Kapitel 109 - Hier kommt die Sonne
Rasputin hasste Ausflüge in die Menschenwelt.
Das dachte er allerdings nur; äußern tat er seine Beschwerden nicht, denn er kannte die Reaktion seiner Mutter und seines Vaters. Ja, natürlich sagte er, dass er deren Familienausflüge nicht mochte! Er war in dem Alter. Dem Alter, wo man nur das Kämpfen im Kopf hatte; den nächsten Kampf, den nächsten Wächter, dessen Blut man vergießen konnte. Der letzte Satz kam besonders oft dann, wenn es wieder hieß, Rasputin nähme sich Onkel Lycram zu sehr als Vorbild; er solle aufpassen, dass er sich nicht zu viel von ihm abguckte oder er wäre schon bald in große Schwierigkeiten und dafür sei er doch zu vernünftig... Lycram war ab und zu vielleicht ganz… eindrucksvoll – das gab Azzazello sogar zu – aber immer noch kein Vorbild.
Pah, wenn Lycram dabei wäre, wäre das Ganze auch nicht so eine Zeitverschwendung… aber er hatte die Einladung zum Frühstück in Moskau mit anschließendem Besuch im Zoo – im Zoo – mit einem Grinsen abgelehnt. Wer besuchte denn einen Zoo. Rasputin teilte diese Meinung, aber seine jüngeren Geschwister hatten die Zoo-Besuche in der Zeit der Bannkreis-Gefangenschaft so sehr vermisst, dass sie in den vergangenen Monaten mehr als 16 Mal dort gewesen waren. Ein paar Mal hatte Rasputin eine Ausrede gefunden, um nicht mitzukommen, aber heute war das Schmetterlingshaus nach einer Renovierung wieder eröffnet. Er selbst hasste Insekten. Aber Marie liebte Schmetterlinge.
„Und wenn es um Marie geht, wird Rasputin ganz weeeich!“, hörte Rasputin noch seine drei jüngsten Geschwister trällern, die drei, die im absolut nervigsten Alter waren, wo alles lustig war, alles aufregend und sie dauernd nur am Reden, Fliegen und Rumrennen waren. Auch jetzt musste Azzazello sie dauernd im Auge behalten um sicherzugehen, dass sie nur sprangen und rannten und nicht plötzlich durch die Luft flogen. Ihr Stammrestaurant – welches es war, weil sie eine Eistheke hatten, mit so viel Eis wie man wollte – war heute bis auf den letzten Platz mit Menschenfamilien gefüllt, was Rasputin dennoch nicht dazu bewegen konnte, seine Hörner unter einer Mütze oder einer anderen Kopfbedeckung zu verbergen. Sollten sich die Menschen doch wundern – das war ihm doch egal. Kein Dämon mit Stolz in der Brust versteckte seine Hörner!
Eigentlich hätten seine Eltern ihn schon längst darauf hinweisen sollen, aber weder seine Mutter noch sein Vater hatten es kommentiert. Sie wirkten angespannt, dachte Rasputin, während er und Marie sich das Prospekt des Zoos ansahen. Doch Rasputin hörte nur mit halbem Ohr, wie sehr sich Marie auf die Ausstellung der blauen Morphos freute. Sein Vater sah die ganze Zeit hinaus durch die große Fensterfront, als befürchtete er einen Angriff… aber sie trugen doch alle Auralöscher und keiner von ihnen hatte Magie eingesetzt; die Wächter sollten sie nicht finden können. War er nur mal wieder überbesorgt so wie immer…
„Es ist ganz schön dunkel“, raunte Marie ihrem großen Bruder mit ihrer ruhigen, stillen Stimme zu, die immer ruhig war, als müsste sie ein Kontrast zum Rest der Familie sein.
„Müsste die Sonne nicht schon da sein?“ Die Frage war kaum gestellt, da stand Rime auch schon auf.
„Wir brechen auf. Nachhause.“ Sie wechselte einen Blick mit ihrem Gatten, der ihr zustimmte, ohne es sagen zu müssen. Rasputin runzelte die Stirn, sah nach draußen auf die dunklen Straßen. Da war doch gar nichts…? Er hatte ein gutes Auragespür – von Azzazello geerbt, wie dieser sehr gerne sagte – aber er spürte gar nichts.
„Was, Mama? Jetzt schon? Aber, was ist mit den Schmetterlingen?“, fragte Marie sichtlich enttäuscht. Sie sagte es meistens nicht, überließ ihren jüngeren Geschwistern das Quengeln, aber Rasputin wusste, dass sie die Menschenweltausflüge besonders gerne mochte.
„Die werden warten müssen“, unterbrach Rime ihre älteste Tochter, die, wohlerzogen wie sie war, sofort schwieg – ihr jüngster Bruder tat es allerdings nicht.
„Aber ich hatte erst füüüünf Eis!“ Die Worte waren kaum ausgesprochen, da geschah es. Es traf nicht sie, sondern einen anderen Dämon draußen auf der Straße, auf der anderen Seite, gute 50 Meter von ihnen entfernt. Die Menschen sahen es nicht; sie sahen nicht wie das Licht einschlug wie eine Sternenschnuppe, die auf der Erde landete – aber auch die Menschen hörten den Schrei, das laute Kreischen der Schmerzen, als das Licht in den Körper des Dämons eindrang und ihn pulverisierte.
Das blanke Entsetzen lähmte Azzazellos Familie für eine Sekunde.
Dann packte Rime ihre drei Jüngsten, die jeden Gedanken an Eis vergaßen und sich in Panik an ihre Mutter klammerten; Rasputin griff nach Marie und Azzazello nach Rasputin--- weg, teleportieren, zurück nach Henel, so schnell wie möglich.
Doch es ging nicht.
Azzazello und Rime, die einander bei den Händen genommen hatten, während sie ihre Kinder mit der anderen an sich drückten, sahen einander umringt von stutzenden, glotzenden Menschen in einem kurzen Moment des Schreckens an.
Ihre Kinder. Egal was mit ihnen geschah, sie mussten ihre Kinder vor dem Licht retten. Sie nickten einander nicht zu; aber sie drückten die Finger des anderen fest – dann stürmten sie hinaus auf die Straße.
10 Meter, 20 Meter. Vorbei an verwirrten Menschen, über Autos hinweg, mit brennenden Kehlen und röter werdenden Augen. Teleportieren war auch noch nach 30 Metern nicht möglich---
„Mama! Mama! Es tut so weh!“
„Ich blute! Ich blute!“
„Vater, lass mich runter, ich fliege selbst!“
„Kommt überhaupt nicht---“ Dann kam noch eine Lichtkugel vom Himmel geschossen – und dieses Mal war Azzazello das Ziel. Er spürte es gerade noch rechtzeitig, um Rasputin und Marie von sich zu schleudern; unsanft, mit Schrammen und blutenden Augen prallten sie mit einem Schaufenster zusammen--
„AZZAZELLO!“ Rime blieb stehen, die leidenden, blutenden Kinder auf dem Arm. Sie wirbelte herum und sah ihren Mann am Boden, das Gesicht gänzlich bleich, aber noch am Leben – die Lichtkugel war ein paar Meter von ihnen entfernt eingeschlagen. Rime wollte aufatmen, bevor sie mit Entsetzen und sich überschlagenden Gedanken sah, dass das Licht trotzdem in Azzazellos rechtes Bein eingedrungen war. Es pulsierte und leuchtete in einem hellen Licht, ebenso wie die Straße unter ihm. Ein Licht so hell, so schmerzhaft.
Statt dem entsetzlichen Schmerz und der Angst nachzugeben, handelte Azzazello schnell genug – seine Fingerspitzen leuchteten blau auf und die verwirrten, geschockten Passanten wurden Zeuge davon, wie seine Fäden mit einem gezielten, gekonnten, ja, routinierten Schnitt sein rechtes Bein von seinem Leib trennten, ehe das Licht sich weiter emporarbeiten konnte und seine Organe verseuchte. Eine gewaltige Blutfontäne ergoss sich auf dem Boden; ergoss sich über das wertlose Stück Fleisch, das Azzazellos Bein gewesen war und sich schon auflöste, vom Licht zersetzt. Azzazello, blutend aus den Augen und aus dem Mund, wollte sich gerade an einem Auto hochhieven und scheiterte, als Rasputin mit einem Sprung bei seinem Vater war, um ihn zu stützen.
„Es ist nur ein Bein. Ich kann noch flie…“ Doch genau das konnte er nicht. Er konnte nicht fliegen. Sein Körper blieb steinern und blutend auf dem Boden, gekettet an einen Bürgersteig und mit immer mehr Blut, das wie ein roter Wasserfall auf den Boden rauschte. Mit blutenden Augen sah er Rime und seine Kinder an, von deren Gesichtern ebenfalls das Blut herunterlief; seine Sinne verschwammen, ihre Worte hörte er kaum. Er konnte nicht fliegen. Mit einem Bein konnte er seine Kinder nicht tragen. Seine Magie, sein Körper wurde von der Luft aufgefressen; die Aura seiner Kinder… Seine Kinder. Rime. Seine Familie.
Der Gedanke riss ihn aus den Schmerzen heraus. Er musste sie nach Henel bringen, koste es was es wolle. Er biss die Zähne zusammen, bündelte seine blau leuchtende, zuckende Magie in seinen Fingerspitzen und mit staunendem, rot verwischten Blick verstand Rasputin, was sein Vater deren Magie tun ließ: er verband die blau leuchtenden Fäden mit den Überresten seines Beinknochens, versteifte sie.
„Azza…“ Doch die Worte Rimes erreichten Azzazello nicht, der die Zähne immer noch zusammenbeißen musste, um dem Schmerz nicht nachzugeben – doch das war egal. Er stand aufrecht. Unsicher – doch er stand. Rennen würde er nicht können – aber springen. Seine Magieprothese würde ihn abfedern; und selbst wenn seine Konzentration brach und mit ihr das unechte Bein, so würde er sich wieder und wieder durchbeißen. Ächzend vor zuckendem Lichtintus packte er Rasputin und Marie, warf sich seinen Sohn auf den Rücken und nahm seine Tochter auf den Arm. Die Welt um sie herum hatte an Bedeutung verloren; er, der eigentlich immer darauf achtete, unter den Menschen nicht aufzufallen, dachte gar nicht an all die unterschiedlichen Augenpaare und die Handys, die auf sie gerichtet waren. Er dachte auch nicht an den Schmerz. In seinen Gedanken waren nur seine Frau und seine Kinder.
„Schnell.“ War das einzige, was er sagen konnte.
„Schneller!“ Nathiel staunte. So viel Betonung in Karous Stimme! So viel Gefühl! So viel Elan hörte sie ja kaum in der Kammer, zu der nur sie Zutritt hatte. Wäre sie nicht so überrascht, dann wäre sie wahrscheinlich erregt und eifersüchtig auf die blutenden und verseuchten Hordenmitglieder des Königs und irgendwelche Bürger aus Lerenien-Sei, die einer nach dem anderen in Karous Labor getragen wurden, als würde man hier einen Leichenberg bauen wollen.
„Schneller!“, äffte Nathiel Karou nach, allerdings klang ihre Stimme mehr amüsiert als alarmiert. Karou drehte sich zu ihr herum; sein Gesicht war ernster als sonst.
„Helfen Sie, anstatt rumzualbern.“ Nathiel, die rücksichtslos und desinteressiert Platz genommen hatte auf der Tastatur Karous und von den Bildschirmen hinter ihr erleuchtet wurde, blinzelte mit großen Augen, den Kopf eine Ahnung schief gelegt – nur kurz, dann ruckte ihr Kopf wieder in die Ausgangsposition zurück, als wäre sie eine Puppe.
„Seit wann wird denn hier unten „geholfen“?“ Ihre roten Augen glitten über die Verletzten: es waren bereits mehr als zwei Dutzend, die hereingetragen wurden von jenen, die noch gehen konnten und die nicht befallen waren. Starke Dämonen; Hordenmitglieder des Königs, erfahrene Kämpfer. Jetzt nur noch wimmernde Elende, verseucht vom Licht.
„In diesen Räumen werden doch eigentlich nur Kinder getötet“, flüsterte Nathiel mit starrem Blick. Karou hatte für dieses Thema keine Geduld.
„Assistieren Sie mir, wie Sie es früher getan haben oder ich werde Luzil holen.“ Diese Worte zeigten Wirkung: Nathiel hob den Kopf und rote Augen trafen auf gelbe.
„Luzil“, wiederholte Nathiel mit steifer Stimme, die Ungläubigkeit andeutete.
„Luzil – dieses dumme Weib…“
„Kann eine Kanüle Anti-Licht aufziehen und wenn Sie nicht wollen…“ Nathiel sprang von der Tastatur herunter und verlängerte die Fingernägel ihrer linken Hand, noch während dieser Bewegung. Karou machte sich dafür bereit, für seine Beleidung eine Stichattacke einzufahren, aber Nathiel zerschnitt nicht ihn – sie schnitt ihren Zopf in einer blitzschnellen Bewegung ab. Karou blinzelte und Nathiel stellte mit einem zufriedenen Lächeln fest, dass seine Körpertemperatur gestiegen war beim Anblick ihrer neuen Frisur, die eigentlich ihre alte war. Damals, als noch keine Kinder gestorben waren, Karou noch ein wenig mehr Gefühl hatte und Nathiel noch Spritzen verabreichte, anstatt sie selbst zu bekommen, hatte sie kurze Haare getragen.
„Dann wollen wir mal untypische Dinge tun und „Leben retten“.“
Fliehen. Fliehen so schnell wie möglich, so weit weg wie möglich – das war das Einzige, was Azzazellos Familie tun konnte, vom Licht verfolgt, mit mehr und mehr Blut, das floss. Das Wimmern der drei Kleinsten war verstummt. Ihre Gesichter waren blutverschmiert, ihre kleinen Körper, die dem Licht noch nie ausgesetzt gewesen waren, standen am Rande dessen, was sie aushalten konnten. Rime hielt sie fest im Arm, ihre Finger krallten sich in ihre Haare, während sie ihre spitzen Vorderzähne in ihre Unterlippe bohrte und einfach nur sprang, rannte, hinter ihr Azzazello, der trotz seines fehlenden Beines und der Menge Blut und Magie, die er verlor, weiter und weiter sprang, mit der röchelnden Marie auf dem Arm und Rasputin auf dem Rücken. Selbst er, das Älteste von den Kindern, war am Ende. Sie alle brauchten Anti-Licht. So schnell wie möglich.
Und dann – endlich. Endlich, nach etwas, was sich anfühlte wie eine Ewigkeit des Schmerzes und der Angst spürte Azzazello, dass das Teleportieren wieder möglich war. Rime nicht – sie rannte weiter, doch sie hielt abrupt inne, als ihr Mann ihren Arm packte und ohne weitere Worte zu verschwenden teleportierte er sie zurück nach Henel. In Sicherheit.
Die Luft und die Magie, die sich in dieser befand, nahm ihre Dämonen auf wie eine heilende Umarmung – doch der Teleport endete auf dem schmerzhaften, kalten Boden, wo Azzazello endlich mit einem Schmerzensschrei und dem letzten Funken seiner Magie zusammenbrach.
Ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, ertönte eine fremde, tiefe Stimme:
„Lycram-sama!“ Rime blinzelte und versuchte sich das Blut aus den Augen zu wischen – doch da war zu viel. Wieso hatte Azzazello sie in Lycrams Schloss…
„Ach du verfickte Scheiße!“ Lycram – zur Abwechslung der Einzige, der kein Blut im Gesicht hatte – sprang mit einem Satz über die Balkone der zweiten Etage und landete auf dem Boden seiner Eingangshalle.
„Wer hat euch denn so zugerichtet?! Warum fehlt dein Bein – was zur Hölle?! Das ist ja mal ein beschissener Schnitt, das kannst du ja wohl---“
„LYCRAM!“ Unterbrach Azzazello seinen Bruder mit einem lauten, kräftigen Schrei, der im Marmor der Säulen widerhallte.
„Die Kinder! Anti-Licht! BEEIL DICH!“ Erst da entglitt Lycram das bleicher werdende Gesicht. Kniend vor seinem Bruder weiteten sich seine orangenen Augen beim Anblick seiner Familie und jeder Funken Magie, der durch seine Adern lief, begann sich zu sträuben. Licht.
„Was ist…“ Azzazello packte Lycrams Kragen mit zitternden Fingern und unterbrach ihn.
„Sag mir--- dass du es noch hast--- sag mir, dass du genug hast---“ Tränen – echte Tränen, aus Verzweiflung und salziger Sorge – rannten von Azzazellos Wangen herunter, vermischten sich mit dem Blut.
„Sag mir, dass du genug Anti-Licht hast, um sie zu retten!“ Lycram antwortete nicht, doch sein eben noch bestürztes Gesicht wurde wieder fest. Entschlossen drückte er die Hand seines Bruders, dann richtete er sich auf, nahm Rasputin und Marie in den einen Arm und die kleinsten Drei in den anderen. Keiner von ihnen regte sich – alle hatten das Bewusstsein verloren. Nur das Blut tropfte und tropfte von ihnen herunter, verteilte sich über den Boden, als ihr Onkel in die zweite Etage hinaufflog, wo er sofort von einem seiner Hordenmitglieder in Empfang genommen wurde.
„Ich bekomme keinen Kontakt! Zu niemandem in der Menschenwelt! Nicht zu Ziritz, nicht zu Rai und--- und die Hohen, Lycram-sama, sie haben zu einer Eilkonferenz einberufen…“
„SCHEIß DRAUF! Ich will jeden verdammten Arzt hier haben - JEDEN - der sich in meinem Gebiet aufhält, verstanden?!“
„Das ist aber nur einer, Lycram-sama…“
„Dann eben nur der! Und jede verdammte Spritze Anti-Licht! Beeil dich, oder hast du keine Augen im Kopf?!“ Azzazello und Rime hörten das schon gar nicht mehr, obwohl Lycrams Stimme durch das ganze Schloss donnerte. Sie lagen beide auf dem Boden, mit den Gesichtern zueinander gewandt und Tränen aus Blut und Wasser auf den Boden tropfend. Rimes Augen flackerten, doch sie lächelte, erwiderte das Lächeln ihres Mannes.
Sie hatten es geschafft.
Derselbe Gedanke löste auch in Youma Erleichterung aus, als seine Lungen sich mit der kalten Luft füllten, die in Lacrimosas Gebiet vorherrschte. Auf dem eisigen Boden ihrer Eingangshalle gaben seine Knie nach; auch Nocturn konnte er nicht länger halten. Er rutschte auf den Boden, wo auch Blue und Feullé zusammenbrachen. Youmas Sichtfeld verschwamm; er hörte Stimmen, Schritte. Spürte Auren, Magie, Hände, die ihn packten und wollte eigentlich einfach nur bewusstlos werden; nicht an Licht denken, nicht an Hikaru, nicht an… Light.
„Nocturn-kun!“ Es traf Youma ein wenig, dass Lacrimosas Panik und Sorge scheinbar nur Nocturn galt. Sie hatte Nocturns Stellenwert… bei ihr… unterschätzt… Youma fluchte in sich hinein, biss die Zähne zusammen und befahl sich selbst, sich zusammenzunehmen. Sie waren in Sicherheit.
„Lacrimosa-san“, begann Youma, als er endlich wieder klar sehen konnte… oder konnte er? Er hatte das Gefühl, dass er Lacrimosa doppelt sah. Er musste mehrere Male blinzeln, um sie nur noch einmal zu sehen, neben ihm kniend. Ihr Blick jedoch galt Nocturn, dem sie die Haare aus dem gequälten Gesicht wischte. Ihre Berührung war sanft; ihr Blick besorgt – er hatte deren Band wirklich unterschätzt…
„In der Menschenwelt… die Luft…“ Verdammt, er konnte sich nicht klar artikulieren. Seine Gedanken rasten immer wieder zurück zu den Kristallen, zu seiner Mutter – zu Light. Sein Herz zitterte, sein Körper bebte und sein Glöckchen – oder das von Light? – fühlte sich heiß und schwer an an seiner Brust. Er hatte sich Light nur eingebildet… Es musste eine Einbildung gewesen sein. Wie sonst… Er konnte doch nicht--- nicht hier sein---? Youma hatte doch… er hatte ihn doch…
Lacrimosa hatte Youma gar nicht gehört, oder sie achtete nicht auf ihn. Befehle schossen durch die Halle, wo auch noch andere Dämonen waren. Sie kniete nun nicht mehr vor Nocturn, der immer noch vor Youma lag, sondern war bei Feullé – erst dann packte sie Youmas Gesicht und ihre kalten Hände an seinen Wangen zu spüren half ihm, sein schweres Glöckchen zu verdrängen.
„Ihr hattet Glück. Ihr hattet unverschämtes Glück. Andere… andere sehen viel schlimmer aus. Andere sind… tot. Viele sind tot. Youma-kun, hörst du?“ Youma nickte und als seine Augen sich wieder festigten, wieder schwarz wurden, huschte Lacrimosa ein leichtes Lächeln über die Lippen – doch es war nur kurz da, dann verengten sich ihre gelben Augen skeptisch.
„Warum blutest du nicht…?“ Youma befreite sich aus ihrem Griff, obwohl es gut tat ihre kalten Hände an seinen Wangen zu spüren. Doch er musste aufstehen. Er musste wieder einen Überblick bekommen. Nocturn, Feullé und Blue lagen alle drei noch auf dem Boden; alle ohne Bewusstsein, mit Blut, das ihnen aus den Mündern, aus den Ohren und aus den geschlossenen Augen lief. Ihr Atem ging schwer und röchelnd. Nur Nocturn lag ganz ruhig, mit leicht geöffneten Lippen. Youma leckte sich über seine, wie um festzustellen, dass er kein Blut schmeckte.
„Es soll… Vorteile haben, auch Wächterblut in sich zu tragen“, antwortete er und wusste nicht, ob das eine Lüge war oder nicht. Blutete er nicht, weil er das Blut seiner Mutter in sich trug, oder… weil Light…?
Ein heftiges Beben ging durch seine Glieder, bebte in seinen Augen nach und Youma musste sich seine Vorderzähne in die Lippen jagen, um sich von dem Namen seines Ziehvaters zu befreien. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht an ihn denken. NICHT.
„Entschuldigen Sie unser plötzliches Auftauchen, Lacrimosa-san… Ich wusste nicht, wo ich uns sonst hinbringen sollte.“ Er verneigte sich: mehr geschwächt als elegant.
„Ich bitte Sie darum, dass wir bei Ihnen Unterschlupf erhalten dürfen.“ Lacrimosa richtete sich ebenfalls auf; ernst, aber eine deutliche Erschütterung stand in ihren Augen geschrieben. Wie viele hatte sie mit blutenden Augen sterben gesehen?
„Selbstverständlich.“ Youma wollte schon aufatmen, da streckte Lacrimosa den Finger aus und zeigte auf Blue:
„Aber ihn nicht.“ Ihr Blick wurde kälter, als betrachtete sie ein abscheuliches Insekt.
„Warum hast du ihn mit hierher genommen? Warum hast du ihn nicht einfach sterben lassen?“ Youma zögerte, sah auf Blue hinab und wurde sich bewusst, dass er keine Antwort kannte – jedenfalls keine, die Lacrimosa zufriedenstellen würde.
„Er ist für Nocturn wichtig“, antwortete er ohne jegliche Überzeugung. Lacrimosa zischte abfällig und mit entsetztem Blick sah Youma, dass eine Eisschicht sich um ihre Finger bildete. So sehr verabscheute sie ihn? Dass sie ihn umbringen wollte? Einfach so, während er sich nicht wehren konnte?
„Nocturn-kun kann sich andere Spielzeuge suchen.“ Die Worte waren kaum ausgesprochen, da stellte sich Youma zwischen sie und Blue.
„Nein, Lacrimosa-san.“ Die Augenbrauen der Eisfürstin hoben sich argwöhnisch und ihre Stimme war eisig, als sie antwortete:
„Du erteilst mir Befehle, Youma? In meinem Schloss? Ich töte wen auch immer ich will, egal welche Gedanken dich auch irreführen mögen.“ Youma sollte sie einfach gewähren lassen. Was interessierte ihn Blues Leben? Er mochte ihn nicht einmal und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Wenn er nicht mehr in ihrer Wohnung in Paris wäre, dann wäre das im Grunde genommen eine Erleichterung für ihn.
Dennoch.
„Ich… ich bitte Sie. Lassen Sie ihn am Leben.“ Lacrimosa wurde noch argwöhnischer und die Luft von Eis erfüllt. Ein falsches Wort und das Eis würde sich zu tödlichen Lanzen verwandeln.
„Du bittest für – ihn? Für einen ehemaligen Spion von Ri-Il? Du willst unser nächster König werden und du bittest für einen niederträchtigen Wurm?“ Sie schnalzte mit der Zunge:
„Wer weiß, ob er das nicht immer noch ist? Er ist eine Schlange, die du zertreten solltest - nicht eine, die du in Schutz nehmen solltest.“
„Sie haben Recht. Das ist das, was getan werden sollte.“ Dennoch trat Youma nicht zur Seite, denn da war ein kleines „aber“ in seinem Kopf – es schallte laut… untermalte das Bild des alptraumgeplagten Blues, den Youma mehr als einmal in der Nacht in der Küche getroffen hatte… mit Augen, die die gleiche Schuld dunkel färbte, wie seine – eine Schuld, die ihn verfolgte. Bei Tag und bei Nacht.
Youma straffte den Rücken, atmete kurz ein und festigte seinen Blick:
„Er könnte womöglich noch zu etwas anderem zu gebrauchen sein, als hier zu sterben.“ Eisige Kälte trennte sie und Youma wusste, dass er im Begriff war, große Sympathiepunkte bei ihr zu verlieren… und dass bei einer Frau wie ihr, bei der diese Sympathie Gold wert war.
Doch sie ließ ab.
„Du bist wirklich mehr Wächter als Dämon.“ Ohne ihm die Möglichkeit zu geben darauf zu antworten, drehte sie sich herum und ging, als würde der Anblick Youmas sie anwidern.
Der angehende König biss sich auf die Unterlippe. Das war nicht…
„… E-Engelsflügel.“ Von diesem geflüsterten Wort aus seinen Gedanken geweckt drehte Youma sich herum und sah auf Nocturn herunter. Er war immer noch ohne Bewusstsein, doch sein Gesicht hatte sich verändert – er sah aus, als hätte er einen Albtraum.
„… große… Schwingen…“ Nur kurz runzelte Youma die Stirn – bis die Erkenntnis und das Entsetzen sein Gesicht weiß färbte.
Light. Er sprach von Light. Er hatte Light auch gesehen. Nicht nur Youma hatte Light… auch Nocturn… auch Nocturn hatte Light gesehen. Hatte gesehen, wie er sie gerettet hatte.
Youma schlug sich die Hand vor den Mund, geriet ins Taumeln.
Es war keine Einbildung gewesen.
Light hatte sie gerettet.
Ein schwerer Atem drang aus Fireys Kehle. Der Atem hatte ihr gestockt und sie hatte vergessen, dass sie diesen zum Überleben benötigte, als würde der Körper von der geballten Macht an Magie, die sie in diesen Moment erlebt hatte, am Leben gehalten werden. Als wäre sie kein Mensch mehr, sondern ein gänzlich magisches Wesen, außerweltlich und von ihrem Element beherrscht.
Aber das war sie nicht und die Schmerzen ihres allzu menschlichen Körpers erinnerten sie daran, dass sie aus Fleisch und Blut bestand. Das Gold von Greens Kettenschmuck, welcher von ihr abgesprungen und durch den Saal gefetzt war, hatte ihre Arme aufgerissen und ihr Gesicht. Blut rann Firey über die Augenlider, denn eines der Bruchstücke hatte ihre Stirn zerkratzt. Kleine rosa Scherben steckten in ihren Oberschenkeln und in ihrer Schulter, die vom Wind aufgescheuert waren. Ihr weißes Gewand war zerrissen, feucht und klebte an ihrer Haut, ebenso wie ihre Haare es taten. Dennoch starrte Firey genau wie die anderen Elementarwächter Green an. Fireys Mund war leicht geöffnet, ihre Augen starrten groß und geweitet auf die Gestalt ihrer besten Freundin, die in diesem Moment nicht mehr aussah wie… „Green“.
Gebadet in eine Säule aus gleißendem Licht, als wurde sie vom Sonnenlicht selbst gesegnet, stand Green auf den Überresten ihres Podestes. Ihre nackten Füße standen auf dem grauen Felsen, der immer noch glühte, und leicht schwebte ihre Kleidung um sie herum, als wehe eine sanfte Brise, die auch ihre Haare wehen ließ, die befreit und hell einen Halbkreis um die Hikari bildeten. Sie hatte den Kopf leicht erhoben und ihn in den Nacken gelegt und mit einem gänzlich ruhigen Gesichtsausdruck sah sie empor in das Licht, in welches sie als einzige hineinblicken konnte. Sie blinzelte nicht, so wie Firey es tun musste, um das Licht aushalten zu können. Fireys Sichtfeld war recht verschwommen und unwirklich: Regentropfen liefen immer noch über ihr Gesicht und auch das Blut beschwerte ihre Sicht, aber sie glaubte dennoch… nein, sie war sich sicher…
Greens Augen waren weiß.
Sie waren weiß wie die Augen einer Hikari.
Wieder stockte Firey der Atem, dabei tat Green nichts anderes als ihren rechten Arm empor zu heben zum Licht. Jede Bewegung, jede noch so kleine Bewegung Greens, wie das kurze Senken ihrer Augenlider, war erfüllt von einer unglaublichen Heiligkeit, als hätte sie sich selbst an einem anderen Ort, in einer anderen Welt zurückgelassen und obwohl Firey eingenommen war von ihrer Faszination, spürte sie… dass Sorge und Angst in ihr empor klommen. Greens… Glöckchen war zerstört… das… das hatte sie doch richtig gesehen…?
Ein plötzliches Rascheln, ein leises Klirren lenkte Fireys Aufmerksamkeit auf etwas anderes als Green und ihre empor gestreckte Hand und genau wie die anderen Elementarwächter begann sie sich nach dem Ursprung dieses Geräusches umzusehen, welches von überall herzustammen schien, aus jedem Winkel der Halle, wie ein kleines, stilles Orchester. Die Augen der Feuerwächterin weiteten sich erstaunt: Es waren die Überbleibsel des goldenen Schmucks, die dieses Geräusch verursachten. Jedes kleine Teil, jedes noch so kleine Überbleibsel klapperte gegen den Stein unter sich; begann zu leuchten und ehe Firey verstand, was geschah, sausten die kleinen goldenen Stücke auf Green zu, auf ihre Hand - wie kleine Glühwürmchen. Fireys Augen weiteten sich noch mehr, als das Licht sich auf Greens ausgestreckter Hand bündelte, die goldenen Überreste erstrahlen ließ und Green mit einem leichten Aufseufzen die Augen schloss.
Was dann geschah, geschah so unglaublich abrupt, dass Firey im ersten Moment nicht verstand, was geschehen war, als wäre sie in kaltes Wasser geworfen worden – das Licht verschwand, als wäre es plötzlich Nacht geworden und der leichte Wind starb dahin, als Green plötzlich zusammensackte.
Firey war zu überrumpelt von dem plötzlichen Wechsel, von der plötzlichen Düsternis um sie herum, dass sie noch verwirrt blinzelte, als Saiyon schon an ihr vorbeigeflogen war und Green auffing, ehe sie zu Boden stürzen konnte. Sie fiel in seine ausgestreckten Arme und regungslos fiel ihr Kopf in den Nacken, doch selbst dann war es noch nicht Firey, die auf Green zulief: es war Kaira, dann eine schreiende Pink. Firey rannte nicht. Ihre Beine schienen sich nicht mehr bewegen zu können. Sie war… gelähmt. Von etwas… nein, von allem, was passiert war.
Und gänzlich gelähmt, außerstande etwas anders zu tun als zu lauschen, tat sie genau das und ihr Herz japste erleichtert auf, als Saiyon die ersehnten Worte sagte:
„Sie lebt. Sie atmet.“ Das, was Firey nun über die Wangen rann, waren keine verirrten Regentropfen mehr, es waren Tränen der Erleichterung. Zum Glück… zum Glück. Green lebte… sie hatten es alle überlebt. Diese Götterwut. Sie… sie hatte nicht daran geglaubt.
„Aber wie ist das möglich?“, fragte Kaira, die sich den Arm hielt. War er gebrochen…?
„Ihr Glöckchen ist zersprungen…“ Firey war etwas erleichtert, Kairas Stimme zu hören, denn auch sie klang mitgenommen und wenn Kaira mitgenommen klang, dann musste Firey sich nicht dafür schämen, dass sie sich fühlte, als wäre ihre Seele aus dem Körper gezogen worden.
„Kannst du stehen, Firey?“ Es war Yuuki, der zu Firey gekommen war und ihr die Hand hinreichte, obwohl er selbst aussah, als müsste er darum kämpfen aufrecht stehen zu bleiben. Aber es ging ihm gut, ebenso wie Azuma, der hinter Yuuki stand. Ihm hatte etwas schier den gesamten rechten Ärmel weggerissen und sein rechter Arm sah aus, als hätte er ihn in einen Eimer von Blut getaucht.
„Wir sehen alle ziemlich scheiße aus“, antwortete er mit einem schiefen Grinsen, als hätte er Fireys Gedanken gelesen.
„Aber wir leben.“ Firey nahm Yuukis Hand und ließ sich auf die Beine helfen.
„Und das ist das wichtigste, oder?“ Yuuki nickte bestätigend und es tat so unglaublich gut, ihn zu sehen, seine braunen Augen, wieder wach und klar, so wie sie sein sollten… und sie spürte auch, dass er zitterte. Aber das tat sie auch.
„Ob es normal ist, dass man nach der Weihe erstmal ins Krankenhaus muss?“ Yuuki wandte sich an Azuma:
„Ich denke, diese Weihe war alles andere, aber garantiert nicht normal.“
… Light…?
Keine Frage, sondern ein Hoffen. Ein Flehen. Eine Sehnsucht.
Light war es doch, der sie erwählt hatte, oder nicht…? Sie wollte Silence sagen können, dass ihr Licht warm war und dass Light ihr seinen Segen gegeben hatte. Sie wollte seinen Beistand auf ihrem Weg. Sie wollte von ihm beschützt werden und sein Licht einsetzen. Ihr Licht sollte nicht… sollte nicht… kalt sein. Sie würde sich schämen, wenn sie Silence gegenüberstehen würde und mit einem entschuldigenden Lächeln sagen müsste, dass es Hikaru war, die sie erwählt hatte. Sie könnte ihr nicht mehr in die Augen blicken. Es wäre ein Verrat. Ein Verrat an Silence. An ihrer Freundschaft.
Light… bitte…
Doch es folgte keine Antwort auf ihr Flehen. Alles war ruhig und alles war ertaubt. Sie fühlte sich überaus entkräftet und das Hoffen darauf, dass es Light war, der ihr Flehen beantwortete, entkräftete sie weiter. Sie wollte unbedingt von Light erwählt worden sein. Sie hatte sich immer so mit ihm verbunden gefühlt, schon bevor Silence und sie Freundinnen geworden waren. Doch vielleicht… vielleicht war das heuchlerisch gewesen. Sie hatte mit ihm sympathisiert, weil er gegen das Hikari-Regime war; weil er wie sie… damals… auf der Seite der Dämonen stand. Auf welcher Seite stand sie heute?
Das ist die Frage, nach deren Antwort du streben musst.
Ein Stoß ging durch Greens Körper und ihre Hände zuckten. Light! Sie hatte es nur ganz schwach vernommen, aber sie war sich sicher, dass es seine Stimme gewesen war. Es musste seine gewesen sein!
… die Zeit spielt gegen dich. Ich befürchte… es beginnt… bald… doch ein Geschenk… eine Gabe… werde ich dir…
Was? Was würde bald beginnen? Was für ein Geschenk? Light musste klarer reden, ansonsten würde Green ihn nicht verstehen können, aber sie spürte bereits, dass das nicht möglich sein würde – ihre Verbindung war bereits dabei zu zerreißen. Er war… woanders. Nicht mehr hier, nicht mehr bei ihr, nicht mehr in ihr. Bedeutete das… dass er sie nicht gewählt hatte?
Light, das ist nicht wahr… oder? Ich bin nicht wie Hikaru! Ich bin es wirklich nicht!
Sie erhielt keine Antwort; nur Schweigen und sie hatte das Gefühl, dass dieses Schweigen nicht daher rührte, dass die Bindung gelöst worden war, sondern weil… er nicht antworten wollte. Green sah ihn nicht: sie sah nichts, nur eine flackernde Leere und doch hatte sie das Gefühl, dass sie verurteilend angesehen wurde. Sie wollte seinen Namen schreien: Worte schreien, die ihren Gefühlen Form geben sollten; ihrer Abneigung Hikaru gegenüber, ihrem Willen zu Light zu gehören, aber sie konnte es nicht. Die Wirklichkeit packte sie und zog sie zurück.
Schmerzhaft flatterten ihre Augenlider, als sie diese öffnete.
Sie lag in den Armen von jemandem: jemanden mit braungebrannter Haut. Saiyon. Er hielt sie im Arm. Sie hörte Kairas Stimme, unwirsch wie immer, aber ihre Worte verstand sie nicht. Sie spürte die Auren der anderen Elementarwächter und sie spürte Pink, die ihre Hand hielt. Hinter Saiyon… stand Ryô. Seine Augen waren die ersten, die sie klar sehen konnte: seine warmen Augen und sein warmes, erleichtertes Lächeln, als Green an Saiyon vorbeisah und den Tempelwächter ihres Bruders ansah. Ohne ihn hätte sie es nicht geschafft. Ohne ihn würden sie alle nicht leben: Sie hätte gar nichts ohne ihn geschafft.
„Green!“ Firey und Saiyon riefen Greens Namen beinahe gleichzeitig – und sie verstummten gleichzeitig, genau wie die anderen, als ihre Hikari die rechte Hand ausstreckte und diese in die Luft erhob, denn sie hatte etwas anderes Goldenes entdeckt, etwas Kleines… etwas, das hoch über ihnen im Saal schwebte. Ein Glöckchen ohne Flügel.
Ohne Worte löste Green sich von Saiyon und ihre linke Hand glitt geräuschlos aus Pinks heraus. Ihr Verlobter wollte sie stützen, aber auch wenn sie etwas unsicher auf den Beinen war, gebot sie ihm mit einer simplen Geste ihrer linken Hand Abstand einzunehmen ebenso wie Ryô es tat. Schweigend beobachteten sie alle, wie Green sich erhob und die Hand für das Glöckchen öffnete, als es sich langsam senkte. Sachte leuchtete es in einem hellen Schein, der die Düsternis der Halle verdrängte: ein angenehmes Licht, welches Green jedoch auch leichte Angst einjagte, umso näher es ihrer Hand kam.
Jetzt würde sie es herausfinden: wie die Götter gewählt hatten.
Damals… in einem anderen Leben, als sie ihr Glöckchen das erste Mal berührt hatte und das Siegel ihrer Magie gesprengt worden war, da war das Licht warm gewesen. Sie erinnerte sich genau daran. Sie hatte Angst gehabt, aber das Licht hatte sie beruhigt, als würde es sie umarmen. Wie würde es sich jetzt anfühlen…? Das Glöckchen kam immer näher und Green spürte, dass sie die Luft anhielt, genau wie die anderen Elementarwächter es taten, deren Augen alle auf ihrer Hikari lagen. Ob sie sahen, dass Green zitterte?
Doch das Glöckchen berührte Green nicht. Es schwebte auf ihre Handfläche hernieder und gerade, als es eben über dieser war, verwandelte es sich vor Greens Augen zu einem Stab – ihrem neuen Stab. Lang und mächtig sah er aus; aus goldenem Licht geschmiedet, mit einer schweren, sehr robust aussehenden Kugel als Spitze und einer Länge von fast zwei Metern. Er senkte sich in Greens Hand hinab und ein Stoß ging durch sie, als sie weder Wärme noch Kälte spürte, sondern brennende Hitze. War das… ein gutes… Zeichen?
Der Stab fühlte sich eigenartig an in ihren Händen, als sie nun beide Hände um das blanke Material legte und das Gefühl hatte, dass sie verbrannt wurde. Es fühlte sich nicht angenehm an. Nicht so, wie als würde sie die Hand eines Freundes nehmen, der sie im Kampf unterstützen würde – sondern mehr… wie eine Waffe.
„Nun ist die Weihe vollbracht.“ Green war überrascht und auch etwas erschrocken darüber, dass es Itzumis Stimme war, die die erhabene, aber auch beklemmende Stille brach und verwirrt drehte Green sich mit ihrem Stab herum, welchen sie senkte und dabei das Gefühl hatte, dass dieser sie herunterziehen würde.
„Die Weihe ist beendet.“
„Gut!“, antwortete Azuma, als hätte Itzumi mit ihm geredet.
„Können wir dann auch hier raus? Ich brauche mehr als nur ein Pflaster.“ Green drehte sich wieder herum und sah mit einer drückenden Beklemmung in der Brust vom einen zum anderen. Sie sahen alle danach aus, als benötigten sie mehr als nur ein Pflaster und auch Green begann ihre Schmerzen langsam wieder zu spüren.
„Es tut mir leid. Wirklich, aus tiefstem Herzen…“ Green sah jedem ins Gesicht und sie war sehr überrascht, dass Ilang die einzige war, die wegsah.
„Es war nicht meine Absicht, euch in Gefahr zu bringen.“ Sie sah auch zu Itzumi und Ryô.
„Auch euch nicht…“ Azuma wollte sie gerade wieder daran erinnern, dass sie verdammt nochmal ein Krankenhaus brauchten, als Kaira vortrat. Feierlich, wie ein Ritter trat sie vor Green, die immer noch auf dem Überbleibsel ihres Podestes stand und damit leicht erhöht war. Kaira sah sie lange an; prüfte sie mit den Augen, wie Green das Gefühl hatte, und sie konnte sich nicht gegen wachsende Nervosität wehren. Egal ob Green nun eine geweihte Hikari war oder nicht, Kairas Augen waren nach wie vor beängstigend.
„Du hast uns alle verdammt.“ Green biss die Lippen zusammen und war schon im Begriff wie ein geschlagenes Kind den Kopf zu senken, aber so verschaffte man sich bei Kaira keinen Respekt, weshalb sie sich Mühe gab, standzuhalten.
„Aber du hast uns auch gerettet. Ohne dich wären wir tot.“ Azuma wollte gerade sagen, dass sie ohne Green ja auch gar nicht erst in Gefahr geraten wären, aber Fireys Blick ließ ihn verstummen, welche scheinbar seine Gedanken gelesen hatte.
„Du verdienst es, dass wir dich alle schlagen solange wir noch hier sind und uns niemand verurteilen kann…“, fuhr Kaira fort und Shitaya sah sie entsetzt an. Was sagte sie denn da zu deren Hikari?!
„… aber ich denke, ich spreche für uns alle, wenn wir es dabei belassen.“ Green seufzte erleichtert auf, auch wenn sie sah, dass es gewiss nicht für alle galt. Ilang sah weiterhin weg, als hätte sie mit dem Ganzen gar nichts zu tun.
„Erstmal.“ Greens bleiches Gesicht zu sehen schien Kaira zu erheitern und sie konnte ein kleines, schiefes Grinsen nicht unterdrücken, welches Green noch mehr angst und bange werden ließ.
„Ich möchte Green-chan nicht hauen…“
„Ha…Danke, Pink…“
„Ich finde…“, begann nun auch Firey:
„… dass du ganz schön Mut bewiesen hast, den Göttern die Stirn zu bieten.“
„Man könnte es auch Hochmut nennen“, antwortete Kaira mit skeptischen Augen: ein Kompliment würde sie Green garantiert nicht geben.
„Könnten wir jetzt endlich mal ins Sanctuarian?! Ich verblute hier noch!“ Man mochte nicht oft auf Azuma hören, aber dieses Mal waren sich alle einig: Er war immerhin nicht der einzige, der tiefe Wunden hatte. Sie alle hatten tiefe Wunden davongetragen, wie Green deutlich sehen konnte, während Saiyon ihr helfend die Hand hinhielt und Green sie annahm, um wieder festen Boden unter den nackten Füßen zu erhalten.
„Azuma hat recht.“ Alle waren überrascht, eine solche Aussage zu hören – am allermeisten Azuma selbst – aber Green war eher überrascht darüber, wer es gesagt hatte, wer endlich mal irgendetwas sagte, denn es war Ilang.
„Ich möchte wissen, dass es unserem Kind gut geht.“ Erst da bemerkte und verstand Green, weshalb Ilang ihre Hand über ihrem leicht rundlichen Bauch hielt. Natürlich… sie musste nicht nur auf sich selbst Acht geben, sondern auch auf ihr ungeborenes Kind.
„Moment“, begann Green, als alle bis auf Saiyon, der weiterhin ihre Hand hielt, ihr bereits den Rücken zugekehrt hatten.
„Ich bin jetzt eine geweihte Hikari.“ Sie sah auf ihren neuen Stab herab.
„Da werde ich euch ja wohl heilen können!“ Sofort hoffte sie, dass sie nicht zu viel versprochen hatte und dass sie diesen Worten gerecht werden konnte, aber ihr Stab glühte so heiß und kochend, dass diese Gedanken schnell verflogen. Sie hatte nun die Macht dazu. Sie konnte nun heilen; richtig, so wie ihre Mutter es getan hatte. Dafür hatte sie die Weihe doch gemacht, damit sie nicht mehr nur die dumme, unreine Hikari war, die nichts tun konnte und die nicht im Stande dazu war, irgendjemanden zu retten oder zu beschützen.
Sie löste sich von Saiyons Hand und legte diese zurück an ihren neuen Stab, ehe sie die Augen schloss – und da war es… ein komisches, fremdartiges Gefühl, welches sie vor diesem Tag noch nie gespürt hatte. Sie spürte ihre Elementarwächter, sie alle. Sie spürte ihr Leben und ihren Herzschlag. Jeden Schlag, jeden Atemzug. Sie spürte nicht mehr ihre Gefühle – jedenfalls nicht so stark wie während der Weihe – aber die Verbindung war noch da. Als wären sie alle eins geworden.
Und dann rannten Green Tränen der Erleichterung über die Wangen; in dem Moment, als das Licht sich aktivierte und die Wunden ihrer Elementarwächter heilte. Da spürte sie es: das Licht war warm.
Light hatte sie gewählt!
„Green…“, flüsterte Saiyon, als seine Verlobte die tränenden Augen wieder öffnete.
„… deine Augen.“ Sanft und mit einem dankbaren Lächeln strich er ihr die Tränen von der Wange, ohne zu fragen wo sie herrührten.
„Sie sind wieder blau.“
„… waren sie…“ Green musste schlucken, um ihre Befangenheit herunterschlucken zu können.
„… etwa anders?“ Saiyon nickte leicht.
„Für einen Moment waren sie weiß und du… wirktest anders.“ Sie… hatte anders gewirkt? Nun, sie fühlte sich auch anders. Aber das war jetzt eigentlich gar nicht so wichtig; jedenfalls nicht genau jetzt, in diesem Moment. Jetzt war sie einfach nur überglücklich, dass ihr Licht warm war und dass sie ihre Elementarwächter und Ryô und Itzumi geheilt hatte. Jetzt war es vorbei. Jetzt war es wirklich vorbei. Jetzt konnten sie diese schreckliche Halle verlassen und nie wieder hierhin zurückkehren. Sie kehrte ihr den Rücken zu, genau wie die Elementarwächter und die beiden Tempelwächter es taten, die den Geweihten mit gebührendem Abstand hinausfolgten, sich einen Blick zuwerfend, den wohl nur die Zwillinge verstehen konnten. Niemand drehte sich herum. Niemand warf noch einen letzten Blick auf den einsam Wartenden, dessen tiefblaue Augen Green mit leichtem Lächeln folgten.
Erinnerst du dich, Green?
Meine ersten Worte an dich, mein Schmetterling?
Green drehte sich genau in dem Moment herum, als das Tor sich mit einem Donnern schloss.
Befreie uns mit deinen sehenden Augen.
Das dachte er allerdings nur; äußern tat er seine Beschwerden nicht, denn er kannte die Reaktion seiner Mutter und seines Vaters. Ja, natürlich sagte er, dass er deren Familienausflüge nicht mochte! Er war in dem Alter. Dem Alter, wo man nur das Kämpfen im Kopf hatte; den nächsten Kampf, den nächsten Wächter, dessen Blut man vergießen konnte. Der letzte Satz kam besonders oft dann, wenn es wieder hieß, Rasputin nähme sich Onkel Lycram zu sehr als Vorbild; er solle aufpassen, dass er sich nicht zu viel von ihm abguckte oder er wäre schon bald in große Schwierigkeiten und dafür sei er doch zu vernünftig... Lycram war ab und zu vielleicht ganz… eindrucksvoll – das gab Azzazello sogar zu – aber immer noch kein Vorbild.
Pah, wenn Lycram dabei wäre, wäre das Ganze auch nicht so eine Zeitverschwendung… aber er hatte die Einladung zum Frühstück in Moskau mit anschließendem Besuch im Zoo – im Zoo – mit einem Grinsen abgelehnt. Wer besuchte denn einen Zoo. Rasputin teilte diese Meinung, aber seine jüngeren Geschwister hatten die Zoo-Besuche in der Zeit der Bannkreis-Gefangenschaft so sehr vermisst, dass sie in den vergangenen Monaten mehr als 16 Mal dort gewesen waren. Ein paar Mal hatte Rasputin eine Ausrede gefunden, um nicht mitzukommen, aber heute war das Schmetterlingshaus nach einer Renovierung wieder eröffnet. Er selbst hasste Insekten. Aber Marie liebte Schmetterlinge.
„Und wenn es um Marie geht, wird Rasputin ganz weeeich!“, hörte Rasputin noch seine drei jüngsten Geschwister trällern, die drei, die im absolut nervigsten Alter waren, wo alles lustig war, alles aufregend und sie dauernd nur am Reden, Fliegen und Rumrennen waren. Auch jetzt musste Azzazello sie dauernd im Auge behalten um sicherzugehen, dass sie nur sprangen und rannten und nicht plötzlich durch die Luft flogen. Ihr Stammrestaurant – welches es war, weil sie eine Eistheke hatten, mit so viel Eis wie man wollte – war heute bis auf den letzten Platz mit Menschenfamilien gefüllt, was Rasputin dennoch nicht dazu bewegen konnte, seine Hörner unter einer Mütze oder einer anderen Kopfbedeckung zu verbergen. Sollten sich die Menschen doch wundern – das war ihm doch egal. Kein Dämon mit Stolz in der Brust versteckte seine Hörner!
Eigentlich hätten seine Eltern ihn schon längst darauf hinweisen sollen, aber weder seine Mutter noch sein Vater hatten es kommentiert. Sie wirkten angespannt, dachte Rasputin, während er und Marie sich das Prospekt des Zoos ansahen. Doch Rasputin hörte nur mit halbem Ohr, wie sehr sich Marie auf die Ausstellung der blauen Morphos freute. Sein Vater sah die ganze Zeit hinaus durch die große Fensterfront, als befürchtete er einen Angriff… aber sie trugen doch alle Auralöscher und keiner von ihnen hatte Magie eingesetzt; die Wächter sollten sie nicht finden können. War er nur mal wieder überbesorgt so wie immer…
„Es ist ganz schön dunkel“, raunte Marie ihrem großen Bruder mit ihrer ruhigen, stillen Stimme zu, die immer ruhig war, als müsste sie ein Kontrast zum Rest der Familie sein.
„Müsste die Sonne nicht schon da sein?“ Die Frage war kaum gestellt, da stand Rime auch schon auf.
„Wir brechen auf. Nachhause.“ Sie wechselte einen Blick mit ihrem Gatten, der ihr zustimmte, ohne es sagen zu müssen. Rasputin runzelte die Stirn, sah nach draußen auf die dunklen Straßen. Da war doch gar nichts…? Er hatte ein gutes Auragespür – von Azzazello geerbt, wie dieser sehr gerne sagte – aber er spürte gar nichts.
„Was, Mama? Jetzt schon? Aber, was ist mit den Schmetterlingen?“, fragte Marie sichtlich enttäuscht. Sie sagte es meistens nicht, überließ ihren jüngeren Geschwistern das Quengeln, aber Rasputin wusste, dass sie die Menschenweltausflüge besonders gerne mochte.
„Die werden warten müssen“, unterbrach Rime ihre älteste Tochter, die, wohlerzogen wie sie war, sofort schwieg – ihr jüngster Bruder tat es allerdings nicht.
„Aber ich hatte erst füüüünf Eis!“ Die Worte waren kaum ausgesprochen, da geschah es. Es traf nicht sie, sondern einen anderen Dämon draußen auf der Straße, auf der anderen Seite, gute 50 Meter von ihnen entfernt. Die Menschen sahen es nicht; sie sahen nicht wie das Licht einschlug wie eine Sternenschnuppe, die auf der Erde landete – aber auch die Menschen hörten den Schrei, das laute Kreischen der Schmerzen, als das Licht in den Körper des Dämons eindrang und ihn pulverisierte.
Das blanke Entsetzen lähmte Azzazellos Familie für eine Sekunde.
Dann packte Rime ihre drei Jüngsten, die jeden Gedanken an Eis vergaßen und sich in Panik an ihre Mutter klammerten; Rasputin griff nach Marie und Azzazello nach Rasputin--- weg, teleportieren, zurück nach Henel, so schnell wie möglich.
Doch es ging nicht.
Azzazello und Rime, die einander bei den Händen genommen hatten, während sie ihre Kinder mit der anderen an sich drückten, sahen einander umringt von stutzenden, glotzenden Menschen in einem kurzen Moment des Schreckens an.
Ihre Kinder. Egal was mit ihnen geschah, sie mussten ihre Kinder vor dem Licht retten. Sie nickten einander nicht zu; aber sie drückten die Finger des anderen fest – dann stürmten sie hinaus auf die Straße.
10 Meter, 20 Meter. Vorbei an verwirrten Menschen, über Autos hinweg, mit brennenden Kehlen und röter werdenden Augen. Teleportieren war auch noch nach 30 Metern nicht möglich---
„Mama! Mama! Es tut so weh!“
„Ich blute! Ich blute!“
„Vater, lass mich runter, ich fliege selbst!“
„Kommt überhaupt nicht---“ Dann kam noch eine Lichtkugel vom Himmel geschossen – und dieses Mal war Azzazello das Ziel. Er spürte es gerade noch rechtzeitig, um Rasputin und Marie von sich zu schleudern; unsanft, mit Schrammen und blutenden Augen prallten sie mit einem Schaufenster zusammen--
„AZZAZELLO!“ Rime blieb stehen, die leidenden, blutenden Kinder auf dem Arm. Sie wirbelte herum und sah ihren Mann am Boden, das Gesicht gänzlich bleich, aber noch am Leben – die Lichtkugel war ein paar Meter von ihnen entfernt eingeschlagen. Rime wollte aufatmen, bevor sie mit Entsetzen und sich überschlagenden Gedanken sah, dass das Licht trotzdem in Azzazellos rechtes Bein eingedrungen war. Es pulsierte und leuchtete in einem hellen Licht, ebenso wie die Straße unter ihm. Ein Licht so hell, so schmerzhaft.
Statt dem entsetzlichen Schmerz und der Angst nachzugeben, handelte Azzazello schnell genug – seine Fingerspitzen leuchteten blau auf und die verwirrten, geschockten Passanten wurden Zeuge davon, wie seine Fäden mit einem gezielten, gekonnten, ja, routinierten Schnitt sein rechtes Bein von seinem Leib trennten, ehe das Licht sich weiter emporarbeiten konnte und seine Organe verseuchte. Eine gewaltige Blutfontäne ergoss sich auf dem Boden; ergoss sich über das wertlose Stück Fleisch, das Azzazellos Bein gewesen war und sich schon auflöste, vom Licht zersetzt. Azzazello, blutend aus den Augen und aus dem Mund, wollte sich gerade an einem Auto hochhieven und scheiterte, als Rasputin mit einem Sprung bei seinem Vater war, um ihn zu stützen.
„Es ist nur ein Bein. Ich kann noch flie…“ Doch genau das konnte er nicht. Er konnte nicht fliegen. Sein Körper blieb steinern und blutend auf dem Boden, gekettet an einen Bürgersteig und mit immer mehr Blut, das wie ein roter Wasserfall auf den Boden rauschte. Mit blutenden Augen sah er Rime und seine Kinder an, von deren Gesichtern ebenfalls das Blut herunterlief; seine Sinne verschwammen, ihre Worte hörte er kaum. Er konnte nicht fliegen. Mit einem Bein konnte er seine Kinder nicht tragen. Seine Magie, sein Körper wurde von der Luft aufgefressen; die Aura seiner Kinder… Seine Kinder. Rime. Seine Familie.
Der Gedanke riss ihn aus den Schmerzen heraus. Er musste sie nach Henel bringen, koste es was es wolle. Er biss die Zähne zusammen, bündelte seine blau leuchtende, zuckende Magie in seinen Fingerspitzen und mit staunendem, rot verwischten Blick verstand Rasputin, was sein Vater deren Magie tun ließ: er verband die blau leuchtenden Fäden mit den Überresten seines Beinknochens, versteifte sie.
„Azza…“ Doch die Worte Rimes erreichten Azzazello nicht, der die Zähne immer noch zusammenbeißen musste, um dem Schmerz nicht nachzugeben – doch das war egal. Er stand aufrecht. Unsicher – doch er stand. Rennen würde er nicht können – aber springen. Seine Magieprothese würde ihn abfedern; und selbst wenn seine Konzentration brach und mit ihr das unechte Bein, so würde er sich wieder und wieder durchbeißen. Ächzend vor zuckendem Lichtintus packte er Rasputin und Marie, warf sich seinen Sohn auf den Rücken und nahm seine Tochter auf den Arm. Die Welt um sie herum hatte an Bedeutung verloren; er, der eigentlich immer darauf achtete, unter den Menschen nicht aufzufallen, dachte gar nicht an all die unterschiedlichen Augenpaare und die Handys, die auf sie gerichtet waren. Er dachte auch nicht an den Schmerz. In seinen Gedanken waren nur seine Frau und seine Kinder.
„Schnell.“ War das einzige, was er sagen konnte.
„Schneller!“ Nathiel staunte. So viel Betonung in Karous Stimme! So viel Gefühl! So viel Elan hörte sie ja kaum in der Kammer, zu der nur sie Zutritt hatte. Wäre sie nicht so überrascht, dann wäre sie wahrscheinlich erregt und eifersüchtig auf die blutenden und verseuchten Hordenmitglieder des Königs und irgendwelche Bürger aus Lerenien-Sei, die einer nach dem anderen in Karous Labor getragen wurden, als würde man hier einen Leichenberg bauen wollen.
„Schneller!“, äffte Nathiel Karou nach, allerdings klang ihre Stimme mehr amüsiert als alarmiert. Karou drehte sich zu ihr herum; sein Gesicht war ernster als sonst.
„Helfen Sie, anstatt rumzualbern.“ Nathiel, die rücksichtslos und desinteressiert Platz genommen hatte auf der Tastatur Karous und von den Bildschirmen hinter ihr erleuchtet wurde, blinzelte mit großen Augen, den Kopf eine Ahnung schief gelegt – nur kurz, dann ruckte ihr Kopf wieder in die Ausgangsposition zurück, als wäre sie eine Puppe.
„Seit wann wird denn hier unten „geholfen“?“ Ihre roten Augen glitten über die Verletzten: es waren bereits mehr als zwei Dutzend, die hereingetragen wurden von jenen, die noch gehen konnten und die nicht befallen waren. Starke Dämonen; Hordenmitglieder des Königs, erfahrene Kämpfer. Jetzt nur noch wimmernde Elende, verseucht vom Licht.
„In diesen Räumen werden doch eigentlich nur Kinder getötet“, flüsterte Nathiel mit starrem Blick. Karou hatte für dieses Thema keine Geduld.
„Assistieren Sie mir, wie Sie es früher getan haben oder ich werde Luzil holen.“ Diese Worte zeigten Wirkung: Nathiel hob den Kopf und rote Augen trafen auf gelbe.
„Luzil“, wiederholte Nathiel mit steifer Stimme, die Ungläubigkeit andeutete.
„Luzil – dieses dumme Weib…“
„Kann eine Kanüle Anti-Licht aufziehen und wenn Sie nicht wollen…“ Nathiel sprang von der Tastatur herunter und verlängerte die Fingernägel ihrer linken Hand, noch während dieser Bewegung. Karou machte sich dafür bereit, für seine Beleidung eine Stichattacke einzufahren, aber Nathiel zerschnitt nicht ihn – sie schnitt ihren Zopf in einer blitzschnellen Bewegung ab. Karou blinzelte und Nathiel stellte mit einem zufriedenen Lächeln fest, dass seine Körpertemperatur gestiegen war beim Anblick ihrer neuen Frisur, die eigentlich ihre alte war. Damals, als noch keine Kinder gestorben waren, Karou noch ein wenig mehr Gefühl hatte und Nathiel noch Spritzen verabreichte, anstatt sie selbst zu bekommen, hatte sie kurze Haare getragen.
„Dann wollen wir mal untypische Dinge tun und „Leben retten“.“
Fliehen. Fliehen so schnell wie möglich, so weit weg wie möglich – das war das Einzige, was Azzazellos Familie tun konnte, vom Licht verfolgt, mit mehr und mehr Blut, das floss. Das Wimmern der drei Kleinsten war verstummt. Ihre Gesichter waren blutverschmiert, ihre kleinen Körper, die dem Licht noch nie ausgesetzt gewesen waren, standen am Rande dessen, was sie aushalten konnten. Rime hielt sie fest im Arm, ihre Finger krallten sich in ihre Haare, während sie ihre spitzen Vorderzähne in ihre Unterlippe bohrte und einfach nur sprang, rannte, hinter ihr Azzazello, der trotz seines fehlenden Beines und der Menge Blut und Magie, die er verlor, weiter und weiter sprang, mit der röchelnden Marie auf dem Arm und Rasputin auf dem Rücken. Selbst er, das Älteste von den Kindern, war am Ende. Sie alle brauchten Anti-Licht. So schnell wie möglich.
Und dann – endlich. Endlich, nach etwas, was sich anfühlte wie eine Ewigkeit des Schmerzes und der Angst spürte Azzazello, dass das Teleportieren wieder möglich war. Rime nicht – sie rannte weiter, doch sie hielt abrupt inne, als ihr Mann ihren Arm packte und ohne weitere Worte zu verschwenden teleportierte er sie zurück nach Henel. In Sicherheit.
Die Luft und die Magie, die sich in dieser befand, nahm ihre Dämonen auf wie eine heilende Umarmung – doch der Teleport endete auf dem schmerzhaften, kalten Boden, wo Azzazello endlich mit einem Schmerzensschrei und dem letzten Funken seiner Magie zusammenbrach.
Ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, ertönte eine fremde, tiefe Stimme:
„Lycram-sama!“ Rime blinzelte und versuchte sich das Blut aus den Augen zu wischen – doch da war zu viel. Wieso hatte Azzazello sie in Lycrams Schloss…
„Ach du verfickte Scheiße!“ Lycram – zur Abwechslung der Einzige, der kein Blut im Gesicht hatte – sprang mit einem Satz über die Balkone der zweiten Etage und landete auf dem Boden seiner Eingangshalle.
„Wer hat euch denn so zugerichtet?! Warum fehlt dein Bein – was zur Hölle?! Das ist ja mal ein beschissener Schnitt, das kannst du ja wohl---“
„LYCRAM!“ Unterbrach Azzazello seinen Bruder mit einem lauten, kräftigen Schrei, der im Marmor der Säulen widerhallte.
„Die Kinder! Anti-Licht! BEEIL DICH!“ Erst da entglitt Lycram das bleicher werdende Gesicht. Kniend vor seinem Bruder weiteten sich seine orangenen Augen beim Anblick seiner Familie und jeder Funken Magie, der durch seine Adern lief, begann sich zu sträuben. Licht.
„Was ist…“ Azzazello packte Lycrams Kragen mit zitternden Fingern und unterbrach ihn.
„Sag mir--- dass du es noch hast--- sag mir, dass du genug hast---“ Tränen – echte Tränen, aus Verzweiflung und salziger Sorge – rannten von Azzazellos Wangen herunter, vermischten sich mit dem Blut.
„Sag mir, dass du genug Anti-Licht hast, um sie zu retten!“ Lycram antwortete nicht, doch sein eben noch bestürztes Gesicht wurde wieder fest. Entschlossen drückte er die Hand seines Bruders, dann richtete er sich auf, nahm Rasputin und Marie in den einen Arm und die kleinsten Drei in den anderen. Keiner von ihnen regte sich – alle hatten das Bewusstsein verloren. Nur das Blut tropfte und tropfte von ihnen herunter, verteilte sich über den Boden, als ihr Onkel in die zweite Etage hinaufflog, wo er sofort von einem seiner Hordenmitglieder in Empfang genommen wurde.
„Ich bekomme keinen Kontakt! Zu niemandem in der Menschenwelt! Nicht zu Ziritz, nicht zu Rai und--- und die Hohen, Lycram-sama, sie haben zu einer Eilkonferenz einberufen…“
„SCHEIß DRAUF! Ich will jeden verdammten Arzt hier haben - JEDEN - der sich in meinem Gebiet aufhält, verstanden?!“
„Das ist aber nur einer, Lycram-sama…“
„Dann eben nur der! Und jede verdammte Spritze Anti-Licht! Beeil dich, oder hast du keine Augen im Kopf?!“ Azzazello und Rime hörten das schon gar nicht mehr, obwohl Lycrams Stimme durch das ganze Schloss donnerte. Sie lagen beide auf dem Boden, mit den Gesichtern zueinander gewandt und Tränen aus Blut und Wasser auf den Boden tropfend. Rimes Augen flackerten, doch sie lächelte, erwiderte das Lächeln ihres Mannes.
Sie hatten es geschafft.
Derselbe Gedanke löste auch in Youma Erleichterung aus, als seine Lungen sich mit der kalten Luft füllten, die in Lacrimosas Gebiet vorherrschte. Auf dem eisigen Boden ihrer Eingangshalle gaben seine Knie nach; auch Nocturn konnte er nicht länger halten. Er rutschte auf den Boden, wo auch Blue und Feullé zusammenbrachen. Youmas Sichtfeld verschwamm; er hörte Stimmen, Schritte. Spürte Auren, Magie, Hände, die ihn packten und wollte eigentlich einfach nur bewusstlos werden; nicht an Licht denken, nicht an Hikaru, nicht an… Light.
„Nocturn-kun!“ Es traf Youma ein wenig, dass Lacrimosas Panik und Sorge scheinbar nur Nocturn galt. Sie hatte Nocturns Stellenwert… bei ihr… unterschätzt… Youma fluchte in sich hinein, biss die Zähne zusammen und befahl sich selbst, sich zusammenzunehmen. Sie waren in Sicherheit.
„Lacrimosa-san“, begann Youma, als er endlich wieder klar sehen konnte… oder konnte er? Er hatte das Gefühl, dass er Lacrimosa doppelt sah. Er musste mehrere Male blinzeln, um sie nur noch einmal zu sehen, neben ihm kniend. Ihr Blick jedoch galt Nocturn, dem sie die Haare aus dem gequälten Gesicht wischte. Ihre Berührung war sanft; ihr Blick besorgt – er hatte deren Band wirklich unterschätzt…
„In der Menschenwelt… die Luft…“ Verdammt, er konnte sich nicht klar artikulieren. Seine Gedanken rasten immer wieder zurück zu den Kristallen, zu seiner Mutter – zu Light. Sein Herz zitterte, sein Körper bebte und sein Glöckchen – oder das von Light? – fühlte sich heiß und schwer an an seiner Brust. Er hatte sich Light nur eingebildet… Es musste eine Einbildung gewesen sein. Wie sonst… Er konnte doch nicht--- nicht hier sein---? Youma hatte doch… er hatte ihn doch…
Lacrimosa hatte Youma gar nicht gehört, oder sie achtete nicht auf ihn. Befehle schossen durch die Halle, wo auch noch andere Dämonen waren. Sie kniete nun nicht mehr vor Nocturn, der immer noch vor Youma lag, sondern war bei Feullé – erst dann packte sie Youmas Gesicht und ihre kalten Hände an seinen Wangen zu spüren half ihm, sein schweres Glöckchen zu verdrängen.
„Ihr hattet Glück. Ihr hattet unverschämtes Glück. Andere… andere sehen viel schlimmer aus. Andere sind… tot. Viele sind tot. Youma-kun, hörst du?“ Youma nickte und als seine Augen sich wieder festigten, wieder schwarz wurden, huschte Lacrimosa ein leichtes Lächeln über die Lippen – doch es war nur kurz da, dann verengten sich ihre gelben Augen skeptisch.
„Warum blutest du nicht…?“ Youma befreite sich aus ihrem Griff, obwohl es gut tat ihre kalten Hände an seinen Wangen zu spüren. Doch er musste aufstehen. Er musste wieder einen Überblick bekommen. Nocturn, Feullé und Blue lagen alle drei noch auf dem Boden; alle ohne Bewusstsein, mit Blut, das ihnen aus den Mündern, aus den Ohren und aus den geschlossenen Augen lief. Ihr Atem ging schwer und röchelnd. Nur Nocturn lag ganz ruhig, mit leicht geöffneten Lippen. Youma leckte sich über seine, wie um festzustellen, dass er kein Blut schmeckte.
„Es soll… Vorteile haben, auch Wächterblut in sich zu tragen“, antwortete er und wusste nicht, ob das eine Lüge war oder nicht. Blutete er nicht, weil er das Blut seiner Mutter in sich trug, oder… weil Light…?
Ein heftiges Beben ging durch seine Glieder, bebte in seinen Augen nach und Youma musste sich seine Vorderzähne in die Lippen jagen, um sich von dem Namen seines Ziehvaters zu befreien. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht an ihn denken. NICHT.
„Entschuldigen Sie unser plötzliches Auftauchen, Lacrimosa-san… Ich wusste nicht, wo ich uns sonst hinbringen sollte.“ Er verneigte sich: mehr geschwächt als elegant.
„Ich bitte Sie darum, dass wir bei Ihnen Unterschlupf erhalten dürfen.“ Lacrimosa richtete sich ebenfalls auf; ernst, aber eine deutliche Erschütterung stand in ihren Augen geschrieben. Wie viele hatte sie mit blutenden Augen sterben gesehen?
„Selbstverständlich.“ Youma wollte schon aufatmen, da streckte Lacrimosa den Finger aus und zeigte auf Blue:
„Aber ihn nicht.“ Ihr Blick wurde kälter, als betrachtete sie ein abscheuliches Insekt.
„Warum hast du ihn mit hierher genommen? Warum hast du ihn nicht einfach sterben lassen?“ Youma zögerte, sah auf Blue hinab und wurde sich bewusst, dass er keine Antwort kannte – jedenfalls keine, die Lacrimosa zufriedenstellen würde.
„Er ist für Nocturn wichtig“, antwortete er ohne jegliche Überzeugung. Lacrimosa zischte abfällig und mit entsetztem Blick sah Youma, dass eine Eisschicht sich um ihre Finger bildete. So sehr verabscheute sie ihn? Dass sie ihn umbringen wollte? Einfach so, während er sich nicht wehren konnte?
„Nocturn-kun kann sich andere Spielzeuge suchen.“ Die Worte waren kaum ausgesprochen, da stellte sich Youma zwischen sie und Blue.
„Nein, Lacrimosa-san.“ Die Augenbrauen der Eisfürstin hoben sich argwöhnisch und ihre Stimme war eisig, als sie antwortete:
„Du erteilst mir Befehle, Youma? In meinem Schloss? Ich töte wen auch immer ich will, egal welche Gedanken dich auch irreführen mögen.“ Youma sollte sie einfach gewähren lassen. Was interessierte ihn Blues Leben? Er mochte ihn nicht einmal und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Wenn er nicht mehr in ihrer Wohnung in Paris wäre, dann wäre das im Grunde genommen eine Erleichterung für ihn.
Dennoch.
„Ich… ich bitte Sie. Lassen Sie ihn am Leben.“ Lacrimosa wurde noch argwöhnischer und die Luft von Eis erfüllt. Ein falsches Wort und das Eis würde sich zu tödlichen Lanzen verwandeln.
„Du bittest für – ihn? Für einen ehemaligen Spion von Ri-Il? Du willst unser nächster König werden und du bittest für einen niederträchtigen Wurm?“ Sie schnalzte mit der Zunge:
„Wer weiß, ob er das nicht immer noch ist? Er ist eine Schlange, die du zertreten solltest - nicht eine, die du in Schutz nehmen solltest.“
„Sie haben Recht. Das ist das, was getan werden sollte.“ Dennoch trat Youma nicht zur Seite, denn da war ein kleines „aber“ in seinem Kopf – es schallte laut… untermalte das Bild des alptraumgeplagten Blues, den Youma mehr als einmal in der Nacht in der Küche getroffen hatte… mit Augen, die die gleiche Schuld dunkel färbte, wie seine – eine Schuld, die ihn verfolgte. Bei Tag und bei Nacht.
Youma straffte den Rücken, atmete kurz ein und festigte seinen Blick:
„Er könnte womöglich noch zu etwas anderem zu gebrauchen sein, als hier zu sterben.“ Eisige Kälte trennte sie und Youma wusste, dass er im Begriff war, große Sympathiepunkte bei ihr zu verlieren… und dass bei einer Frau wie ihr, bei der diese Sympathie Gold wert war.
Doch sie ließ ab.
„Du bist wirklich mehr Wächter als Dämon.“ Ohne ihm die Möglichkeit zu geben darauf zu antworten, drehte sie sich herum und ging, als würde der Anblick Youmas sie anwidern.
Der angehende König biss sich auf die Unterlippe. Das war nicht…
„… E-Engelsflügel.“ Von diesem geflüsterten Wort aus seinen Gedanken geweckt drehte Youma sich herum und sah auf Nocturn herunter. Er war immer noch ohne Bewusstsein, doch sein Gesicht hatte sich verändert – er sah aus, als hätte er einen Albtraum.
„… große… Schwingen…“ Nur kurz runzelte Youma die Stirn – bis die Erkenntnis und das Entsetzen sein Gesicht weiß färbte.
Light. Er sprach von Light. Er hatte Light auch gesehen. Nicht nur Youma hatte Light… auch Nocturn… auch Nocturn hatte Light gesehen. Hatte gesehen, wie er sie gerettet hatte.
Youma schlug sich die Hand vor den Mund, geriet ins Taumeln.
Es war keine Einbildung gewesen.
Light hatte sie gerettet.
Ein schwerer Atem drang aus Fireys Kehle. Der Atem hatte ihr gestockt und sie hatte vergessen, dass sie diesen zum Überleben benötigte, als würde der Körper von der geballten Macht an Magie, die sie in diesen Moment erlebt hatte, am Leben gehalten werden. Als wäre sie kein Mensch mehr, sondern ein gänzlich magisches Wesen, außerweltlich und von ihrem Element beherrscht.
Aber das war sie nicht und die Schmerzen ihres allzu menschlichen Körpers erinnerten sie daran, dass sie aus Fleisch und Blut bestand. Das Gold von Greens Kettenschmuck, welcher von ihr abgesprungen und durch den Saal gefetzt war, hatte ihre Arme aufgerissen und ihr Gesicht. Blut rann Firey über die Augenlider, denn eines der Bruchstücke hatte ihre Stirn zerkratzt. Kleine rosa Scherben steckten in ihren Oberschenkeln und in ihrer Schulter, die vom Wind aufgescheuert waren. Ihr weißes Gewand war zerrissen, feucht und klebte an ihrer Haut, ebenso wie ihre Haare es taten. Dennoch starrte Firey genau wie die anderen Elementarwächter Green an. Fireys Mund war leicht geöffnet, ihre Augen starrten groß und geweitet auf die Gestalt ihrer besten Freundin, die in diesem Moment nicht mehr aussah wie… „Green“.
Gebadet in eine Säule aus gleißendem Licht, als wurde sie vom Sonnenlicht selbst gesegnet, stand Green auf den Überresten ihres Podestes. Ihre nackten Füße standen auf dem grauen Felsen, der immer noch glühte, und leicht schwebte ihre Kleidung um sie herum, als wehe eine sanfte Brise, die auch ihre Haare wehen ließ, die befreit und hell einen Halbkreis um die Hikari bildeten. Sie hatte den Kopf leicht erhoben und ihn in den Nacken gelegt und mit einem gänzlich ruhigen Gesichtsausdruck sah sie empor in das Licht, in welches sie als einzige hineinblicken konnte. Sie blinzelte nicht, so wie Firey es tun musste, um das Licht aushalten zu können. Fireys Sichtfeld war recht verschwommen und unwirklich: Regentropfen liefen immer noch über ihr Gesicht und auch das Blut beschwerte ihre Sicht, aber sie glaubte dennoch… nein, sie war sich sicher…
Greens Augen waren weiß.
Sie waren weiß wie die Augen einer Hikari.
Wieder stockte Firey der Atem, dabei tat Green nichts anderes als ihren rechten Arm empor zu heben zum Licht. Jede Bewegung, jede noch so kleine Bewegung Greens, wie das kurze Senken ihrer Augenlider, war erfüllt von einer unglaublichen Heiligkeit, als hätte sie sich selbst an einem anderen Ort, in einer anderen Welt zurückgelassen und obwohl Firey eingenommen war von ihrer Faszination, spürte sie… dass Sorge und Angst in ihr empor klommen. Greens… Glöckchen war zerstört… das… das hatte sie doch richtig gesehen…?
Ein plötzliches Rascheln, ein leises Klirren lenkte Fireys Aufmerksamkeit auf etwas anderes als Green und ihre empor gestreckte Hand und genau wie die anderen Elementarwächter begann sie sich nach dem Ursprung dieses Geräusches umzusehen, welches von überall herzustammen schien, aus jedem Winkel der Halle, wie ein kleines, stilles Orchester. Die Augen der Feuerwächterin weiteten sich erstaunt: Es waren die Überbleibsel des goldenen Schmucks, die dieses Geräusch verursachten. Jedes kleine Teil, jedes noch so kleine Überbleibsel klapperte gegen den Stein unter sich; begann zu leuchten und ehe Firey verstand, was geschah, sausten die kleinen goldenen Stücke auf Green zu, auf ihre Hand - wie kleine Glühwürmchen. Fireys Augen weiteten sich noch mehr, als das Licht sich auf Greens ausgestreckter Hand bündelte, die goldenen Überreste erstrahlen ließ und Green mit einem leichten Aufseufzen die Augen schloss.
Was dann geschah, geschah so unglaublich abrupt, dass Firey im ersten Moment nicht verstand, was geschehen war, als wäre sie in kaltes Wasser geworfen worden – das Licht verschwand, als wäre es plötzlich Nacht geworden und der leichte Wind starb dahin, als Green plötzlich zusammensackte.
Firey war zu überrumpelt von dem plötzlichen Wechsel, von der plötzlichen Düsternis um sie herum, dass sie noch verwirrt blinzelte, als Saiyon schon an ihr vorbeigeflogen war und Green auffing, ehe sie zu Boden stürzen konnte. Sie fiel in seine ausgestreckten Arme und regungslos fiel ihr Kopf in den Nacken, doch selbst dann war es noch nicht Firey, die auf Green zulief: es war Kaira, dann eine schreiende Pink. Firey rannte nicht. Ihre Beine schienen sich nicht mehr bewegen zu können. Sie war… gelähmt. Von etwas… nein, von allem, was passiert war.
Und gänzlich gelähmt, außerstande etwas anders zu tun als zu lauschen, tat sie genau das und ihr Herz japste erleichtert auf, als Saiyon die ersehnten Worte sagte:
„Sie lebt. Sie atmet.“ Das, was Firey nun über die Wangen rann, waren keine verirrten Regentropfen mehr, es waren Tränen der Erleichterung. Zum Glück… zum Glück. Green lebte… sie hatten es alle überlebt. Diese Götterwut. Sie… sie hatte nicht daran geglaubt.
„Aber wie ist das möglich?“, fragte Kaira, die sich den Arm hielt. War er gebrochen…?
„Ihr Glöckchen ist zersprungen…“ Firey war etwas erleichtert, Kairas Stimme zu hören, denn auch sie klang mitgenommen und wenn Kaira mitgenommen klang, dann musste Firey sich nicht dafür schämen, dass sie sich fühlte, als wäre ihre Seele aus dem Körper gezogen worden.
„Kannst du stehen, Firey?“ Es war Yuuki, der zu Firey gekommen war und ihr die Hand hinreichte, obwohl er selbst aussah, als müsste er darum kämpfen aufrecht stehen zu bleiben. Aber es ging ihm gut, ebenso wie Azuma, der hinter Yuuki stand. Ihm hatte etwas schier den gesamten rechten Ärmel weggerissen und sein rechter Arm sah aus, als hätte er ihn in einen Eimer von Blut getaucht.
„Wir sehen alle ziemlich scheiße aus“, antwortete er mit einem schiefen Grinsen, als hätte er Fireys Gedanken gelesen.
„Aber wir leben.“ Firey nahm Yuukis Hand und ließ sich auf die Beine helfen.
„Und das ist das wichtigste, oder?“ Yuuki nickte bestätigend und es tat so unglaublich gut, ihn zu sehen, seine braunen Augen, wieder wach und klar, so wie sie sein sollten… und sie spürte auch, dass er zitterte. Aber das tat sie auch.
„Ob es normal ist, dass man nach der Weihe erstmal ins Krankenhaus muss?“ Yuuki wandte sich an Azuma:
„Ich denke, diese Weihe war alles andere, aber garantiert nicht normal.“
… Light…?
Keine Frage, sondern ein Hoffen. Ein Flehen. Eine Sehnsucht.
Light war es doch, der sie erwählt hatte, oder nicht…? Sie wollte Silence sagen können, dass ihr Licht warm war und dass Light ihr seinen Segen gegeben hatte. Sie wollte seinen Beistand auf ihrem Weg. Sie wollte von ihm beschützt werden und sein Licht einsetzen. Ihr Licht sollte nicht… sollte nicht… kalt sein. Sie würde sich schämen, wenn sie Silence gegenüberstehen würde und mit einem entschuldigenden Lächeln sagen müsste, dass es Hikaru war, die sie erwählt hatte. Sie könnte ihr nicht mehr in die Augen blicken. Es wäre ein Verrat. Ein Verrat an Silence. An ihrer Freundschaft.
Light… bitte…
Doch es folgte keine Antwort auf ihr Flehen. Alles war ruhig und alles war ertaubt. Sie fühlte sich überaus entkräftet und das Hoffen darauf, dass es Light war, der ihr Flehen beantwortete, entkräftete sie weiter. Sie wollte unbedingt von Light erwählt worden sein. Sie hatte sich immer so mit ihm verbunden gefühlt, schon bevor Silence und sie Freundinnen geworden waren. Doch vielleicht… vielleicht war das heuchlerisch gewesen. Sie hatte mit ihm sympathisiert, weil er gegen das Hikari-Regime war; weil er wie sie… damals… auf der Seite der Dämonen stand. Auf welcher Seite stand sie heute?
Das ist die Frage, nach deren Antwort du streben musst.
Ein Stoß ging durch Greens Körper und ihre Hände zuckten. Light! Sie hatte es nur ganz schwach vernommen, aber sie war sich sicher, dass es seine Stimme gewesen war. Es musste seine gewesen sein!
… die Zeit spielt gegen dich. Ich befürchte… es beginnt… bald… doch ein Geschenk… eine Gabe… werde ich dir…
Was? Was würde bald beginnen? Was für ein Geschenk? Light musste klarer reden, ansonsten würde Green ihn nicht verstehen können, aber sie spürte bereits, dass das nicht möglich sein würde – ihre Verbindung war bereits dabei zu zerreißen. Er war… woanders. Nicht mehr hier, nicht mehr bei ihr, nicht mehr in ihr. Bedeutete das… dass er sie nicht gewählt hatte?
Light, das ist nicht wahr… oder? Ich bin nicht wie Hikaru! Ich bin es wirklich nicht!
Sie erhielt keine Antwort; nur Schweigen und sie hatte das Gefühl, dass dieses Schweigen nicht daher rührte, dass die Bindung gelöst worden war, sondern weil… er nicht antworten wollte. Green sah ihn nicht: sie sah nichts, nur eine flackernde Leere und doch hatte sie das Gefühl, dass sie verurteilend angesehen wurde. Sie wollte seinen Namen schreien: Worte schreien, die ihren Gefühlen Form geben sollten; ihrer Abneigung Hikaru gegenüber, ihrem Willen zu Light zu gehören, aber sie konnte es nicht. Die Wirklichkeit packte sie und zog sie zurück.
Schmerzhaft flatterten ihre Augenlider, als sie diese öffnete.
Sie lag in den Armen von jemandem: jemanden mit braungebrannter Haut. Saiyon. Er hielt sie im Arm. Sie hörte Kairas Stimme, unwirsch wie immer, aber ihre Worte verstand sie nicht. Sie spürte die Auren der anderen Elementarwächter und sie spürte Pink, die ihre Hand hielt. Hinter Saiyon… stand Ryô. Seine Augen waren die ersten, die sie klar sehen konnte: seine warmen Augen und sein warmes, erleichtertes Lächeln, als Green an Saiyon vorbeisah und den Tempelwächter ihres Bruders ansah. Ohne ihn hätte sie es nicht geschafft. Ohne ihn würden sie alle nicht leben: Sie hätte gar nichts ohne ihn geschafft.
„Green!“ Firey und Saiyon riefen Greens Namen beinahe gleichzeitig – und sie verstummten gleichzeitig, genau wie die anderen, als ihre Hikari die rechte Hand ausstreckte und diese in die Luft erhob, denn sie hatte etwas anderes Goldenes entdeckt, etwas Kleines… etwas, das hoch über ihnen im Saal schwebte. Ein Glöckchen ohne Flügel.
Ohne Worte löste Green sich von Saiyon und ihre linke Hand glitt geräuschlos aus Pinks heraus. Ihr Verlobter wollte sie stützen, aber auch wenn sie etwas unsicher auf den Beinen war, gebot sie ihm mit einer simplen Geste ihrer linken Hand Abstand einzunehmen ebenso wie Ryô es tat. Schweigend beobachteten sie alle, wie Green sich erhob und die Hand für das Glöckchen öffnete, als es sich langsam senkte. Sachte leuchtete es in einem hellen Schein, der die Düsternis der Halle verdrängte: ein angenehmes Licht, welches Green jedoch auch leichte Angst einjagte, umso näher es ihrer Hand kam.
Jetzt würde sie es herausfinden: wie die Götter gewählt hatten.
Damals… in einem anderen Leben, als sie ihr Glöckchen das erste Mal berührt hatte und das Siegel ihrer Magie gesprengt worden war, da war das Licht warm gewesen. Sie erinnerte sich genau daran. Sie hatte Angst gehabt, aber das Licht hatte sie beruhigt, als würde es sie umarmen. Wie würde es sich jetzt anfühlen…? Das Glöckchen kam immer näher und Green spürte, dass sie die Luft anhielt, genau wie die anderen Elementarwächter es taten, deren Augen alle auf ihrer Hikari lagen. Ob sie sahen, dass Green zitterte?
Doch das Glöckchen berührte Green nicht. Es schwebte auf ihre Handfläche hernieder und gerade, als es eben über dieser war, verwandelte es sich vor Greens Augen zu einem Stab – ihrem neuen Stab. Lang und mächtig sah er aus; aus goldenem Licht geschmiedet, mit einer schweren, sehr robust aussehenden Kugel als Spitze und einer Länge von fast zwei Metern. Er senkte sich in Greens Hand hinab und ein Stoß ging durch sie, als sie weder Wärme noch Kälte spürte, sondern brennende Hitze. War das… ein gutes… Zeichen?
Der Stab fühlte sich eigenartig an in ihren Händen, als sie nun beide Hände um das blanke Material legte und das Gefühl hatte, dass sie verbrannt wurde. Es fühlte sich nicht angenehm an. Nicht so, wie als würde sie die Hand eines Freundes nehmen, der sie im Kampf unterstützen würde – sondern mehr… wie eine Waffe.
„Nun ist die Weihe vollbracht.“ Green war überrascht und auch etwas erschrocken darüber, dass es Itzumis Stimme war, die die erhabene, aber auch beklemmende Stille brach und verwirrt drehte Green sich mit ihrem Stab herum, welchen sie senkte und dabei das Gefühl hatte, dass dieser sie herunterziehen würde.
„Die Weihe ist beendet.“
„Gut!“, antwortete Azuma, als hätte Itzumi mit ihm geredet.
„Können wir dann auch hier raus? Ich brauche mehr als nur ein Pflaster.“ Green drehte sich wieder herum und sah mit einer drückenden Beklemmung in der Brust vom einen zum anderen. Sie sahen alle danach aus, als benötigten sie mehr als nur ein Pflaster und auch Green begann ihre Schmerzen langsam wieder zu spüren.
„Es tut mir leid. Wirklich, aus tiefstem Herzen…“ Green sah jedem ins Gesicht und sie war sehr überrascht, dass Ilang die einzige war, die wegsah.
„Es war nicht meine Absicht, euch in Gefahr zu bringen.“ Sie sah auch zu Itzumi und Ryô.
„Auch euch nicht…“ Azuma wollte sie gerade wieder daran erinnern, dass sie verdammt nochmal ein Krankenhaus brauchten, als Kaira vortrat. Feierlich, wie ein Ritter trat sie vor Green, die immer noch auf dem Überbleibsel ihres Podestes stand und damit leicht erhöht war. Kaira sah sie lange an; prüfte sie mit den Augen, wie Green das Gefühl hatte, und sie konnte sich nicht gegen wachsende Nervosität wehren. Egal ob Green nun eine geweihte Hikari war oder nicht, Kairas Augen waren nach wie vor beängstigend.
„Du hast uns alle verdammt.“ Green biss die Lippen zusammen und war schon im Begriff wie ein geschlagenes Kind den Kopf zu senken, aber so verschaffte man sich bei Kaira keinen Respekt, weshalb sie sich Mühe gab, standzuhalten.
„Aber du hast uns auch gerettet. Ohne dich wären wir tot.“ Azuma wollte gerade sagen, dass sie ohne Green ja auch gar nicht erst in Gefahr geraten wären, aber Fireys Blick ließ ihn verstummen, welche scheinbar seine Gedanken gelesen hatte.
„Du verdienst es, dass wir dich alle schlagen solange wir noch hier sind und uns niemand verurteilen kann…“, fuhr Kaira fort und Shitaya sah sie entsetzt an. Was sagte sie denn da zu deren Hikari?!
„… aber ich denke, ich spreche für uns alle, wenn wir es dabei belassen.“ Green seufzte erleichtert auf, auch wenn sie sah, dass es gewiss nicht für alle galt. Ilang sah weiterhin weg, als hätte sie mit dem Ganzen gar nichts zu tun.
„Erstmal.“ Greens bleiches Gesicht zu sehen schien Kaira zu erheitern und sie konnte ein kleines, schiefes Grinsen nicht unterdrücken, welches Green noch mehr angst und bange werden ließ.
„Ich möchte Green-chan nicht hauen…“
„Ha…Danke, Pink…“
„Ich finde…“, begann nun auch Firey:
„… dass du ganz schön Mut bewiesen hast, den Göttern die Stirn zu bieten.“
„Man könnte es auch Hochmut nennen“, antwortete Kaira mit skeptischen Augen: ein Kompliment würde sie Green garantiert nicht geben.
„Könnten wir jetzt endlich mal ins Sanctuarian?! Ich verblute hier noch!“ Man mochte nicht oft auf Azuma hören, aber dieses Mal waren sich alle einig: Er war immerhin nicht der einzige, der tiefe Wunden hatte. Sie alle hatten tiefe Wunden davongetragen, wie Green deutlich sehen konnte, während Saiyon ihr helfend die Hand hinhielt und Green sie annahm, um wieder festen Boden unter den nackten Füßen zu erhalten.
„Azuma hat recht.“ Alle waren überrascht, eine solche Aussage zu hören – am allermeisten Azuma selbst – aber Green war eher überrascht darüber, wer es gesagt hatte, wer endlich mal irgendetwas sagte, denn es war Ilang.
„Ich möchte wissen, dass es unserem Kind gut geht.“ Erst da bemerkte und verstand Green, weshalb Ilang ihre Hand über ihrem leicht rundlichen Bauch hielt. Natürlich… sie musste nicht nur auf sich selbst Acht geben, sondern auch auf ihr ungeborenes Kind.
„Moment“, begann Green, als alle bis auf Saiyon, der weiterhin ihre Hand hielt, ihr bereits den Rücken zugekehrt hatten.
„Ich bin jetzt eine geweihte Hikari.“ Sie sah auf ihren neuen Stab herab.
„Da werde ich euch ja wohl heilen können!“ Sofort hoffte sie, dass sie nicht zu viel versprochen hatte und dass sie diesen Worten gerecht werden konnte, aber ihr Stab glühte so heiß und kochend, dass diese Gedanken schnell verflogen. Sie hatte nun die Macht dazu. Sie konnte nun heilen; richtig, so wie ihre Mutter es getan hatte. Dafür hatte sie die Weihe doch gemacht, damit sie nicht mehr nur die dumme, unreine Hikari war, die nichts tun konnte und die nicht im Stande dazu war, irgendjemanden zu retten oder zu beschützen.
Sie löste sich von Saiyons Hand und legte diese zurück an ihren neuen Stab, ehe sie die Augen schloss – und da war es… ein komisches, fremdartiges Gefühl, welches sie vor diesem Tag noch nie gespürt hatte. Sie spürte ihre Elementarwächter, sie alle. Sie spürte ihr Leben und ihren Herzschlag. Jeden Schlag, jeden Atemzug. Sie spürte nicht mehr ihre Gefühle – jedenfalls nicht so stark wie während der Weihe – aber die Verbindung war noch da. Als wären sie alle eins geworden.
Und dann rannten Green Tränen der Erleichterung über die Wangen; in dem Moment, als das Licht sich aktivierte und die Wunden ihrer Elementarwächter heilte. Da spürte sie es: das Licht war warm.
Light hatte sie gewählt!
„Green…“, flüsterte Saiyon, als seine Verlobte die tränenden Augen wieder öffnete.
„… deine Augen.“ Sanft und mit einem dankbaren Lächeln strich er ihr die Tränen von der Wange, ohne zu fragen wo sie herrührten.
„Sie sind wieder blau.“
„… waren sie…“ Green musste schlucken, um ihre Befangenheit herunterschlucken zu können.
„… etwa anders?“ Saiyon nickte leicht.
„Für einen Moment waren sie weiß und du… wirktest anders.“ Sie… hatte anders gewirkt? Nun, sie fühlte sich auch anders. Aber das war jetzt eigentlich gar nicht so wichtig; jedenfalls nicht genau jetzt, in diesem Moment. Jetzt war sie einfach nur überglücklich, dass ihr Licht warm war und dass sie ihre Elementarwächter und Ryô und Itzumi geheilt hatte. Jetzt war es vorbei. Jetzt war es wirklich vorbei. Jetzt konnten sie diese schreckliche Halle verlassen und nie wieder hierhin zurückkehren. Sie kehrte ihr den Rücken zu, genau wie die Elementarwächter und die beiden Tempelwächter es taten, die den Geweihten mit gebührendem Abstand hinausfolgten, sich einen Blick zuwerfend, den wohl nur die Zwillinge verstehen konnten. Niemand drehte sich herum. Niemand warf noch einen letzten Blick auf den einsam Wartenden, dessen tiefblaue Augen Green mit leichtem Lächeln folgten.
Erinnerst du dich, Green?
Meine ersten Worte an dich, mein Schmetterling?
Green drehte sich genau in dem Moment herum, als das Tor sich mit einem Donnern schloss.
Befreie uns mit deinen sehenden Augen.