!"
"Da war sie nicht? Aber Feullé hätte in ihrem Zimmer sein müssen ..."
"Darf ich mal eine kleine Frage stellen ...", warf Youma dazwischen, wofür ihn die beiden anderen Dämonen ansahen, als hätten sie seine Anwesenheit komplett vergessen:
"Warum hast du Feullé-san nicht selbst zu Lacrimosa-san gebracht?" Ein kurzer Schmerz zuckte über Nocturns Gesicht hinweg, doch es war Lacrimosa, die ihm mit theatralischer Stimme antwortete:
"Der Gute brachte es nicht über sein Herz, Feullé-chan zu sagen, dass er sterben würde - hach! Aber er ist ja gar nicht gestorben, das muss man hier nochmal festhalten!"
"Ich war immer noch tot", unterbrach Nocturn sie nach einem Getränk greifend.
"Er hat ihr einfach seine dumme Flöte dagelassen und ist abgehauen - wie Männer es normal tun! Schrecklich seid ihr, schreeeeecklich! Und dass du nicht tot bist, ist einfach die Höhe! Denn weißt du, was geschehen ist?"
"Nein, denn du erzählst es mir ja nicht."
"Oh, jetzt werd nicht frech!" Youma warf einen verstohlenen Blick vom einen zum anderen, wagte aber nicht, sich einzumischen; er hatte zu viel Respekt vor Lacrimosa.
"Gut, Nocturn-kun, du willst hören, was geschehen ist? Dann hör mal gut zu, was dein Egoismus angerichtet hat! Ich ließ Feullé-chan in der Menschenwelt suchen - ich bin ja kein Halbdämon, ich konnte den Bannkreis nicht überwinden - aber keine meiner Schwestern fand sie und als mehrere Wochen vergangen waren, war ich gezwungen, aufzugeben. Sechs Jahre später allerdings bekam ich unerwartet Besuch und nun rate mal, von wem. Das wird dir gefallen, Nocturn-kun, aber du hast es nicht anders verdient." Youma warf einen Seitenblick zu Nocturn und ihm war deutlich anzusehen, dass er Lacrimosas Gedanken bereits gelesen hatte und dass ihm diese absolut nicht gefielen: das Glas, welches er in der Hand gehalten hatte, zersprang in seiner zornigen Faust, doch ehe seine Wut zu Worten werden konnte, fragte Youma, der des Gedankenlesens immerhin nicht mächtig war, wer es denn gewesen sei. Lacrimosa, welche Nocturns Reaktion kritisch beobachtet hatte, wandte sich an Youma und fuhr aus:
"Es war Ri-Il. Er hatte Feullé-chan im Schlepptau und sagte mir, ich könne sie haben, weil er keinen Nutzen mehr für sie habe. Ich bekam nicht viel aus ihm heraus: alles, was er mir sagte, war, dass Black den Tauschhandel abgeschlossen hatte und Ri-Il sich natürlich an den Handel hielt."
"Tauschhandel? Hat er gesagt, was das für ein Handel war?", fragte Youma, weil Nocturn offensichtlich zu sehr mit seinen wütenden Gedanken beschäftigt war, um irgendetwas zu fragen, was er nicht ohnehin in Lacrimosas Gedanken lesen konnte.
"Als ob Ri-Il mir irgendetwas sagen würde! Nein, ich habe keine Ahnung, wogegen Black Feullé-chan eingetauscht hat und genauso wenig Ahnung habe ich davon, ob sie für Ri-Il arbeiten musste. Sie hat jede Untersuchung verweigert; aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie ihre Unschuld noch besitzt. Nocturn-kun, du hast so vielen Fürsten auf den Schlips getreten, hast du denn wirklich geglaubt, dass sich niemand an deiner Tochter auslassen würde, sobald du von der Bildfläche verschwunden bist?" Das war zu viel für die Wut Nocturns, welche durch eine zusammengeballte Faust auf dem kleinen Tisch neben ihnen entfesselt wurde und nicht nur die Gläser zum Klirren brachte, sondern auch einen Riss im Tisch entstehen ließ, den Lacrimosa missvergnügt beäugte, während Youma eher den zornigen Nocturn ansah, welcher zähneknirschend zischte:
"Das wird er büßen! Er wird dafür bezahlen, was er meiner Feullé angetan hat!" Lacrimosa sagte dazu nichts und anscheinend war Nocturn zu wütend, als dass er ihre Gedanken las, ansonsten hätte sich seine Wut sicherlich an sie gerichtet, denn sie fand weiterhin, dass es eher Nocturns eigene Schuld war, anstatt Ri-Ils - Ri-Il war in ihren Augen ein durchtriebenes Arschloch und somit hatte er nichts Ungewöhnliches getan. Er hatte Profit aus der Sache geschlagen, wie es in seiner Natur lag.
Aber sie musste Nocturn nicht weiter ins Gewissen reden - er hatte erst einmal genug, woran er knabbern musste. Stattdessen kam sie auf eine andere Idee, welcher sie auch sofort nachging, indem sie sich aufrichtete, ihre nackten Füße in Pantoffeln gleiten ließ und eigentlich gerade den Raum verlassen wollte, als Nocturns Hand hervorschnellte und ihr Handgelenk packte.
"Nein! Du holst sie nicht, deswegen bin ich nicht hier! Ich wollte nur wissen, ob es ihr ..." Aber Lacrimosa ließ sich von Nocturn nicht einschüchtern:
"Und wie ich sie holen werde! Sie hat die ganzen Jahre auf deine Rückkehr gewartet, sie hat dich immer verteidigt - sie hat Ri-Il überlebt, weil sie sich an den Glauben geklammert hat, dass du sie retten würdest! Sie hat lange genug gehofft und gewartet und sich an deiner bescheuerten Flöte-"
"Hengdi! Es ist eine Hengdi!"
"Mir sowas von egal. Sie hat sich immer an dieses Teil geklammert und jetzt willst du sie nicht erlösen?! Ich verstehe schon: du wolltest dich wieder klammheimlich in deine Versenkung verziehen, das ist es, was du willst!"
"Ich weiß nicht, was ich will-"
"Oh, das ist ja was ganz Neues!"
"Aber ich weiß, dass Feullé nicht in meiner Nähe sein sollte-"
"Über so etwas hättest du nachdenken sollen, bevor du sie adoptiert hast!"
"Gerade weil ich für Feullé verantwortlich bin, weiß ich, dass sie in meiner Nähe nicht sicher ist-"
"Oh, hör auf zu flennen! Es ist mir vollkommen egal, was du sagst! Denn ich werde jetzt ..." Mit einem entschiedenen Ruck riss Lacrimosa ihren Arm aus Nocturns Griff los und Youma, der sich schön zurückhielt, aber die Richtung des Gespräches sehr mochte, bemerkte, dass ihre Haut dort, wo Nocturn sie gepackt hatte, rot geworden war:
"... Feullé-chan holen." Einen Augenblick lang glaubte Youma, dass Nocturn Lacrimosa mit Gewalt aufhalten würde, aber er ließ sie ziehen und kaum, dass die Tür hinter der Fürstin zugefallen war, stand er auf und begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen, dabei Dinge vor sich hinmurmelnd, die ganz danach klangen, als würde er sämtliche Schuld an Ri-Il abwälzen.
"Ich hoffe, du planst keinen Frontalangriff gegen Ri-Il. Das wäre das Dümmste, was du tun könntest." Sofort wirbelte Nocturn zu Youma herum und antwortete zornig:
"Ach, wäre es?! Ich bin stärker als er! Ich kann jeden umbringen, den ich will!" Schon setzte er seinen Weg durch den Raum fort:
"Wie kann er es wagen, mein kleines Mädchen gefangen zu nehmen, sie zu benutzen wie einen Handelsgegenstand! Wenn sie mit nur einem einzigen Mann in Kontakt kam, wird er meine Wut noch heute zu spüren bekommen!"
"Stärke ist nicht alles", erwiderte Youma, sich nicht von Nocturns Wut einschüchtern lassend:
"Und von dem, was ich bis jetzt gehört habe, halte ich Ri-Il für viel zu intelligent, als dass er sich von einem Frontalangriff umbringen lassen würde. Ich bin mir sicher, dass deine unkontrollierbare Wut nicht einmal ins Ziel treffen würde." Nocturn reagierte nicht auf diese wohlüberlegten, weisen Worte, stattdessen ging er weiterhin auf und ab, doch Youma hüllte sich nicht in Schweigen, während Nocturn diese Bewegungen vollführte:
"Doch wenn du dich mir anschließt, verspreche ich dir, dass du deine Rache bekommen wirst. Eine Rache, die viel effektiver sein wird, als ein unüberlegter Faustschlag es je sein könnte." Nocturn blieb bei diesen Worten stehen, doch Youma war sich nicht sicher, ob er aufgrund seiner Worte stehen geblieben war, oder aus dem gleichen Grund, weshalb Youma sich nun umdrehte; denn auf einmal vernahm er mehrere Auren hinter sich. Als er sich jedoch argwöhnisch herumgewandt hatte, sah er nur Lacrimosa und ein kleines, aufgelöstes Mädchen, welches ohne Zweifel das Mädchen vom Bild war; kaum verändert, obwohl so viele Jahre vergangen waren.
Nocturn hatte ihr den Rücken zugekehrt und konnte so nicht sehen, wie Feullés Fingerspitzen zu ihren Lippen wanderten, während sich Tränen in ihren großen Kulleraugen sammelten. Im gleichen Moment, wie Nocturn sich endlich dazu entschied, sich zu ihr herum zu drehen, wählte sie auf einmal die Flucht und verwirrt sahen die Anwesenden zu, wie Feullé stolpernd, aber mit hastigen Schritten den Raum verließ, obwohl Nocturn gerade die Hand nach ihr ausgestreckt hatte, welche nun wie ein Stein herunterfiel, als er ihr reuevoll und traurig hinterher sah.
Lacrimosa zuckte mit einem Lächeln mit den Schultern und erklärte:
"Sie kommt gleich wieder. Feullé-chan muss nur etwas holen." Die Fürstin hatte Recht; kaum hatte sie dies gesagt, kam das kleine Mädchen auch schon wieder zurück in den Raum gestolpert, wo sie ihre eiligen Schritte verlangsamte und einige Schritte vor Nocturn stehenblieb, ihn mit Tränen in den Augen ungläubig ansehend, als wäre sie nicht sicher, ob es sich nicht nur um einen Traum handelte, der jeden Moment platzen würde.
"Ich ... ich habe all die Jahre... gut auf sie aufgepasst... denn ich wusste, dass Ihr... zurückkommen würdet... ich wusste, dass es gelogen war... dass Ihr tot seid... Ich wusste... Ihr würdet mich nicht alleine lassen..." Youma konnte nicht ganz erkennen, was es war, das Feullé in ihren Händen hielt. Es sah aus wie ein rechteckiges Paket, welches sie nun mit ausgestreckten Händen Nocturn reichte; er sah es jedoch nur einen kurzen Augenblick lang an, dann legte er es zu Feullés Überraschung beiseite und ging in die Hocke, um auf derselben Höhe zu sein wie seine Tochter. Obwohl ihm nicht nach einem Lächeln zumute zu sein schien, zwang er sich dennoch zu einem, als er die Arme austreckte.
"Ich bin hier, um dich abzuholen, ma petite."
Einen Moment lang schien Feullé nicht glauben zu können, was geschah, bis das Wasser in ihren Augen dem Drang nicht mehr standhalten konnte und sie sich völlig aufgelöst in seine Arme warf.
Lacrimosa begutachtete diese Wiedervereinigung zufrieden, aber auch zutiefst gerührt; sie war nahe am Wasser gebaut. Youma konnte sich dem nicht anschließen, stattdessen breitete sich das befriedigende Gefühl von Triumph in ihm aus, als Nocturn, nachdem er Feullé mit Worten in einer fremden Sprache beruhigt hatte, an Youma richtete:
"Ich hoffe, deine Pläne sind so gut wie du von dir selbst überzeugt bist."
"Darauf kannst du dich verlassen."
"Youma! Was für eine angenehme Überraschung - wo hat es dich denn hin verschlagen?"
"Guten Abend, Teri-san." Hach, immer so höflich, der Gute!
"Ich halte mich momentan in...eh... Parii auf..."
"Du meinst wohl Paris; die Stadt der Liebe! Ou, du rufst doch nicht etwa an wegen einem Date, oder etwa doch? Die Kinder würden sich freuen, nicht wahr?" Sofort ertönte helle Zustimmung und Youma konnte in Paris nicht drumherum, ein wenig darüber zu lächeln, doch er kehrte schnell wieder zu seiner gewohnten Professionalität zurück:
"Verzeih, dass ich dich wieder darauf hinweisen muss, dass ich verlobt bin ..."
"Jaja - er redet wieder Schwachsinn, Kinder!"
"... und dass ich wegen einer anderen Angelegenheit anrufe."
"Ich bin ganz Ohr, Schatzi." Und irgendwo in Paris wurde ein Halbdämon gerade rot, doch er zwang sich dazu, seine Gesichtsfarbe zu ignorieren:
"Weißt du zufällig etwas von einem kleinen Mädchen, das sich in Nocturns Begleitung aufgehalten hat?"
"Von einem kleinen ..." Teri tat so, als müsse sie nachdenken, obwohl sie sofort wusste, von wem er sprach; aber es schadete nicht, ihn ein wenig auf die Folter zu spannen:
"Du musst Feullé meinen."
"Vielleicht. Ich wüsste gerne, ob sie noch am Leben ist."
"Das weiß ich nicht", log Teri geradeaus, doch Youma erkannte die Lüge nicht.
"Da musst du Lacrimosa fragen. Sie weiß es." Das war eine Antwort, die den Sensenmann zu überraschen wusste:
"Lacrimosa-san? Warum, wenn ich fragen darf?"
"Weil sie sehr gut mit Nocturn befreundet war und daher sicherlich weiß, was mit dem Mädchen passiert ist."
"Was?! Ich dachte, sie ... hasse alle Männer?"
"Keine Regel ohne Ausnahme, Herzchen."
"Das ist natürlich sehr ... interessant." Noch ein Grund mehr, diesen eigentümlichen Dämon dazu zu überreden, sein Partner zu werden, dachte Youma mit einem sehr zufriedenen Lächeln, welches Teri in seinem Tonfall hören konnte, weshalb sie nun nachbohrte:
"Youma, wenn du nicht gerade Nocturn über den Weg gelaufen bist - und das bezweifle ich, denn er ist tot - bringt dir deren Freundschaft rein gar nichts."
"Oh, mir rennen so einige totgeglaubte Dämonen über den Weg", entgegnete Youma einen bedeutsamen Blick zu dem Hochhaus werfend, von welchem er sich gerade entfernte. Teri lachte am anderen Ende der Leitung:
"Youma, du bist größenwahnsinnig! Das ist sicherlich auch das, was deine Verlobte an dir liebt, oder?" Eher nicht, dachte Youma ein wenig grinsend, ließ Teri aber fortfahren, ohne sie zu korrigieren:
"Größenwahnsinnige Männer schüren mein Verlangen - es macht sie so pedantisch." Youma wollte gerade erwidern, dass das wohl kaum ein Kompliment war, als Teri ihm schon zuvorkam:
"Dann spitz mal deine Ohren, Herzchen!"
Der sich in seinen Träumen als nächster Machthaber der Dämonen Ansehende hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Nocturn zu seinem Partner machen würde - ob dieser es nun wollte oder nicht und ob es nun so schlau war, an Plan A festzuhalten oder nicht, war ihm dabei vollkommen egal. Nocturn hatte ihn in seinem Stolz verletzt und das ließ Youma nicht auf sich sitzen. Nun sah er es als Herausforderung an, was kindisch und vielleicht auch ziemlich dumm war, doch Youma rechtfertigte seine Taten damit, dass die Fähigkeiten Nocturns und die Verbindung zu Lacrimosa - die immerhin die größte Horde der Dämonenwelt besaß! - die Gründe für sein Tun waren und nicht irgendein trotziger Stolz. Diese wunderbaren Gedankenlesefähigkeiten würden seinen Plan perfekt ergänzen und sowieso wäre Plan B - die Suche nach einem anderen Dämon, den er zu seinem Partner machen konnte - mit sehr viel Aufwand verbunden. Die Vorstellung, einen ebenbürtigen Partner mit solch praktischen Fähigkeiten an seiner Seite zu haben, war schon überaus attraktiv; viel attraktiver, als sich einen anderen, um einiges schwächeren Dämon zu suchen, der vielleicht eher ein Klotz am Bein wäre als das Gegenteil.
Doch der einzige Anhaltspunkt, den Youma hatte, war das blonde Mädchen - Nocturn hatte zwar vorgegeben, dass er davon überzeugt sei, dass es dem Mädchen gut ging, aber die Unsicherheit in den Augen des Dämons hatte eine andere Sprache gesprochen. Wenn Youma beweisen konnte, dass es dem Mädchen nicht gut ging oder es sogar tot wäre, würde er ihn sicherlich zum Handeln bringen - und wenn es dem Mädchen gut ging, würde es Nocturn vielleicht dazu bringen können, sich ihm anzuschließen. Fakt war auf jeden Fall, dass das Mädchen sein einziges Bindeglied zu Nocturn war, denn um seine Mitarbeit betteln - nein, betteln würde er niemals!
Zum Glück hatte Teri ihm weiterhelfen können; er hätte sich natürlich auch an Karou wenden können, da dieser ihm sicherlich behilflich sein konnte, doch Youma hatte nicht vor, den Eindruck zu hinterlassen, dass er von Karou abhängig war. Youma war Karou gegenüber viel zu skeptisch, um ihn irgendwie in seinen Stab aufzunehmen. Nein, ihm war sehr wohl klar, dass Karou einer seiner Feinde war und mit der Wiederbelebung Nocturns war ihre kurzweilige Partnerschaft beendet. Zwar wusste Youma nicht, warum Karou und diese eigenartige Frau ihn wieder unter den Lebenden gewünscht hatten, doch wusste er, dass Karou es ihm gewiss nicht mitteilen würde. Wenn Nocturn sich nicht selbst mit ihnen in Kontakt setzen würde, würde Karou seine Wiederauferstehung auch nicht bemerken - und Nocturn hatte nicht gerade den Eindruck vermittelt, dass er mit irgendjemandem wieder in Kontakt treten würde. Nun, wenn Youma mit dem Mädchen im Schlepptau bei ihm auftauchte, dann würde er ihn schon reinlassen, ha.
Also hatte Youma sich zum Gebiet Lacrimosas aufgemacht; genauer gesagt an die Grenze zu ihrem Gebiet, genau wie Teri es ihm geraten hatte. Der Temperaturumschwung war deutlich zu spüren und der rote Himmel war kaum durch das Dickicht der Wolken zu erkennen. Noch befand er sich nicht auf ihrem Gebiet sondern auf dem von Gaossou, doch auch hier fielen in unregelmäßigen Abständen ein paar Flöckchen vom Himmel; schmolzen allerdings sofort wieder, als sie den felsigen Boden berührten.
In weiser Voraussicht hatte Youma seinen Ingnix in seinem Hotelzimmer gelassen, was seine Aura für alle deutlich spürbar machte und die hier lebenden Dämonen von ihm fernhielt, denn auch sie vernahmen den Unterschied zwischen ihrer mickrigen Stärke und der Youmas. Er hatte sogar seine Sense in seinem Hotelzimmer gelassen, sich ganz auf die Autorität seiner Aura verlassend und natürlich auf seine eigenen Fähigkeiten, falls es doch zu einem Kampf kommen würde.
Es schien zu funktionieren: die hier lebenden Dämonen beäugten den Unbekannten zwar skeptisch und manchmal auch mit gewetzten Zähnen, doch ließen ihn ungehindert passieren.
Die Landschaft war von spitzen Felsformationen gekennzeichnet, durch die sich kleine Pfade schlängelten: kaum so breit, dass zwei Personen nebeneinander auf diesem Weg wandeln konnten. Youma war sich bewusst, dass diese Wege für viele andere Passanten sicherlich Todesfallen waren, denn er hörte und fühlte deutlich, dass sich um ihn herum auf den Klippen und zwischen den spitzen Felsen Dämonen aufhielten und konnte sich gut vorstellen, dass diese schmalen Pfade sich sicherlich hervorragend für Hinterhalte eigneten.
Der Sensenmann glaubte bereits, dass er ohne besondere Ereignisse an die Grenze von Lacrimosas Gebiet gelangen würde, bis sich vor ihm plötzlich ein Hindernis auftat, mit welchem er so gar nicht gerechnet hatte: eine Mauer, obendrein eine aus Stahl.
Überrascht weitete Youma die Augen und fragte sich sofort, was denn eine Mauer für einen Sinn hatte, wenn sicherlich alle hier lebenden Wesen das Teleportieren beherrschten und es somit ein Kinderspiel war, diese zehn Meter hohe Mauer zu überwinden. Schnell fand Youma allerdings heraus, dass die rot leuchtenden Kugeln, die in die Mauer hineingearbeitet worden waren, einen Anti-Teleportationszauber wirkten, der es ihm unmöglich machte, sich einfach aufzulösen und auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Auch der Versuch, einfach über die Mauer hinweg zu fliegen, scheiterte kläglich, denn kaum dass Youma die zehn Meter emporgestiegen war, bauten sich ganz automatisch nochmal zehn Meter obendrauf, indem sich in Windeseile Abertausende von kleinen Vierecken zu einer stabilen Mauer zusammenfanden.
Verwundert, aber auch ein wenig beeindruckt über diese eigentümliche Art, seine Grenzen zu beschützen, sah Youma sie einen Moment lang schweigend an, bis er unter sich plötzlich Auren spürte und ehe er nach unten sehen konnte, drang bereits eine harte Stimme zu ihm herauf:
"Probleme?" Der Halbdämon blickte nach unten und entdeckte sofort die Person, die zu ihm gesprochen hatte: ein Dämon, dessen Kopf kahl geschoren war und mit roten Augen, die von Argwohn definiert zu sein schienen, sah mit eben diesem Misstrauen zu ihm herauf und seine dünnen schwarzen Pupillen folgten Youma, während er sich wieder auf den Boden hinabgleiten ließ. Dabei bemerkte Youma, wie groß der Dämon vor ihm war: er, der selbst fast einsneunzig groß war, musste nämlich zu ihm hochsehen, um mit dem kräftigen Dämon reden zu können. Youma konnte nicht beurteilen, ob es Muskeln waren, die ihn so kräftig erscheinen ließen, oder die Tatsache, dass der plötzlich aufgetauchte Dämon seine Uniform mit Metall ausgestattet hatte.
Der Dämon war nicht alleine gekommen: hinter ihm befanden sich drei weitere, die ihm in puncto Körperbreite in nichts nachstanden, an seinen skeptischen Blick allerdings nicht herankamen; sie schienen eher von dümmlichen Charakter zu sein.
"Ja, in der Tat, ich habe Probleme", begann Youma im Versuch, sich höflich zu zeigen, denn er hatte keine Lust auf einen sinnlosen Kampf:
"Ich wollte zu Lacrimosa-san und ich muss gestehen, dass diese Mauer mir in diesem Bestreben im Weg ist." Misstrauisch hob der Dämon ihm gegenüber die Augenbraue und antwortete brummend:
"Wieso? Bist du eine Frau?" Youma musste zugeben, dass diese Antwort ihn verärgerte, denn er fand nicht, dass er aussah wie eine Frau:
"Nein, ich bin ein Mann."
"Was hast du dann da drüben verloren? Wenn du ein Mann bist und dir deine Eier lieb sind, solltest du keinen Schritt weitergehen." Diese vulgäre Wortwahl brachte Youma zum verblüfften Schweigen und einen Moment war er angesichts dieser sprachlos, einen Moment, den sein Gegenüber nutzte, um Youma zu fragen, wie dieser in sein Gebiet gelangt war.
"Ich... bin hierhin teleportiert. Ich war noch nie in Lacrimosa-sans Gebiet ..."
"Nein, das habe ich mir gedacht."
"... und hielt es für klüger, mich von hier aus ihrem Gebiet zu nähern." Plötzlich schien Youma an Interesse verloren zu haben, denn sein Gegenüber wandte sich an den Dämon links von ihm:
"Sag mal, ich glaube, ich habe mich nicht verhört, als ich gehört habe, dass diese verdammt teure Mauer dafür sorgen würde, dass hier niemand rein oder raus teleportieren kann?"
"Also, Gaossou-sama, ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich das gehört hatte ..." Das war also der Fürst dieses Gebietes, schlussfolgerte Youma überrascht, doch lauschte lieber dem Gespräch, in welches sich nun auch der Dämon zu Gaossous Rechten einmischte:
"Vielleicht ist er ja ein Halbdämon, auch wenn ich mir da nicht so sicher bin. Ich meine, ich bin mir ja nicht so sicher, aber vielleicht schützt die Mauer uns ja nur vor Teleportationen innerhalb unserer Welt? Wie gesagt, ich bin mir nicht so sicher ..."
"Wie bitte?! Was wurde mir denn da für ein Scheiß angedreht?!"
"Aber Gaossou-sama, die Mauer schützt Euch immerhin vor ziemlich vielen!"
"Ich will aber eine Mauer, die mich vor allen schützt! Vor allen, habt ihr mich verstanden?!" Youma räusperte sich hörbar, nachdem er bemerkte, dass das Gespräch in eine uninteressante Richtung zu gehen schien und sofort hatte er auch wieder alle Aufmerksamkeit, welche er höflich belächelte:
"Wie ich sehe, sind Sie der Fürst dieses Gebietes?"
"Der bin ich, Schönling", antwortete Gaossou gehässig; einen Tonfall, den Youma überhörte:
"Dann können Sie sicherlich auch dafür sorgen, dass ich Lacrimosa-san einen Besuch abstatten kann - sehe ich das richtig?" Natürlich wollte Gaossou Youma diesen Gefallen nicht tun: das sah man ihm deutlich an, doch genauso deutlich zu sehen war auch die Tatsache, dass dieser Fürst nicht auf den Kopf gefallen war, denn anstatt seinem ersten Gedanken nachzugeben, schien er nachzudenken, wobei sein Blick zuerst lange auf Youma ruhte, ehe er zur Mauer schielte.
"Von mir aus", meinte er dann schlussendlich mit einem selbstzufriedenen Lächeln, als wäre er stolz über das, was er ausgeheckt hatte. Sein Gefolge allerdings schien die Gedankengänge ihres Fürsten nicht nachvollziehen zu können, denn die Dämonen sahen ihn überrascht an, was Youma sagte, dass es sicherlich nicht Gaossous Art war, einem Fremden einen Gefallen zu tun. Dies tat er nun mit dem Schnippen seiner Finger, wodurch sich plötzlich eine Tür in der Mauer öffnete, als wäre diese schon die ganze Zeit vorhanden gewesen. Sie war nicht besonders groß, doch groß genug, dass Youma hindurchpassen konnte. Argwöhnisch sahen alle Anwesenden, inklusive Youma, durch die entstandene Öffnung, durch die sie nichts außer einer weißen, weiten, aber ausgestorbenen Schneelandschaft erblicken konnten.
"Beeil dich! Ich will nicht, dass eine von denen auf die Idee kommt, hier rüber zu kommen - die Mauer ist nicht umsonst da!" Youma zögerte nicht lange und verschwand schon durch die Tür, welche sich - nach einem weiteren Schnippen des Fürsten - sofort hinter ihm schloss. Doch obwohl sie Youmas Rücken nicht mehr sehen konnten, starrten die vier Dämonen ihm immer noch hinterher, als könnten sie nicht fassen, dass irgendein Mann sich freiwillig auf das Gebiet Lacrimosas begab.
"Der Typ muss ganz schön lebensmüde sein", konstatierte einer von Gaossous Gefolgsleuten, woraufhin der andere erwiderte:
"Ja, oder ziemlich notgeil." Gaossou räusperte sich und straffte seinen wehenden Umhang, um zu verdeutlichen, dass er wieder in sein wohlgesichertes Schloss zurückwollte, doch kam nicht um eine Antwort herum, ehe sie dies taten:
"Egal was sein Grund war: den sehen wir nicht wieder. Seine Aura war zwar ziemlich beunruhigend, aber das Problem ist nun auch abgehakt. Auch er wird untergehen, wenn sie sich auf ihn stürzen."
Sie. Das war das Sicherheitskommando Lacrimosas. Eine Reihe weiblicher Dämonen, die die Grenze beschützten und sich auf jeden männlichen Dämon sofort stürzten und ihn im besten Falle gefangennahmen, wenn sie meinten, dass er sich zur Reproduktion eignete - wenn nicht, töteten sie ihn auf der Stelle. Diese Dämonen bewegten sich in großer Zahl an der Grenze entlang, in komplett weiße Kleidung gehüllt und das Gesicht weiß bemalt: die perfekte Tarnung in solch einer Umgebung. Zwar waren ihre Auren spürbar, doch ihre große Anzahl machte es unmöglich zu erahnen, wo sie sich nun gerade befanden und von wo aus sie angreifen würden; besonders für den Besucher, der absolut keine Ahnung hatte, was auf ihn zukam, so wie es bei Youma der Fall war. Gänzlich unvorbereitet bemerkte er schnell die vielen Auren um sich, doch war nicht davon ausgegangen, dass sie ihn sofort angreifen würden - und natürlich fand er schnell heraus, dass er sich da irrte. Eigentlich hatte er geglaubt, dass er jemanden nach dem Weg zu Lacrimosa würde fragen können, wenn er nur höflich wäre und seine Aura seinem Gegenüber schon mitteilen würde, dass sie sich besser nicht mit ihm anlegen sollten... Doch schneller als dass er seine höflichen Floskeln in Gebrauch nehmen konnte, wurde er bereits von um die 20 Frauen überrumpelt, die sich wie ein Rudel hungriger Wölfe über ihn stürzten und ihm gar keine Gelegenheit ließen, sich zu wehren - weder mit Worten noch mit Taten.
Der Halbdämon hatte allerdings Glück im Unglück, denn sein vorteilhaftes Aussehen schützte ihn davor, umgebracht zu werden und auf Umwegen fand er so zum Eispalast Lacrimosas. Im Palast angekommen, wurde Youma, dem man Hand- und Fußschellen angelegt hatte, drei anderen Frauen übergeben, die Youma von Kopf bis Fuß begutachteten und das nicht nur mit ihren Augen; auch mit ihren Händen tasteten sie seinen Körper ab, was Youma absolut nicht witzig fand und sogar spürte, wie er rot wurde:
"Könnten Sie das bitte sein lassen; ich versichere Ihnen, dass ich keine bösen Absichten verfolge. Ich wünsche einfach nur, mit Lacrimosa-san zu - ah!? Entschuldigen Sie bitte?! Ich bin verlobt!" Nun wusste Youma, was Gaossou gemeint hatte und ließ plötzlich alle Höflichkeit fallen, als eine der drei Frauen ihn in einem Bereich seines Körpers berührt hatten, der gewiss einzig und allein für Silence reserviert war - und abermals schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, den er seit seiner Gefangennahme in seinem Kopf herumgeistern hatte: warum hatte Teri ihn denn vor diesen Frauen nicht gewarnt?!
Als Youma dies jedoch mit hochrotem Kopf verkündet hatte, begannen die drei Frauen herzhaft zu lachen:
"Ich denke, er ist sehr gut für die Fortpflanzung geeignet, meint ihr nicht auch, Schwestern?"
"F-Fortpflanzung ...?!" , stotterte Youma und seine rote Gesichtsfarbe wechselte nun von rot zu weiß, als ihm plötzlich klar wurde, warum sie ihn so abgetastet hatten: in einem Gebiet voller Frauen brauchten sie natürlich dennoch ab und zu mal einen Mann, um dafür zu sorgen, dass ihre Horde ihre Größe behielt. Aber gewiss nicht ihn!
"Ja, seht euch doch nur mal diese Haare an! Habt ihr die schon angefasst, Schwestern? So geschmeidig und glatt!"
"Ahja, da kommen sicherlich hübsche Mädchen bei raus ... und so stark wie seine Aura ist gewiss auch keine Schwachen!" Während die drei Mädchen über irgendwelche zukünftigen Nachkommen schwärmten, wurde Youma langsam schwindelig, denn dieser Gedanke war schlimmer als ... so einige andere jedenfalls. Es widerstrebte ihm, Frauen zu verletzten, aber er musste sich befreien. Er konnte und durfte nicht zulassen, dass eine andere Frau außer Silence ...
Plötzlich bemerkte Youma jemand Bekannten aus den Augenwinkeln und sofort wandte er sich so gut es ging herum - und ehe er genauer darüber nachgedacht hatte, rief er laut:
"Ich gehöre zu ihm!"
Der Jemand, zu dem Youma seiner Aussage nach gehörte, war kein geringerer als Nocturn, welcher sich ebenfalls in Begleitung zweier Frauen befand, aber, wie Youma wütend bemerkte, nicht angekettet war, sondern sich bestem Komfort erfreute, als er sich zu Youma herumdrehte.
Zuerst musterte er ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, doch als er bemerkte, in was für einer Situation er sich befand, grinste er breit:
"Ich weiß nicht, was dieser arme Tropf meint: Ich kenne seinen Namen nicht, demnach gehört er wohl kaum zu mir."
"Wir kamen einfach noch nicht dazu, uns einander vorzustellen, das ist alles!" Nocturn ignorierte die nahende Verzweiflung in Youmas Stimme gekonnt, als er ratlos mit den Schultern zuckte:
"Ich weiß nicht, wovon er redet, denn ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Aber auch ich denke, dass er sich sicherlich hervorragend für neue Kinder eignet!" Youma knirschte errötend mit den Zähnen und anstatt seine Wut gegen die Frauen zu richten, wollte er nun am liebsten Nocturn an die Gurgel springen.
Doch seine Wut verrauchte, als eine weitere Frau zu dem munteren Treffen stieß: Lacrimosa kam in eben diesem Moment durch die Tür geschneit. Sie wirkte genervt und erschöpft, doch als sie den kleinen Tumult in ihrem Gang bemerkte, lockerte die Verwunderung ihren Gesichtsausdruck auf: zuerst sah sie Youma an, musterte ihn gründlich von Kopf bis Fuß und schien zufrieden zu sein mit dem, was sie sah, denn sie nickte zufrieden mit den Kopf, was Youma einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Als ihr Blick jedoch zu Nocturn wanderte, huschten ihre schmalen Augenbrauen überrascht nach oben und dann sah Youma Teris Aussage bestätigt, dass die beiden befreundet waren, denn ihr Gesicht hellte automatisch auf:
"Nocturn-kun?! Du--- lebst?! Ich--- wir alle dachten, du seist tot!"
"Tja ja, das dachte ich auch", antwortete Nocturn zuerst gelassen, seine Worte jedoch abrundend mit einem finsteren Blick zu Youma, womit er Lacrimosas pfeilschnellem Faustschlag nicht ausweichen konnte, der aus dem Nichts angeflogen gekommen war und den überrumpelten Dämon mit blutender Nase einige Schritte rückwärts stolpern ließ, ehe Lacrimosa seinen Kragen packte und ihn nah an ihr zorniges Gesicht zog:
"Du warst die ganze Zeit am Leben, du verfluchter Arsch!? Wie kannst du es wagen, jetzt hier aufzukreuzen?! Was bist du eigentlich für ein verdammter Rabenvater?!"
"Sie lebt also!? Es ist also alles glatt gelaufen; ich wusste, ich könnte mich auf dich verlassen!" Nocturn versuchte trotz blutender Nase zu lächeln, aber Lacrimosas eiskalter Blick ließ ihn erstarren:
"Noch ein Wort von dir und ich vergesse unsere Freundschaft - dann kannst du die gleiche Behandlung erfahren wie alle anderen Männer, die unser Gebiet betreten, verstanden?!" Sie ließ seinen Kragen los und entfernte sich stirnmassierend von dem etwas dumm dreinblickenden Nocturn.
"Ich muss mich erst mal abreagieren ..." Und zu Youmas Furcht wandte sie sich ihm zu, der immer noch von den Frauen umringt und festgekettet war:
"Ihr könnt ihn mir überlassen - sowas Hübsches ist jetzt genau das richtige für meine Nerven." Nun verlor Youma gänzlich an Farbe und sah von einem Moment auf den anderen aus wie ein Geist, was Nocturn in sich hineinlachend aufnahm, ehe er zu Youmas Erleichterung dem Ganzen ein Ende setzte:
"Es tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen, aber... er wird euch leider keine Kinder schenken können, denn er ist... wie soll ich sagen... vom Leben hart bestraft worden." Die drei Frauen sahen sich fragend an, dann wieder zu Youma, der gewiss keine Dankbarkeit in seinem Blick liegen hatte, sondern sein Gegenüber zutiefst wütend anfunkelte.
"Gehört der "vom Leben hart Bestrafte" etwa zu dir, Nocturn-kun?", fragte Lacrimosa neugierig den Kopf schief gelegt, ihre Wut offenbar kurz vergessend, woraufhin der Angesprochene ein wenig ratlos mit den Schultern zuckte und zu Youmas Überraschung antwortete:
"Das sieht wohl ganz danach aus."
Erst nachdem Youma seine Hand- und Fußschellen los und sein Erbmaterial von jeglicher Gefahr befreit worden war, nahm er sich die Zeit, sich in diesem wahrlich eisigen Palast umzusehen. Lacrimosa hatte die beiden Dämonen in einen großen Saal beordert, in welchem sich ein großer, langer Speisetisch befand, der aus einem zierlich wirkenden schwarzen Material bestand - aus dem selben Material waren auch die gepolsterten Stühle, die sich um den Tisch herum befanden. Die Wände, der Boden und die Decke schienen aus Eis zu bestehen, auch wenn sich Youma diese Konstruktion nicht so ganz erklären konnte, genauso wenig wie die blauen Flammen, welche in kleinen, verzierten Kugeln von der Decke herunterhingen sowie neben den großen Doppeltüren des Saales. Die Wände wurden nicht von gemalten Gemälden geziert, sondern von in das Eis gehauenen Fresken, die alle ausnahmslos Frauen zeigten. Es war eisig kalt, aber irgendwie nicht ungemütlich, denn das Polster der Korbstühle am Rande des Saales, gleich neben langen, schlanken Fenstern, wärmte gut. Dort hatten es sich die beiden Dämonen gemütlich gemacht, während sie auf Lacrimosa warteten, die sie dort mit den Worten platziert hatte, dass sie sich zuerst umziehen wollte, ehe sie ein "klärendes Gespräch" mit Nocturn führen würde. Diese Chance wusste Youma selbstverständlich zu nutzen:
"Ich hoffe, ich deute deine Worte richtig und du gehst auf mein Angebot ein?" Nocturn, den spitzen Ellenbogen auf der Lehne des Korbstuhls platziert und sein Gesicht mit der Faust abstützend, warf ihm einen ärgerlichen Seitenblick zu, antwortete allerdings nicht. Erst als Youma sich mit einer höflichen Geste vorstellte, regte er sich:
"Bilde dir bloß nichts Falsches ein. Ich bin nur hier, um mich davon zu vergewissern, dass es Feullé gut geht. Das ist alles." Youma, verärgert über die Unhöflichkeit Nocturns, antwortete besserwisserisch:
"Das wage ich anzuzweifeln. Wenn du dich gänzlich aus den politischen Begebenheiten der Dämonenwelt heraushalten wollen würdest, hättest du dich hier nicht blicken lassen; du hättest mittels deines Gedankenlesens auf viel einfachere und unauffälligere Art herausfinden können, ob das Mädchen noch am Leben ist. Daraus schließe ich, dass du dich vielleicht bewusst noch nicht dazu entschieden hast, mein Partner zu werden, aber vielleicht unterbewusst." Mit jedem weiteren Wort aus Youmas Mund hatten sich die Augen seines Gesprächspartners weiter verengt und schneidend konterte Nocturn:
"Du bildest dir sehr viel auf deine Intelligenz ein, nicht wahr?" Youma vollführte eine selbstgefällige Handbewegung, die so viel sagen sollte, dass er das nicht leugnen konnte, doch schnell wurde er von seinem hohen Ross heruntergeholt, als sich Nocturn in seinem Sessel zurücklehnte und triumphierend antwortete:
"Doch scheinbar bist du nicht intelligent genug, denn du hast eine entscheidende Sache vergessen", ein Grinsen breitete sich nun auf seinem Gesicht aus, als er belehrend seinen Zeigefinger hob:
"Ich kann nicht nur Gedanken lesen, sondern diese auch manipulieren. Mit anderen Worten kann ich Lacrimosa und alle anderen, die mich gesehen haben, mein Auftreten hier einfach vergessen lassen; nichts leichter als das und genau das habe ich auch vor, zu tun." Nun war Youma an der Reihe finster dreinzublicken, was Nocturn zu einem kindischen Lachen brachte:
"Ahahaha! Wie tut es mir leid, dass ich deine Interpretation zerstört habe. Ich bin untröstlich!" Dieses Gespräch wäre wahrscheinlich noch zum Streit geworden, wäre Lacrimosa in diesem Moment nicht zurückgekehrt. Neu eingekleidet und beladen mit einer Schüssel dampfenden Wassers samt warm aussehenden Pantoffeln gesellte sie sich zu ihnen, doch ehe sie etwas sagte, tauchte sie erleichtert aufseufzend ihre nackten Füße in die Schüssel.
"Die Schuhe haben mich fast umgebracht!" Youma und Nocturn warfen sich einen fragenden Blick zu, nicht sicher, ob sie etwas dazu sagen sollten, doch anscheinend war ihr eine Antwort auch egal, denn sie begann damit, sich weiterhin darüber zu beschweren, dass sie noch Blasen bekommen würde. Nach fast fünf Minuten schien sie zu bemerken, dass die beiden Männer herzlich wenig mit solchen Problemen anzufangen wussten und richtete ihre Aufmerksamkeit daraufhin an Nocturn:
"Ich habe keine Ahnung, wo du die letzten 18 Jahre warst, mein Lieber, aber du bist ein verantwortungsloses Arschloch und ein schlechter Vater obendrauf!" Bevor Nocturn jedoch auf ihren Vorwurf eingehen konnte, mischte sich Youma ein:
"Vater? Sie ist deine ... Tochter?!"
"Ja, was hast du denn bitte geglaubt?!"
"Naja, ich habe ja schon mitbekommen, dass du etwas ... seltsam bist."
"Darf ich das nochmal haben, was genau hast du geglaubt, was Feullé und ich sind?!"
"Lenk nicht vom Thema ab!", fauchte Lacrimosa dazwischen, womit sie seine Aufmerksamkeit wieder hatte:
"Du hast keine Ahnung, was du ihr angetan hast! Was auch immer du in den letzten Jahren getrieben hast, es ist keine Entschuldigung für das, was die kleine Feullé durchmachen musste. Nicht einmal der Tod wäre eine ausreichende Erklärung!" Nocturn runzelte die Stirn, schien aber nichts gegen die Vorwürfe Lacrimosas sagen zu wollen, wahrscheinlich weil er ja nach eigener Aussage nicht wollte, dass Lacrimosa sich an dieses Treffen erinnerte. Aber Lacrimosa schien es sehr zu interessieren:
"Warst du bei der Bannkreiserschaffung auf der falschen Seite?" Lacrimosa unterbrach sich selbst stirnrunzelnd, beide fragend anvisierend:
"Obwohl ... Wie kommt ihr eigentlich hierher? Ihr seid doch keine Halbdämonen?" Youma fluchte innerlich: nicht schon wieder dieses leidige Thema.
"Also ich nicht, aber er", antwortete Nocturn mit einem Fingerzeig seines Daumens auf Youma, der ihm einen finsteren Blick zuwarf, da er eigentlich nicht wollte, dass es in die Welt hinausposaunt wurde. Es war schlimm genug, dass es Nocturn schon aufgefallen war.
"Du warst also doch auf der richtigen Seite, Nocturn-kun?" Sie lächelte, aber es war so falsch und hatte einen so gefährlichen Unterton, dass Youma es kalt den Rücken herunterlief; Nocturn blieb unbeeindruckt.
"Ich bin eben erst hier angekommen."
"Nocturn-kun... ich erwarte nicht, dass du mir alles erzählst, aber ich erwarte, dass du mich nicht anlügst. Als reiner Dämon kannst du hier nicht einfach "mal eben angekommen" sein."
"Gut", begann Nocturn, sich zurücklehnend und sich selbst zunickend, ehe er mit seiner Erzählung anfing, bei der Lacrimosa Wort für Wort an Fassung verlor:
"Ich nehme an, dass der Bannkreis keinen Effekt auf mich hat, weil ich ihn mit geschaffen habe."
"... du hast was."
"Das ist natürlich nur eine Vermutung von mir, denn meine begehrte White hat mir keine ausführliche Erklärung gegeben, bevor ich ihr meine Macht gegeben habe, damit sie die eine Hälfte des Bannkreises schaffen konnte ..."
"Wie bitte---"
"...Es ist nämlich so, dass es zwei absolut gleich mächtige Wesen benötigt, um den Bannkreis zu schaffen; zwei, die sich ähnlicher sind als Zwillinge, Spiegelbilder, die sich für immer vereinen - ist das nicht einfach perfekt; ist das nicht romantisch!?" Begeistert von seiner eigenen Erzählung fuhr Nocturn fort, ohne auf Youmas und Lacrimosas fassungslose Blicke zu achten:
"Es war viel besser, als ich zu träumen gehofft hatte! Du weißt ja, ich habe alles perfekt vorbereitet, aber man kann planen was man will, das Leben schreibt doch die besten Drehbücher! Aber unser Tod... hach! Sie hat mich erstochen, als wir uns küssten, womit sie auch ihren eigenen Tod besiegelte, denn Dämonenblut ist ja Gift für Wächter ..." Ergriffen schwieg Nocturn plötzlich errötet, auf den Fingernagel des kleinen Fingers beißend, ohne auf Youmas leicht angewiderten Blick zu achten, da er gänzlich in seinen Erinnerungen vertieft war.
"Offensichtlich kann White nicht zielen, denn du siehst sehr lebendig aus, Nocturn-kun. Aber freut mich, dass du deinen ersehnten Kuss bekommen hast." Diese Worte holten Nocturn von seiner Erinnerungswolke herunter:
"Das ist nicht Whites Schuld - das ist ganz alleine seine Schuld!" Wen er meinte war unübersehbar, denn der Blick, den er Youma sandte, war tödlich.
"Mein Tod war mehr als perfekt und dann kommt der und belebt mich wieder!" Der Angeschriene himmelte genervt mit den Augen, kam aber nicht dazu, mehr zu erwidern als das, denn Lacrimosa unterbrach den Streit, bevor er zu einem werden konnte:
"Bis zu diesem Punkt glaube ich es dir, Nocturn-kun, und bitte tu mir den Gefallen und erzähle es niemand anderem - aber als ob du wiederbelebt wurdest! Glaubst du wirklich, ich sei so dumm, leichtgläubig und naiv?! Steh wenigstens dazu-"
"Zu was denn?!"
"Zu was auch immer du in den letzten 17 Jahren getrieben hast!"
"Ich war tot!"
"Das kannst du Feullé-chan erzählen, damit sie es leichter verkraftet, dass du sie im Stich gelassen hast! Du hast nämlich nicht alles perfekt einkalkuliert, mein Lieber! Was Feullé-chan anging, ist nämlich einiges schiefgelaufen - und sie hätte deine Hilfe benötigt, oh ja, das hätte sie!" Nocturns Wut flaute ab und schlechtes Gewissen begann sich in seinem Gesicht abzuzeichnen, wie Lacrimosa mit Genugtuung feststellte.
"Was ist denn geschehen? Ist Black denn nicht wie verabredet hier erschienen und hat Feullé bei dir abgeliefert?"
"Ich bin noch nicht fertig mit dir, Freundchen, noch lange nicht!" Lacrimosa streckte anklagend den Zeigefinger nach ihm aus, sich nun in Rage redend:
"Was hast du in der ganzen Zeit gemacht, zur Hölle nochmal?! Warst du irgendwo in Paris und hast dich amüsiert, du egoistischer Arsch, während du die kleine Feullé-chan, die einzige, die eeeeiiiiinzigeeee, die immer daran geglaubt hat, dass du nicht tot seist, ihrem Schicksal überlassen lasst?!"
"Ich habe sie nicht ihrem Schicksal ..."
"Und ich! Ich hielt dich für einen Märtyrer, der zwar den Bannkreis nicht verhindern konnte - jetzt weiß ichs ja besser! - aber uns doch wenigstens White noch vom Hals geschafft hat. Ha! Was für ein Irrtum, was für ein Irrtum! Unsere Freundschaft sollte ich kündigen, auf der Stelle, rauswerfen sollte ich dich! Männer! Alle gleich!" Wow, dachte Youma beeindruckt: Lacrimosa war nicht nur sehr hübsch, sondern offensichtlich auch eine Person, die ihre Meinung nicht hinter dem Berg hielt - er war verwundert, dass Nocturn sich überhaupt traute, etwas zu erwidern; er jedenfalls war ziemlich eingeschüchtert, besonders wenn er daran dachte, dass sie ihn auch schon geschlagen hatte.
"Was ist denn jetzt eigentlich geschehen?!" Lacrimosa senkte den Finger wieder, doch ihr Blick blieb anklagend.
"Nichts ist geschehen, das ist das Problem. Black kam nicht und damit kam Feullé-chan auch nicht. Ich habe Black die letzten 18 Jahre nicht gesehen; niemand hat ihn gesehen. Er muss in der Menschenwelt gewesen sein, als das Siegel aktiviert wurde." Lacrimosa seufzte erschöpft und fuhr dann, nicht weniger beherzt, fort:
"Nachdem du dich in Luft aufgelöst hast, ist Feullé-chan nicht sofort zu mir gekommen. Ich meine, das Mädchen war nicht mal sechs Jahre alt, sie konnte sich gar nicht teleportieren. Black sollte sie zu mir bringen, das stimmt, und nachdem Black nicht an dem verabredeten Tag zu mir gekommen ist, bin ich selbst in dein Appartement in Paris eingedrungen - aber da war sie nicht!"
"Da war sie nicht? Aber Feullé hätte in ihrem Zimmer sein müssen ..."
"Darf ich mal eine kleine Frage stellen ...", warf Youma dazwischen, wofür ihn die beiden anderen Dämonen ansahen, als hätten sie seine Anwesenheit komplett vergessen:
"Warum hast du Feullé-san nicht selbst zu Lacrimosa-san gebracht?" Ein kurzer Schmerz zuckte über Nocturns Gesicht hinweg, doch es war Lacrimosa, die ihm mit theatralischer Stimme antwortete:
"Der Gute brachte es nicht über sein Herz, Feullé-chan zu sagen, dass er sterben würde - hach! Aber er ist ja gar nicht gestorben, das muss man hier nochmal festhalten!"
"Ich war immer noch tot", unterbrach Nocturn sie nach einem Getränk greifend.
"Er hat ihr einfach seine dumme Flöte dagelassen und ist abgehauen - wie Männer es normal tun! Schrecklich seid ihr, schreeeeecklich! Und dass du nicht tot bist, ist einfach die Höhe! Denn weißt du, was geschehen ist?"
"Nein, denn du erzählst es mir ja nicht."
"Oh, jetzt werd nicht frech!" Youma warf einen verstohlenen Blick vom einen zum anderen, wagte aber nicht, sich einzumischen; er hatte zu viel Respekt vor Lacrimosa.
"Gut, Nocturn-kun, du willst hören, was geschehen ist? Dann hör mal gut zu, was dein Egoismus angerichtet hat! Ich ließ Feullé-chan in der Menschenwelt suchen - ich bin ja kein Halbdämon, ich konnte den Bannkreis nicht überwinden - aber keine meiner Schwestern fand sie und als mehrere Wochen vergangen waren, war ich gezwungen, aufzugeben. Sechs Jahre später allerdings bekam ich unerwartet Besuch und nun rate mal, von wem. Das wird dir gefallen, Nocturn-kun, aber du hast es nicht anders verdient." Youma warf einen Seitenblick zu Nocturn und ihm war deutlich anzusehen, dass er Lacrimosas Gedanken bereits gelesen hatte und dass ihm diese absolut nicht gefielen: das Glas, welches er in der Hand gehalten hatte, zersprang in seiner zornigen Faust, doch ehe seine Wut zu Worten werden konnte, fragte Youma, der des Gedankenlesens immerhin nicht mächtig war, wer es denn gewesen sei. Lacrimosa, welche Nocturns Reaktion kritisch beobachtet hatte, wandte sich an Youma und fuhr aus:
"Es war Ri-Il. Er hatte Feullé-chan im Schlepptau und sagte mir, ich könne sie haben, weil er keinen Nutzen mehr für sie habe. Ich bekam nicht viel aus ihm heraus: alles, was er mir sagte, war, dass Black den Tauschhandel abgeschlossen hatte und Ri-Il sich natürlich an den Handel hielt."
"Tauschhandel? Hat er gesagt, was das für ein Handel war?", fragte Youma, weil Nocturn offensichtlich zu sehr mit seinen wütenden Gedanken beschäftigt war, um irgendetwas zu fragen, was er nicht ohnehin in Lacrimosas Gedanken lesen konnte.
"Als ob Ri-Il mir irgendetwas sagen würde! Nein, ich habe keine Ahnung, wogegen Black Feullé-chan eingetauscht hat und genauso wenig Ahnung habe ich davon, ob sie für Ri-Il arbeiten musste. Sie hat jede Untersuchung verweigert; aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie ihre Unschuld noch besitzt. Nocturn-kun, du hast so vielen Fürsten auf den Schlips getreten, hast du denn wirklich geglaubt, dass sich niemand an deiner Tochter auslassen würde, sobald du von der Bildfläche verschwunden bist?" Das war zu viel für die Wut Nocturns, welche durch eine zusammengeballte Faust auf dem kleinen Tisch neben ihnen entfesselt wurde und nicht nur die Gläser zum Klirren brachte, sondern auch einen Riss im Tisch entstehen ließ, den Lacrimosa missvergnügt beäugte, während Youma eher den zornigen Nocturn ansah, welcher zähneknirschend zischte:
"Das wird er büßen! Er wird dafür bezahlen, was er meiner Feullé angetan hat!" Lacrimosa sagte dazu nichts und anscheinend war Nocturn zu wütend, als dass er ihre Gedanken las, ansonsten hätte sich seine Wut sicherlich an sie gerichtet, denn sie fand weiterhin, dass es eher Nocturns eigene Schuld war, anstatt Ri-Ils - Ri-Il war in ihren Augen ein durchtriebenes Arschloch und somit hatte er nichts Ungewöhnliches getan. Er hatte Profit aus der Sache geschlagen, wie es in seiner Natur lag.
Aber sie musste Nocturn nicht weiter ins Gewissen reden - er hatte erst einmal genug, woran er knabbern musste. Stattdessen kam sie auf eine andere Idee, welcher sie auch sofort nachging, indem sie sich aufrichtete, ihre nackten Füße in Pantoffeln gleiten ließ und eigentlich gerade den Raum verlassen wollte, als Nocturns Hand hervorschnellte und ihr Handgelenk packte.
"Nein! Du holst sie nicht, deswegen bin ich nicht hier! Ich wollte nur wissen, ob es ihr ..." Aber Lacrimosa ließ sich von Nocturn nicht einschüchtern:
"Und wie ich sie holen werde! Sie hat die ganzen Jahre auf deine Rückkehr gewartet, sie hat dich immer verteidigt - sie hat Ri-Il überlebt, weil sie sich an den Glauben geklammert hat, dass du sie retten würdest! Sie hat lange genug gehofft und gewartet und sich an deiner bescheuerten Flöte-"
"Hengdi! Es ist eine Hengdi!"
"Mir sowas von egal. Sie hat sich immer an dieses Teil geklammert und jetzt willst du sie nicht erlösen?! Ich verstehe schon: du wolltest dich wieder klammheimlich in deine Versenkung verziehen, das ist es, was du willst!"
"Ich weiß nicht, was ich will-"
"Oh, das ist ja was ganz Neues!"
"Aber ich weiß, dass Feullé nicht in meiner Nähe sein sollte-"
"Über so etwas hättest du nachdenken sollen, bevor du sie adoptiert hast!"
"Gerade weil ich für Feullé verantwortlich bin, weiß ich, dass sie in meiner Nähe nicht sicher ist-"
"Oh, hör auf zu flennen! Es ist mir vollkommen egal, was du sagst! Denn ich werde jetzt ..." Mit einem entschiedenen Ruck riss Lacrimosa ihren Arm aus Nocturns Griff los und Youma, der sich schön zurückhielt, aber die Richtung des Gespräches sehr mochte, bemerkte, dass ihre Haut dort, wo Nocturn sie gepackt hatte, rot geworden war:
"... Feullé-chan holen." Einen Augenblick lang glaubte Youma, dass Nocturn Lacrimosa mit Gewalt aufhalten würde, aber er ließ sie ziehen und kaum, dass die Tür hinter der Fürstin zugefallen war, stand er auf und begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen, dabei Dinge vor sich hinmurmelnd, die ganz danach klangen, als würde er sämtliche Schuld an Ri-Il abwälzen.
"Ich hoffe, du planst keinen Frontalangriff gegen Ri-Il. Das wäre das Dümmste, was du tun könntest." Sofort wirbelte Nocturn zu Youma herum und antwortete zornig:
"Ach, wäre es?! Ich bin stärker als er! Ich kann jeden umbringen, den ich will!" Schon setzte er seinen Weg durch den Raum fort:
"Wie kann er es wagen, mein kleines Mädchen gefangen zu nehmen, sie zu benutzen wie einen Handelsgegenstand! Wenn sie mit nur einem einzigen Mann in Kontakt kam, wird er meine Wut noch heute zu spüren bekommen!"
"Stärke ist nicht alles", erwiderte Youma, sich nicht von Nocturns Wut einschüchtern lassend:
"Und von dem, was ich bis jetzt gehört habe, halte ich Ri-Il für viel zu intelligent, als dass er sich von einem Frontalangriff umbringen lassen würde. Ich bin mir sicher, dass deine unkontrollierbare Wut nicht einmal ins Ziel treffen würde." Nocturn reagierte nicht auf diese wohlüberlegten, weisen Worte, stattdessen ging er weiterhin auf und ab, doch Youma hüllte sich nicht in Schweigen, während Nocturn diese Bewegungen vollführte:
"Doch wenn du dich mir anschließt, verspreche ich dir, dass du deine Rache bekommen wirst. Eine Rache, die viel effektiver sein wird, als ein unüberlegter Faustschlag es je sein könnte." Nocturn blieb bei diesen Worten stehen, doch Youma war sich nicht sicher, ob er aufgrund seiner Worte stehen geblieben war, oder aus dem gleichen Grund, weshalb Youma sich nun umdrehte; denn auf einmal vernahm er mehrere Auren hinter sich. Als er sich jedoch argwöhnisch herumgewandt hatte, sah er nur Lacrimosa und ein kleines, aufgelöstes Mädchen, welches ohne Zweifel das Mädchen vom Bild war; kaum verändert, obwohl so viele Jahre vergangen waren.
Nocturn hatte ihr den Rücken zugekehrt und konnte so nicht sehen, wie Feullés Fingerspitzen zu ihren Lippen wanderten, während sich Tränen in ihren großen Kulleraugen sammelten. Im gleichen Moment, wie Nocturn sich endlich dazu entschied, sich zu ihr herum zu drehen, wählte sie auf einmal die Flucht und verwirrt sahen die Anwesenden zu, wie Feullé stolpernd, aber mit hastigen Schritten den Raum verließ, obwohl Nocturn gerade die Hand nach ihr ausgestreckt hatte, welche nun wie ein Stein herunterfiel, als er ihr reuevoll und traurig hinterher sah.
Lacrimosa zuckte mit einem Lächeln mit den Schultern und erklärte:
"Sie kommt gleich wieder. Feullé-chan muss nur etwas holen." Die Fürstin hatte Recht; kaum hatte sie dies gesagt, kam das kleine Mädchen auch schon wieder zurück in den Raum gestolpert, wo sie ihre eiligen Schritte verlangsamte und einige Schritte vor Nocturn stehenblieb, ihn mit Tränen in den Augen ungläubig ansehend, als wäre sie nicht sicher, ob es sich nicht nur um einen Traum handelte, der jeden Moment platzen würde.
"Ich ... ich habe all die Jahre... gut auf sie aufgepasst... denn ich wusste, dass Ihr... zurückkommen würdet... ich wusste, dass es gelogen war... dass Ihr tot seid... Ich wusste... Ihr würdet mich nicht alleine lassen..." Youma konnte nicht ganz erkennen, was es war, das Feullé in ihren Händen hielt. Es sah aus wie ein rechteckiges Paket, welches sie nun mit ausgestreckten Händen Nocturn reichte; er sah es jedoch nur einen kurzen Augenblick lang an, dann legte er es zu Feullés Überraschung beiseite und ging in die Hocke, um auf derselben Höhe zu sein wie seine Tochter. Obwohl ihm nicht nach einem Lächeln zumute zu sein schien, zwang er sich dennoch zu einem, als er die Arme austreckte.
"Ich bin hier, um dich abzuholen, ma petite."
Einen Moment lang schien Feullé nicht glauben zu können, was geschah, bis das Wasser in ihren Augen dem Drang nicht mehr standhalten konnte und sie sich völlig aufgelöst in seine Arme warf.
Lacrimosa begutachtete diese Wiedervereinigung zufrieden, aber auch zutiefst gerührt; sie war nahe am Wasser gebaut. Youma konnte sich dem nicht anschließen, stattdessen breitete sich das befriedigende Gefühl von Triumph in ihm aus, als Nocturn, nachdem er Feullé mit Worten in einer fremden Sprache beruhigt hatte, an Youma richtete:
"Ich hoffe, deine Pläne sind so gut wie du von dir selbst überzeugt bist."
"Darauf kannst du dich verlassen."