Kapitel 61 - Unkalkulierbare Gefühle
"Gary!"
Green beschleunigte ihre Schritte und sprang beim Rennen einige Treppenstufen herunter, was ihre Schuluniform zum Wehen brachte; sie beeilte sich, obwohl das nicht notwendig war, denn Gary hatte sie bereits gehört und war vor der Tür zur Bibliothek stehen geblieben, wo er sich nun verwundert herum drehte und schon Green vor sich sah, welche ein wenig aus der Puste schien, da sie anscheinend gerannt war, um ihn noch rechtzeitig abzufangen.
"Zum Glück habe ich dich noch gefunden, ehe der Unterricht beginnt! Ich habe schon befürchtet, mein letztes Stündlein hätte geschlagen."
"Was ist denn los, Green?", verwundert sah Gary sie an, doch seine Verwunderung verwandelte sich prompt in Skepsis, als er sie fragte, ob es vielleicht etwas mit Hausaufgaben zu tun habe. Anscheinend hatte er ins Schwarze getroffen, denn Green wurde leicht rot und beeilte sich, eine Ausrede parat zu haben:
"Also, um genau zu sein habe ich die Hausaufgaben einfach zuhause liegen gelassen..."
"Dann können wir uns ja auch einfach der Teleportation bedienen und deine Hausaufgaben abholen. Noch haben wir ja Zeit." Greens Antwort war ein unterdrücktes Grummeln, doch auch ohne ihre verräterische Reaktion war Gary sich bewusst, dass es keine Hausaufgaben zu holen gab; immerhin hatten sie und Siberu den gestrigen Nachmittag in der Stadt verbracht und dabei sicherlich nicht an Hausaufgaben gedacht. Doch obwohl Gary dies wusste und er ihr eigentlich eine Lektion erteilen müsste, ergab er sich seufzend:
"Gut, du kannst bei mir abgucken. Aber das ist das letzte Mal!" Schneller als Gary gucken konnte, verwandelte Greens Gesicht sich von einem leicht nervösen Ausdruck zu einem erfreut lächelnden und vor lauter Freude hauchte sie ihrem Retter in der Not einen kleinen Kuss auf die Wange.
Sobald sie sich von ihm löste, lächelte sie ihn strahlend an und mit roten Wangen verkündete sie, wie dankbar sie ihm war, ehe sie sich von ihm abwandte und bereits die Tür zur Bibliothek öffnete.
Doch schnell bemerkte sie, dass Gary stehen geblieben war, statt ihr zu folgen und verwirrt wandte sie sich wieder zu ihm herum. Gerade wollte sie ihn fragen, was denn plötzlich los sei, als er ihr jedoch mit einer Frage zuvor kam:
"Warum tust du sowas?"
Fragend, doch auch mit einer Spur Besorgnis, sah Green ihn an, denn plötzlich sah Gary nicht gut aus; beinahe kränklich. Traurig sah er zur Seite und im gleichen Moment, in dem sich Wolken vor die Mittagssonne schoben und sein Gesicht somit plötzlich im Schatten lag, fügte er bedauernd hinzu:
"Du bist doch jetzt mit Saiyon-san verlobt."
Entsetzt fuhr Green aus ihrem Himmelbett empor und obwohl sie sich schnell bewusst wurde, dass es sich um einen Albtraum gehandelt hatte, war ihr Herz in Aufruhr und ihre Augen brannten verdächtig, ganz als würden sie weinen wollen; aber Green presste die verräterischen Tränen mit ihren Handballen zurück.
Doch sie hatte keine Zeit, sich mit ihren Gefühlen oder dem Traum zu beschäftigen, denn sie war nicht von alleine aus ihrem Traum erwacht: es war ein Piepen gewesen, begleitet von einem roten Lämpchen, von einem Kommunikationsgerät stammend, welches in ihrem Nachttisch eingebaut war. Von dem penetranten Piepen und Blinken gehetzt, beeilte Green sich, auf den Knopf zu drücken und schon erschien eine Videoübertragung, welche Ukario zeigte, der keine Zeit verlor:
"Hikari-sama, ich entschuldige die späte Störung, doch Eure Heilfähigkeiten werden dringend benötigt!" Aus Trotz wollte Green beinahe darauf hinweisen, dass es erst kurz nach drei Uhr war, als ihr wieder bewusst wurde, dass sie sich im Krieg befanden und Uhrzeit dabei keine Rolle spielte - dass es ihr eigentlich verboten war, sich irgendeinem Schlachtfeld zu nähern, hatte sie allerdings völlig vergessen - oder verdrängt. Statt sich von irgendwelchen Bedenken aufhalten zu lassen, versicherte sie Ukario, dass sie sich beeilen würde.
"Die Koordinaten habe ich Euch bereits durchgegeben. Ich werde Euch in Empfang nehmen."
"Ich bin so stolz auf dich! So unendlich stolz!" Die liebende und erfreute Umarmung seines großen Bruders schnürte dem frisch gebackenen Verlobten beinahe die Luft ab; besonders als Säil die brüderliche Umarmung zu einer Gruppenumarmung umfunktionierte, als sie ihm ebenfalls ihre Glückwünsche mitteilte, nachdem Saiyon ihnen mit klopfendem Herzen berichtet hatte, was am vorigen Abend zwischen Green und ihm geschehen war.
"Ich kann es gar nicht glauben!", rief Shitaya, als sie sich von dem überrumpelten Saiyon lösten, seine Hände aber nach wie vor auf den Schultern seines kleinen Bruders ruhend:
"Mein kleiner Bruder wird die Hikari heiraten! Endlich hast du dein Ziel erreicht, für das du so lange so hart gearbeitet hast!" Die Augen Shitayas und Säils strahlten erwartungsvoll, als sie Saiyon beide fragten, was denn danach passiert sei; eine Frage, die Saiyon zu verwundern schien:
"Wie, danach?"
"Na, danach eben, Saiyon-kun!", hakte Säil mit einem vielsagenden Grinsen nach, dem Shitaya nur beipflichten konnte, was Saiyon aber nach wie vor nicht zu verstehen schien.
"Wir... haben uns eine "Gute Nacht" gewünscht und ich bin in die Bibliothek gegangen, weil mir bewusst war, dass ich vor lauter Aufregung sowieso nicht einschlafen würde und dann bin ich hierher gekommen." Fragend warfen sich Säil und Shitaya einen Blick zu, bis auf ihren fragenden Gesichtern ein Grinsen auftauchte und Shitaya ergänzte:
"Man sollte ja auch nichts überstürzen."
"Stimmt", pflichtete Säil mit erhobenem Zeigefinger bei:
"Außerdem bist du ja auch noch nicht offiziell ihr Verlobter. Zwar hat sie deinen Antrag angenommen, doch du musst auch noch von den Hikari akzeptiert werden." Saiyon schien bei den Worten seiner Schwägerin aus allen Wolken zu fallen, denn das hatte er anscheinend komplett außer Acht gelassen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie recht hatte, denn natürlich hatte er sich im Vorfeld ausgiebig darüber informiert, doch diese Information war im Glücksrausch wohl untergegangen. Der Ehepartner eines Hikari, den man "Getreuer" oder "Getreue" nannte, musste auch von seiner Familie akzeptiert werden: genauer gesagt mussten 33 Mitglieder des Rates, mit anderen Worten eine Mehrheit, der Heirat zustimmen. Diese Befürwortung verdiente man sich nicht nur durch die kämpferischen Fähigkeiten, sondern auch durch den Charakter: die Hikari mussten sich von der Aufrichtigkeit des Anwärters überzeugen - dies war zumindest normalerweise der Fall, doch da White in ihrem Testament dafür gesorgt hatte, dass diese Aufgabe alleine Grey zufallen würde, musste Saiyon seinen Charakter nicht vor den Hikari behaupten, da Grey der Heirat bereits vor seinem Tod den Segen gegeben hatte und das zum Glück schriftlich. Das einzige, was Greens Familie zu bewerten hatte, war seine Ausbildung, ob er sich an die heiligen Regeln hielt und ob sein Erbmaterial mehr als in Ordnung war: eine der wichtigsten Aufgaben war immerhin, dem Wächtertum einen Lichterben zu schenken, um die Erbfolge fortzusetzen.
Und als hätte man vom Teufel gesprochen, klopfte es just in dem Moment, als Shitaya ihm versicherte, dass er sich um diese Formalitäten keine Sorgen machen musste, an der Tür, welche deren Tempelwächterin öffnete, nachdem Shitaya es ihr erlaubt hatte. In der Tür stand keine Geringere als die Tempelwächterin der Hikari.
Saiyon beeilte sich damit, vom Frühstückstisch aufzustehen und Itzumi höflich zu begrüßen, sich plötzlich bewusst, dass, wenn er die Formalitäten hinter sich gelassen hatte, diese Tempelwächterin auch zu seiner Verfügung stehen würde. Anscheinend war Itzumi genauso zuversichtlich wie Shitaya, denn sie verbeugte sich tief vor dem Windwächter.
"Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Kaze-sama." Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr:
"Ich hoffe, Ihr habt Euer Frühstück abgeschlossen, denn Ihr werdet im Sanctuarian erwartet. Hikari-Hizashi-sama wartet dort auf Euch und bat mich, Euch mitzuteilen, dass Ihr Euch bitte beeilen möget."
Firey erwachte mit beschleunigtem Herzen. Erschrocken schlug sie die Augen auf; wollte bereits ruckartig die Bewegung des Aufstehens ausführen, als sie bemerkte, wo sie sich befand und das angstvolle "Green!" blieb ihr im Halse stecken.
Es war helllichter Tag; a-aber war sie nicht eben noch irgendwo in der Menschenwelt gewesen? Und... was war mit Green? War da nicht jemand gewesen, dieser Dämon - Nocturn? Und... ja, Siberu? Sie hatte ihn gesehen, mit ihm gesprochen, er hatte sie gerettet, sie in die Menschenwelt gebracht---?
"Argh!" Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte ihren Kopf und unterbrach schmerzhaft ihre Gedankenströme. Sie wollte sich gerade stöhnend an eben diesen fassen, als sie bemerkte, worin sie sich befand und somit von ihrem schmerzenden Kopf abgelenkt wurde: in einer Badewanne!?
"Oh, Ko-chan, du bist ja wach! Wie schön!" Die Stimme konnte nur von Tinami stammen, denn Firey kannte niemanden, der sie sonst so nennen würde und richtig: als sie ihren Kopf auf der Nackenstütze leicht zur Seite drehte, bemerkte sie, dass Tinami grinsend im Raum stand und somit wurde ihr Verdacht, dass sie sich im Sanctuarian befand, bestätigt, denn Tinami trug einen azurblauen Kittel über ihrer knappen Uniform, wie es auch die anderen Ärzte des Krankenhauses taten. Firey selbst trug einen hautengen, roten Anzug, welcher direkt unterhalb ihres Kinnes begann und auch ihre Finger umschloss. Mehrere kleine, leuchtende Pünktchen waren verteilt auf diesem eigenartigen Kleidungsstück, doch genau konnte Firey es nicht ausmachen, da ihr Nacken dank des langen Liegens in der Stütze noch sehr steif war. Ihr Kopf hatte wohl darin geruht, damit er nicht unter die Wasseroberfläche geriet; falls es denn Wasser war, womit das Becken gefüllt war. Es hatte eine warme, angenehme Temperatur, war durchscheinend wie normales Wasser, aber es erschien ihr schwerer zu sein.
Anscheinend bemerkte Tinami Fireys Verwunderung, denn als sie vor sie trat, die Hände in die Taschen des Kittels vergraben, erklärte sie:
"Das ist eine medizinische Vorrichtung, perfekt für innere Blutungen und gebrochene Knochen - wenn es nicht gerade schnell gehen muss, versteht sich. Das, worin du liegst, ist erhitztes Ultrasilz, das..." Okay, dachte Firey - wie bitte?
"... ach, eine längere Erklärung ermüdet jetzt nur. Es ist schön, dass du wieder wach bist. Man kann das Aufwachen auch forcieren, aber das ist keine so schöne Erfahrung."
"Wie komme ich eigentlich hierher?", fragte Firey, ihren steifen Nacken sachte von der einen Seite zur anderen drehend, bis sie sich selbst dabei unterbrach:
"Und wo ist der Bogen... also der, den ich dabei hatte..."
"Ach, du meinst den?" Erleichtert entdeckte Firey die Flammenspitze des Bogens, welcher gleich neben ihrer Wanne auf einem Stuhl lag, wo scheinbar auch frische Kleidung für sie bereitgelegt worden war.?
"Woher kommt die?", fragte Firey verwundert, als sie bemerkte, dass es ihre eigene war: ihr Lieblingspullover - ein mit verschiedenen Rottönen gestreiftes Oberteil mit Kapuze und Bauchtasche, zusammen mit einer simplen braunen Hose. Genau so, wie sie es mochte.?
"Oh, die. Ich glaube, das hat Ki-kun dir gebracht und hergebracht hat dich Ee-chan." Natürlich, Yuuki wusste ja auch, was sie mochte; es überraschte Firey also wenig, aber es freute sie sehr. ?
"Laut meinem Computer geht es dir wieder blendend, also lass ich dich mal raus, dann machen wir ein paar Tests."
Gesagt, getan - mittels ein wenig Fingerspitzengefühl Tinamis lief die Flüssigkeit langsam ab, doch noch ehe dies der Fall war, stieg Firey bereits mit ein wenig Hilfe von Tinami aus der Wanne heraus. Viel mit Wasser gemeinsam hatte die Flüssigkeit nicht, denn kaum dass sie draußen war, trockneten ihre Haare und ihre Haut in Sekundenschnelle und sie fror auch nicht, während Tinami ihre Hand an die Gelenke Fireys legte und sie zwischendurch immer wieder fragte, ob dies oder jenes der Feuerwächterin weh täte.
"Super, offensichtlich ist alles okay. Du kannst dich hinter dem Paravent da hinten umziehen." Firey bedankte sich und wollte sich gerade mit nackten Füßen dazu aufmachen, als sie mitten in ihrer Bewegung stehen blieb:
"Warte, wenn das mit dem Bogen kein Traum war, dann ist das mit Nocturn es doch ebenfalls nicht..." Ein Schatten verdunkelte Tinamis sonst so strahlendes Gesicht und schnell fand Firey heraus, warum die Klimawächterin schon die ganze Zeit so abwesend gewirkt hatte:?
"Das ist es auch nicht, Ko-chan. Wir sind seit vorgestern im Krieg." Firey drehte sich auf ihren nackten Zehenspitzen zu ihr herum und sah Tinami bestürzt an:?
"S-Seit vorgestern?! Wie lange habe ich denn geschlafen? Oh Gott! Geht es allen gut?! Es ist doch niemand... also..." Beruhigend lächelte Tinami sie an und antwortete:?
"Wir haben leider sehr viele Tote zu beklagen, aber ich glaube, davon kennst du niemanden. Von uns Elementarwächtern ist niemand verletzt wor..." Sie schwieg plötzlich und ihr tapferes Lächeln wurde steif, der Schatten in ihrem Gesicht wurde dunkler, konnte allerdings nicht verbergen, dass sie bleich geworden war, was die Nervosität in Firey steigerte.?
"Was ist denn? Tinami, sag mir nicht..."?
"Das weißt du dann natürlich noch gar nicht... Du weißt gar nicht, dass...Grey tot ist."
Einen Moment lang glaubte Firey ihren Ohren nicht, bis sie ihre Fingerspitzen erschrocken über diese traurige Nachricht auf ihre Lippen legte.
"Oh--- oh Gott, ich... ich muss zu Green..." Firey war schon drauf und dran, den Raum zu verlassen, ihrer Kleidung gänzlich ungeachtet, doch Tinami hielt sie davon ab:
"Sie hatte eine Schlacht heute Nacht - sie wird schlafen. Du kannst nachher zu ihr." Es vergingen einige Sekunden, ehe Firey ihre Stimme wiederfand und erschüttert ihren Mut bündelte, zu fragen, wie er gestorben war; stammelte etwas davon, wie das nur möglich sein konnte, ausgerechnet Grey...?
"Er wurde ermordet", unterbrach Tinami Fireys zusammenhangloses Stammeln:?
"Hier, im Tempel, noch ehe der Krieg ausbrach."?
"Im... Tempel? Aber das Sicherheitssystem; die Barriere? Wie ist das möglich?" Kaum hatte Firey diese Fragen gestellt, zog Tinami auch schon einen Stuhl für sie heran und bedeutete ihr, sich zu setzen: die Gedanken um das Umziehen waren vergessen; untergegangen und verdrängt von dieser schrecklichen Neuigkeit. ?
"Grey kannte seinen Mörder. Er ließ ihn wohl selbst herein... Die Untersuchungen zum genauen Tathergang laufen noch, sie wurde nur auf Grund des plötzlichen Kriegsausbruches pausiert." Tinami holte tief Luft, sich bewusst, dass Firey diese Information gänzlich anders auffassen würde als andere. Doch genau wie sie sich dessen bewusst war, wusste sie auch, dass man Firey unmöglich vor dieser Information würde schützen können, da war es vielleicht besser, wenn sie es von einer Wächterin erfuhr, die die Vorgeschichte kannte, als durch irgendein Gerücht.?
"Derjenige, der Grey tötete... war Blue. Der, den wir früher "Gary" nannten."
Die erste Reaktion Fireys war ein ungläubiges Schweigen, bis die Ungläubigkeit verschwand. Ein heiseres "Oh Gott...!" entwich ihr, ehe die junge Feuerwächterin sich zusammenkrümmte und ihr Gesicht in ihren Händen vergrub.?
Zuerst wollte und konnte sie es nicht glauben; sie sah den Gary aus ihre Erinnerungen vor sich, den hinter einem Buch versteckten Streber, den sie eigentlich nur flüchtig gekannt hatte; dennoch konnte sich nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig war - und das würde er Green doch nicht antun, er hatte sie doch geliebt, das konnte er doch nicht!
Doch kaum, dass sie dies gedacht hatte, meldete sich eine andere Stimme: woher wollte Firey das wissen, woher hatte sie das Wissen, das beurteilen zu können? Vor mehr als einem Jahr hatte Green ihr von den Ereignissen in der Dämonenwelt erzählt; erzählt, dass die beiden Halbdämonenbrüder, die sie zu kennen geglaubt hatten, nie existiert hatten. Firey hatte sich damals nicht mit eigenen Augen davon überzeugen können, aber war der Mord an Grey nicht der Beweis dafür, dass Green die Wahrheit gesprochen hatte? Jemand, der sie liebte, würde doch nicht ihren Bruder töten... aber.... Siberu? Sie hatte ihn vorgestern doch erst gesehen, ihn, Siberu, nicht Silver. Dessen war sie sich sicher. Es gab nichts, was sie davon abbringen konnte, dies zu glauben, nein, zu wissen. Sie wusste, dass der Halbdämon, der ihr in die feurige Schlucht gefolgt war, ihr hinterher geflogen war, als Karou sie herunter geworfen hatte... der die Hand nach ihr ausgestreckt hatte... die Hitze... die Hitze um sie herum, die Glut, sein entschlossener Blick und der Moment, das Gefühl, als er sie in seine Arme schloss und sie, sich bewusst, dass sie jetzt sicher war, ohnmächtig geworden war... das war derselbe immer grinsende Halbdämon, mit dem sie sich einst im Physikraum gestritten hatte - der Gleiche, in den sie sich verliebt hatte. Siberu war nicht tot... Aber... Gary war es. Eine andere Erklärung gab es nicht. Konnte es nicht geben. Niemand tötete den Bruder der Person, die man liebte. Niemand.
Diese Gedanken sprach Firey jedoch nicht aus, sondern behielt sie für sich und zum Glück hinterfragte Tinami ihr Schweigen auch nicht. Bedrückt machte Firey sich daran, sich umzuziehen, mit den Gedanken nun bei Green und der Frage, wie es ihr wohl ging - nicht nur wie sie mit Greys Tod umging, sondern auch wegen seinem Mörder. Was würde sie nun tun? Und wenn der Krieg begonnen hatte... hatte sie überhaupt Zeit gehabt, zu trauern? ?
"Du solltest dich beeilen, Ko-chan..." Aber Firey antwortete nicht; stattdessen hörte Tinami ein ersticktes Keuchen und sie ahnte schon, was es war, ehe Firey hinter dem Paravent hervorkam und ihr ihre schwarze Kehle zeigte.
"Wird das verheilen?" In der Dämonenwelt hatte Firey nicht viel Zeit gehabt, ihrer geschundenen Kehle groß Aufmerksamkeit zu schenken; erst jetzt strich sie mit den Fingerspitzen über die verbrannte Haut, dort wo Karou sie berührt hatte. Es war nicht länger eine Wunde, sondern tiefe, schwarze Narben, am deutlichsten zu sehen an ihrer Kehle; aber auch auf ihrem Bauch waren die schwarzen Verbrennungen auszumachen. Aber dort schmerzten sie nicht so sehr wie an ihrer Kehle...
Tinami sah sie ernst an und antwortete nicht, was Firey auf den Gedanken brachte, dass sie ja eigentlich niemandem von ihrem "Ausflug" in die Dämonenwelt erzählen sollte, aber... war das jetzt, wo der Krieg ausgebrochen war, nicht eigentlich nebensächlich? Und es war Tinami... sie vertraute ihr. Sie machte ihr auch keine Vorwürfe, stellte keine Fragen, warum sie dort gewesen war und wie sie Karou - denn ihr schien bewusst zu sein, dass die Verletzung von ihm stammte - entflohen war.
"Ich habe dir eine Creme auf den Stuhl gelegt", antwortete sie nach einer kurzen Weile und deutete auf den Stuhl hinter Firey:
"Die solltest du zwei Mal täglich draufschmieren. Das wird die Schmerzen lindern." Das war nicht die Antwort, die Firey hatte hören wollen... aber gut, es gab wichtigere, schlimmere Dinge als ihr Aussehen.
"Möchtest du, dass ich dir einen Schal bringe?", fragte Tinami sie, als sie bemerkte, dass Firey ihr Spiegelbild ansah. Wenn sie ihre Uniform trug, würde man es kaum sehen, aber jetzt, gekleidet in ihren Lieblingspullover, sah man es ganz deutlich. Sollte sie versuchen, es zu verbergen...?
Firey hatte im Moment nicht die Ruhe, um über so etwas nachzudenken, weshalb sie Tinamis Vorschlag annahm. Sie konnte einfach im Moment dazu keine Stellung beziehen und es gab so viel, was sie erfahren wollte, so viel zu bereden, dass sie keine Fragen zu ihren neuen Narben beantworten wollte. Sie würde sich später damit auseinandersetzen, entschloss sie und verteilte die Creme so gut es ging über ihre vernarbte Haut. Sie kühlte tatsächlich sehr gut und das Anlegen des leichten Schals, den Tinami ihr soeben mit einem aufmunternden Lächeln gebracht hatte, schmerzte auch nicht so sehr wie von ihr befürchtet.
"Du wirst draußen schon sehnsüchtig erwartet, Ko-chan; du solltest sie nicht länger warten lassen."
Es war so unglaublich schön, Azuma, Yuuki und Ignes wohlbehalten vor der Tür anzutreffen; so schön, dass Firey beinahe anfing, aus purer Erleichterung zu weinen. Sofort fand sie sich in einer Umarmung von ihren zwei Teamkollegen wieder - nicht nur, um sie zu trösten, sondern offensichtlich beruhte die erleichterte Wiedersehensfreude auf Gegenseitigkeit. Eigentlich hatte sie mit Azuma einige Hühnchen zu rupfen, aber das war ihr im Moment egal; seine innige Umarmung sprach ehrlichere Worte als jede seiner tausend Entschuldigungen.
Errötet und ein wenig verlegen lösten sie die Umarmung nach einigen in Schweigen verbrachten Sekunden, die auch Ignes nicht unterbrochen hatte, obwohl er natürlich die Zeit im Nacken hatte. Azuma wollte sofort von seinen Heldentaten berichten, doch Firey wollte zuerst sichergehen, dass es auch Ignes' Familie gut ging - erst als er ihr dies versichert hatte, begann Azuma triumphierend von seinen Erfolgen zu erzählen:
"Ich habe schon 63 Dämonen umgenietet und bin dabei noch gar nicht verletzt worden! Hahaha! Seit der Krieg ausgebrochen ist habe ich an jeder Schlacht teilgenommen, aber ich bin natürlich sofort gekommen, als Yuuki mich angerufen hat."
"Bist du denn gar nicht k.o., Azuma?", fragte Firey, nachdem sie sich in einer freien Sitzecke am Ende des von Licht durchfluteten Korridors hingesetzt hatten, wobei Firey deutlich auffiel, dass im Krankenhaus eine gänzlich andere Atmosphäre herrschte, als sie sie vom Sanctuarian gewohnt war. Zwar war es ruhig, doch es war eine sehr angespannte Ruhe; eine traurige Ruhe und sofort fragte Firey sich, wie viele Tote sich wohl in der untersten Etage des Krankenhauses befanden...
"Ach Quatsch! Müdigkeit und Hunger sind mir fremd; ich bin vollgepumpt mit Amphetaminen." Firey machte große Augen, während Ignes mit den Augen himmelte und Yuuki mit erhobenem Zeigefinger zu erklären anfing:
"Das Délivran ein Amphetamin zu nennen ist nicht ganz richtig, Azuma, obwohl sie eine ähnliche Wirkung haben."
"Aufputschmittel ist Aufputschmittel, wenn du mich fragst", unterbrach Azuma Yuuki, ehe er zu einer langen Erklärung ausführen konnte, doch er riss das Ruder wieder an sich:
"Wichtig ist nämlich, dass sie bei korrekter Verwendung keine gesundheitsschädlichen Nebenwirkungen haben. Einen Vergleich aufzustellen ist also nicht unbedingt möglich."
"Stimmt auch wieder", bemerkte Azuma plötzlich nachdenklich:
"Mir ist nicht so schlecht wie sonst." Yuuki wollte gerade etwas anderes besprechen, als er und Firey verstanden, was ihr Kamerad da gerade gesagt hatte.
"Sag mir nicht, Azuma, du hast schon mal echte Amphetamine genommen? Das sind doch... Drogen, oder nicht?", fragte Firey bestürzt, doch Azuma blieb gelassen:
"Natürlich, wie hätte ich sonst mein folkeskoleeksamen1 bestanden? Zwar nicht gerade meisterhaft, aber hej, bestanden ist bestanden!" Azuma lachte unbeschwert, während weder Yuuki noch Firey oder Ignes nach Lachen zumute war, was Azuma schnell auffiel:
"Ej, ihr tut ja fast so, als wäre ich abhängig gewesen oder so." Bevor das Gespräch sich weiter vertiefen konnte, mischte sich nun Ignes ein, welcher dem Gespräch bis jetzt nur aufmerksam gefolgt war:
"Fakt ist, dass wir auf Délivran angewiesen sind aufgrund der verhältnismäßig gesehen geringen Größe unserer Armee. Es wirkt schlaf- und hungerunterdrückend und ermöglicht, dass ein Wächter auch nach einem längeren Einsatz noch effektiv kämpfen kann. Fürchtet es nicht, Firey-sama, es ist ungefährlich. Glaubt Ihr, dass die verehrten Hikari es zulassen würden, dass wir ein schädliches Medikament einnehmen?" Ignes wandte sich nun von Firey ab und sein Blick wurde sofort streng, als er Azuma ansah:
"Nichtsdestotrotz solltet Ihr die Sache ernster sehen, Azuma-sama; nur weil Ihr die Bedürfnisse Eures Körpers nicht spürt, bedeutet das nicht, dass sie nicht existieren. Délivran wirkt 45 Stunden lang, danach ist es von allerhöchster Wichtigkeit, dass Ihr Euch sofort ausruht, genau wie es die Regeln besagen. Wenn Ihr den Befehl erhaltet, Euch zurückzuziehen und Euch auszuruhen, dann müsst Ihr dem Folge leisten, ansonsten riskiert Ihr einen Zusammenbruch. Darüber hinaus ist es sehr wichtig, viel zu trinken." Azuma seufzte und erwiderte genervt:
"Ja ja, ist ja gut. Ich hatte auch vor, mich gleich aufs Ohr zu hauen."
"Oh, ich glaube, da hast du keine Zeit mehr für, Azuma." Alle vier wirbelten herum, wo sie Tinami stehen sahen, welche den Kittel abgelegt hatte und nun in ihrer Uniform vor ihnen stand:
"Hast du vergessen, dass du angeklagt und zum Kriegsgericht vorgeladen bist?" Azuma verzog finster das Gesicht, doch darauf achtete Firey nicht, als sie überrascht fragte, was es mit der Anklage auf sich hatte, doch als Ignes es ihr erklärte, schien sie nicht sonderlich darüber überrascht zu sein und warf Azuma einen missbilligenden Blick zu.
"Du hast jemanden umgebracht?!"
"Das war ein Versehen, okay? Ein Unfall, das war nicht mit Absicht... sie... ehm... standen einfach etwas... ungünstig." Dass diese Ausrede Firey nicht gerade beruhigte, verstand Azuma schnell, weshalb er sich an Tinami wandte:
"Aber was hat das denn mit dir zu tun?" Das Grinsen auf Tinamis Gesicht schmolz dahin und erst nach einigen Sekunden antwortete sie bedrückt:
"Weil ich ebenfalls angeklagt bin wegen fahrlässiger Tötung von 848 Wächtern."
Azuma hatte das bevorstehende Kriegsgericht tatsächlich komplett verdrängt gehabt: da die Dämonen am Vorabend um zirka 22 Uhr die Menschenwelt angegriffen hatten in der Hoffnung, an Wasser zu gelangen, hatte er nicht damit gerechnet, dass man überhaupt Zeit hatte, an ein Kriegsgericht zu denken, geschweige denn es abzuhalten. Doch selbst zu Zeiten der stärksten Schlachten fanden die Hikari stets die Zeit, um über Schuld oder Unschuld zu richten.
Das Kriegsgericht wurde von einer anderen Abteilung administriert, welche getrennt war von den Kriegssitzungen - mit anderen Mitgliedern, womit Optimalität, Effektivität und Neutralität gesichert wurde. Das einzige Ratsmitglied, welches sowohl im Gericht sowie in den Kriegssitzungen saß, war Shaginai. Seit seinem 16. Lebensjahr bekleidete er das Amt des Richters. Bereits als Kind hatte Shaginai den Gerichten beigewohnt und mit nur 16 Jahren dank ausgefeilter Argumente und eindrucksvollem Charisma seinen ersten Wächter wegen Mordes zum Tode verurteilt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken - ein Fall, der ihn und seinen Einsatz für das Wächtertum legendär gemacht hatte, denn es war sein eigener Elementarwächter des Feuers gewesen, den er zum Schafott gebracht hatte.
Das Kriegsgericht unterschied sich entscheidend von den Gerichtssälen der Menschen und würde von den Menschen wahrscheinlich nicht einmal als ein solches anerkannt werden. Denn anders als bei den Menschen war in den Gerichtssälen der Wächter weder ein Ankläger noch Verteidiger vorhanden; mit anderen Worten gab es niemanden, der den Angeklagten verteidigte. Die einzige Gewaltsinstanz waren drei Hikari, wovon der Richter das Urteil verkündete, als Ankläger und Richter in einem. Das Urteil wurde zuvor im Jenseits ausführlich debattiert; eine Diskussion, an welcher der Angeklagte nicht teilnahm. Es blieb dem Angeklagten damit nichts anderes übrig, als das Urteil stillschweigend in Empfang zu nehmen.
"Was ist denn das bitte für ein bescheuertes System!", protestierte Azuma empört, als Tinami, begleitet von Kaira und Azura, ihm dies erklärt hatte, als die Elementarwächter sich alle unter der strahlenden Sonne auf Sanctu Ele'Saces eingefunden hatten. Sie waren gerade dabei, über einen weiten, vom Krieg verschonten Platz zu gehen, der sie zu einem großen, aus roten Backsteinen gebauten Gebäude führte. Hohe, dunkle, in Reih und Glied platzierte Fenster sahen auf die Besucher herab, die gerade an einer wassersprudelnden Statue vorbei gegangen waren, die ihnen glorreich und erhaben das Buch der heiligen Regeln entgegenhielt. Diese Art Statuen entdeckte Azuma überall auf dem Gebäude, sobald sie die kühle Eingangshalle betreten hatten; überall dasselbe Motiv: strenge Wächter mit anklagenden Gesichtern, das Regelbuch glorifizierend. Es war sehr still in der Eingangshalle und den anschließenden Korridoren; nur wenige Tempelwächter waren unterwegs, huschten unauffällig mit gedämpften Schritten von einer Tür in die nächste. Azuma nahm auf die allgemeine Stille natürlich keine Rücksicht:
"Das ist ja alles andere als demokratisch!" Diese Worte Azumas brachten Kaira zu einem verächtlichen Schnauben, während sie die Augen verdrehte. Ihre Antwort war allerdings dennoch ruhig:
"Falls es dir nicht aufgefallen ist, Azuma: wir leben in einer Monarchie. Demokratie findest du nur bei den Hikari."
"Aber was ist, wenn ich mit dem Urteil unzufrieden bin!?" Zweifelnd hob die Zeitwächterin die Augenbraue und antwortete, während Tinami und Azura den Gebäudeplan studierten, um den richtigen Raum zu finden:
"Das ist doch kein Spielplatz! Du hast dich nicht an die heiligen Regeln gehalten und wirst dafür bestraft. So einfach ist das." Tinami und Azura hatten den richtigen Raum gefunden und führten die kleine Gruppe Elementarwächter nun eine große marmorne Treppe mit verziertem Geländer empor.
"Aber es gibt doch sicherlich auch korrupte Hikari! Wenn sie zum Beispiel einen Fehler gemacht haben, Beweise gefälscht sind oder was weiß der Geier! Dann muss man doch den Mund aufmachen!"
"Sicherlich gibt es die", gab Kaira nach stillem Überlegen zu, sich an eine Säule lehnend, sobald sie im Warteraum des größten Gerichtssaals angekommen waren. Die großen Doppeltüren des gigantischen, runden, zentral im Gebäude gelegenen Raumes hatten sogar Azuma kurz schlucken lassen. Alle Räume und Gänge des Gerichtsgebäudes orientierten sich an dem Gerichtssaal, indem sie ringförmig um eben diesen herum lagen. Beleuchtet wurden die Korridore von gläsernen Dachfenstern, die unheimliche Schatten auf die mit einem großen Fresko verzierte glänzende, goldene Doppeltür des Gerichtsaales warfen. Wieder war es dasselbe Motiv, nur dieses Mal war es die Verfasserin der Regeln selbst, die das Buch in der linken Hand hielt und die Feder, mit der sie die Worte geschrieben hatte, in der rechten. Ihr goldener Gesichtsausdruck war undefinierbar. Aber ihre leeren Augen starrten einen an, egal von wo aus man sich ihr näherte. Über der geflügelten, kleinen Frau waren folgende Worte in die Tür graviert worden:
"Das Licht sei jenen verweigert, die Schaden über unser Reich bringen."
Sofort fragte Azuma sich, ob "Licht verweigern" gleichbedeutend damit war, dass man sterben sollte...
"Aber die findest du sicherlich nicht im Jenseits." Azuma hatte die Tür so ungläubig vom Warteraum aus angestarrt, dass er das Gespräch mit Kaira fast vergessen hatte und sich nun verwirrt zu ihr wandte:
"...Ansonsten wären sie nämlich nicht dort." Während dieser Unterhaltung hielt sich Tinami eher bedeckt, sagte nicht einmal etwas dazu, dass Kaira etwas nicht ganz richtig erklärte, denn es gab schon eine Möglichkeit, das Urteil zu verändern und Einspruch zu erheben: der Angeklagte selbst konnte zwar nicht direkt etwas tun, doch konnte sich an einen anderen Hikari wenden und diesen von seiner Unschuld überzeugen. Dieser Hikari konnte dann für ihn eintreten und versuchen, durch wohl gewählte Argumente und natürlich Beweise eine Revision zu erkämpfen. Der Grund dafür war schlichtweg, dass nur ein anderer Hikari sein Wort gegen die Hikari erheben durfte: die normalen Wächter mussten die Befehle der Hikari immerhin befolgen und dazu gehörte auch das über sie gefällte Urteil.
Azuma mochte dieses System als ungerecht ansehen, doch Tinami war da anderer Meinung: es war notwendig. Es war nicht im Interesse der Hikari, ihre Wächter unnötig zu bestrafen; sie wollten schlichtweg für Ordnung sorgen und wenn sich jemand nicht an die Regeln hielt, war dieser ein Störfaktor, der schnellstmöglich ruhiggestellt werden musste, ansonsten ging auch das ausgeklügelte Kampfsystem im Krieg nicht auf. Wächter wie Azuma, die ihren eigenen Kopf hatten und damit eine Gefahr für dieses System waren, mussten schnellstmöglich lernen, sich an die Regeln zu halten, ansonsten brachten sie andere Wächter in Gefahr - so wie Azuma es nun einmal getan hatte; dadurch, dass er sich nicht an die Regeln gehalten hatte, hatte er mehrere Wächter verletzt und einen sogar getötet. Natürlich musste man in Betracht ziehen, dass er dafür auch viele Dämonen getötet hatte und Tinami war sich auch sicher, dass seine Bestrafung relativ milde ausfallen würde, doch man konnte auch genauso viele Dämonen töten, ohne dabei Wächter zu verletzen. Obendrein hatte Azuma einen großen, großen Bonus, welchem er sich nicht bewusst zu sein schien, denn als Kaira ihm neckend erzählte, dass auch manchmal das Todesurteil gefällt wurde, entwich ihm seine Gesichtsfarbe, obwohl er sich absolut keine Gedanken darum machen musste, dass er hingerichtet werden würde: die Hikari brauchten ihn, den einzigen Erdwächter. Nicht nur im Krieg, sondern auch für den Wiederaufbau.
Er würde nicht hingerichtet werden, anders sah es allerdings mit Tinami aus.
"Tinami Kikou Asuka." Die Klimawächterin zuckte zusammen, als ein Tempelwächter sie darüber informierte, dass sie die nächste war. Tinami fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, doch klammerte sich daran, dass sie sich bewusst war, dass es ihre eigene Schuld war und dass sie vor Kaira keine Schwäche zeigen wollte. Sie biss sich auf die Unterlippe, löste sich von der aufbauenden Hand ihrer kleinen Schwester, versuchte deren glasigen Augen zu übersehen und trennte sich von der kleinen Gruppe Elementarwächter, jedoch nicht ohne Kaira einen Blick zuzuwerfen; nicht in der Hoffnung, ein aufheiterndes Lächeln auf ihrem Gesicht zu erblicken, sondern um ein kleines Stück ihrer Stärke zu erhalten.
Die Flügeltür öffnete sich für Tinami und Hikaru verschluckte sie, indem die Tür sich hinter ihrem Rücken mit einem Donnergrollen schloss, kaum dass die Klimawächterin den Saal betreten hatte.
Im grellen, von oben kommenden Sonnenlicht brillierte der weiße Marmorboden unter Tinamis Füßen, umrahmte das glorreiche Wappen der Wächter, welches abwechselnd im sanften, unauffälligen Takt in der jeweiligen Elementfarbe pulsierte. Auch unter diesem standen Worte eingraviert, die Tinami in diesem Moment nicht las, sie aber dennoch kannte:
"Unserem vereinigten Reich zum Schutze und Erhalt. Nur dem dient das Licht."
Auf den Tribünen vor ihr hatten drei Hikari Platz genommen, deren weiße Augen die Angeklagte ernst ansahen, während die anderen vier Hikari, zwei links von Tinami, zwei rechts von ihr, ihre Aufmerksamkeit diversen Dokumenten schenkten. Trotz großer Nervosität setzte sie einen Schritt vor den anderen, überquerte das Wappen, bis ihre Füße eine auf dem Boden befindliche Markierung berührten, die ihr sagte, dass sie nicht weiter gehen musste und wahrscheinlich auch nicht durfte. Somit befand sie sich nun zwei Meter vor der Tribüne und wenn sie aufsehen dürfte, dann würde sie Shaginai genau ansehen; doch als Angeklagte war es für sie Pflicht, den Kopf gesenkt zu halten, um das Urteil schweigend in Empfang zu nehmen.
Ein männlicher Hikari mit hoher Stimme räusperte sich und las vor:
"Tinami Kikou Asuka. Kikou, angehörig der Asuka-Familie, 269. Generation. Elementarwächterin des Klimas, erster Rang." Tinami mochte das nicht hören. Es steigerte ihr Unwohlsein. Aber sie konnten sie nicht überraschen. Sie kannte ihr Urteil schon. Für den Tod von 848 Wächtern gab es nur ein Urteil.
"Sie werden dafür angeklagt, ein fehlerhaftes Abwehrsystem entwickelt zu haben, dessen Unzulänglichkeit Mitschuld daran trägt, dass das Wächtertum angreifbar war und 848 Wächter ihr Leben lassen mussten. Damit werden Sie der fahrlässigen Tötung angeklagt." Er legte eine dramatische Redepause ein, in welcher Tinami sich auf die nächsten, überprüfenden Fragen vorbereitete.
"Wurde das besagte Abwehrsystem am 31. 08. 2007 installiert?"
"Ja."
"Wurde es von Ihnen alleine installiert?"
"Ja."
"Ist es richtig, dass Sie am 27.08.2007 sämtliche Hilfe anderer Wächter ablehnten?"
"Ja."
"Es entspricht also der Wahrheit, dass es keine anderen Beteiligten gab?" Das war nicht ganz richtig. Das System baute auf dem von ihrem Vater geschaffenen Abwehrsystem auf, weshalb er eigentlich maßgeblich zu dem System beigetragen hatte, aber Tinami korrigierte den Hikari nicht, obwohl sie es tun durfte. Denn es war nicht ihr Vater, der einen Fehler gemacht hatte. Es war sie gewesen.
"Es gab keine Beteiligten."
"Dann übernehmen Sie sämtliche Verantwortung für das am 31.08.2007 installierte System?"
"Ja." Es folgte das Rascheln einiger Dokumente, aber niemand sagte ein Wort. Erst als wieder absolute Stille im Saal herrschte, wurde die letzte Frage gestellt:
"Bekennen Sie sich Ihrer angeklagten Schuld?"
Natürlich tat sie es. Das Abwehrsystem, welches sie selbst entworfen hatte, würde sie zwar nicht im Allgemeinen als ungenügend oder mangelhaft bezeichnen, aber es war einem Systemfehler zu verdanken, dass es Karou gelungen war, in das System der Wächter einzudringen und es nach seinem Belieben zu manipulieren. Bis jetzt war dies nur zwei Mal seit dem Bestehen eines solchen Systems passiert und nie, niemals hätte Tinami gedacht, dass sie nun die dritte Kikou sein würde, die ebenfalls einen solch fatalen Fehler zulassen würde. Ihr Wissen war ihre wertvollste und wirkungsvollste Waffe - und gerade dieses hatte sie im Stich gelassen. Sie hatte ihre Rasse, ihre Familie und ihr Element enttäuscht.
Noch immer fragte sie sich selbst, wie sie diesen Fehler hatte zulassen können. Den Rechenfehler hatte sie schon gefunden; er war so klein, so winzig gewesen, beim nächsten Update hätte sie ihn entdeckt und ihn lachend ausgemerzt... er war so klein und dumm. Wie hatte ihr so ein Fehler unterlaufen können? Wie hatte das passieren können?
Tinami hatte so lange an dem neuen System gearbeitet. Nachdem die Dämonen den Wächtern den Krieg erklärt hatten, hatte sie über Green bei den Hikari darum gebeten, das neue System zu installieren und auch die Erlaubnis erhalten. Es stimmte, dass sie sämtliche Hilfe abgelehnt hatte; aus Stolz, ja, aber auch aus Egoismus. Tinami war keine Wächterin, die sich groß am Kampfgeschehen beteiligen konnte, weshalb es für sie immer ein Glücksgefühl gewesen war, für das Sicherheitssystem der Inseln zuständig zu sein - genau wie ihr Vater es gewesen war. Sie konnte keine Dämonen auf dem Schlachtfeld töten, aber sie konnte das Wächtertum mit ihrer Intelligenz schützen, vor Unheil bewahren... das war ihr Kampf gewesen, der sie mit Stolz erfüllt hatte. Sie beherrschte ihr Handwerk, sie liebte ihr Handwerk, sie hatte es nicht teilen wollen.
Am gleichen Tag jedoch, zwei Tage nach der Kriegserklärung, als sie das System installieren wollte, wurden Kaira und sie zu Ukario gerufen. Tinami, welche die Nacht durchgearbeitet und seit der Kriegserklärung nicht mehr geschlafen hatte, war alles andere als begeistert davon, denn sie wollte nicht unterbrochen werden, bis das System einsatzbereit war. Doch natürlich hatte sie sich gefügt und war mit Kaira zusammen nach Sanctu Ele'saces gekommen, um Ukario in seinem Büro zu treffen.
"Ich grüße Sie, Kikou-sama, Toki-sama", begrüßte er sie freundlich, ehe sie sich vor seinem Schreibtisch hinsetzten: Kaira mit einer felsenfesten Miene, welche von nichts, aber auch gar nichts erschüttert werden konnte, während Tinami, welche einen leisen Verdacht hatte, worüber das Gespräch handeln konnte, ein wenig unsicher war, sich dies aber nicht anmerken ließ.
"Weshalb haben Sie uns zu sich gerufen, Ukario-san?", fragte Kaira sofort, da sie sich sicherlich nicht allzu lange von ihrem eisernen Training abhalten lassen wollte. Ukario faltete die Hände auf seinem polierten Mahagonischreibtisch und begann:
"Sie sind beide im heiratsfähigen Alter, bereits ein wenig darüber mag ich sagen und soweit ich weiß, sind Sie beide ohne Partner." Kaira schien das Thema zu überraschen; einen Augenblick lang sah sie verwirrt aus, im Gegensatz zu Tinami, die ihre Vermutung bestätigt sah. Sie hatte geahnt, dass dieses Thema früher oder später auf den Tisch kommen würde. Immerhin waren sie beide Elementarwächter und bei der Geschlechtsverteilung zwischen den Elementarwächtern und den Offizieren war es klar, dass man versuchen würde, sie miteinander zu verkuppeln.
"Wenn Sie wünschen, dass wir einen Partner für Sie aussuchen, dann frage ich Sie hiermit", fuhr Ukario mit einem aufmerksamen Lächeln fort. Tinami beeilte sich, dem Vorschlag mit einem heiteren Grinsen zu entgehen, doch Kaira mischte sich ein:
"Ich weiß nicht, was du hast, Asuka. Ich habe gewiss keine Zeit, einem Mann hinterherzulaufen und habe überhaupt keine Einwände, dass Sie, Ukario-san, sich darum kümmern." Ohne auf Tinamis Gesichtsausdruck zu achten, lehnte sich Kaira in ihrem Sessel zurück, faltete ähnlich wie Ukario ihre Hände, als wäre dies eine Geschäftsverhandlung:
"Meine Bedingungen lauten, dass sich mein zukünftiger Ehemann mindestens auf Rang Eins befinden und in seinem Leben unbedingt bereits mehr als 1000 Dämonen umgebracht haben muss. Desweiteren habe ich eine persönliche Aversion gegen das Element der Illusion und wünsche nicht, dass mein Ehemann diesem Element zugehörig ist." Professionell wie Ukario war verzog er keine Miene, als Kaira so direkt das Element angriff, zu welchem er gehörte; er war die Geringschätzung des Elements der Illusion bereits gewohnt. Es folgte eine absolut gefühllose Beschreibung, wie Kaira sich ihren zukünftigen Partner vorstellte: es sollte ein Mann sein, der keine langen Haare besaß, denn sie wollte einen männlichen Mann; er sollte größer sein als sie und nicht zu dünn; und bitte niemanden, der stundenlang reden konnte, sie bräuchte ihre Ruhe. Doch alles in allem wären ihre ersten Kriterien ihr am wichtigsten - und was unbedingt erforderlich sei, war, dass sie die Akten des möglichen Ehemannes unbedingt sehen wollte, bevor dieser informiert wurde.
Tinami war absolut fassungslos, wie gefühlskalt Kaira die ganze Sache anging; obwohl sie nicht gerade behaupten konnte, dass es sie überraschte. Einen Partner zu haben und Kinder in die Welt zu setzen war auch nur ein Teil ihrer Karriere, ein Teil im Leben eines Wächters... und dennoch... dennoch...
"Und sie, Kikou-sama?" Ukarios Stimme weckte Tinami aus ihren verzweifelten Gedanken und plötzlich bemerkte sie, wie beide sie ansahen, nachdem Ukario sich alles notiert hatte, was Kaira ihm gesagt hatte.
"Also ich..." Skeptisch, aber auch ein wenig besorgt, wie Tinami überrascht feststellte, besah Kaira ihre Freundin, als sie bemerkte, dass die Klimawächterin ins Stottern geriet, was sie ja normalerweise nie tun würde.
"... ich würde mir gerne selber jemanden... suchen." Ukario sah sie überrascht an und erwiderte:
"Das steht Ihnen natürlich frei, Kikou-sama, doch warten Sie nicht zu lange. Der Krieg beginnt bald und wir wollen doch nicht, dass die große Asuka-Familie erblos bleibt." Tinami wusste, dass diese Worte nett gemeint waren und natürlich auch realistisch, doch sie wollte nicht mehr hören. Sie konnte einfach nicht mehr.
Sie verhielt sich ruhig, während Kaira ein Formular unterschrieb; erst nachdem sie wieder vor der Tür standen, sagte sie wieder etwas, nachdem Kaira sie mit einem genervten Tonfall fragte, was zur Hölle mit ihr los sei.
Natürlich verstand sie es nicht. Natürlich bemerkte sie es nicht einmal.
"Ich finde einfach... dass es früh kommt."
"Was redest du denn da? Du weißt genauso gut wie ich, wann das heiratsfähige Alter beginnt und wir sind beide schon längst darüber. Von früh kann wohl kaum die Rede sein." Tinami wandte sich von Kaira ab und begann, den Gang herunterzugehen. Sie wollte das Gespräch beenden; wollte nicht hören, wie sehr sich Kaira über ihr Verhalten wunderte, wie unnormal sie sich verhielt bei einem Thema, welches für sie nichts anderes war als ein weiteres kleine Häkchen auf ihrer Liste zum perfekten Wächter.
Zwar witterte Kaira nicht, was der wahre Grund für Tinamis fragwürdiges Verhalten war, dennoch entfiel ihr nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmte: und sie wäre nicht Kaira, wenn sie dies unkommentiert lassen würde. Daher ignorierte sie Tinamis offensichtlichen Widerwillen dem Thema gegenüber und packte ihre Schulter, womit sie sie dazu brachte, sich herumzudrehen - doch sofort ließ sie Tinami los, als ihr etwas an ihrer Freundin auffiel, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Tinami hatte Tränen in den Augen.
Überrumpelt von dieser plötzlichen Gefühlsreaktion Tinamis ließ Kaira sie los und schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Schweigend, als hätte Kaira etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen dürfen, wandte sie sich wieder von Tinami ab, welche sich die Tränen aus den Augen wischte.
Erst als ihre Tränen nicht mehr zu sehen waren, richtete Kaira zögernd ihr Wort an die Klimawächterin:
"Sag mal, Asuka... du würdest mir doch sagen, wenn du in jemanden verliebt wärst? Das wüsste ich doch?" Anstatt zu antworten nickte Tinami nur; aus Angst, dass ausgesprochene Worte sie verraten konnten.
"Du bist dir sicher? Warum weinst du dann?" Tinami zuckte mit den Schultern; wusste nicht, was sie sagen sollte, was für eine andere Erklärung sie erfinden könnte, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Doch sie wollte nicht lügen: die Wahrheit hinter Schweigen zu verstecken war eine Sache, aber sie hinter Lügen zu verbergen... eine gänzlich andere. Sie wollte Kaira nicht mit einer erlogenen Geschichte befriedigen, dass sie sich in irgendeinen Mann verliebt hatte, der ihre Gefühle aus irgendwelchen Gründen nicht erwiderte. Weil es einfach nicht stimmte.
Tinami war es sich schon so lange bewusst gewesen. Aber noch nie war es ihr so klar wie in diesem Moment: sie war in die Person verliebt, die in diesem Moment vor ihr stand und vielleicht glaubte, sie habe etwas Falsches gegessen.
Und das war auch der Grund für ihre Schuld. Sie hatte sich an diesem Abend in Arbeit ertränken wollen. Wollte diesen Tag einfach vergessen... und bei dieser Verzweiflungstat war ihr der Fehler unterlaufen.
Shaginai benötigte kein Räuspern und auch keine weiteren Antworten, um das Urteil zu verhängen.
"Tinami Kikou Asuka! Sie verlieren mit sofortiger Wirkung Ihre Position als Elementarwächterin des Klimas und werden auf Rang Drei degradiert. Darüber hinaus verlieren Sie sämtliche damit verbundenen Rechte samt Ihrer Tätigkeit als Chefärztin des Sanctuarians, ebenso Ihre Genehmigung, Waffen herzustellen. Sie werden in den kommenden Tagen eine neue Bataillonsstellung erfahren, von welcher Sie dem Wächtertum keinen weiteren Schaden zufügen können!"
Sie hatte alles verloren.
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1 Dänisch: Abschlussprüfung in der 10. Klasse, vergleichbar mit dem Realschulabschluss in Deutschland
Green beschleunigte ihre Schritte und sprang beim Rennen einige Treppenstufen herunter, was ihre Schuluniform zum Wehen brachte; sie beeilte sich, obwohl das nicht notwendig war, denn Gary hatte sie bereits gehört und war vor der Tür zur Bibliothek stehen geblieben, wo er sich nun verwundert herum drehte und schon Green vor sich sah, welche ein wenig aus der Puste schien, da sie anscheinend gerannt war, um ihn noch rechtzeitig abzufangen.
"Zum Glück habe ich dich noch gefunden, ehe der Unterricht beginnt! Ich habe schon befürchtet, mein letztes Stündlein hätte geschlagen."
"Was ist denn los, Green?", verwundert sah Gary sie an, doch seine Verwunderung verwandelte sich prompt in Skepsis, als er sie fragte, ob es vielleicht etwas mit Hausaufgaben zu tun habe. Anscheinend hatte er ins Schwarze getroffen, denn Green wurde leicht rot und beeilte sich, eine Ausrede parat zu haben:
"Also, um genau zu sein habe ich die Hausaufgaben einfach zuhause liegen gelassen..."
"Dann können wir uns ja auch einfach der Teleportation bedienen und deine Hausaufgaben abholen. Noch haben wir ja Zeit." Greens Antwort war ein unterdrücktes Grummeln, doch auch ohne ihre verräterische Reaktion war Gary sich bewusst, dass es keine Hausaufgaben zu holen gab; immerhin hatten sie und Siberu den gestrigen Nachmittag in der Stadt verbracht und dabei sicherlich nicht an Hausaufgaben gedacht. Doch obwohl Gary dies wusste und er ihr eigentlich eine Lektion erteilen müsste, ergab er sich seufzend:
"Gut, du kannst bei mir abgucken. Aber das ist das letzte Mal!" Schneller als Gary gucken konnte, verwandelte Greens Gesicht sich von einem leicht nervösen Ausdruck zu einem erfreut lächelnden und vor lauter Freude hauchte sie ihrem Retter in der Not einen kleinen Kuss auf die Wange.
Sobald sie sich von ihm löste, lächelte sie ihn strahlend an und mit roten Wangen verkündete sie, wie dankbar sie ihm war, ehe sie sich von ihm abwandte und bereits die Tür zur Bibliothek öffnete.
Doch schnell bemerkte sie, dass Gary stehen geblieben war, statt ihr zu folgen und verwirrt wandte sie sich wieder zu ihm herum. Gerade wollte sie ihn fragen, was denn plötzlich los sei, als er ihr jedoch mit einer Frage zuvor kam:
"Warum tust du sowas?"
Fragend, doch auch mit einer Spur Besorgnis, sah Green ihn an, denn plötzlich sah Gary nicht gut aus; beinahe kränklich. Traurig sah er zur Seite und im gleichen Moment, in dem sich Wolken vor die Mittagssonne schoben und sein Gesicht somit plötzlich im Schatten lag, fügte er bedauernd hinzu:
"Du bist doch jetzt mit Saiyon-san verlobt."
Entsetzt fuhr Green aus ihrem Himmelbett empor und obwohl sie sich schnell bewusst wurde, dass es sich um einen Albtraum gehandelt hatte, war ihr Herz in Aufruhr und ihre Augen brannten verdächtig, ganz als würden sie weinen wollen; aber Green presste die verräterischen Tränen mit ihren Handballen zurück.
Doch sie hatte keine Zeit, sich mit ihren Gefühlen oder dem Traum zu beschäftigen, denn sie war nicht von alleine aus ihrem Traum erwacht: es war ein Piepen gewesen, begleitet von einem roten Lämpchen, von einem Kommunikationsgerät stammend, welches in ihrem Nachttisch eingebaut war. Von dem penetranten Piepen und Blinken gehetzt, beeilte Green sich, auf den Knopf zu drücken und schon erschien eine Videoübertragung, welche Ukario zeigte, der keine Zeit verlor:
"Hikari-sama, ich entschuldige die späte Störung, doch Eure Heilfähigkeiten werden dringend benötigt!" Aus Trotz wollte Green beinahe darauf hinweisen, dass es erst kurz nach drei Uhr war, als ihr wieder bewusst wurde, dass sie sich im Krieg befanden und Uhrzeit dabei keine Rolle spielte - dass es ihr eigentlich verboten war, sich irgendeinem Schlachtfeld zu nähern, hatte sie allerdings völlig vergessen - oder verdrängt. Statt sich von irgendwelchen Bedenken aufhalten zu lassen, versicherte sie Ukario, dass sie sich beeilen würde.
"Die Koordinaten habe ich Euch bereits durchgegeben. Ich werde Euch in Empfang nehmen."
"Ich bin so stolz auf dich! So unendlich stolz!" Die liebende und erfreute Umarmung seines großen Bruders schnürte dem frisch gebackenen Verlobten beinahe die Luft ab; besonders als Säil die brüderliche Umarmung zu einer Gruppenumarmung umfunktionierte, als sie ihm ebenfalls ihre Glückwünsche mitteilte, nachdem Saiyon ihnen mit klopfendem Herzen berichtet hatte, was am vorigen Abend zwischen Green und ihm geschehen war.
"Ich kann es gar nicht glauben!", rief Shitaya, als sie sich von dem überrumpelten Saiyon lösten, seine Hände aber nach wie vor auf den Schultern seines kleinen Bruders ruhend:
"Mein kleiner Bruder wird die Hikari heiraten! Endlich hast du dein Ziel erreicht, für das du so lange so hart gearbeitet hast!" Die Augen Shitayas und Säils strahlten erwartungsvoll, als sie Saiyon beide fragten, was denn danach passiert sei; eine Frage, die Saiyon zu verwundern schien:
"Wie, danach?"
"Na, danach eben, Saiyon-kun!", hakte Säil mit einem vielsagenden Grinsen nach, dem Shitaya nur beipflichten konnte, was Saiyon aber nach wie vor nicht zu verstehen schien.
"Wir... haben uns eine "Gute Nacht" gewünscht und ich bin in die Bibliothek gegangen, weil mir bewusst war, dass ich vor lauter Aufregung sowieso nicht einschlafen würde und dann bin ich hierher gekommen." Fragend warfen sich Säil und Shitaya einen Blick zu, bis auf ihren fragenden Gesichtern ein Grinsen auftauchte und Shitaya ergänzte:
"Man sollte ja auch nichts überstürzen."
"Stimmt", pflichtete Säil mit erhobenem Zeigefinger bei:
"Außerdem bist du ja auch noch nicht offiziell ihr Verlobter. Zwar hat sie deinen Antrag angenommen, doch du musst auch noch von den Hikari akzeptiert werden." Saiyon schien bei den Worten seiner Schwägerin aus allen Wolken zu fallen, denn das hatte er anscheinend komplett außer Acht gelassen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie recht hatte, denn natürlich hatte er sich im Vorfeld ausgiebig darüber informiert, doch diese Information war im Glücksrausch wohl untergegangen. Der Ehepartner eines Hikari, den man "Getreuer" oder "Getreue" nannte, musste auch von seiner Familie akzeptiert werden: genauer gesagt mussten 33 Mitglieder des Rates, mit anderen Worten eine Mehrheit, der Heirat zustimmen. Diese Befürwortung verdiente man sich nicht nur durch die kämpferischen Fähigkeiten, sondern auch durch den Charakter: die Hikari mussten sich von der Aufrichtigkeit des Anwärters überzeugen - dies war zumindest normalerweise der Fall, doch da White in ihrem Testament dafür gesorgt hatte, dass diese Aufgabe alleine Grey zufallen würde, musste Saiyon seinen Charakter nicht vor den Hikari behaupten, da Grey der Heirat bereits vor seinem Tod den Segen gegeben hatte und das zum Glück schriftlich. Das einzige, was Greens Familie zu bewerten hatte, war seine Ausbildung, ob er sich an die heiligen Regeln hielt und ob sein Erbmaterial mehr als in Ordnung war: eine der wichtigsten Aufgaben war immerhin, dem Wächtertum einen Lichterben zu schenken, um die Erbfolge fortzusetzen.
Und als hätte man vom Teufel gesprochen, klopfte es just in dem Moment, als Shitaya ihm versicherte, dass er sich um diese Formalitäten keine Sorgen machen musste, an der Tür, welche deren Tempelwächterin öffnete, nachdem Shitaya es ihr erlaubt hatte. In der Tür stand keine Geringere als die Tempelwächterin der Hikari.
Saiyon beeilte sich damit, vom Frühstückstisch aufzustehen und Itzumi höflich zu begrüßen, sich plötzlich bewusst, dass, wenn er die Formalitäten hinter sich gelassen hatte, diese Tempelwächterin auch zu seiner Verfügung stehen würde. Anscheinend war Itzumi genauso zuversichtlich wie Shitaya, denn sie verbeugte sich tief vor dem Windwächter.
"Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Kaze-sama." Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr:
"Ich hoffe, Ihr habt Euer Frühstück abgeschlossen, denn Ihr werdet im Sanctuarian erwartet. Hikari-Hizashi-sama wartet dort auf Euch und bat mich, Euch mitzuteilen, dass Ihr Euch bitte beeilen möget."
Firey erwachte mit beschleunigtem Herzen. Erschrocken schlug sie die Augen auf; wollte bereits ruckartig die Bewegung des Aufstehens ausführen, als sie bemerkte, wo sie sich befand und das angstvolle "Green!" blieb ihr im Halse stecken.
Es war helllichter Tag; a-aber war sie nicht eben noch irgendwo in der Menschenwelt gewesen? Und... was war mit Green? War da nicht jemand gewesen, dieser Dämon - Nocturn? Und... ja, Siberu? Sie hatte ihn gesehen, mit ihm gesprochen, er hatte sie gerettet, sie in die Menschenwelt gebracht---?
"Argh!" Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte ihren Kopf und unterbrach schmerzhaft ihre Gedankenströme. Sie wollte sich gerade stöhnend an eben diesen fassen, als sie bemerkte, worin sie sich befand und somit von ihrem schmerzenden Kopf abgelenkt wurde: in einer Badewanne!?
"Oh, Ko-chan, du bist ja wach! Wie schön!" Die Stimme konnte nur von Tinami stammen, denn Firey kannte niemanden, der sie sonst so nennen würde und richtig: als sie ihren Kopf auf der Nackenstütze leicht zur Seite drehte, bemerkte sie, dass Tinami grinsend im Raum stand und somit wurde ihr Verdacht, dass sie sich im Sanctuarian befand, bestätigt, denn Tinami trug einen azurblauen Kittel über ihrer knappen Uniform, wie es auch die anderen Ärzte des Krankenhauses taten. Firey selbst trug einen hautengen, roten Anzug, welcher direkt unterhalb ihres Kinnes begann und auch ihre Finger umschloss. Mehrere kleine, leuchtende Pünktchen waren verteilt auf diesem eigenartigen Kleidungsstück, doch genau konnte Firey es nicht ausmachen, da ihr Nacken dank des langen Liegens in der Stütze noch sehr steif war. Ihr Kopf hatte wohl darin geruht, damit er nicht unter die Wasseroberfläche geriet; falls es denn Wasser war, womit das Becken gefüllt war. Es hatte eine warme, angenehme Temperatur, war durchscheinend wie normales Wasser, aber es erschien ihr schwerer zu sein.
Anscheinend bemerkte Tinami Fireys Verwunderung, denn als sie vor sie trat, die Hände in die Taschen des Kittels vergraben, erklärte sie:
"Das ist eine medizinische Vorrichtung, perfekt für innere Blutungen und gebrochene Knochen - wenn es nicht gerade schnell gehen muss, versteht sich. Das, worin du liegst, ist erhitztes Ultrasilz, das..." Okay, dachte Firey - wie bitte?
"... ach, eine längere Erklärung ermüdet jetzt nur. Es ist schön, dass du wieder wach bist. Man kann das Aufwachen auch forcieren, aber das ist keine so schöne Erfahrung."
"Wie komme ich eigentlich hierher?", fragte Firey, ihren steifen Nacken sachte von der einen Seite zur anderen drehend, bis sie sich selbst dabei unterbrach:
"Und wo ist der Bogen... also der, den ich dabei hatte..."
"Ach, du meinst den?" Erleichtert entdeckte Firey die Flammenspitze des Bogens, welcher gleich neben ihrer Wanne auf einem Stuhl lag, wo scheinbar auch frische Kleidung für sie bereitgelegt worden war.?
"Woher kommt die?", fragte Firey verwundert, als sie bemerkte, dass es ihre eigene war: ihr Lieblingspullover - ein mit verschiedenen Rottönen gestreiftes Oberteil mit Kapuze und Bauchtasche, zusammen mit einer simplen braunen Hose. Genau so, wie sie es mochte.?
"Oh, die. Ich glaube, das hat Ki-kun dir gebracht und hergebracht hat dich Ee-chan." Natürlich, Yuuki wusste ja auch, was sie mochte; es überraschte Firey also wenig, aber es freute sie sehr. ?
"Laut meinem Computer geht es dir wieder blendend, also lass ich dich mal raus, dann machen wir ein paar Tests."
Gesagt, getan - mittels ein wenig Fingerspitzengefühl Tinamis lief die Flüssigkeit langsam ab, doch noch ehe dies der Fall war, stieg Firey bereits mit ein wenig Hilfe von Tinami aus der Wanne heraus. Viel mit Wasser gemeinsam hatte die Flüssigkeit nicht, denn kaum dass sie draußen war, trockneten ihre Haare und ihre Haut in Sekundenschnelle und sie fror auch nicht, während Tinami ihre Hand an die Gelenke Fireys legte und sie zwischendurch immer wieder fragte, ob dies oder jenes der Feuerwächterin weh täte.
"Super, offensichtlich ist alles okay. Du kannst dich hinter dem Paravent da hinten umziehen." Firey bedankte sich und wollte sich gerade mit nackten Füßen dazu aufmachen, als sie mitten in ihrer Bewegung stehen blieb:
"Warte, wenn das mit dem Bogen kein Traum war, dann ist das mit Nocturn es doch ebenfalls nicht..." Ein Schatten verdunkelte Tinamis sonst so strahlendes Gesicht und schnell fand Firey heraus, warum die Klimawächterin schon die ganze Zeit so abwesend gewirkt hatte:?
"Das ist es auch nicht, Ko-chan. Wir sind seit vorgestern im Krieg." Firey drehte sich auf ihren nackten Zehenspitzen zu ihr herum und sah Tinami bestürzt an:?
"S-Seit vorgestern?! Wie lange habe ich denn geschlafen? Oh Gott! Geht es allen gut?! Es ist doch niemand... also..." Beruhigend lächelte Tinami sie an und antwortete:?
"Wir haben leider sehr viele Tote zu beklagen, aber ich glaube, davon kennst du niemanden. Von uns Elementarwächtern ist niemand verletzt wor..." Sie schwieg plötzlich und ihr tapferes Lächeln wurde steif, der Schatten in ihrem Gesicht wurde dunkler, konnte allerdings nicht verbergen, dass sie bleich geworden war, was die Nervosität in Firey steigerte.?
"Was ist denn? Tinami, sag mir nicht..."?
"Das weißt du dann natürlich noch gar nicht... Du weißt gar nicht, dass...Grey tot ist."
Einen Moment lang glaubte Firey ihren Ohren nicht, bis sie ihre Fingerspitzen erschrocken über diese traurige Nachricht auf ihre Lippen legte.
"Oh--- oh Gott, ich... ich muss zu Green..." Firey war schon drauf und dran, den Raum zu verlassen, ihrer Kleidung gänzlich ungeachtet, doch Tinami hielt sie davon ab:
"Sie hatte eine Schlacht heute Nacht - sie wird schlafen. Du kannst nachher zu ihr." Es vergingen einige Sekunden, ehe Firey ihre Stimme wiederfand und erschüttert ihren Mut bündelte, zu fragen, wie er gestorben war; stammelte etwas davon, wie das nur möglich sein konnte, ausgerechnet Grey...?
"Er wurde ermordet", unterbrach Tinami Fireys zusammenhangloses Stammeln:?
"Hier, im Tempel, noch ehe der Krieg ausbrach."?
"Im... Tempel? Aber das Sicherheitssystem; die Barriere? Wie ist das möglich?" Kaum hatte Firey diese Fragen gestellt, zog Tinami auch schon einen Stuhl für sie heran und bedeutete ihr, sich zu setzen: die Gedanken um das Umziehen waren vergessen; untergegangen und verdrängt von dieser schrecklichen Neuigkeit. ?
"Grey kannte seinen Mörder. Er ließ ihn wohl selbst herein... Die Untersuchungen zum genauen Tathergang laufen noch, sie wurde nur auf Grund des plötzlichen Kriegsausbruches pausiert." Tinami holte tief Luft, sich bewusst, dass Firey diese Information gänzlich anders auffassen würde als andere. Doch genau wie sie sich dessen bewusst war, wusste sie auch, dass man Firey unmöglich vor dieser Information würde schützen können, da war es vielleicht besser, wenn sie es von einer Wächterin erfuhr, die die Vorgeschichte kannte, als durch irgendein Gerücht.?
"Derjenige, der Grey tötete... war Blue. Der, den wir früher "Gary" nannten."
Die erste Reaktion Fireys war ein ungläubiges Schweigen, bis die Ungläubigkeit verschwand. Ein heiseres "Oh Gott...!" entwich ihr, ehe die junge Feuerwächterin sich zusammenkrümmte und ihr Gesicht in ihren Händen vergrub.?
Zuerst wollte und konnte sie es nicht glauben; sie sah den Gary aus ihre Erinnerungen vor sich, den hinter einem Buch versteckten Streber, den sie eigentlich nur flüchtig gekannt hatte; dennoch konnte sich nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig war - und das würde er Green doch nicht antun, er hatte sie doch geliebt, das konnte er doch nicht!
Doch kaum, dass sie dies gedacht hatte, meldete sich eine andere Stimme: woher wollte Firey das wissen, woher hatte sie das Wissen, das beurteilen zu können? Vor mehr als einem Jahr hatte Green ihr von den Ereignissen in der Dämonenwelt erzählt; erzählt, dass die beiden Halbdämonenbrüder, die sie zu kennen geglaubt hatten, nie existiert hatten. Firey hatte sich damals nicht mit eigenen Augen davon überzeugen können, aber war der Mord an Grey nicht der Beweis dafür, dass Green die Wahrheit gesprochen hatte? Jemand, der sie liebte, würde doch nicht ihren Bruder töten... aber.... Siberu? Sie hatte ihn vorgestern doch erst gesehen, ihn, Siberu, nicht Silver. Dessen war sie sich sicher. Es gab nichts, was sie davon abbringen konnte, dies zu glauben, nein, zu wissen. Sie wusste, dass der Halbdämon, der ihr in die feurige Schlucht gefolgt war, ihr hinterher geflogen war, als Karou sie herunter geworfen hatte... der die Hand nach ihr ausgestreckt hatte... die Hitze... die Hitze um sie herum, die Glut, sein entschlossener Blick und der Moment, das Gefühl, als er sie in seine Arme schloss und sie, sich bewusst, dass sie jetzt sicher war, ohnmächtig geworden war... das war derselbe immer grinsende Halbdämon, mit dem sie sich einst im Physikraum gestritten hatte - der Gleiche, in den sie sich verliebt hatte. Siberu war nicht tot... Aber... Gary war es. Eine andere Erklärung gab es nicht. Konnte es nicht geben. Niemand tötete den Bruder der Person, die man liebte. Niemand.
Diese Gedanken sprach Firey jedoch nicht aus, sondern behielt sie für sich und zum Glück hinterfragte Tinami ihr Schweigen auch nicht. Bedrückt machte Firey sich daran, sich umzuziehen, mit den Gedanken nun bei Green und der Frage, wie es ihr wohl ging - nicht nur wie sie mit Greys Tod umging, sondern auch wegen seinem Mörder. Was würde sie nun tun? Und wenn der Krieg begonnen hatte... hatte sie überhaupt Zeit gehabt, zu trauern? ?
"Du solltest dich beeilen, Ko-chan..." Aber Firey antwortete nicht; stattdessen hörte Tinami ein ersticktes Keuchen und sie ahnte schon, was es war, ehe Firey hinter dem Paravent hervorkam und ihr ihre schwarze Kehle zeigte.
"Wird das verheilen?" In der Dämonenwelt hatte Firey nicht viel Zeit gehabt, ihrer geschundenen Kehle groß Aufmerksamkeit zu schenken; erst jetzt strich sie mit den Fingerspitzen über die verbrannte Haut, dort wo Karou sie berührt hatte. Es war nicht länger eine Wunde, sondern tiefe, schwarze Narben, am deutlichsten zu sehen an ihrer Kehle; aber auch auf ihrem Bauch waren die schwarzen Verbrennungen auszumachen. Aber dort schmerzten sie nicht so sehr wie an ihrer Kehle...
Tinami sah sie ernst an und antwortete nicht, was Firey auf den Gedanken brachte, dass sie ja eigentlich niemandem von ihrem "Ausflug" in die Dämonenwelt erzählen sollte, aber... war das jetzt, wo der Krieg ausgebrochen war, nicht eigentlich nebensächlich? Und es war Tinami... sie vertraute ihr. Sie machte ihr auch keine Vorwürfe, stellte keine Fragen, warum sie dort gewesen war und wie sie Karou - denn ihr schien bewusst zu sein, dass die Verletzung von ihm stammte - entflohen war.
"Ich habe dir eine Creme auf den Stuhl gelegt", antwortete sie nach einer kurzen Weile und deutete auf den Stuhl hinter Firey:
"Die solltest du zwei Mal täglich draufschmieren. Das wird die Schmerzen lindern." Das war nicht die Antwort, die Firey hatte hören wollen... aber gut, es gab wichtigere, schlimmere Dinge als ihr Aussehen.
"Möchtest du, dass ich dir einen Schal bringe?", fragte Tinami sie, als sie bemerkte, dass Firey ihr Spiegelbild ansah. Wenn sie ihre Uniform trug, würde man es kaum sehen, aber jetzt, gekleidet in ihren Lieblingspullover, sah man es ganz deutlich. Sollte sie versuchen, es zu verbergen...?
Firey hatte im Moment nicht die Ruhe, um über so etwas nachzudenken, weshalb sie Tinamis Vorschlag annahm. Sie konnte einfach im Moment dazu keine Stellung beziehen und es gab so viel, was sie erfahren wollte, so viel zu bereden, dass sie keine Fragen zu ihren neuen Narben beantworten wollte. Sie würde sich später damit auseinandersetzen, entschloss sie und verteilte die Creme so gut es ging über ihre vernarbte Haut. Sie kühlte tatsächlich sehr gut und das Anlegen des leichten Schals, den Tinami ihr soeben mit einem aufmunternden Lächeln gebracht hatte, schmerzte auch nicht so sehr wie von ihr befürchtet.
"Du wirst draußen schon sehnsüchtig erwartet, Ko-chan; du solltest sie nicht länger warten lassen."
Es war so unglaublich schön, Azuma, Yuuki und Ignes wohlbehalten vor der Tür anzutreffen; so schön, dass Firey beinahe anfing, aus purer Erleichterung zu weinen. Sofort fand sie sich in einer Umarmung von ihren zwei Teamkollegen wieder - nicht nur, um sie zu trösten, sondern offensichtlich beruhte die erleichterte Wiedersehensfreude auf Gegenseitigkeit. Eigentlich hatte sie mit Azuma einige Hühnchen zu rupfen, aber das war ihr im Moment egal; seine innige Umarmung sprach ehrlichere Worte als jede seiner tausend Entschuldigungen.
Errötet und ein wenig verlegen lösten sie die Umarmung nach einigen in Schweigen verbrachten Sekunden, die auch Ignes nicht unterbrochen hatte, obwohl er natürlich die Zeit im Nacken hatte. Azuma wollte sofort von seinen Heldentaten berichten, doch Firey wollte zuerst sichergehen, dass es auch Ignes' Familie gut ging - erst als er ihr dies versichert hatte, begann Azuma triumphierend von seinen Erfolgen zu erzählen:
"Ich habe schon 63 Dämonen umgenietet und bin dabei noch gar nicht verletzt worden! Hahaha! Seit der Krieg ausgebrochen ist habe ich an jeder Schlacht teilgenommen, aber ich bin natürlich sofort gekommen, als Yuuki mich angerufen hat."
"Bist du denn gar nicht k.o., Azuma?", fragte Firey, nachdem sie sich in einer freien Sitzecke am Ende des von Licht durchfluteten Korridors hingesetzt hatten, wobei Firey deutlich auffiel, dass im Krankenhaus eine gänzlich andere Atmosphäre herrschte, als sie sie vom Sanctuarian gewohnt war. Zwar war es ruhig, doch es war eine sehr angespannte Ruhe; eine traurige Ruhe und sofort fragte Firey sich, wie viele Tote sich wohl in der untersten Etage des Krankenhauses befanden...
"Ach Quatsch! Müdigkeit und Hunger sind mir fremd; ich bin vollgepumpt mit Amphetaminen." Firey machte große Augen, während Ignes mit den Augen himmelte und Yuuki mit erhobenem Zeigefinger zu erklären anfing:
"Das Délivran ein Amphetamin zu nennen ist nicht ganz richtig, Azuma, obwohl sie eine ähnliche Wirkung haben."
"Aufputschmittel ist Aufputschmittel, wenn du mich fragst", unterbrach Azuma Yuuki, ehe er zu einer langen Erklärung ausführen konnte, doch er riss das Ruder wieder an sich:
"Wichtig ist nämlich, dass sie bei korrekter Verwendung keine gesundheitsschädlichen Nebenwirkungen haben. Einen Vergleich aufzustellen ist also nicht unbedingt möglich."
"Stimmt auch wieder", bemerkte Azuma plötzlich nachdenklich:
"Mir ist nicht so schlecht wie sonst." Yuuki wollte gerade etwas anderes besprechen, als er und Firey verstanden, was ihr Kamerad da gerade gesagt hatte.
"Sag mir nicht, Azuma, du hast schon mal echte Amphetamine genommen? Das sind doch... Drogen, oder nicht?", fragte Firey bestürzt, doch Azuma blieb gelassen:
"Natürlich, wie hätte ich sonst mein folkeskoleeksamen1 bestanden? Zwar nicht gerade meisterhaft, aber hej, bestanden ist bestanden!" Azuma lachte unbeschwert, während weder Yuuki noch Firey oder Ignes nach Lachen zumute war, was Azuma schnell auffiel:
"Ej, ihr tut ja fast so, als wäre ich abhängig gewesen oder so." Bevor das Gespräch sich weiter vertiefen konnte, mischte sich nun Ignes ein, welcher dem Gespräch bis jetzt nur aufmerksam gefolgt war:
"Fakt ist, dass wir auf Délivran angewiesen sind aufgrund der verhältnismäßig gesehen geringen Größe unserer Armee. Es wirkt schlaf- und hungerunterdrückend und ermöglicht, dass ein Wächter auch nach einem längeren Einsatz noch effektiv kämpfen kann. Fürchtet es nicht, Firey-sama, es ist ungefährlich. Glaubt Ihr, dass die verehrten Hikari es zulassen würden, dass wir ein schädliches Medikament einnehmen?" Ignes wandte sich nun von Firey ab und sein Blick wurde sofort streng, als er Azuma ansah:
"Nichtsdestotrotz solltet Ihr die Sache ernster sehen, Azuma-sama; nur weil Ihr die Bedürfnisse Eures Körpers nicht spürt, bedeutet das nicht, dass sie nicht existieren. Délivran wirkt 45 Stunden lang, danach ist es von allerhöchster Wichtigkeit, dass Ihr Euch sofort ausruht, genau wie es die Regeln besagen. Wenn Ihr den Befehl erhaltet, Euch zurückzuziehen und Euch auszuruhen, dann müsst Ihr dem Folge leisten, ansonsten riskiert Ihr einen Zusammenbruch. Darüber hinaus ist es sehr wichtig, viel zu trinken." Azuma seufzte und erwiderte genervt:
"Ja ja, ist ja gut. Ich hatte auch vor, mich gleich aufs Ohr zu hauen."
"Oh, ich glaube, da hast du keine Zeit mehr für, Azuma." Alle vier wirbelten herum, wo sie Tinami stehen sahen, welche den Kittel abgelegt hatte und nun in ihrer Uniform vor ihnen stand:
"Hast du vergessen, dass du angeklagt und zum Kriegsgericht vorgeladen bist?" Azuma verzog finster das Gesicht, doch darauf achtete Firey nicht, als sie überrascht fragte, was es mit der Anklage auf sich hatte, doch als Ignes es ihr erklärte, schien sie nicht sonderlich darüber überrascht zu sein und warf Azuma einen missbilligenden Blick zu.
"Du hast jemanden umgebracht?!"
"Das war ein Versehen, okay? Ein Unfall, das war nicht mit Absicht... sie... ehm... standen einfach etwas... ungünstig." Dass diese Ausrede Firey nicht gerade beruhigte, verstand Azuma schnell, weshalb er sich an Tinami wandte:
"Aber was hat das denn mit dir zu tun?" Das Grinsen auf Tinamis Gesicht schmolz dahin und erst nach einigen Sekunden antwortete sie bedrückt:
"Weil ich ebenfalls angeklagt bin wegen fahrlässiger Tötung von 848 Wächtern."
Azuma hatte das bevorstehende Kriegsgericht tatsächlich komplett verdrängt gehabt: da die Dämonen am Vorabend um zirka 22 Uhr die Menschenwelt angegriffen hatten in der Hoffnung, an Wasser zu gelangen, hatte er nicht damit gerechnet, dass man überhaupt Zeit hatte, an ein Kriegsgericht zu denken, geschweige denn es abzuhalten. Doch selbst zu Zeiten der stärksten Schlachten fanden die Hikari stets die Zeit, um über Schuld oder Unschuld zu richten.
Das Kriegsgericht wurde von einer anderen Abteilung administriert, welche getrennt war von den Kriegssitzungen - mit anderen Mitgliedern, womit Optimalität, Effektivität und Neutralität gesichert wurde. Das einzige Ratsmitglied, welches sowohl im Gericht sowie in den Kriegssitzungen saß, war Shaginai. Seit seinem 16. Lebensjahr bekleidete er das Amt des Richters. Bereits als Kind hatte Shaginai den Gerichten beigewohnt und mit nur 16 Jahren dank ausgefeilter Argumente und eindrucksvollem Charisma seinen ersten Wächter wegen Mordes zum Tode verurteilt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken - ein Fall, der ihn und seinen Einsatz für das Wächtertum legendär gemacht hatte, denn es war sein eigener Elementarwächter des Feuers gewesen, den er zum Schafott gebracht hatte.
Das Kriegsgericht unterschied sich entscheidend von den Gerichtssälen der Menschen und würde von den Menschen wahrscheinlich nicht einmal als ein solches anerkannt werden. Denn anders als bei den Menschen war in den Gerichtssälen der Wächter weder ein Ankläger noch Verteidiger vorhanden; mit anderen Worten gab es niemanden, der den Angeklagten verteidigte. Die einzige Gewaltsinstanz waren drei Hikari, wovon der Richter das Urteil verkündete, als Ankläger und Richter in einem. Das Urteil wurde zuvor im Jenseits ausführlich debattiert; eine Diskussion, an welcher der Angeklagte nicht teilnahm. Es blieb dem Angeklagten damit nichts anderes übrig, als das Urteil stillschweigend in Empfang zu nehmen.
"Was ist denn das bitte für ein bescheuertes System!", protestierte Azuma empört, als Tinami, begleitet von Kaira und Azura, ihm dies erklärt hatte, als die Elementarwächter sich alle unter der strahlenden Sonne auf Sanctu Ele'Saces eingefunden hatten. Sie waren gerade dabei, über einen weiten, vom Krieg verschonten Platz zu gehen, der sie zu einem großen, aus roten Backsteinen gebauten Gebäude führte. Hohe, dunkle, in Reih und Glied platzierte Fenster sahen auf die Besucher herab, die gerade an einer wassersprudelnden Statue vorbei gegangen waren, die ihnen glorreich und erhaben das Buch der heiligen Regeln entgegenhielt. Diese Art Statuen entdeckte Azuma überall auf dem Gebäude, sobald sie die kühle Eingangshalle betreten hatten; überall dasselbe Motiv: strenge Wächter mit anklagenden Gesichtern, das Regelbuch glorifizierend. Es war sehr still in der Eingangshalle und den anschließenden Korridoren; nur wenige Tempelwächter waren unterwegs, huschten unauffällig mit gedämpften Schritten von einer Tür in die nächste. Azuma nahm auf die allgemeine Stille natürlich keine Rücksicht:
"Das ist ja alles andere als demokratisch!" Diese Worte Azumas brachten Kaira zu einem verächtlichen Schnauben, während sie die Augen verdrehte. Ihre Antwort war allerdings dennoch ruhig:
"Falls es dir nicht aufgefallen ist, Azuma: wir leben in einer Monarchie. Demokratie findest du nur bei den Hikari."
"Aber was ist, wenn ich mit dem Urteil unzufrieden bin!?" Zweifelnd hob die Zeitwächterin die Augenbraue und antwortete, während Tinami und Azura den Gebäudeplan studierten, um den richtigen Raum zu finden:
"Das ist doch kein Spielplatz! Du hast dich nicht an die heiligen Regeln gehalten und wirst dafür bestraft. So einfach ist das." Tinami und Azura hatten den richtigen Raum gefunden und führten die kleine Gruppe Elementarwächter nun eine große marmorne Treppe mit verziertem Geländer empor.
"Aber es gibt doch sicherlich auch korrupte Hikari! Wenn sie zum Beispiel einen Fehler gemacht haben, Beweise gefälscht sind oder was weiß der Geier! Dann muss man doch den Mund aufmachen!"
"Sicherlich gibt es die", gab Kaira nach stillem Überlegen zu, sich an eine Säule lehnend, sobald sie im Warteraum des größten Gerichtssaals angekommen waren. Die großen Doppeltüren des gigantischen, runden, zentral im Gebäude gelegenen Raumes hatten sogar Azuma kurz schlucken lassen. Alle Räume und Gänge des Gerichtsgebäudes orientierten sich an dem Gerichtssaal, indem sie ringförmig um eben diesen herum lagen. Beleuchtet wurden die Korridore von gläsernen Dachfenstern, die unheimliche Schatten auf die mit einem großen Fresko verzierte glänzende, goldene Doppeltür des Gerichtsaales warfen. Wieder war es dasselbe Motiv, nur dieses Mal war es die Verfasserin der Regeln selbst, die das Buch in der linken Hand hielt und die Feder, mit der sie die Worte geschrieben hatte, in der rechten. Ihr goldener Gesichtsausdruck war undefinierbar. Aber ihre leeren Augen starrten einen an, egal von wo aus man sich ihr näherte. Über der geflügelten, kleinen Frau waren folgende Worte in die Tür graviert worden:
"Das Licht sei jenen verweigert, die Schaden über unser Reich bringen."
Sofort fragte Azuma sich, ob "Licht verweigern" gleichbedeutend damit war, dass man sterben sollte...
"Aber die findest du sicherlich nicht im Jenseits." Azuma hatte die Tür so ungläubig vom Warteraum aus angestarrt, dass er das Gespräch mit Kaira fast vergessen hatte und sich nun verwirrt zu ihr wandte:
"...Ansonsten wären sie nämlich nicht dort." Während dieser Unterhaltung hielt sich Tinami eher bedeckt, sagte nicht einmal etwas dazu, dass Kaira etwas nicht ganz richtig erklärte, denn es gab schon eine Möglichkeit, das Urteil zu verändern und Einspruch zu erheben: der Angeklagte selbst konnte zwar nicht direkt etwas tun, doch konnte sich an einen anderen Hikari wenden und diesen von seiner Unschuld überzeugen. Dieser Hikari konnte dann für ihn eintreten und versuchen, durch wohl gewählte Argumente und natürlich Beweise eine Revision zu erkämpfen. Der Grund dafür war schlichtweg, dass nur ein anderer Hikari sein Wort gegen die Hikari erheben durfte: die normalen Wächter mussten die Befehle der Hikari immerhin befolgen und dazu gehörte auch das über sie gefällte Urteil.
Azuma mochte dieses System als ungerecht ansehen, doch Tinami war da anderer Meinung: es war notwendig. Es war nicht im Interesse der Hikari, ihre Wächter unnötig zu bestrafen; sie wollten schlichtweg für Ordnung sorgen und wenn sich jemand nicht an die Regeln hielt, war dieser ein Störfaktor, der schnellstmöglich ruhiggestellt werden musste, ansonsten ging auch das ausgeklügelte Kampfsystem im Krieg nicht auf. Wächter wie Azuma, die ihren eigenen Kopf hatten und damit eine Gefahr für dieses System waren, mussten schnellstmöglich lernen, sich an die Regeln zu halten, ansonsten brachten sie andere Wächter in Gefahr - so wie Azuma es nun einmal getan hatte; dadurch, dass er sich nicht an die Regeln gehalten hatte, hatte er mehrere Wächter verletzt und einen sogar getötet. Natürlich musste man in Betracht ziehen, dass er dafür auch viele Dämonen getötet hatte und Tinami war sich auch sicher, dass seine Bestrafung relativ milde ausfallen würde, doch man konnte auch genauso viele Dämonen töten, ohne dabei Wächter zu verletzen. Obendrein hatte Azuma einen großen, großen Bonus, welchem er sich nicht bewusst zu sein schien, denn als Kaira ihm neckend erzählte, dass auch manchmal das Todesurteil gefällt wurde, entwich ihm seine Gesichtsfarbe, obwohl er sich absolut keine Gedanken darum machen musste, dass er hingerichtet werden würde: die Hikari brauchten ihn, den einzigen Erdwächter. Nicht nur im Krieg, sondern auch für den Wiederaufbau.
Er würde nicht hingerichtet werden, anders sah es allerdings mit Tinami aus.
"Tinami Kikou Asuka." Die Klimawächterin zuckte zusammen, als ein Tempelwächter sie darüber informierte, dass sie die nächste war. Tinami fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, doch klammerte sich daran, dass sie sich bewusst war, dass es ihre eigene Schuld war und dass sie vor Kaira keine Schwäche zeigen wollte. Sie biss sich auf die Unterlippe, löste sich von der aufbauenden Hand ihrer kleinen Schwester, versuchte deren glasigen Augen zu übersehen und trennte sich von der kleinen Gruppe Elementarwächter, jedoch nicht ohne Kaira einen Blick zuzuwerfen; nicht in der Hoffnung, ein aufheiterndes Lächeln auf ihrem Gesicht zu erblicken, sondern um ein kleines Stück ihrer Stärke zu erhalten.
Die Flügeltür öffnete sich für Tinami und Hikaru verschluckte sie, indem die Tür sich hinter ihrem Rücken mit einem Donnergrollen schloss, kaum dass die Klimawächterin den Saal betreten hatte.
Im grellen, von oben kommenden Sonnenlicht brillierte der weiße Marmorboden unter Tinamis Füßen, umrahmte das glorreiche Wappen der Wächter, welches abwechselnd im sanften, unauffälligen Takt in der jeweiligen Elementfarbe pulsierte. Auch unter diesem standen Worte eingraviert, die Tinami in diesem Moment nicht las, sie aber dennoch kannte:
"Unserem vereinigten Reich zum Schutze und Erhalt. Nur dem dient das Licht."
Auf den Tribünen vor ihr hatten drei Hikari Platz genommen, deren weiße Augen die Angeklagte ernst ansahen, während die anderen vier Hikari, zwei links von Tinami, zwei rechts von ihr, ihre Aufmerksamkeit diversen Dokumenten schenkten. Trotz großer Nervosität setzte sie einen Schritt vor den anderen, überquerte das Wappen, bis ihre Füße eine auf dem Boden befindliche Markierung berührten, die ihr sagte, dass sie nicht weiter gehen musste und wahrscheinlich auch nicht durfte. Somit befand sie sich nun zwei Meter vor der Tribüne und wenn sie aufsehen dürfte, dann würde sie Shaginai genau ansehen; doch als Angeklagte war es für sie Pflicht, den Kopf gesenkt zu halten, um das Urteil schweigend in Empfang zu nehmen.
Ein männlicher Hikari mit hoher Stimme räusperte sich und las vor:
"Tinami Kikou Asuka. Kikou, angehörig der Asuka-Familie, 269. Generation. Elementarwächterin des Klimas, erster Rang." Tinami mochte das nicht hören. Es steigerte ihr Unwohlsein. Aber sie konnten sie nicht überraschen. Sie kannte ihr Urteil schon. Für den Tod von 848 Wächtern gab es nur ein Urteil.
"Sie werden dafür angeklagt, ein fehlerhaftes Abwehrsystem entwickelt zu haben, dessen Unzulänglichkeit Mitschuld daran trägt, dass das Wächtertum angreifbar war und 848 Wächter ihr Leben lassen mussten. Damit werden Sie der fahrlässigen Tötung angeklagt." Er legte eine dramatische Redepause ein, in welcher Tinami sich auf die nächsten, überprüfenden Fragen vorbereitete.
"Wurde das besagte Abwehrsystem am 31. 08. 2007 installiert?"
"Ja."
"Wurde es von Ihnen alleine installiert?"
"Ja."
"Ist es richtig, dass Sie am 27.08.2007 sämtliche Hilfe anderer Wächter ablehnten?"
"Ja."
"Es entspricht also der Wahrheit, dass es keine anderen Beteiligten gab?" Das war nicht ganz richtig. Das System baute auf dem von ihrem Vater geschaffenen Abwehrsystem auf, weshalb er eigentlich maßgeblich zu dem System beigetragen hatte, aber Tinami korrigierte den Hikari nicht, obwohl sie es tun durfte. Denn es war nicht ihr Vater, der einen Fehler gemacht hatte. Es war sie gewesen.
"Es gab keine Beteiligten."
"Dann übernehmen Sie sämtliche Verantwortung für das am 31.08.2007 installierte System?"
"Ja." Es folgte das Rascheln einiger Dokumente, aber niemand sagte ein Wort. Erst als wieder absolute Stille im Saal herrschte, wurde die letzte Frage gestellt:
"Bekennen Sie sich Ihrer angeklagten Schuld?"
Natürlich tat sie es. Das Abwehrsystem, welches sie selbst entworfen hatte, würde sie zwar nicht im Allgemeinen als ungenügend oder mangelhaft bezeichnen, aber es war einem Systemfehler zu verdanken, dass es Karou gelungen war, in das System der Wächter einzudringen und es nach seinem Belieben zu manipulieren. Bis jetzt war dies nur zwei Mal seit dem Bestehen eines solchen Systems passiert und nie, niemals hätte Tinami gedacht, dass sie nun die dritte Kikou sein würde, die ebenfalls einen solch fatalen Fehler zulassen würde. Ihr Wissen war ihre wertvollste und wirkungsvollste Waffe - und gerade dieses hatte sie im Stich gelassen. Sie hatte ihre Rasse, ihre Familie und ihr Element enttäuscht.
Noch immer fragte sie sich selbst, wie sie diesen Fehler hatte zulassen können. Den Rechenfehler hatte sie schon gefunden; er war so klein, so winzig gewesen, beim nächsten Update hätte sie ihn entdeckt und ihn lachend ausgemerzt... er war so klein und dumm. Wie hatte ihr so ein Fehler unterlaufen können? Wie hatte das passieren können?
Tinami hatte so lange an dem neuen System gearbeitet. Nachdem die Dämonen den Wächtern den Krieg erklärt hatten, hatte sie über Green bei den Hikari darum gebeten, das neue System zu installieren und auch die Erlaubnis erhalten. Es stimmte, dass sie sämtliche Hilfe abgelehnt hatte; aus Stolz, ja, aber auch aus Egoismus. Tinami war keine Wächterin, die sich groß am Kampfgeschehen beteiligen konnte, weshalb es für sie immer ein Glücksgefühl gewesen war, für das Sicherheitssystem der Inseln zuständig zu sein - genau wie ihr Vater es gewesen war. Sie konnte keine Dämonen auf dem Schlachtfeld töten, aber sie konnte das Wächtertum mit ihrer Intelligenz schützen, vor Unheil bewahren... das war ihr Kampf gewesen, der sie mit Stolz erfüllt hatte. Sie beherrschte ihr Handwerk, sie liebte ihr Handwerk, sie hatte es nicht teilen wollen.
Am gleichen Tag jedoch, zwei Tage nach der Kriegserklärung, als sie das System installieren wollte, wurden Kaira und sie zu Ukario gerufen. Tinami, welche die Nacht durchgearbeitet und seit der Kriegserklärung nicht mehr geschlafen hatte, war alles andere als begeistert davon, denn sie wollte nicht unterbrochen werden, bis das System einsatzbereit war. Doch natürlich hatte sie sich gefügt und war mit Kaira zusammen nach Sanctu Ele'saces gekommen, um Ukario in seinem Büro zu treffen.
"Ich grüße Sie, Kikou-sama, Toki-sama", begrüßte er sie freundlich, ehe sie sich vor seinem Schreibtisch hinsetzten: Kaira mit einer felsenfesten Miene, welche von nichts, aber auch gar nichts erschüttert werden konnte, während Tinami, welche einen leisen Verdacht hatte, worüber das Gespräch handeln konnte, ein wenig unsicher war, sich dies aber nicht anmerken ließ.
"Weshalb haben Sie uns zu sich gerufen, Ukario-san?", fragte Kaira sofort, da sie sich sicherlich nicht allzu lange von ihrem eisernen Training abhalten lassen wollte. Ukario faltete die Hände auf seinem polierten Mahagonischreibtisch und begann:
"Sie sind beide im heiratsfähigen Alter, bereits ein wenig darüber mag ich sagen und soweit ich weiß, sind Sie beide ohne Partner." Kaira schien das Thema zu überraschen; einen Augenblick lang sah sie verwirrt aus, im Gegensatz zu Tinami, die ihre Vermutung bestätigt sah. Sie hatte geahnt, dass dieses Thema früher oder später auf den Tisch kommen würde. Immerhin waren sie beide Elementarwächter und bei der Geschlechtsverteilung zwischen den Elementarwächtern und den Offizieren war es klar, dass man versuchen würde, sie miteinander zu verkuppeln.
"Wenn Sie wünschen, dass wir einen Partner für Sie aussuchen, dann frage ich Sie hiermit", fuhr Ukario mit einem aufmerksamen Lächeln fort. Tinami beeilte sich, dem Vorschlag mit einem heiteren Grinsen zu entgehen, doch Kaira mischte sich ein:
"Ich weiß nicht, was du hast, Asuka. Ich habe gewiss keine Zeit, einem Mann hinterherzulaufen und habe überhaupt keine Einwände, dass Sie, Ukario-san, sich darum kümmern." Ohne auf Tinamis Gesichtsausdruck zu achten, lehnte sich Kaira in ihrem Sessel zurück, faltete ähnlich wie Ukario ihre Hände, als wäre dies eine Geschäftsverhandlung:
"Meine Bedingungen lauten, dass sich mein zukünftiger Ehemann mindestens auf Rang Eins befinden und in seinem Leben unbedingt bereits mehr als 1000 Dämonen umgebracht haben muss. Desweiteren habe ich eine persönliche Aversion gegen das Element der Illusion und wünsche nicht, dass mein Ehemann diesem Element zugehörig ist." Professionell wie Ukario war verzog er keine Miene, als Kaira so direkt das Element angriff, zu welchem er gehörte; er war die Geringschätzung des Elements der Illusion bereits gewohnt. Es folgte eine absolut gefühllose Beschreibung, wie Kaira sich ihren zukünftigen Partner vorstellte: es sollte ein Mann sein, der keine langen Haare besaß, denn sie wollte einen männlichen Mann; er sollte größer sein als sie und nicht zu dünn; und bitte niemanden, der stundenlang reden konnte, sie bräuchte ihre Ruhe. Doch alles in allem wären ihre ersten Kriterien ihr am wichtigsten - und was unbedingt erforderlich sei, war, dass sie die Akten des möglichen Ehemannes unbedingt sehen wollte, bevor dieser informiert wurde.
Tinami war absolut fassungslos, wie gefühlskalt Kaira die ganze Sache anging; obwohl sie nicht gerade behaupten konnte, dass es sie überraschte. Einen Partner zu haben und Kinder in die Welt zu setzen war auch nur ein Teil ihrer Karriere, ein Teil im Leben eines Wächters... und dennoch... dennoch...
"Und sie, Kikou-sama?" Ukarios Stimme weckte Tinami aus ihren verzweifelten Gedanken und plötzlich bemerkte sie, wie beide sie ansahen, nachdem Ukario sich alles notiert hatte, was Kaira ihm gesagt hatte.
"Also ich..." Skeptisch, aber auch ein wenig besorgt, wie Tinami überrascht feststellte, besah Kaira ihre Freundin, als sie bemerkte, dass die Klimawächterin ins Stottern geriet, was sie ja normalerweise nie tun würde.
"... ich würde mir gerne selber jemanden... suchen." Ukario sah sie überrascht an und erwiderte:
"Das steht Ihnen natürlich frei, Kikou-sama, doch warten Sie nicht zu lange. Der Krieg beginnt bald und wir wollen doch nicht, dass die große Asuka-Familie erblos bleibt." Tinami wusste, dass diese Worte nett gemeint waren und natürlich auch realistisch, doch sie wollte nicht mehr hören. Sie konnte einfach nicht mehr.
Sie verhielt sich ruhig, während Kaira ein Formular unterschrieb; erst nachdem sie wieder vor der Tür standen, sagte sie wieder etwas, nachdem Kaira sie mit einem genervten Tonfall fragte, was zur Hölle mit ihr los sei.
Natürlich verstand sie es nicht. Natürlich bemerkte sie es nicht einmal.
"Ich finde einfach... dass es früh kommt."
"Was redest du denn da? Du weißt genauso gut wie ich, wann das heiratsfähige Alter beginnt und wir sind beide schon längst darüber. Von früh kann wohl kaum die Rede sein." Tinami wandte sich von Kaira ab und begann, den Gang herunterzugehen. Sie wollte das Gespräch beenden; wollte nicht hören, wie sehr sich Kaira über ihr Verhalten wunderte, wie unnormal sie sich verhielt bei einem Thema, welches für sie nichts anderes war als ein weiteres kleine Häkchen auf ihrer Liste zum perfekten Wächter.
Zwar witterte Kaira nicht, was der wahre Grund für Tinamis fragwürdiges Verhalten war, dennoch entfiel ihr nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmte: und sie wäre nicht Kaira, wenn sie dies unkommentiert lassen würde. Daher ignorierte sie Tinamis offensichtlichen Widerwillen dem Thema gegenüber und packte ihre Schulter, womit sie sie dazu brachte, sich herumzudrehen - doch sofort ließ sie Tinami los, als ihr etwas an ihrer Freundin auffiel, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Tinami hatte Tränen in den Augen.
Überrumpelt von dieser plötzlichen Gefühlsreaktion Tinamis ließ Kaira sie los und schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Schweigend, als hätte Kaira etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen dürfen, wandte sie sich wieder von Tinami ab, welche sich die Tränen aus den Augen wischte.
Erst als ihre Tränen nicht mehr zu sehen waren, richtete Kaira zögernd ihr Wort an die Klimawächterin:
"Sag mal, Asuka... du würdest mir doch sagen, wenn du in jemanden verliebt wärst? Das wüsste ich doch?" Anstatt zu antworten nickte Tinami nur; aus Angst, dass ausgesprochene Worte sie verraten konnten.
"Du bist dir sicher? Warum weinst du dann?" Tinami zuckte mit den Schultern; wusste nicht, was sie sagen sollte, was für eine andere Erklärung sie erfinden könnte, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Doch sie wollte nicht lügen: die Wahrheit hinter Schweigen zu verstecken war eine Sache, aber sie hinter Lügen zu verbergen... eine gänzlich andere. Sie wollte Kaira nicht mit einer erlogenen Geschichte befriedigen, dass sie sich in irgendeinen Mann verliebt hatte, der ihre Gefühle aus irgendwelchen Gründen nicht erwiderte. Weil es einfach nicht stimmte.
Tinami war es sich schon so lange bewusst gewesen. Aber noch nie war es ihr so klar wie in diesem Moment: sie war in die Person verliebt, die in diesem Moment vor ihr stand und vielleicht glaubte, sie habe etwas Falsches gegessen.
Und das war auch der Grund für ihre Schuld. Sie hatte sich an diesem Abend in Arbeit ertränken wollen. Wollte diesen Tag einfach vergessen... und bei dieser Verzweiflungstat war ihr der Fehler unterlaufen.
Shaginai benötigte kein Räuspern und auch keine weiteren Antworten, um das Urteil zu verhängen.
"Tinami Kikou Asuka! Sie verlieren mit sofortiger Wirkung Ihre Position als Elementarwächterin des Klimas und werden auf Rang Drei degradiert. Darüber hinaus verlieren Sie sämtliche damit verbundenen Rechte samt Ihrer Tätigkeit als Chefärztin des Sanctuarians, ebenso Ihre Genehmigung, Waffen herzustellen. Sie werden in den kommenden Tagen eine neue Bataillonsstellung erfahren, von welcher Sie dem Wächtertum keinen weiteren Schaden zufügen können!"
Sie hatte alles verloren.
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1 Dänisch: Abschlussprüfung in der 10. Klasse, vergleichbar mit dem Realschulabschluss in Deutschland