Kapitel 49 - Höre die Hölle V
Im Tempel machte sich Anspannung breit. Die Magiebarriere Whites hatte die Dämonen abgeschreckt und einige sicherlich auch getötet, doch sie wagte es nicht, die Barriere zu deaktivieren, aus Furcht, dass doch noch einige Dämonen auf ihre Chance lauerten, wenn sie die Barriere wieder deaktivieren würde. Der Tempel war immerhin seit jeher die Insel, welche sie am liebsten angreifen wollten - nicht nur aus politischen Gründen, sondern weil es ihnen im Verlauf der Kriegsgeschichte überaus selten gelungen war, den Tempel direkt anzugreifen.
Während Minare und White sicherten, dass dies auch weiterhin so blieb, sahen die versammelten Elementarwächter, Offiziere und die anderen hochrangigen sowie die weniger wohldekorierten Wächter mit teils besorgten, teils ernsten Blicken in den weißen Himmel. Sie waren dazu verdammt, nichts anderes tun zu können, als darauf zu warten, dass die Lichtbarriere wieder von der gewöhnten Barriere ersetzt wurde, indem Tinami ihren Kampf gegen Karou gewann. Niemand sagte etwas, niemand tuschelte mit den anderen und fast niemand bewegte sich – sie verharrten alle in ihrer Position, auch wenn Azuma immer wieder das eine Bein mit dem anderen rieb, um es daran zu hindern einzuschlafen. Die meisten hatten ihre angespannten Blicke Richtung Himmel gerichtet, andere warfen sich aufmunternde Blicke zu oder drückten unauffällig die Hand des Wächters neben ihnen, wenn sie ihn kannten – oder vielleicht auch, wenn sie ihn nicht kannten.
Ukario sah abwechselnd auf seine Armbanduhr und zum Himmel, wirkte allerdings weder besorgt, noch nervös; er wartete einfach nur ab. Eine Stunde und drei Minuten waren vergangen, es war nun der 24. September – das wusste Kaira auch ohne Armbanduhr. Sie hatte ihre Arme über der Brust verschränkt und starrte in den leuchtenden Himmel.
All ihre Gedanken waren bei Tinami.
Im Tempel herrschte Totenstille. Es war, als wären sämtliche Laute und jedes noch so kleine Geräusch aus dem Tempel gesogen worden. Alle Wächter waren auf dem Platz versammelt, alle Tempelwächter hatten sich mit den Kindern in die Schutzräume zurückgezogen. Nichts bewegte sich in den langen Korridoren. Alles war still und ruhig.
Auch die Schritte Pinks waren nicht zu hören. Sie trug keine Schuhe, keine Socken, sondern war barfuß. Anders als die anderen Wächter trug sie nicht ihre Uniform, sondern nur ihr langes, pinkes Nachthemdchen. Aber sie dachte nicht an die Kälte der Marmorfliesen. Sie klammerte ihr HelloKitty-Plüschtier an sich und streifte durch den Tempel. Ihre kleinen Kinderfüße waren zielsicher und fast energisch. Die Tränen auf ihrem Gesicht waren getrocknet und nur noch als rote Linien auf ihren Wangen zu erkennen; ihre Augen waren ein wenig gerötet und mochten vielleicht ein wenig brennen, doch sah man ihr dies nicht an. Ihre Augen waren starr geradeaus gerichtet, während sie durch die leeren Korridore des Tempels schritt, in welchen sie sich sonst eigentlich nur schwer zurechtfand.
Zuerst war sie in die Nähe des Hofes gegangen, hatte einen Teil von Ukarios Rede aus einem versteckten Winkel mit angehört, doch als Ukario Shitaya losgeschickt hatte, damit dieser Tinami helfen konnte, hatte Pink ihr Versteck verlassen und war Shitaya unbemerkt gefolgt – bis sie stolperte.
Shitaya war schnell gelaufen, doch er hatte dennoch Pinks Fallen und ihr darauf folgendes Jammern bemerkt und war stehen geblieben. Obwohl er eigentlich schnellstens zu Tinami musste, machte er kehrt und half Pink auf die Beine, aus deren Augen nun wieder Tränen quollen – sie hatte sich nämlich die Knie am Marmorboden aufgeschürft. Mit Behutsamkeit und einem etwas angestrengten Lächeln wischte er dem kleinen Mädchen die Tränen aus den Augen.
„Pink-chan, was tust du denn hier? Solltest du dich nicht schon in den Schutzräumen befinden?“, fragte er, immerhin wusste Shitaya von seiner Frau, dass Pink vom Krieg ausgeschlossen worden war, weshalb er zu Recht über ihr Dasein verwundert war; darüber, dass er sie ganz automatisch so nannte, wie seine Frau es tat, dachte er nicht nach. Pink schien es nicht zu stören, denn sie vertraute sich ihm sofort an:
„D-Doch schon, aber ich … habe mich verlaufen … und ich will zu Green-chan! Green-chan … ich spüre, dass sie in Gefahr ist … etwas Schreckliches wird geschehen!“, jaulte Pink mit zitternder Stimme.
„Unsere Hikari-sama ist nicht hier … und leider können wir ihr nicht zu Hilfe eilen.“
„A-Aber, warum denn nicht!? Ich … ich will zu Green-chan … ich will zu Green-chan!“ Ihr Jaulen wurde lauter und Shitaya war sich sicher, dass man es noch Korridore weiter hören konnte, so wie ihre schrille Stimme an den hohen Wänden widerhallte.
„Sshh, Pink-chan, ganz ruhig. Ich bin mir sicher, dass es Hikari-sama gut geht. Sie wird sich sicherlich gut schlagen, wo auch immer sie ist … vertrau ihr einfach.“
„Ja, du … du hast recht. Ich werde ihr vertrauen! Und i-ihr, ihr werdet das schon schaffen, denn … die ganzen Dämonen, die jetzt hier sind, die können hier doch nicht weg, o-oder? Die … die können doch gar nicht zurück in ihre Welt, weil … weil doch nur eine Seite des Bannkreises kaputt ist, oder?“ Das brachte Shitaya zum Schweigen und eine Spur Skepsis huschte über sein ohnehin schon angespanntes Lächeln.
„Du bist aber gut informiert.“
Beide Hände hatte er noch auf Pinks Schultern, als der Offizier plötzlich alarmiert herumwirbelte – doch da war nichts außer dem leeren Gang und Pinks schluchzender Erklärung, dass Tinami es ihr erzählt hatte, welche er nur mit halbem Ohr hörte. Warum hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, dass da jemand hinter ihm gestanden hatte? Jemand … mit der Absicht, ihn zu töten?
„Viele der Fürsten sind hier, oder Shitaya? Also, hier und nicht … bei Green-chan?“
„S-Sicherlich …“ Shitaya räusperte sich, als er bemerkte, dass er die Fassung noch nicht gänzlich wieder erlangt hatte, und wandte sich daraufhin wieder zur ängstlichen Pink zurück, die ihm allerdings zuvor kam, während sie ihr Hello Kitty Plüschtier fester an sich drückte: „Ich hab Angst, a-aber w-wenn die Fürsten nicht flüchten können, dann bedeutet das ja, dass wir sie besiegen können! Und dann ist der Krieg schnell vorbei, oder?“
„Leider ist das nicht gewiss. Der Bannkreis scheint komplett zerstört worden zu sein. Aber das solltest du lieber Hikari-sama fragen, wenn sie wieder zurückgekehrt ist.“ Daraufhin richtete sich Shitaya auf, nahm Pink bei der Hand und verkündete, dass er sie mitnehmen würde, denn er brachte es nicht über sein väterliches Herz, das weinende Mädchen alleine zurückzulassen und die Zeit drängte zu sehr, um sie in die Schutzräume zu bringen.
„Du musst nur versprechen, dass du Asuka-sama und mich nicht bei der Arbeit störst, hörst du, Pink-chan? Du musst ruhig sein, damit wir uns konzentrieren können.“ Pink nickte übereifrig und versprach, dass sie nicht stören würde, sondern ihnen in Gedanken still beistehen würde – und schon nahm Shitaya sie bei der Hand, woraufhin sie auch schon losliefen.
Hätte er sich beim Rennen herumgedreht, so hätte er sich wohl doch noch anders entschieden, denn das plötzlich sehr triumphierende Grinsen auf dem Gesicht des Mädchens wollte so gar nicht zu ihren Tränen passen.
Wieder einmal machte Ilang Bekanntschaft mit den Glassplittern der Fenster; dieses Mal allerdings freiwillig, denn lange war sie nicht auf den Boden der Teleportationshalle verharrt. Eilig war sie auf die Beine gesprungen; gerade noch rechtzeitig, um der Attacke des Dämons auszuweichen. Es waren drei sehr stämmige Dämonen, die es auf sie abgesehen hatten, da sie wohl erspüren konnten, dass sie eine Elementarwächterin war. Doch noch bevor sie sich darüber freuen konnten, eine gute Gegnerin gefunden zu haben, hatte Ilang die einzige Fluchtmöglichkeit gewählt und sich aus einem der Fenster geworfen.
Die Dämonen wollten ihr auch sofort freudig hinterherspringen, doch der Spaß sollte vorbei sein, ehe er für sie begonnen hatte, denn Azzazello kam hinzu:
„Verfolgt nicht einen einzelnen Wächter; viel wichtigerer ist jetzt, dass wir dieses Gebäude niederreißen.“ Alle drei wandten sich vom Fenster weg und ihnen war deutlich anzusehen, dass sie von dieser Idee nicht viel hielten:
„Aber hier sind doch gar keine Wächter mehr! Dann macht das Ganze doch gar keinen Spaß!“ Azzazello wollte davon gar nichts hören und hob tadelnd den Finger:
„Für die Wächter ist es ein Gebäude von politischer Wichtigkeit, deswegen ist es umso entscheidender, dass wir es vernichten, um ihre Effektivität zu mindern.“ Alle drei sahen sich kurz an und schienen sich ziemlich einig zu sein, dass keiner von ihnen sich für Effektivität interessierte, genauso wenig wie für die Zerstörung alter Gemäuer, wenn von innen keine Schreie zu hören waren. Einer von ihnen schien allerdings nicht gänzlich auf den Kopf gefallen zu sein und widersprach Azzazello daher:
„Es ist aber doch sicherlich genauso wichtig, ihren Anbau zu vernichten, oder? Da unten sind die Gewächshäuser.“ Offensichtlich war das wirklich ein Argument, welches ganz nach Azzazellos Geschmack war und dem stimmte er auch sofort erfreut zu:
„Das ist wirklich eine ganz fabelhafte Idee! Dann mach dich an die Arbeit!“ Als der Fürst dies sagte, wollten auch die anderen beiden ihrem Kumpanen helfen, doch das erregte sofort die Skepsis Azzazellos:
„Ich bezweifle, dass drei ausgewachsene Dämonen notwendig sind, um ein paar Pflanzen abzubrennen. Nein, nein, ihr werdet beim Abriss benötigt! Aber erst einmal sollten wir uns mal die Innenausstattung ansehen; das neue Kinderzimmer meiner Jüngsten braucht dringend etwas für die Wände. Vielleicht findet sich ja hier irgendwo ein hübsches Gemälde, das wäre doch was!“ Azzazello war bereits dabei, den Raum zu verlassen, was sicherlich auch gut war, denn die beiden übrig gebliebenen Dämonen warfen sich wütende Blicke zu.
„Vielleicht war Azzazellos Horde doch keine so gute Idee gewesen. Dieser Typ regt mich auf! Und wenn schon nicht zu Lycram, dann vielleicht zu Akai.“ Dem anderen war deutlich anzusehen, dass er einen erneuten Wechsel – denn sie waren noch nicht lange bei Azzazello tätig – langsam ebenfalls in Erwägung zog, aber auch dieses Mal schien er nicht von der Auswahl begeistert zu sein:
„Hast du denn nicht die Gerüchte über Akai gehört? Angeblich soll er gar nicht wirklich kämpfen können …“ Der Angesprochene wollte gerade erwidern, dass ein nicht kämpfen könnender Dämon immer noch besser war als ein Dämon, der keiner war – so wie der Fürst, der gerade wieder zurückgekommen war und sie nun dafür tadelte, dass sie zu langsam seien:
„In zwei Stunden will ich, dass dieses Gebäude in Schutt und Asche liegt. Also hopp hopp, meine Herren!“ Und um alles noch schlimmer zu machen, klatschte Azzazello doch obendrein auch noch beschwingt in die Hände. Zwar setzten sich die beiden Dämonen daraufhin in Bewegung, aber ihr Blick war eindeutig:
Akai. Definitiv Akai.
Tinami registrierte, wie ihr Namen gerufen wurde. Sie wusste nicht, von wem … sie konnte die Stimme nicht einordnen, die sie dazu aufforderte, ihre Hand auszustrecken. Sie konnte auch nicht beurteilen, ob ihr Körper dem Aufruf nachging, ob er ihm nachgehen konnte. Alles um sie herum war schwarz – hatte sie noch die Augen geschlossen, oder war wirklich alles um sie herum tiefste Nacht? Irgendetwas … irgendetwas hielt sie fest. Ihr Bein wurde nach unten gezogen, doch etwas anderes – vielleicht der Ursprung der Stimme? – hatte jetzt ihre Hand zu fassen bekommen, packte sie fest, zog an ihr und ---
Tinami spürte, wie sie die Augen öffnete; dennoch war alles um sie herum schwarz und sie fühlte sich schwach, sehr schwach. Das Ziehen an ihren Beinen war verschwunden, stattdessen blockierte sie eine ungeheure Schwäche und das Atmen fiel ihr nach wie vor schwer.
„Asuka-sama … Ihr müsst Euch ausloggen. Dringend.“ Obwohl Tinamis Sinne getrübt waren, erkannte sie die Stimme nun als die ihres Offiziers, doch sehen konnte sie ihn nicht. Nur seine Hand spürte sie, die immer noch die ihre hielt und obwohl sie nicht in der Lage war, ihren Blick zu fokussieren, verstand sie auf einmal intuitiv, was geschehen war. Ihr Körper hatte einen Herzstillstand erlitten und wohl nur überlebt, weil Shitaya gerade noch rechtzeitig gekommen war und sie mittels Mund-zu-Mund-Beatmung wieder zurück ins Leben geholt hatte … und ja, er hatte recht, sie musste ausloggen, aber wenn sie die Schwärze um sich herum richtig interpretierte, hatte sie sich lange genug ausgeruht …
„Danke … für deine Rettung, Shiya-kun. Aber ich kann jetzt nicht … ausloggen.“
Shitaya spürte, wie der Griff um seine Hand ein wenig fester wurde und schon versuchte Tinami sich hochzuziehen, ohne seine angebotene Hilfe anzunehmen.
„Es … es geht schon, danke.“ Sie stand aufrecht, doch das war auch alles.
„Nein, Asuka-sama, es geht nicht. Seid doch vernünftig! Ihr habt gerade einen Herzstillstand überlebt, fordert Euer Glück nicht ein weiteres Mal heraus und lasst mich in Eurem Namen diesen Dämon zur Strecke bringen.“ Tinami löste ihren Griff um Shitayas Hand, jedoch nur zögerlich, als fürchtete sie, dass sie ohne seinen Halt nicht stehen könnte und ihr Offizier machte sich auch bereit sie zu stützen, sollte sie es benötigen.
Langsam gewöhnten sich Tinamis Augen an die Dunkelheit um sie herum und Shitaya nahm Konturen an; auch sein besorgter Blick entfiel ihr nicht mehr und ja, sie wusste, dass seine Sorge berechtigt war. Dennoch wählte sie, nicht auf ihren Verstand zu hören.
„Ich denke, wir sollten lieber auf ein Two-Player-Match setzen.“ Ohne Shitayas Einverständnis abzuwarten, ließ Tinami ihren langen, goldenen Speer wieder erscheinen, dessen goldenes Licht unheimliche Schatten auf den Gesichtern der beiden Klimawächter entstehen ließ und deutlich offenbarte, wie schlecht es Tinami eigentlich ging, denn ihre Haut war außergewöhnlich blass. Doch sie grinste – und dieses Grinsen war es auch, welches Shitaya dazu brachte, die Diskussion aufzugeben. Mit einem eleganten Schwung seines rechten Armes tauchte auch in seiner Hand ein Speer auf, welcher ein exaktes Duplikat Tinamis war, nur dass der Schein seines Speers deutlicher strahlte und somit einen weitaus bedrohlicheren Eindruck machte – die Schwärze um sie herum schien von sich aus schon zu weichen.
„Aber überfordert Euch bitte nicht; lasst mir den Vortritt, Asuka-sama.“
„Darauf können wir uns einigen, Shiya-kun.“ Während diese Worte ausgetauscht wurden, hatten sich die Füße der beiden Wächter vom „Boden“ gelöst und waren hinaufgestiegen – ohne es besprochen zu haben, blieben sie exakt auf der gleichen Höhe stehen und ohne weitere Zeit zu vergeuden, wiederholten sie beide absolut zeitgleich, was bei Tinamis erstem Versuch gescheitert war. Beide Speere schossen wie goldene Pfeile durch den Raum, durchbohrten den Boden und---
Beide blinzelten überrascht, als wären sie soeben aus einem Trancezustand erwacht. Tinamis Atem ging schnell und unregelmäßig und ihr Herz schmerzte fürchterlich, doch sie und Shitaya konnten nichts anderes tun, als überrascht dem Computer beim Herunterfahren zuzugucken und auch als die riesige Maschine nach einigen Sekunden kompletten Schweigens mit neuer Energie das System hochfuhr, taten sie nichts anderes, als sich verdattert anzustarren, als wüssten sie nicht, was passiert war. Dieser Augenblick wahrte jedoch nur einen kurzen Augenblick, ehe die Gesichter der beiden aufstrahlten, nachdem die weibliche Stimme des Computers ein wohltuendes „Willkommen“ verkündet hatte und sie sich stürmisch um den Hals fielen.
„Wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft!“, rief Tinami glücklich und erleichtert, als hätten sie damit bereits den Krieg gewonnen. Obwohl den beiden natürlich klar war, dass sie den Sieg noch nicht errungen hatten, konnte auch Shitaya ein erfreutes Lächeln nicht zurückhalten, welches jedoch schnell ernst wurde, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten und beide den großen Bildschirm ansahen. Nachdem er sie willkommen geheißen hatte, verlangte er nun nach einem Passwort, welches Tinami freudig mittels der eingelassenen Tastatur eingab, womit das freudige Glücksgefühl sofort verschwand, denn sobald der Computer das Passwort entgegengenommen hatte, flimmerten sämtliche Bildschirme um sie herum auf – in einem grellen Rot, zusammen mit dem in der Sprache der Wächter geschriebenen Wort „WARNUNG“:
„WARNUNG. FEINDLICHE INDIVIDUEN AUF GEHEILIGTEM BODEN LOKALISIERT. WARNUNG. FEINDLICHE INDIVIDUEN …“ Der Computer fuhr fort immer und immer wieder die gleiche Mitteilung zu verkünden in einem endlosen, verspottenden Singsang, dem Tinami und Shitaya geschockt lauschten, als hätten sie es nicht vorher schon gewusst – und plötzlich überrollte Tinami erneut das Gefühl von Schuld, denn nur weil ihr System nicht effektiv genug gewesen war, hatte dies geschehen können … wie viele waren wohl schon gestorben … wie lange hatten sie gebraucht, um das System wiederherzustellen?
„Wir sollten zuerst das Kommunikationssystem wiederherstellen“, unterbrach Shitaya Tinamis düstere Gedanken. Anders als sie hatte er sich bereits wieder hingesetzt, bereit fortzufahren und sah nun über die Schulter zu ihr auf, wo er ein zögerndes Nicken als Antwort erhielt.
Erst als Shitayas Finger über die Tastatur rasten, bemerkte Tinami aus den Augenwinkeln Pink, welche abseits von ihnen stand und sie mit einem merkwürdig fern wirkenden Blick beobachtete:
„Pi-chan? Was … machst du denn hier?“, fragte Tinami verblüfft, doch obwohl Tinamis Stimme Pink aus ihren Gedanken zu wecken schien, war es Shitaya, der antwortete:
„Ich habe sie verwirrt draußen in den hierher führenden Korridoren gefunden und hielt es für das Klügste, sie mit hierher zu nehmen.“ Tinami nickte, doch aus einer ihr unbekannten Ursache konnte sie den Blick nicht von Pink abwenden, welche ihr Gesicht jetzt in ihrem Kuscheltier verbarg.
„Pi-chan, geht es dir gut?“
„Ja … ah. Ich mache mir nur so große Sorgen um Green-chan!“
„Wir werden sie gleich finden“, antwortete Tinami mit einem kleinen Anflug von einem Lächeln und mit dem Headset in der Hand wandte sie sich an Shitaya:
„Lass mich für alle hörbar sein – sobald ich unsere Mitwächter gewarnt habe, aktivieren wir die Barrieren wieder, sobald White-sama es befiehlt.“
Obwohl Nathiel kein Spezialist auf dem Gebiet der Computertechnik war und sich auch nicht sonderlich dafür interessierte, sah sie aus den Augenwinkeln immer mal wieder zu Karou, der starr wie eine Salzsäule neben ihr saß und seit mehr als einer halben Stunde nicht mehr geblinzelt hatte. Ausdruckslos starrte der Dämon auf die sich bewegenden Zeichen vor ihm auf den vielen verschiedenen Bildschirmen, ohne sie wirklich zu sehen, wie es ihr schien. Wenn Nathiel genauer hinsah, bemerkte sie ein beständiges Flimmern, welches vor seiner Linse ab und zu aufblitzte.
Nach fast mehr als einer Stunde bewegte er sich plötzlich wieder, indem er den Kopf schüttelte und als Nathiel sich ihm zuwandte, schlug Karou die Augen nieder und massierte sich mit geschlossenen Augen die Schläfen.
„Der größte Vorteil der Wächter ist ihre Fähigkeit, zu kooperieren.“ Nathiel grinste über diesen Kommentar, doch antwortete erst, nachdem Karou aus der Innerseite seines Ärmels ein kleines Flakon geholt hatte, welches eine zäh aussehende gelbe Flüssigkeit enthielt, die er sich in die Augen tröpfelte.
„Soll das bedeuten, dass Sie versagt haben?“, antwortete Nathiel mit einem schelmischen Grinsen, doch Karou war zu sehr mit seinen Augen beschäftigt, als dass er dies bemerkte.
„So würde ich es nicht definieren. Selbstverständlich wäre es zum Vorteil gewesen, wäre die Effektivität der Wächter weiterhin eingeschränkt, doch die Möglichkeit, dass ich in einem Kampf besiegt werden könnte, war in meine Pläne einkalkuliert und beeinträchtigt diese daher wenig.“ Nathiel wollte gerade antworten, als plötzlich die Tür aufgeschlagen wurde und ein verwirrter – aber wütender – König plötzlich in Karous Laboratorium stand, welcher den plötzlichen Besuch absolut nicht willkommen hieß und auch darüber verwundert war.
„Karou! Du … du … Arschloch du! Warum hast du mir das nicht gesagt?!“
„Lerou … Ich wüsste nicht, was ich dir nicht gesagt haben sollte“, antwortete Karou mit hochgezogenen Augenbrauen und einem genervten Gesichtsausdruck.
„Für dich immer noch „Hoheit!“, du verdammter Krüppel!“ Der Angesprochene knackte mit den Fingern seiner gesunden Hand und versuchte sich zu einem entspannten Lächeln zu bringen, woran er kläglich versagte.
„Gut … meine Hoheit. Was ist es, was Euer einfältiges Gehirn nicht verarbeiten kann?“ Es gab nur eine positive Sache an seinem Zwilling: Er bemerkte nicht, wenn man ihn beleidigte.
„Diese Hikarischlampe, White, oder wie auch immer die heißt … die ist da draußen und macht uns fertig!“ Karou seufzte erschöpft, ehe er genervt entgegnete:
„Sagt mir bitte nicht, dass Ihr Euch wieder irgendetwas gespritzt habt.“
„Ich gehe jedenfalls nicht hier weg, solange die da draußen ist!“
„Meine Hoheit … ich sehe es als meine Pflicht an, Euch darauf hinzuweisen, dass eine einmal gestorbene Hikari kein Problem für uns darstellt, da sie mit ihrem Tod ihre Lichtmagie verliert. Wobei „keine Gefahr“ relativ ist, aber das ist ein anderes Thema … Also geh gefälligst daraus und tu wenigstens so, als wärst du ein Machthaber!“
„Du kannst mich mal kreuzweise! Du kannst ja daraus gehen und noch mehr Arme verlieren!“ Karou war Worte wie diese selbstverständlich gewohnt, doch sie reichten immer wieder aus, um ihn zum Kochen zu bringen; die gesamte Situation reizte ihn und er bemerkte nicht einmal, dass Nathiel ihr Kinn beschwichtigend – oder herausfordernd – auf seine Schulter legte; zu sehr war er damit beschäftigt, seine Wut zu unterdrücken. Erst ihre betörend geflüsterten Worte lenkten ihn von dem dumm vor sich hingrinsenden Lerou ab:
„Karou-san, ihr Zwilling hat leider recht. Die ersten Dämonen sind bereits zurückgekehrt.“ Sofort war Lerou unwichtig und die gelben Augen Karous wandten sich nach rechts, zu dem vertrauten Anblick seiner geliebten Bildschirme, die ihm auch sofort die Aufklärung gaben und Nathiels Worte untermauerten.
Doch Whites Dasein war nicht das, was seine Gedanken beschäftigte, sondern die Tatsache, dass tatsächlich Dämonen zurückgekehrt waren – aber wie war das möglich? Nein, das war nicht die richtige Frage, denn er wusste, wie dies möglich sein konnte: Die Wächter hatten gegen jede Erwartung ihre Seite des Bannkreises ebenfalls deaktiviert. Natürlich hatte Karou diese Möglichkeit eingeplant, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie eintreten würde … immerhin hatten sie so einen Vorteil verspielt und setzten ihre Wächter somit Gefahr aus – eine Tatsache, die Karou Lerou wohlbemerkt verschwiegen hatte; ihm und allen anderen Dämonen, von denen er gehofft hatte, sie würden alle bei ihrem Blutrausch umkommen.
Karou biss sich auf die Unterlippe und schmeckte sofort den metallischen Geschmack seines eigenen Blutes auf der Zunge – damit war also der erste Schachzug gegen die Hohen erfolglos verlaufen.
Egal. Er würde dieses einfältige Pack noch anders loswerden.
Wäre doch auch zu langweilig gewesen, hätte Karou bereits beim ersten Zug alle Schachfiguren außer Gefecht gesetzt – ein Zug, der sowieso beinahe unmöglich gewesen war. Und anscheinend spielte noch jemand mit, wie er bemerkte, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Ri-Ils Horde rein zufällig in der Heimat geblieben war. Er schien etwas zu ahnen. Ha, natürlich kannte er Karous Ambitionen. Aber wie er diese zu verwirklichen gesuchte, das wusste er nicht. Ri-Il konnte nicht wissen, wie der Bannkreis funktionierte, obwohl er so viele verzweifelte Versuche unternommen hatte, ihn zu verstehen; sich sogar für eine kurze Weile mit Karou zusammengetan hatte. Tja, wäre er länger auf seiner Seite geblieben, dann wüsste er nun, was Karou wusste – doch nun war der Fürst nichts weiter als eine der Schachfiguren, die er vom Feld werfen musste. Zugegeben; eine der Stärksten. Vielleicht sogar die Dame.
Aber auch sie war nicht unbesiegbar.
Einige tausend Kilometer von Lerenien-Sei entfernt hörte Ri-Il ebenfalls die gleiche Nachricht, die sich gerade wie ein Lauffeuer unter den Dämonen verbreitete: White war wieder auf dem Schlachtfeld, im vollen Begriff ihrer Fähigkeiten.
„Das sind verdammt noch mal schlechte Nachrichten!“, sagte Darius, der oberste Kommandeur von Ri-Ils Horde und Ri-Il stellte schnell fest, dass er nervös aussah, von dem Bild her zu urteilen, welches er über den Bildschirm übermittelt bekam. Der Fürst zeigte sich jedoch nicht nervös; er zuckte ein wenig gleichgültig mit den Schultern und antwortete gelassen:
„Nocturn ist ebenfalls wieder zurückgekehrt. Kein Grund, so besorgt auszusehen, Darius-kun! Er macht einen famosen Blitzabfänger.“
„Ich kann Euren Worten nicht ganz folgen, Ri-Il-sama. Wie kommt Ihr auf Noctu-“
„Nein, und deswegen bist du ja auch ein hervorragender Kommandeur!“
„Oh, danke vielmals …“ Darius wurde ein wenig rot, denn offensichtlich verstand er den tieferen Sinn hinter Ri-Ils Worten nicht, der sich mit einem freundlichen Lächeln anhörte, wie froh Darius doch war, ihm dienen zu dürfen. Dieser Lobeshymne lauschte er nur mit einem halben Ohr, bis ihm plötzlich etwas in der Aufstellung seiner Horde auffiel und das freundliche Lächeln verschwand.
„Sag, Darius-kun …“
„Ja, Meister?“
„Sind Silver und Blue nicht zur Aufstellung erschienen? Ich kann sie nirgends sehen.“
„Oh! Nein, ich habe sie nicht gesehen. Ich bin daher davon ausgegangen, dass sie einen gesonderten Befehl von Euch erhalten hatten.“ Der Fürst antwortete nicht. Er hatte seine Augen geöffnet und starrte auf einen für Darius unbekannten Punkt, ohne zu blinzeln, plötzlich in Gedanken versunken. Gerade als sich Darius dazu entschied, dass er seinen Fürsten vielleicht aus diesen wecken sollte, kehrte Ri-Il von selbst zurück, und nachdem er seine Augen wieder geschlossen hatte, meinte er:
„Ja, stimmt, das habe ich.“ Verwirrt wurde der Fürst angesehen, doch er hatte nicht im Sinne, die offensichtlichen Fragen im Gesicht seines Heerführers zu beantworten. Stattdessen richtete er sich auf, wandte sich von ihm ab, doch sah über die Schulter zurück zu Darius:
„Bereite die Horde auf den Gegenangriff der Wächter vor. Es gelten die gleichen Gebote wie im letzten Krieg …“ Darius salutierte und unterbrach Ri-Il, indem er dessen Satz zu Ende führte:
„… zu versuchen, den Schaden der Kampfaktionen zu begrenzen, solange wir uns in unserem Gebiet befinden! Und natürlich das wichtigste Gebot: nicht zulassen, dass den Frauen des Gebietes und dem Nachwuchs etwas zustößt!“
„Wunderbar, Darius-kun, wunderbar.“ Ri-Il wollte gerade den Kommandoraum verlassen, als ihm noch eine Sache einfiel.
„Ein Gebot hast du allerdings vergessen, Darius-kun.“
„Oh, und das wäre?“ Der Fürst wandte sich herum und grinste seinen Kommandeur an:
„Ihr sollt natürlich Spaß haben.“
Nachdem die Barriere den Tempel wieder beschützend umgab, war White umgehend in die Kommandozentrale des Tempels zurückkehrt; anders als Minare, der sich seinem Bataillon angeschlossen hatte und sich mit diesem zusammen dorthin aufgemacht hatte, wo nun ihre Hilfe benötigt wurde; genau wie die anderen Wächter, womit der Tempel nun beinahe wächterleer war, bis auf die Mitglieder des Bataillons Elyssion, das auf weitere Befehle wartete. Entschlossen öffnete White die Tür zur Kommandozentrale und wurde sofort von den Bildschirmen begrüßt, die nun, da das System wieder betriebsbereit war, die aktuellen Kampfgegebenheiten zeigten und die Hikari dazu brachten, kurz innezuhalten, damit ihre Augen über diese gleiten konnten.
Die Aufnahmen aus Sanctu Ele’saces zeigten alle dasselbe Bild: Wächter und Dämonen, die sich bekämpften, in dem Dunkel der Straßen der so wunderschön gebauten Stadt, die mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ein anderer Bildschirm teilte ihr den momentanen Status des Sanctuarians mit, während ein anderer eine Karte von der Insel Sanctu Ele’saces zeigte, um den Wächtern in der Kommandozentrale einen Überblick zu verschaffen, wie viele Dämonen sich auf der Insel befanden und wie weit sie vorgedrungen waren. Da die Barrieren um Sanctu Ele’saces wieder aktiviert worden waren, kamen keine neuen Dämonen nach und sie hatten Glück, dass es „nur“ 33 Minuten gewesen waren, in denen die Dämonen ungehindert eindringen konnten – so waren die Wächter mittlerweile in der Überzahl, denn es waren nur um die 4660 Dämonen, die sich noch auf Sanctu Ele’saces befanden und die dort lebenden Wächter wurden nun von der Verstärkung aus dem Tempel unterstützt.
Auf Sanctu Ele’saces war die Lage stabil.
Doch anders sah es auf Min Intarsier aus. Hier waren zu Beginn zwar weniger Dämonen eingedrungen, doch da sie die Wächter im Schlaf überrascht hatten, war es ihnen gelungen, die Insel beinahe komplett einzunehmen. Just in dem Moment, in welchem White in den Raum gestürzt war, sah sie, wie die Außenmauern der dortigen Zentrale unter dem Jubel der Dämonen einstürzten und die Anzahl der toten Wächter stieg beständig.
Gerade als die Hikari einen Blick auf die Anzeige der toten Wächter blickte, stieg sie auf 531 an. Es befanden sich noch gut 2500 Dämonen auf Min Intarsier, die sich offensichtlich nicht dafür interessierten, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht zurückkehren konnten – vielleicht hatten sie es auch noch nicht bemerkt. Die Wächter, die gerade vom Tempel aus dort angekommen waren, hatten sich bereits in das Kampfgetümmel geworfen und kämpften nun darum, die Dämonen niederzuringen, um das zu retten, was sie noch retten konnten – auch weitere Sanitäterteams waren auf Min Intarsier eingetroffen. Denn Aores brauchte keine Befehle der Hikari, um zu handeln.
Dennoch war die Lage nicht stabil; nein, alles andere als. Zwei Fürsten befanden sich auf dem Boden Min Intarsiers und die hohe Anzahl an Dämonen beunruhigte White. Doch endlich zu wissen, wo Green sich befand, erleichterte sie. Nur noch ein paar Befehle trennten sie von ihr … sie musste nur noch ein wenig aushalten, dann würde ihre Mutter kommen.
„Tinami-san, Shitaya-san“, begann White ihre aufkeimende Sorge herunterschluckend und beide Klimawächter wandten sich ihrer Hikari zu, auf Befehle wartend.
„Ich werde mich gleich von Euch verabschieden, um meine Tochter vor Nocturn zu retten.“
„N-Nocturn?!“, entfuhr es beiden Klimawächtern schockiert.
„…Doch vorher gebt ihr bitte der Hälfte des Bataillons Zeranion das Kommando, dass sie sich nach Min Intarsier aufmachen soll…“ Doch der Befehl der Hikari wurde unterbrochen, als die Tür sich hinter ihr öffnete und noch ehe sie sich umdrehte, wusste sie, dass sie nicht mehr die einzige anwesende Hikari war: Shaginai, Adir, Hizashi und Seigi traten just in diesem Moment durch die Tür und sofort wollte Shaginai das Ruder an sich reißen. Er hatte bereits den Mund geöffnet, als er etwas sah, dass ihm die Sprache verschlug – und es waren nicht die Videoübertragungen, die der Grund für sein plötzliches Schweigen waren. Verwundert folgte White seinem Blick und entdeckte nun, dass Tinami und Shitaya gar nicht alleine im Kommandoraum gewesen waren.
„Pink, was machst du denn hier?“ Shitaya erklärte es ein weiteres Mal, doch Shaginai hörte ihm nicht zu. Er und Pink starrten sich an; und obwohl Pink ihr Gesicht halb hinter dem an sie gedrückten Kuscheltier verbarg und sich Mühe machte, unschuldig zu wirken, wusste Shaginai sofort, dass er nicht in die wegen des Krieges besorgten Augen seiner Enkelin starrte, sondern in die Augen eines Dämons, der nicht wusste, dass die beiden sich eigentlich nicht kannten.
Adir und White schienen Shaginais Sprachlosigkeit gänzlich anders zu deuten; wahrscheinlich erinnerten sie sich daran, dass Shaginai sich ihr bis jetzt noch nicht vorgestellt hatte und dass sein plötzliches Schweigen daher rührte, dass er auf so eine plötzliche Konfrontation nicht vorbereitet gewesen war. Doch ehe dem Dämon hinter Pinks Augen ebenfalls bewusst werden konnte, dass er falsch gehandelt hatte, wandte Shaginai sich ab, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Aber trotz Sicherheit war es an der Zeit, seiner Informationsbeschaffung ein Ende zu setzen.
„Kikou!“, begann er mit seiner felsenfesten Stimme und sofort wusste Shitaya, dass er ihn meinte, denn seine weißen Augen durchbohrten ihn:
„Bring das Mädchen sofort in den nächsten Schutztraum. Der Kommandoraum ist doch kein Ort für Kinder!“ Shitaya ließ sich von Shaginais Tonfall nicht einschüchtern; seine Verbeugung war angespannt, aber dennoch ruhig und ebenso ruhig erhob er seine Stimme:
„Wenn Ihr erlaubt, hochwohlgeborene Hikari, so würde ich Euch gerne einen Vorschlag unterbreiten.“ Adir schien erfreut über Shitayas ruhige Höflichkeit zu sein und antwortete lächelnd, dass er dies selbstverständlich tun dürfe.
„Aufgrund dessen, dass weder Grey-sama noch Hikari-sama anwesend sein können, bitte ich Euch darum, mir das Kommando über das Bataillon Elyssion zu übergeben, damit ich unsere Mitwächter auf Min Intarsier unterstützen kann, sobald ich Pink-san in die Schutzkammer geleitet habe. Mit der Erfahrung und dem Können Elyssions ist es gewiss, dass es uns gelingen wird, die Lage auf Min Intarsier zu stabilisieren.“ Dieses Mal war es nicht Adir, der antwortete, sondern Shaginai:
„Dann beweise, dass deine Worte nicht nur Schall und Rauch sind!“ Shitaya nickte, nahm Pink bei der Hand und verschwand auch schon aus dem Raum, aufmerksam von Shaginais Blick dabei beobachtet. Kaum, dass sie den Raum verlassen hatten, sagte er das, was ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte:
„Nun, da zwei Fürsten auf unserem Besitztum gefangen sind, ist die größte Priorität, diese auf der Stelle umzubringen! Gib sofort den Befehl an alle sich auf Min Intarsier befindenden Wächter, dass sie sich auf die beiden Fürsten konzentrieren sollen, anstatt deren Kleinvieh zu bekämpfen! Wir schlagen den Kopf der Schlange zuerst ab, dann sind deren Horden nichts als ein unkoordinierter Haufen.“ Von Shaginais Wortgewalt niedergemäht nickte Tinami sofort, doch ehe sie den Befehl durchgab, unterbrach sie Hizashi von diesem Vorhaben, der sich kurzerhand an den anderen Hikari vorbeigeschlängelt hatte und nun neben Tinami stand und sich in innerhalb von kurzer Zeit einen Überblick über dem momentanen Zustand verschuf:
„Sagt unseren Mitwächtern, dass sie sich auf Akai konzentrieren sollen. Azzazellos Horde ist klein und unbedeutend; sein Gebiet nicht von großer Wichtigkeit. Außerdem sprechen die Daten dafür, dass die Horde Akais momentan stärker auf Min Intarsier vertreten ist.“ Ein weiteres Mal nickte Tinami und ohne Umschweife gab sie genau den Befehl durch, den sie aufgetragen bekommen hatte, während Hizashi sich nun an Seigi wandte, welcher bis jetzt ungeduldig gewartet hatte.
„Seigi, folge dem Offizier und halte dich für weitere Befehle bereit.“ Mehr sagte Hizashi nicht, doch warf dem überraschten Seigi ein Kommunikationsgerät zu, mit der Aufforderung, es sich aufzusetzen und sich zu beeilen. Der Schwertkämpfer schien nicht sonderlich glücklich darüber zu sein, denn er hatte auf eine Schlacht in der Dämonenwelt gehofft – doch er fügte sich widerwillig, aber darauf hinweisend, dass die Fürsten ihm gehörten. Dann verschwand auch er.
Dass White ebenfalls nach Min Intarsier geschickt werden sollte, stand überhaupt nicht zur Debatte. Seigi war genug, und sobald Shaginai, Adir und Hizashi von White im Schnelldurchlauf erfuhren, was passiert war und dass Green, laut Inceres, bei Nocturn war, wurden sie sich schnell einig, dass White dringend ihre Tochter aus der Gefahrenzone befreien musste. Als White ihnen allerdings erzählte, dass Inceres aktiv dazu beigetragen hatte, dass der Bannkreis nun vollkommen nutzlos war, schwiegen sie einen Moment und warfen sich zweifelnde und skeptische Blicke zu, alle gefüllt mit der Frage, wieso er dies getan hatte.
Doch darüber würden sie sich später noch beraten können, sagte Shaginai, ehe er seine Tochter förmlich aus der Tür warf, mit den Worten, dass sie sich beeilen sollte – immerhin wusste niemand von ihnen, wie lange ihr Ecience-Körper existieren würde, wenn sie gleichzeitig ihre Lichtmagie einsetzte.
Normalerweise hielt Whites Ecience-Zustand vier Tage, plus-minus ein paar Stunden, doch der Ecience-Körper griff auf die Lichtressourcen zu und diese hatte sie nun bereits über einen längeren Zeitraum strapaziert. Was würde passieren, wenn sie eine zu mächtige Attacke einsetzte? Würde ihr Körper sich plötzlich auflösen? Sie wusste es nicht und diese Unsicherheit gefiel ihr nicht. Denn obwohl ihre schnellen Schritte sie zielsicher zu einem Teleportationspunkt brachten, spürte sie, wie sie nun langsam nervös wurde.
Welch Ironie. Tausend Schlachten konnte sie führen, ohne ein Zittern zu spüren; ohne den verräterischen Anflug von Angst. Doch Nocturn wieder gegenüberzutreten ließ die alten, verhassten Gefühle wieder aufflammen.
Es würde alles wiederkehren. Die Angst. Die Schuldgefühle. Die Sorge. Die Nocturne.
Die Nocturne.
Bald würde sie sie wieder hören.
Während Minare und White sicherten, dass dies auch weiterhin so blieb, sahen die versammelten Elementarwächter, Offiziere und die anderen hochrangigen sowie die weniger wohldekorierten Wächter mit teils besorgten, teils ernsten Blicken in den weißen Himmel. Sie waren dazu verdammt, nichts anderes tun zu können, als darauf zu warten, dass die Lichtbarriere wieder von der gewöhnten Barriere ersetzt wurde, indem Tinami ihren Kampf gegen Karou gewann. Niemand sagte etwas, niemand tuschelte mit den anderen und fast niemand bewegte sich – sie verharrten alle in ihrer Position, auch wenn Azuma immer wieder das eine Bein mit dem anderen rieb, um es daran zu hindern einzuschlafen. Die meisten hatten ihre angespannten Blicke Richtung Himmel gerichtet, andere warfen sich aufmunternde Blicke zu oder drückten unauffällig die Hand des Wächters neben ihnen, wenn sie ihn kannten – oder vielleicht auch, wenn sie ihn nicht kannten.
Ukario sah abwechselnd auf seine Armbanduhr und zum Himmel, wirkte allerdings weder besorgt, noch nervös; er wartete einfach nur ab. Eine Stunde und drei Minuten waren vergangen, es war nun der 24. September – das wusste Kaira auch ohne Armbanduhr. Sie hatte ihre Arme über der Brust verschränkt und starrte in den leuchtenden Himmel.
All ihre Gedanken waren bei Tinami.
Im Tempel herrschte Totenstille. Es war, als wären sämtliche Laute und jedes noch so kleine Geräusch aus dem Tempel gesogen worden. Alle Wächter waren auf dem Platz versammelt, alle Tempelwächter hatten sich mit den Kindern in die Schutzräume zurückgezogen. Nichts bewegte sich in den langen Korridoren. Alles war still und ruhig.
Auch die Schritte Pinks waren nicht zu hören. Sie trug keine Schuhe, keine Socken, sondern war barfuß. Anders als die anderen Wächter trug sie nicht ihre Uniform, sondern nur ihr langes, pinkes Nachthemdchen. Aber sie dachte nicht an die Kälte der Marmorfliesen. Sie klammerte ihr HelloKitty-Plüschtier an sich und streifte durch den Tempel. Ihre kleinen Kinderfüße waren zielsicher und fast energisch. Die Tränen auf ihrem Gesicht waren getrocknet und nur noch als rote Linien auf ihren Wangen zu erkennen; ihre Augen waren ein wenig gerötet und mochten vielleicht ein wenig brennen, doch sah man ihr dies nicht an. Ihre Augen waren starr geradeaus gerichtet, während sie durch die leeren Korridore des Tempels schritt, in welchen sie sich sonst eigentlich nur schwer zurechtfand.
Zuerst war sie in die Nähe des Hofes gegangen, hatte einen Teil von Ukarios Rede aus einem versteckten Winkel mit angehört, doch als Ukario Shitaya losgeschickt hatte, damit dieser Tinami helfen konnte, hatte Pink ihr Versteck verlassen und war Shitaya unbemerkt gefolgt – bis sie stolperte.
Shitaya war schnell gelaufen, doch er hatte dennoch Pinks Fallen und ihr darauf folgendes Jammern bemerkt und war stehen geblieben. Obwohl er eigentlich schnellstens zu Tinami musste, machte er kehrt und half Pink auf die Beine, aus deren Augen nun wieder Tränen quollen – sie hatte sich nämlich die Knie am Marmorboden aufgeschürft. Mit Behutsamkeit und einem etwas angestrengten Lächeln wischte er dem kleinen Mädchen die Tränen aus den Augen.
„Pink-chan, was tust du denn hier? Solltest du dich nicht schon in den Schutzräumen befinden?“, fragte er, immerhin wusste Shitaya von seiner Frau, dass Pink vom Krieg ausgeschlossen worden war, weshalb er zu Recht über ihr Dasein verwundert war; darüber, dass er sie ganz automatisch so nannte, wie seine Frau es tat, dachte er nicht nach. Pink schien es nicht zu stören, denn sie vertraute sich ihm sofort an:
„D-Doch schon, aber ich … habe mich verlaufen … und ich will zu Green-chan! Green-chan … ich spüre, dass sie in Gefahr ist … etwas Schreckliches wird geschehen!“, jaulte Pink mit zitternder Stimme.
„Unsere Hikari-sama ist nicht hier … und leider können wir ihr nicht zu Hilfe eilen.“
„A-Aber, warum denn nicht!? Ich … ich will zu Green-chan … ich will zu Green-chan!“ Ihr Jaulen wurde lauter und Shitaya war sich sicher, dass man es noch Korridore weiter hören konnte, so wie ihre schrille Stimme an den hohen Wänden widerhallte.
„Sshh, Pink-chan, ganz ruhig. Ich bin mir sicher, dass es Hikari-sama gut geht. Sie wird sich sicherlich gut schlagen, wo auch immer sie ist … vertrau ihr einfach.“
„Ja, du … du hast recht. Ich werde ihr vertrauen! Und i-ihr, ihr werdet das schon schaffen, denn … die ganzen Dämonen, die jetzt hier sind, die können hier doch nicht weg, o-oder? Die … die können doch gar nicht zurück in ihre Welt, weil … weil doch nur eine Seite des Bannkreises kaputt ist, oder?“ Das brachte Shitaya zum Schweigen und eine Spur Skepsis huschte über sein ohnehin schon angespanntes Lächeln.
„Du bist aber gut informiert.“
Beide Hände hatte er noch auf Pinks Schultern, als der Offizier plötzlich alarmiert herumwirbelte – doch da war nichts außer dem leeren Gang und Pinks schluchzender Erklärung, dass Tinami es ihr erzählt hatte, welche er nur mit halbem Ohr hörte. Warum hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, dass da jemand hinter ihm gestanden hatte? Jemand … mit der Absicht, ihn zu töten?
„Viele der Fürsten sind hier, oder Shitaya? Also, hier und nicht … bei Green-chan?“
„S-Sicherlich …“ Shitaya räusperte sich, als er bemerkte, dass er die Fassung noch nicht gänzlich wieder erlangt hatte, und wandte sich daraufhin wieder zur ängstlichen Pink zurück, die ihm allerdings zuvor kam, während sie ihr Hello Kitty Plüschtier fester an sich drückte: „Ich hab Angst, a-aber w-wenn die Fürsten nicht flüchten können, dann bedeutet das ja, dass wir sie besiegen können! Und dann ist der Krieg schnell vorbei, oder?“
„Leider ist das nicht gewiss. Der Bannkreis scheint komplett zerstört worden zu sein. Aber das solltest du lieber Hikari-sama fragen, wenn sie wieder zurückgekehrt ist.“ Daraufhin richtete sich Shitaya auf, nahm Pink bei der Hand und verkündete, dass er sie mitnehmen würde, denn er brachte es nicht über sein väterliches Herz, das weinende Mädchen alleine zurückzulassen und die Zeit drängte zu sehr, um sie in die Schutzräume zu bringen.
„Du musst nur versprechen, dass du Asuka-sama und mich nicht bei der Arbeit störst, hörst du, Pink-chan? Du musst ruhig sein, damit wir uns konzentrieren können.“ Pink nickte übereifrig und versprach, dass sie nicht stören würde, sondern ihnen in Gedanken still beistehen würde – und schon nahm Shitaya sie bei der Hand, woraufhin sie auch schon losliefen.
Hätte er sich beim Rennen herumgedreht, so hätte er sich wohl doch noch anders entschieden, denn das plötzlich sehr triumphierende Grinsen auf dem Gesicht des Mädchens wollte so gar nicht zu ihren Tränen passen.
Wieder einmal machte Ilang Bekanntschaft mit den Glassplittern der Fenster; dieses Mal allerdings freiwillig, denn lange war sie nicht auf den Boden der Teleportationshalle verharrt. Eilig war sie auf die Beine gesprungen; gerade noch rechtzeitig, um der Attacke des Dämons auszuweichen. Es waren drei sehr stämmige Dämonen, die es auf sie abgesehen hatten, da sie wohl erspüren konnten, dass sie eine Elementarwächterin war. Doch noch bevor sie sich darüber freuen konnten, eine gute Gegnerin gefunden zu haben, hatte Ilang die einzige Fluchtmöglichkeit gewählt und sich aus einem der Fenster geworfen.
Die Dämonen wollten ihr auch sofort freudig hinterherspringen, doch der Spaß sollte vorbei sein, ehe er für sie begonnen hatte, denn Azzazello kam hinzu:
„Verfolgt nicht einen einzelnen Wächter; viel wichtigerer ist jetzt, dass wir dieses Gebäude niederreißen.“ Alle drei wandten sich vom Fenster weg und ihnen war deutlich anzusehen, dass sie von dieser Idee nicht viel hielten:
„Aber hier sind doch gar keine Wächter mehr! Dann macht das Ganze doch gar keinen Spaß!“ Azzazello wollte davon gar nichts hören und hob tadelnd den Finger:
„Für die Wächter ist es ein Gebäude von politischer Wichtigkeit, deswegen ist es umso entscheidender, dass wir es vernichten, um ihre Effektivität zu mindern.“ Alle drei sahen sich kurz an und schienen sich ziemlich einig zu sein, dass keiner von ihnen sich für Effektivität interessierte, genauso wenig wie für die Zerstörung alter Gemäuer, wenn von innen keine Schreie zu hören waren. Einer von ihnen schien allerdings nicht gänzlich auf den Kopf gefallen zu sein und widersprach Azzazello daher:
„Es ist aber doch sicherlich genauso wichtig, ihren Anbau zu vernichten, oder? Da unten sind die Gewächshäuser.“ Offensichtlich war das wirklich ein Argument, welches ganz nach Azzazellos Geschmack war und dem stimmte er auch sofort erfreut zu:
„Das ist wirklich eine ganz fabelhafte Idee! Dann mach dich an die Arbeit!“ Als der Fürst dies sagte, wollten auch die anderen beiden ihrem Kumpanen helfen, doch das erregte sofort die Skepsis Azzazellos:
„Ich bezweifle, dass drei ausgewachsene Dämonen notwendig sind, um ein paar Pflanzen abzubrennen. Nein, nein, ihr werdet beim Abriss benötigt! Aber erst einmal sollten wir uns mal die Innenausstattung ansehen; das neue Kinderzimmer meiner Jüngsten braucht dringend etwas für die Wände. Vielleicht findet sich ja hier irgendwo ein hübsches Gemälde, das wäre doch was!“ Azzazello war bereits dabei, den Raum zu verlassen, was sicherlich auch gut war, denn die beiden übrig gebliebenen Dämonen warfen sich wütende Blicke zu.
„Vielleicht war Azzazellos Horde doch keine so gute Idee gewesen. Dieser Typ regt mich auf! Und wenn schon nicht zu Lycram, dann vielleicht zu Akai.“ Dem anderen war deutlich anzusehen, dass er einen erneuten Wechsel – denn sie waren noch nicht lange bei Azzazello tätig – langsam ebenfalls in Erwägung zog, aber auch dieses Mal schien er nicht von der Auswahl begeistert zu sein:
„Hast du denn nicht die Gerüchte über Akai gehört? Angeblich soll er gar nicht wirklich kämpfen können …“ Der Angesprochene wollte gerade erwidern, dass ein nicht kämpfen könnender Dämon immer noch besser war als ein Dämon, der keiner war – so wie der Fürst, der gerade wieder zurückgekommen war und sie nun dafür tadelte, dass sie zu langsam seien:
„In zwei Stunden will ich, dass dieses Gebäude in Schutt und Asche liegt. Also hopp hopp, meine Herren!“ Und um alles noch schlimmer zu machen, klatschte Azzazello doch obendrein auch noch beschwingt in die Hände. Zwar setzten sich die beiden Dämonen daraufhin in Bewegung, aber ihr Blick war eindeutig:
Akai. Definitiv Akai.
Tinami registrierte, wie ihr Namen gerufen wurde. Sie wusste nicht, von wem … sie konnte die Stimme nicht einordnen, die sie dazu aufforderte, ihre Hand auszustrecken. Sie konnte auch nicht beurteilen, ob ihr Körper dem Aufruf nachging, ob er ihm nachgehen konnte. Alles um sie herum war schwarz – hatte sie noch die Augen geschlossen, oder war wirklich alles um sie herum tiefste Nacht? Irgendetwas … irgendetwas hielt sie fest. Ihr Bein wurde nach unten gezogen, doch etwas anderes – vielleicht der Ursprung der Stimme? – hatte jetzt ihre Hand zu fassen bekommen, packte sie fest, zog an ihr und ---
Tinami spürte, wie sie die Augen öffnete; dennoch war alles um sie herum schwarz und sie fühlte sich schwach, sehr schwach. Das Ziehen an ihren Beinen war verschwunden, stattdessen blockierte sie eine ungeheure Schwäche und das Atmen fiel ihr nach wie vor schwer.
„Asuka-sama … Ihr müsst Euch ausloggen. Dringend.“ Obwohl Tinamis Sinne getrübt waren, erkannte sie die Stimme nun als die ihres Offiziers, doch sehen konnte sie ihn nicht. Nur seine Hand spürte sie, die immer noch die ihre hielt und obwohl sie nicht in der Lage war, ihren Blick zu fokussieren, verstand sie auf einmal intuitiv, was geschehen war. Ihr Körper hatte einen Herzstillstand erlitten und wohl nur überlebt, weil Shitaya gerade noch rechtzeitig gekommen war und sie mittels Mund-zu-Mund-Beatmung wieder zurück ins Leben geholt hatte … und ja, er hatte recht, sie musste ausloggen, aber wenn sie die Schwärze um sich herum richtig interpretierte, hatte sie sich lange genug ausgeruht …
„Danke … für deine Rettung, Shiya-kun. Aber ich kann jetzt nicht … ausloggen.“
Shitaya spürte, wie der Griff um seine Hand ein wenig fester wurde und schon versuchte Tinami sich hochzuziehen, ohne seine angebotene Hilfe anzunehmen.
„Es … es geht schon, danke.“ Sie stand aufrecht, doch das war auch alles.
„Nein, Asuka-sama, es geht nicht. Seid doch vernünftig! Ihr habt gerade einen Herzstillstand überlebt, fordert Euer Glück nicht ein weiteres Mal heraus und lasst mich in Eurem Namen diesen Dämon zur Strecke bringen.“ Tinami löste ihren Griff um Shitayas Hand, jedoch nur zögerlich, als fürchtete sie, dass sie ohne seinen Halt nicht stehen könnte und ihr Offizier machte sich auch bereit sie zu stützen, sollte sie es benötigen.
Langsam gewöhnten sich Tinamis Augen an die Dunkelheit um sie herum und Shitaya nahm Konturen an; auch sein besorgter Blick entfiel ihr nicht mehr und ja, sie wusste, dass seine Sorge berechtigt war. Dennoch wählte sie, nicht auf ihren Verstand zu hören.
„Ich denke, wir sollten lieber auf ein Two-Player-Match setzen.“ Ohne Shitayas Einverständnis abzuwarten, ließ Tinami ihren langen, goldenen Speer wieder erscheinen, dessen goldenes Licht unheimliche Schatten auf den Gesichtern der beiden Klimawächter entstehen ließ und deutlich offenbarte, wie schlecht es Tinami eigentlich ging, denn ihre Haut war außergewöhnlich blass. Doch sie grinste – und dieses Grinsen war es auch, welches Shitaya dazu brachte, die Diskussion aufzugeben. Mit einem eleganten Schwung seines rechten Armes tauchte auch in seiner Hand ein Speer auf, welcher ein exaktes Duplikat Tinamis war, nur dass der Schein seines Speers deutlicher strahlte und somit einen weitaus bedrohlicheren Eindruck machte – die Schwärze um sie herum schien von sich aus schon zu weichen.
„Aber überfordert Euch bitte nicht; lasst mir den Vortritt, Asuka-sama.“
„Darauf können wir uns einigen, Shiya-kun.“ Während diese Worte ausgetauscht wurden, hatten sich die Füße der beiden Wächter vom „Boden“ gelöst und waren hinaufgestiegen – ohne es besprochen zu haben, blieben sie exakt auf der gleichen Höhe stehen und ohne weitere Zeit zu vergeuden, wiederholten sie beide absolut zeitgleich, was bei Tinamis erstem Versuch gescheitert war. Beide Speere schossen wie goldene Pfeile durch den Raum, durchbohrten den Boden und---
Beide blinzelten überrascht, als wären sie soeben aus einem Trancezustand erwacht. Tinamis Atem ging schnell und unregelmäßig und ihr Herz schmerzte fürchterlich, doch sie und Shitaya konnten nichts anderes tun, als überrascht dem Computer beim Herunterfahren zuzugucken und auch als die riesige Maschine nach einigen Sekunden kompletten Schweigens mit neuer Energie das System hochfuhr, taten sie nichts anderes, als sich verdattert anzustarren, als wüssten sie nicht, was passiert war. Dieser Augenblick wahrte jedoch nur einen kurzen Augenblick, ehe die Gesichter der beiden aufstrahlten, nachdem die weibliche Stimme des Computers ein wohltuendes „Willkommen“ verkündet hatte und sie sich stürmisch um den Hals fielen.
„Wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft!“, rief Tinami glücklich und erleichtert, als hätten sie damit bereits den Krieg gewonnen. Obwohl den beiden natürlich klar war, dass sie den Sieg noch nicht errungen hatten, konnte auch Shitaya ein erfreutes Lächeln nicht zurückhalten, welches jedoch schnell ernst wurde, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten und beide den großen Bildschirm ansahen. Nachdem er sie willkommen geheißen hatte, verlangte er nun nach einem Passwort, welches Tinami freudig mittels der eingelassenen Tastatur eingab, womit das freudige Glücksgefühl sofort verschwand, denn sobald der Computer das Passwort entgegengenommen hatte, flimmerten sämtliche Bildschirme um sie herum auf – in einem grellen Rot, zusammen mit dem in der Sprache der Wächter geschriebenen Wort „WARNUNG“:
„WARNUNG. FEINDLICHE INDIVIDUEN AUF GEHEILIGTEM BODEN LOKALISIERT. WARNUNG. FEINDLICHE INDIVIDUEN …“ Der Computer fuhr fort immer und immer wieder die gleiche Mitteilung zu verkünden in einem endlosen, verspottenden Singsang, dem Tinami und Shitaya geschockt lauschten, als hätten sie es nicht vorher schon gewusst – und plötzlich überrollte Tinami erneut das Gefühl von Schuld, denn nur weil ihr System nicht effektiv genug gewesen war, hatte dies geschehen können … wie viele waren wohl schon gestorben … wie lange hatten sie gebraucht, um das System wiederherzustellen?
„Wir sollten zuerst das Kommunikationssystem wiederherstellen“, unterbrach Shitaya Tinamis düstere Gedanken. Anders als sie hatte er sich bereits wieder hingesetzt, bereit fortzufahren und sah nun über die Schulter zu ihr auf, wo er ein zögerndes Nicken als Antwort erhielt.
Erst als Shitayas Finger über die Tastatur rasten, bemerkte Tinami aus den Augenwinkeln Pink, welche abseits von ihnen stand und sie mit einem merkwürdig fern wirkenden Blick beobachtete:
„Pi-chan? Was … machst du denn hier?“, fragte Tinami verblüfft, doch obwohl Tinamis Stimme Pink aus ihren Gedanken zu wecken schien, war es Shitaya, der antwortete:
„Ich habe sie verwirrt draußen in den hierher führenden Korridoren gefunden und hielt es für das Klügste, sie mit hierher zu nehmen.“ Tinami nickte, doch aus einer ihr unbekannten Ursache konnte sie den Blick nicht von Pink abwenden, welche ihr Gesicht jetzt in ihrem Kuscheltier verbarg.
„Pi-chan, geht es dir gut?“
„Ja … ah. Ich mache mir nur so große Sorgen um Green-chan!“
„Wir werden sie gleich finden“, antwortete Tinami mit einem kleinen Anflug von einem Lächeln und mit dem Headset in der Hand wandte sie sich an Shitaya:
„Lass mich für alle hörbar sein – sobald ich unsere Mitwächter gewarnt habe, aktivieren wir die Barrieren wieder, sobald White-sama es befiehlt.“
Obwohl Nathiel kein Spezialist auf dem Gebiet der Computertechnik war und sich auch nicht sonderlich dafür interessierte, sah sie aus den Augenwinkeln immer mal wieder zu Karou, der starr wie eine Salzsäule neben ihr saß und seit mehr als einer halben Stunde nicht mehr geblinzelt hatte. Ausdruckslos starrte der Dämon auf die sich bewegenden Zeichen vor ihm auf den vielen verschiedenen Bildschirmen, ohne sie wirklich zu sehen, wie es ihr schien. Wenn Nathiel genauer hinsah, bemerkte sie ein beständiges Flimmern, welches vor seiner Linse ab und zu aufblitzte.
Nach fast mehr als einer Stunde bewegte er sich plötzlich wieder, indem er den Kopf schüttelte und als Nathiel sich ihm zuwandte, schlug Karou die Augen nieder und massierte sich mit geschlossenen Augen die Schläfen.
„Der größte Vorteil der Wächter ist ihre Fähigkeit, zu kooperieren.“ Nathiel grinste über diesen Kommentar, doch antwortete erst, nachdem Karou aus der Innerseite seines Ärmels ein kleines Flakon geholt hatte, welches eine zäh aussehende gelbe Flüssigkeit enthielt, die er sich in die Augen tröpfelte.
„Soll das bedeuten, dass Sie versagt haben?“, antwortete Nathiel mit einem schelmischen Grinsen, doch Karou war zu sehr mit seinen Augen beschäftigt, als dass er dies bemerkte.
„So würde ich es nicht definieren. Selbstverständlich wäre es zum Vorteil gewesen, wäre die Effektivität der Wächter weiterhin eingeschränkt, doch die Möglichkeit, dass ich in einem Kampf besiegt werden könnte, war in meine Pläne einkalkuliert und beeinträchtigt diese daher wenig.“ Nathiel wollte gerade antworten, als plötzlich die Tür aufgeschlagen wurde und ein verwirrter – aber wütender – König plötzlich in Karous Laboratorium stand, welcher den plötzlichen Besuch absolut nicht willkommen hieß und auch darüber verwundert war.
„Karou! Du … du … Arschloch du! Warum hast du mir das nicht gesagt?!“
„Lerou … Ich wüsste nicht, was ich dir nicht gesagt haben sollte“, antwortete Karou mit hochgezogenen Augenbrauen und einem genervten Gesichtsausdruck.
„Für dich immer noch „Hoheit!“, du verdammter Krüppel!“ Der Angesprochene knackte mit den Fingern seiner gesunden Hand und versuchte sich zu einem entspannten Lächeln zu bringen, woran er kläglich versagte.
„Gut … meine Hoheit. Was ist es, was Euer einfältiges Gehirn nicht verarbeiten kann?“ Es gab nur eine positive Sache an seinem Zwilling: Er bemerkte nicht, wenn man ihn beleidigte.
„Diese Hikarischlampe, White, oder wie auch immer die heißt … die ist da draußen und macht uns fertig!“ Karou seufzte erschöpft, ehe er genervt entgegnete:
„Sagt mir bitte nicht, dass Ihr Euch wieder irgendetwas gespritzt habt.“
„Ich gehe jedenfalls nicht hier weg, solange die da draußen ist!“
„Meine Hoheit … ich sehe es als meine Pflicht an, Euch darauf hinzuweisen, dass eine einmal gestorbene Hikari kein Problem für uns darstellt, da sie mit ihrem Tod ihre Lichtmagie verliert. Wobei „keine Gefahr“ relativ ist, aber das ist ein anderes Thema … Also geh gefälligst daraus und tu wenigstens so, als wärst du ein Machthaber!“
„Du kannst mich mal kreuzweise! Du kannst ja daraus gehen und noch mehr Arme verlieren!“ Karou war Worte wie diese selbstverständlich gewohnt, doch sie reichten immer wieder aus, um ihn zum Kochen zu bringen; die gesamte Situation reizte ihn und er bemerkte nicht einmal, dass Nathiel ihr Kinn beschwichtigend – oder herausfordernd – auf seine Schulter legte; zu sehr war er damit beschäftigt, seine Wut zu unterdrücken. Erst ihre betörend geflüsterten Worte lenkten ihn von dem dumm vor sich hingrinsenden Lerou ab:
„Karou-san, ihr Zwilling hat leider recht. Die ersten Dämonen sind bereits zurückgekehrt.“ Sofort war Lerou unwichtig und die gelben Augen Karous wandten sich nach rechts, zu dem vertrauten Anblick seiner geliebten Bildschirme, die ihm auch sofort die Aufklärung gaben und Nathiels Worte untermauerten.
Doch Whites Dasein war nicht das, was seine Gedanken beschäftigte, sondern die Tatsache, dass tatsächlich Dämonen zurückgekehrt waren – aber wie war das möglich? Nein, das war nicht die richtige Frage, denn er wusste, wie dies möglich sein konnte: Die Wächter hatten gegen jede Erwartung ihre Seite des Bannkreises ebenfalls deaktiviert. Natürlich hatte Karou diese Möglichkeit eingeplant, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie eintreten würde … immerhin hatten sie so einen Vorteil verspielt und setzten ihre Wächter somit Gefahr aus – eine Tatsache, die Karou Lerou wohlbemerkt verschwiegen hatte; ihm und allen anderen Dämonen, von denen er gehofft hatte, sie würden alle bei ihrem Blutrausch umkommen.
Karou biss sich auf die Unterlippe und schmeckte sofort den metallischen Geschmack seines eigenen Blutes auf der Zunge – damit war also der erste Schachzug gegen die Hohen erfolglos verlaufen.
Egal. Er würde dieses einfältige Pack noch anders loswerden.
Wäre doch auch zu langweilig gewesen, hätte Karou bereits beim ersten Zug alle Schachfiguren außer Gefecht gesetzt – ein Zug, der sowieso beinahe unmöglich gewesen war. Und anscheinend spielte noch jemand mit, wie er bemerkte, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Ri-Ils Horde rein zufällig in der Heimat geblieben war. Er schien etwas zu ahnen. Ha, natürlich kannte er Karous Ambitionen. Aber wie er diese zu verwirklichen gesuchte, das wusste er nicht. Ri-Il konnte nicht wissen, wie der Bannkreis funktionierte, obwohl er so viele verzweifelte Versuche unternommen hatte, ihn zu verstehen; sich sogar für eine kurze Weile mit Karou zusammengetan hatte. Tja, wäre er länger auf seiner Seite geblieben, dann wüsste er nun, was Karou wusste – doch nun war der Fürst nichts weiter als eine der Schachfiguren, die er vom Feld werfen musste. Zugegeben; eine der Stärksten. Vielleicht sogar die Dame.
Aber auch sie war nicht unbesiegbar.
Einige tausend Kilometer von Lerenien-Sei entfernt hörte Ri-Il ebenfalls die gleiche Nachricht, die sich gerade wie ein Lauffeuer unter den Dämonen verbreitete: White war wieder auf dem Schlachtfeld, im vollen Begriff ihrer Fähigkeiten.
„Das sind verdammt noch mal schlechte Nachrichten!“, sagte Darius, der oberste Kommandeur von Ri-Ils Horde und Ri-Il stellte schnell fest, dass er nervös aussah, von dem Bild her zu urteilen, welches er über den Bildschirm übermittelt bekam. Der Fürst zeigte sich jedoch nicht nervös; er zuckte ein wenig gleichgültig mit den Schultern und antwortete gelassen:
„Nocturn ist ebenfalls wieder zurückgekehrt. Kein Grund, so besorgt auszusehen, Darius-kun! Er macht einen famosen Blitzabfänger.“
„Ich kann Euren Worten nicht ganz folgen, Ri-Il-sama. Wie kommt Ihr auf Noctu-“
„Nein, und deswegen bist du ja auch ein hervorragender Kommandeur!“
„Oh, danke vielmals …“ Darius wurde ein wenig rot, denn offensichtlich verstand er den tieferen Sinn hinter Ri-Ils Worten nicht, der sich mit einem freundlichen Lächeln anhörte, wie froh Darius doch war, ihm dienen zu dürfen. Dieser Lobeshymne lauschte er nur mit einem halben Ohr, bis ihm plötzlich etwas in der Aufstellung seiner Horde auffiel und das freundliche Lächeln verschwand.
„Sag, Darius-kun …“
„Ja, Meister?“
„Sind Silver und Blue nicht zur Aufstellung erschienen? Ich kann sie nirgends sehen.“
„Oh! Nein, ich habe sie nicht gesehen. Ich bin daher davon ausgegangen, dass sie einen gesonderten Befehl von Euch erhalten hatten.“ Der Fürst antwortete nicht. Er hatte seine Augen geöffnet und starrte auf einen für Darius unbekannten Punkt, ohne zu blinzeln, plötzlich in Gedanken versunken. Gerade als sich Darius dazu entschied, dass er seinen Fürsten vielleicht aus diesen wecken sollte, kehrte Ri-Il von selbst zurück, und nachdem er seine Augen wieder geschlossen hatte, meinte er:
„Ja, stimmt, das habe ich.“ Verwirrt wurde der Fürst angesehen, doch er hatte nicht im Sinne, die offensichtlichen Fragen im Gesicht seines Heerführers zu beantworten. Stattdessen richtete er sich auf, wandte sich von ihm ab, doch sah über die Schulter zurück zu Darius:
„Bereite die Horde auf den Gegenangriff der Wächter vor. Es gelten die gleichen Gebote wie im letzten Krieg …“ Darius salutierte und unterbrach Ri-Il, indem er dessen Satz zu Ende führte:
„… zu versuchen, den Schaden der Kampfaktionen zu begrenzen, solange wir uns in unserem Gebiet befinden! Und natürlich das wichtigste Gebot: nicht zulassen, dass den Frauen des Gebietes und dem Nachwuchs etwas zustößt!“
„Wunderbar, Darius-kun, wunderbar.“ Ri-Il wollte gerade den Kommandoraum verlassen, als ihm noch eine Sache einfiel.
„Ein Gebot hast du allerdings vergessen, Darius-kun.“
„Oh, und das wäre?“ Der Fürst wandte sich herum und grinste seinen Kommandeur an:
„Ihr sollt natürlich Spaß haben.“
Nachdem die Barriere den Tempel wieder beschützend umgab, war White umgehend in die Kommandozentrale des Tempels zurückkehrt; anders als Minare, der sich seinem Bataillon angeschlossen hatte und sich mit diesem zusammen dorthin aufgemacht hatte, wo nun ihre Hilfe benötigt wurde; genau wie die anderen Wächter, womit der Tempel nun beinahe wächterleer war, bis auf die Mitglieder des Bataillons Elyssion, das auf weitere Befehle wartete. Entschlossen öffnete White die Tür zur Kommandozentrale und wurde sofort von den Bildschirmen begrüßt, die nun, da das System wieder betriebsbereit war, die aktuellen Kampfgegebenheiten zeigten und die Hikari dazu brachten, kurz innezuhalten, damit ihre Augen über diese gleiten konnten.
Die Aufnahmen aus Sanctu Ele’saces zeigten alle dasselbe Bild: Wächter und Dämonen, die sich bekämpften, in dem Dunkel der Straßen der so wunderschön gebauten Stadt, die mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ein anderer Bildschirm teilte ihr den momentanen Status des Sanctuarians mit, während ein anderer eine Karte von der Insel Sanctu Ele’saces zeigte, um den Wächtern in der Kommandozentrale einen Überblick zu verschaffen, wie viele Dämonen sich auf der Insel befanden und wie weit sie vorgedrungen waren. Da die Barrieren um Sanctu Ele’saces wieder aktiviert worden waren, kamen keine neuen Dämonen nach und sie hatten Glück, dass es „nur“ 33 Minuten gewesen waren, in denen die Dämonen ungehindert eindringen konnten – so waren die Wächter mittlerweile in der Überzahl, denn es waren nur um die 4660 Dämonen, die sich noch auf Sanctu Ele’saces befanden und die dort lebenden Wächter wurden nun von der Verstärkung aus dem Tempel unterstützt.
Auf Sanctu Ele’saces war die Lage stabil.
Doch anders sah es auf Min Intarsier aus. Hier waren zu Beginn zwar weniger Dämonen eingedrungen, doch da sie die Wächter im Schlaf überrascht hatten, war es ihnen gelungen, die Insel beinahe komplett einzunehmen. Just in dem Moment, in welchem White in den Raum gestürzt war, sah sie, wie die Außenmauern der dortigen Zentrale unter dem Jubel der Dämonen einstürzten und die Anzahl der toten Wächter stieg beständig.
Gerade als die Hikari einen Blick auf die Anzeige der toten Wächter blickte, stieg sie auf 531 an. Es befanden sich noch gut 2500 Dämonen auf Min Intarsier, die sich offensichtlich nicht dafür interessierten, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht zurückkehren konnten – vielleicht hatten sie es auch noch nicht bemerkt. Die Wächter, die gerade vom Tempel aus dort angekommen waren, hatten sich bereits in das Kampfgetümmel geworfen und kämpften nun darum, die Dämonen niederzuringen, um das zu retten, was sie noch retten konnten – auch weitere Sanitäterteams waren auf Min Intarsier eingetroffen. Denn Aores brauchte keine Befehle der Hikari, um zu handeln.
Dennoch war die Lage nicht stabil; nein, alles andere als. Zwei Fürsten befanden sich auf dem Boden Min Intarsiers und die hohe Anzahl an Dämonen beunruhigte White. Doch endlich zu wissen, wo Green sich befand, erleichterte sie. Nur noch ein paar Befehle trennten sie von ihr … sie musste nur noch ein wenig aushalten, dann würde ihre Mutter kommen.
„Tinami-san, Shitaya-san“, begann White ihre aufkeimende Sorge herunterschluckend und beide Klimawächter wandten sich ihrer Hikari zu, auf Befehle wartend.
„Ich werde mich gleich von Euch verabschieden, um meine Tochter vor Nocturn zu retten.“
„N-Nocturn?!“, entfuhr es beiden Klimawächtern schockiert.
„…Doch vorher gebt ihr bitte der Hälfte des Bataillons Zeranion das Kommando, dass sie sich nach Min Intarsier aufmachen soll…“ Doch der Befehl der Hikari wurde unterbrochen, als die Tür sich hinter ihr öffnete und noch ehe sie sich umdrehte, wusste sie, dass sie nicht mehr die einzige anwesende Hikari war: Shaginai, Adir, Hizashi und Seigi traten just in diesem Moment durch die Tür und sofort wollte Shaginai das Ruder an sich reißen. Er hatte bereits den Mund geöffnet, als er etwas sah, dass ihm die Sprache verschlug – und es waren nicht die Videoübertragungen, die der Grund für sein plötzliches Schweigen waren. Verwundert folgte White seinem Blick und entdeckte nun, dass Tinami und Shitaya gar nicht alleine im Kommandoraum gewesen waren.
„Pink, was machst du denn hier?“ Shitaya erklärte es ein weiteres Mal, doch Shaginai hörte ihm nicht zu. Er und Pink starrten sich an; und obwohl Pink ihr Gesicht halb hinter dem an sie gedrückten Kuscheltier verbarg und sich Mühe machte, unschuldig zu wirken, wusste Shaginai sofort, dass er nicht in die wegen des Krieges besorgten Augen seiner Enkelin starrte, sondern in die Augen eines Dämons, der nicht wusste, dass die beiden sich eigentlich nicht kannten.
Adir und White schienen Shaginais Sprachlosigkeit gänzlich anders zu deuten; wahrscheinlich erinnerten sie sich daran, dass Shaginai sich ihr bis jetzt noch nicht vorgestellt hatte und dass sein plötzliches Schweigen daher rührte, dass er auf so eine plötzliche Konfrontation nicht vorbereitet gewesen war. Doch ehe dem Dämon hinter Pinks Augen ebenfalls bewusst werden konnte, dass er falsch gehandelt hatte, wandte Shaginai sich ab, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Aber trotz Sicherheit war es an der Zeit, seiner Informationsbeschaffung ein Ende zu setzen.
„Kikou!“, begann er mit seiner felsenfesten Stimme und sofort wusste Shitaya, dass er ihn meinte, denn seine weißen Augen durchbohrten ihn:
„Bring das Mädchen sofort in den nächsten Schutztraum. Der Kommandoraum ist doch kein Ort für Kinder!“ Shitaya ließ sich von Shaginais Tonfall nicht einschüchtern; seine Verbeugung war angespannt, aber dennoch ruhig und ebenso ruhig erhob er seine Stimme:
„Wenn Ihr erlaubt, hochwohlgeborene Hikari, so würde ich Euch gerne einen Vorschlag unterbreiten.“ Adir schien erfreut über Shitayas ruhige Höflichkeit zu sein und antwortete lächelnd, dass er dies selbstverständlich tun dürfe.
„Aufgrund dessen, dass weder Grey-sama noch Hikari-sama anwesend sein können, bitte ich Euch darum, mir das Kommando über das Bataillon Elyssion zu übergeben, damit ich unsere Mitwächter auf Min Intarsier unterstützen kann, sobald ich Pink-san in die Schutzkammer geleitet habe. Mit der Erfahrung und dem Können Elyssions ist es gewiss, dass es uns gelingen wird, die Lage auf Min Intarsier zu stabilisieren.“ Dieses Mal war es nicht Adir, der antwortete, sondern Shaginai:
„Dann beweise, dass deine Worte nicht nur Schall und Rauch sind!“ Shitaya nickte, nahm Pink bei der Hand und verschwand auch schon aus dem Raum, aufmerksam von Shaginais Blick dabei beobachtet. Kaum, dass sie den Raum verlassen hatten, sagte er das, was ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte:
„Nun, da zwei Fürsten auf unserem Besitztum gefangen sind, ist die größte Priorität, diese auf der Stelle umzubringen! Gib sofort den Befehl an alle sich auf Min Intarsier befindenden Wächter, dass sie sich auf die beiden Fürsten konzentrieren sollen, anstatt deren Kleinvieh zu bekämpfen! Wir schlagen den Kopf der Schlange zuerst ab, dann sind deren Horden nichts als ein unkoordinierter Haufen.“ Von Shaginais Wortgewalt niedergemäht nickte Tinami sofort, doch ehe sie den Befehl durchgab, unterbrach sie Hizashi von diesem Vorhaben, der sich kurzerhand an den anderen Hikari vorbeigeschlängelt hatte und nun neben Tinami stand und sich in innerhalb von kurzer Zeit einen Überblick über dem momentanen Zustand verschuf:
„Sagt unseren Mitwächtern, dass sie sich auf Akai konzentrieren sollen. Azzazellos Horde ist klein und unbedeutend; sein Gebiet nicht von großer Wichtigkeit. Außerdem sprechen die Daten dafür, dass die Horde Akais momentan stärker auf Min Intarsier vertreten ist.“ Ein weiteres Mal nickte Tinami und ohne Umschweife gab sie genau den Befehl durch, den sie aufgetragen bekommen hatte, während Hizashi sich nun an Seigi wandte, welcher bis jetzt ungeduldig gewartet hatte.
„Seigi, folge dem Offizier und halte dich für weitere Befehle bereit.“ Mehr sagte Hizashi nicht, doch warf dem überraschten Seigi ein Kommunikationsgerät zu, mit der Aufforderung, es sich aufzusetzen und sich zu beeilen. Der Schwertkämpfer schien nicht sonderlich glücklich darüber zu sein, denn er hatte auf eine Schlacht in der Dämonenwelt gehofft – doch er fügte sich widerwillig, aber darauf hinweisend, dass die Fürsten ihm gehörten. Dann verschwand auch er.
Dass White ebenfalls nach Min Intarsier geschickt werden sollte, stand überhaupt nicht zur Debatte. Seigi war genug, und sobald Shaginai, Adir und Hizashi von White im Schnelldurchlauf erfuhren, was passiert war und dass Green, laut Inceres, bei Nocturn war, wurden sie sich schnell einig, dass White dringend ihre Tochter aus der Gefahrenzone befreien musste. Als White ihnen allerdings erzählte, dass Inceres aktiv dazu beigetragen hatte, dass der Bannkreis nun vollkommen nutzlos war, schwiegen sie einen Moment und warfen sich zweifelnde und skeptische Blicke zu, alle gefüllt mit der Frage, wieso er dies getan hatte.
Doch darüber würden sie sich später noch beraten können, sagte Shaginai, ehe er seine Tochter förmlich aus der Tür warf, mit den Worten, dass sie sich beeilen sollte – immerhin wusste niemand von ihnen, wie lange ihr Ecience-Körper existieren würde, wenn sie gleichzeitig ihre Lichtmagie einsetzte.
Normalerweise hielt Whites Ecience-Zustand vier Tage, plus-minus ein paar Stunden, doch der Ecience-Körper griff auf die Lichtressourcen zu und diese hatte sie nun bereits über einen längeren Zeitraum strapaziert. Was würde passieren, wenn sie eine zu mächtige Attacke einsetzte? Würde ihr Körper sich plötzlich auflösen? Sie wusste es nicht und diese Unsicherheit gefiel ihr nicht. Denn obwohl ihre schnellen Schritte sie zielsicher zu einem Teleportationspunkt brachten, spürte sie, wie sie nun langsam nervös wurde.
Welch Ironie. Tausend Schlachten konnte sie führen, ohne ein Zittern zu spüren; ohne den verräterischen Anflug von Angst. Doch Nocturn wieder gegenüberzutreten ließ die alten, verhassten Gefühle wieder aufflammen.
Es würde alles wiederkehren. Die Angst. Die Schuldgefühle. Die Sorge. Die Nocturne.
Die Nocturne.
Bald würde sie sie wieder hören.