Kapitel 108 - Die Sternschnuppenfeuertaufe
Youma fuhr zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Eine so aufgeregte Reaktion blieb den anderen drei Himmelsbetrachtern selbstverständlich nicht unbemerkt und alle drei sahen ihn an, anstatt den immer noch leuchtenden Himmel, der in rot und blau erstrahlte. Nocturn sah ihn mit unverhüllter Neugierde und Skepsis an; Feullé, noch auf Nocturns Arm sitzend, eher versteckt musternd, Blue nur mit einer leichten Verwunderung - er war mit den Gedanken an einem anderen Ort und interessierte sich eigentlich weniger für den Grund, weshalb Youma so sehr zusammengezuckt war.
Nocturn war derjenige, der Youma fragte, was in ihn gefahren war, aber Youma antwortete ihm nicht - denn er hörte seine Frage nicht. Er spürte das Echo der Elemente in sich, so stark, dass er alles andere ausblendete, als wäre er selbst anwesend bei der Weihe und nicht nur ein weit entfernter Mitwisser.
Er wusste nicht, spürte nicht genau, was geschehen war, aber er vernahm die Konsequenz der Untat dafür umso deutlicher. Er spürte den Zorn und die Missachtung der Götter; eine enorme Abscheu und kräftige Empörung, die sich in Unison gegen Green richtete. Sie hatte etwas getan, was sie nicht hatte tun sollen; niemals, niemals hätte tun dürfen und nun hatte sie den Zorn der Götter auf sich gezogen.
"Höööörst du miiiiiich, Kronprinz?" Nocturn hatte Feullé losgelassen und war zu Youma geflogen, der etwas abseits geschwebt hatte, aber dieser hörte ihn immer noch nicht, denn zu sehr horchte er den aufgewirbelten Gefühlen der Elemente, um zu versuchen zu verstehen, was geschehen war... was Green getan hatte... doch er hörte und spürte nur eins: wilden Zorn.
"... irgendetwas ist passiert", flüsterte Youma und nun weiteten sich auch Blues Augen.
"Sie hat etwas getan. Eine Untat... ein Verbrechen... Ein Sakrileg gegen die Götter und die Götter werden sie strafen..." Er sagte ihren Namen nicht, aber selbstverständlich wusste Blue sofort, dass er Green meinte und anders als Nocturn war er auch sofort alarmiert. Nocturn dagegen zog die Augenbraue mit einem leichten Grinsen hoch.
"Aaaah, da kommt wieder das ach so sensible Gespür für magische Veränderungen..." Youmas eigene Wut ließ ihn hochfahren und er war sehr, sehr kurz davor Nocturn anzuschreien, dass er ein verdammter Halbgott war und selbstverständlich spüren konnte, wenn die Elemente dermaßen in Aufruhr geraten waren. Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken, denn in diesem Moment verebbten die Lichtströme am Himmel und es wurde mit einem Mal so dunkel um sie, als hätte jemand ein Licht ausgeschaltet. Nicht einmal das Funkeln der Sterne war zu vernehmen und als auch der Wind dahinstarb, schwand auch Nocturns Grinsen.
Mit bangem Blick sah Blue in den stockfinsteren Himmel empor und konnte nichts anders: stumm und ohne die Stimme zu benutzen, entfloh ihm Greens Name.
U N R E I N !
Green hörte diesen Richtspruch so deutlich, so zerreißend in sich und in ihrer Seele, als würde man sie von innen heraus in Stücke reißen wollen. Seele und Körper waren wieder vereint und ihre Hände lagen wieder um den bebenden Elementschlüssel, aber das konnte sich jederzeit ändern, denn ihre Seele und ihr Körper fühlten sich nicht mehr danach an, als wären sie eins - die Götter, sie... sie wollten sie wirklich auseinanderreißen.
Der Elementschlüssel bebte und brannte in ihren Händen. Es schmerzte, es schmerzte so sehr, doch sie wusste genau, wenn sie den Schlüssel gehen lassen würde, dann war alles vorbei. Doch es war schwer, beinahe unmöglich nicht nachzugeben und einfach loszulassen. Die Halle hatte sich in einen Kochtopf aus Magieströmen verwandelt; sämtliche freigesetzte Magie wirbelte wie ein Tornado durch die Halle mit nur einem Ziel - Green dazu zu bringen, loszulassen. Damit wäre die Weihe zuende. Sie war dann endgültig verloren und mit ihr... Green wusste es nicht. Aber sie spürte, dass die Elementgottheiten ihren Tod wünschten für den Frevel, den sie begangen hatte - und was mit ihren Elementarwächtern war, wusste Green nicht. Sie konnte die Augen nicht offenhalten und die Magie war so enorm, so von Chaos und Zorn zersetzt, dass Green sich nicht auf die Auren ihrer Elementarwächter konzentrieren konnte. Doch sie spürte keine Bindung mehr zu ihnen... obwohl der Schlüssel immer noch im Boden steckte. Der Wind fegte durch die Halle und der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben. Es war kochend heiß, obwohl ein heftiger Regen ihr ins Gesicht peitschte, gemischt mit Splittern wie aus Glas, die ihr Gesicht und ihr Kleid zerrissen. Sie hörte tausende Stimmen; verzerrte Stimmen aus der Vergangenheit, die sie in den Abgrund hinabreißen wollten - und die Macht der Götter, die sie verdammten mit ihrem Richtspruch, dem Chaos der Elemente erhaben:
UNREIN!
VON EGOISMUS UND IGNORANZ VERDORBEN!
Green hatte Lust "NA UND?!" zu schreien, aber genau wie sie ihre Augen nicht öffnen konnte, konnte sie auch ihren Mund nicht öffnen. Sie biss die Zähne zusammen und hielt sich am bebenden Elementschlüssel fest; sie wollte an Shaginai denken, an ihre Mutter, Kraft schöpfen, um das hier zu überstehen, aber sie rutschte ab, ging auf die Knie mit blutenden Fingern, die sich an den Stab klammerten, der sich senkrecht über ihr erhob und umzufallen drohte.
SÜNDERIN!
Sie hatten sie doch nicht mehr alle! Sie, eine Sünderin?! Ja, vielleicht, aber ganz bestimmt nicht, weil sie ihren Bruder hatte sehen wollen! Green verstand, dass sie das nicht hatte tun dürfen, weil sie sich selbst ganz und gar hatte aufgeben müssen, um als Leitstein zu fungieren, aber... aber...
UNREIN! SCHANDE!
Eine eiskalte Windböe warf ihr Schnee und Hagel ins Gesicht, wie um ihre Worte passend zu unterstreichen. Green biss die Zähne zusammen - glaubten die etwa, sie würde durch so etwas zu besiegen sein? Durch ihr Trauma? Pah! Sie war stärker als das, sie hatte es überwunden...
Sämtlicher Trotz fiel jedoch von ihr, als sich Bilder vor ihrem inneren Auge auftaten. Die Augen konnte sie nicht öffnen - zu gewaltig war die Magie - doch die Götter wollten dennoch sichergehen, dass Green wusste, was sie angerichtet hatte; welches Unglück sie mit ihrem Egoismus über ihre Elementarwächter gebracht hatte. Illusionen zeigten ihr hinter ihren zusammengekniffenen Augenlidern die Bilder ihrer leidenden Elementarwächter. Sie hörte ihre Schreie in ihrem Herzen, spürte deren Schmerzen auf ihrer Haut, als wären es ihre eigenen.
SCHANDE! UNWÜRDIG UND IGNORANT!
Die Worte hallten in ihrem Innersten wider, vermischten sich mit Fireys Schmerzensschrei und Pinks Schreien nach ihrem Plüschtier. Green hatte nicht nur sich selbst dem Zorn der Götter ausgesetzt, sondern auch ihre Elementarwächter. Genau wie sie kämpften sie den Kampf der Schmerzen; sie krümmten sich vor Pein auf ihren Podesten und konnten sich genauso wenig aufrechthalten wie Green. Green hatte ihnen nicht nur die Gelegenheit genommen, mit ihren Vorfahren in Kontakt zu treten und diesen Kontakt so lange wie möglich zu genießen, sondern hatte sie auch in diesen Zorn hineingeworfen. Die Elementgottheiten hatten recht. Ja, sie hatten ganz recht. Sie war... sie war wirklich eine Egoistin. Keine Sekunde hatte sie daran gedacht, was es für ihre Elementarwächter bedeuten würde, wenn sie das Unmögliche möglich machte und zu Grey rannte, nur um ihn kurz noch zu sehen. Aber sie hatte nicht gewollt, dass sie wegen ihr litten!
Green versuchte die Augen zu öffnen, den schrecklichen Bildern zu entfliehen, aber als sie sie auseinanderzwang, sah sie nur die grausame Wirklichkeit mit eigenen Augen. Sie hatte ihre Elementarwächter genauso verdammt wie sich selbst.
"Ich... ich wollte doch nur Grey sehen. Das war alles... Mein Bruder... nur kurz..." Ihre Worte wurden vom Magiewirbel verschluckt, der ihr wie eine Peitsche ins Gesicht schlug und mit einem erstickten Schrei lösten sich die blutigen Finger ihrer linken Hand vom Elementschlüssel und sie drohte rückwärts vom Podest auf den Boden zu fallen, auch noch die rechte Hand gehen zu lassen, als sie verklärt wahrnahm, dass sie... jemand aufgefangen hatte.
Es war Ryô.
Der echte, wache Ryô; Ryô mit dem milden Lächeln und den warmen Augen, der sie besorgt und unter größter Anstrengung ansah. Er wusste nicht, was er sagen sollte und auch Green wusste es nicht, zu verwirrt war sie davon, ihn plötzlich zu sehen, so. Normal, so wie er sein sollte... War er wieder erwacht, weil die Weihe gescheitert war...? Oder hatte er ihre Worte gehört...? War es Greys Name, der ihn...
"Ich habe ihn gesehen." Greens Stimme zitterte:
"...ich hätte es nicht tun dürfen, aber ich habe es... ich habe mit ihm sprechen können, Ryô! Mit Grey!" Das Blut rann vom Elementschlüssel herunter, doch der Schmerz in Ryôs Augen war größer als das. Er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, aber er hielt sie und seine Hände an ihren Armen zu spüren gab ihr Mut. Er verstand sie. Das spürte Green, das sah sie in seinen Bernsteinaugen, die nicht aufflackerten, obwohl der Wind seine Wange aufriss. Für diese Möglichkeit wäre er ebenfalls zum Sünder geworden.
"Haltet durch", sagte er simpel und ergreifend.
Aber es war genug.
Nicht nur Youma spürte, dass etwas geschehen war, was niemals hätte geschehen dürfen, sondern auch die Hikari. Immer noch knieten sie auf dem Platz am Ende der Straße des Lichts, doch ihre Gebete richteten sich nicht länger an ihre Gottheiten und ihr Element. Sie spürten das Aufwirbeln der Elemente und auch die anderen Wächter taten es: mit bangem Blick und flackernder Kerze sah Tinami empor zum Himmel, als würde sie die Antwort ihrer Sorge im schwarzen Himmel erblicken können. Die Luft war zu ruhig, kein einziges Windchen wehte und die Temperatur zu schnell gefallen, um natürlichen Ursprungs zu sein und eine dichte, undurchdringliche Wolkendecke hatte sämtliche Sterne vom Himmel gerissen... Die Wächter um sie herum wagten es nicht zu flüstern; sie wagten es nicht sich zu bewegen, als wären sie alle erstarrt.
Was hatte das zu bedeuten? Das war nicht das, was hätte passieren sollen!
Das wussten auch die Hikari, die ebenfalls zum Himmel sahen, bis auf White. Sie löste sich von ihrer Starre und wollte aufspringen, den Namen ihrer Tochter auf den Lippen, doch Shaginai packte ihr Handgelenk.
"Das darfst du nicht, White." Seine strengen - aber auch deutlich bestürzten - Titanaugen sahen sie fest an und untersagten jeden Widerspruch, aber White widersprach dennoch:
"Green ist in Gefahr!" White ging wieder zurück auf die Knie, um im Flüsterton fortzufahren:
"Spürst du es nicht, Vater?! Die Weihe! Sie scheitert!"
"Du kannst ihr nicht helfen!", zischte Shaginai:
"Niemand kann ihr helfen. Sie ist in der Obhut der Götter." Sein Blick wurde finsterer:
"Das einzige, was du tun kannst, ist beten."
Ryô an ihrer Seite zu haben tat gut. Seine Hände, die sie festhielten und ihr nicht nur Halt gaben, sondern auch Kraft. Ohne ihn hätte sie vielleicht bereits den Schlüssel losgelassen, aber dank ihm konnte sie ihn immer noch halten. Durchhalten, sagte sie sich selbst. Das hier war ein Test. Sie hatte versagt, was ihre Reinheit und Heiligkeit anbelangte - wie sie sich anders vor ihnen als würdig erweisen konnte, das wusste sie nicht, aber eins war ihr klar: Wenn sie den Elementschlüssel gehen ließ, dann war alles verloren.
Verzweifelt versuchte sie ihre linke Hand nach dem Schlüssel auszustrecken, doch ihr Arm wurde immer wieder zurückgedrückt von dem mächtigen Magiedruck, der durch die Halle fegte. Dieser Schlüssel war nicht nur ein Bindeglied mit den Elementgottheiten... er war vor allen Dingen eins: ihr Glöckchen. Aus ihrem Glöckchen war dieser Schlüssel geboren worden: Das, was sie in der Hand hielt, war doch daher... nichts anderes als ihre Seele... sie durfte nicht loslassen... niemals...
Durch halb zusammengepresste Augen sah sie nur eins - eine lange, leuchtende Linie genau vor ihr, golden strahlend, wie die Sonne. Sie musste ihn mit beiden Händen umschließen und die Magie, die Elemente, die Gottheiten beruhigen, aber...
Ein weiterer Peitschenhieb durchschnitt die brennende Luft, als hätten die Götter ihren Gedanken gehört und wollten ihr die Hoffnungslosigkeit dieses Vorhabens demonstrieren, doch anstatt, dass er sich gegen Green richtete, richtete er sich gegen Ryô, gegen den armen Tempelwächter, der ihr einfach nur hatte beistehen wollen.
UNWÜRDIGE WESEN HABEN IHREN PLATZ ZU KENNEN!
Greens Schrei wurde verschluckt, als sie herumwirbelte. Ryô wurde von ihr weggerissen, weggeschleudert und wie ein Gegenstand durch die Luft, gegen die Steinwand der Halle geworfen. Blut spritzte durch die Luft, als er zu Boden stürzte und zwei Finger lösten sich bereits vom Schlüsselstab, um zu ihm zu gelangen, doch Ryô selbst war es, der dieses Vorhaben bremste, in dem er mühselig die Augen öffnete, über die das Blut herunterlief. Seine Lippen formten stumme Worte, doch seine Stimme wurde vom Getöse der Magie verschluckt. Green verstand ihn jedoch auch ohne Worte und ihre Finger festigten sich wieder um den Stab - sie musste durchhalten. Das hatte er ihr gesagt und diese Bitte lag auch in seinen Augen, in seinem schmerzverzerrten Gesicht, als er versuchte sich aufzurappeln.
Ihre blutigen Finger zitterten. Ihr ganzer Körper zitterte und erst da spürte sie, dass nicht nur Ryô ein blutiges Gesicht hatte, sondern auch sie. Ihr Gesicht war aufgerissen und aus mehreren Schnittwunden rann das Blut auf ihre Brust herunter, über die goldenen Riemen.
So hatte es nicht sein sollen... so hatte es niemals kommen dürfen... Schwerfällig drehte Green das Gesicht und als wollten die Elemente, dass die unreine Hikari ihre Untaten auf einem Silbertablett serviert bekam, sah sie nun auch deutlich mit eigenen Augen das Leiden ihrer Elementarwächter, die sich alle vor Schmerzen wandten, weil Green egoistisch gewesen war.
Ja, weil sie ihrem Herzen gefolgt war, anstatt an ihre Mitwächter zu denken. Sie hatte ihr Glück rücksichtslos über das der anderen gestellt. Sie war alles andere, aber nicht selbstlos gewesen. Sie hatte sich den Göttern nicht hingegeben, sie hatte sich ihnen nicht zur Verfügung gestellt, sie war nicht eins mit ihnen gewesen.
Schreie wurden verschluckt und Green hörte sie nicht, aber die zwölf verzerrten Gesichter ihrer Elementarwächter waren von Schmerz und Leid so zerfurcht worden, dass sie deren Schreie gar nicht zu hören brauchte - sie spürte sie, sah sie. Ihr Innerstes wurde genauso zerrissen wie Greens. Haare, Kleider und Bänder wirbelten genau wie Greens wild um sie herum und auch sie versuchten gegen den Magiestrom anzukommen, jeder auf ihre Art, doch sie waren alle in die Knie gezwungen worden. Sogar Kaira und Shitaya, die sich beide mit gesenktem Kopf krümmten vor Schmerzen und deren blutige Finger sich in den Stein gruben.
"Es tut mir Leid." Wahrscheinlich konnten sie sie genauso wenig hören wie Green sie, doch die Worte befreiten sich dennoch aus ihrem Innerstem.
"Es tut mir Leid, dass ihr mitleiden müsst für einen Fehler, den ich begangen habe." Green schluckte und sie schmeckte Blut auf ihrer Zunge und in ihrer Kehle.
"Fair...", knirschte die Hikari hervor:
"...ist das nicht gerade, oder, Elementgottheiten?!" Oh, natürlich folgte nun keine Antwort der ach so heiligen Gottheiten, doch ihre Elemente schwiegen nicht. Der Boden bebte weiter und schien Green und ihren Elementarwächtern jede Chance nehmen zu wollen sich aufzurichten. Regen und Wind peitschten Green ins Gesicht, verwischten das Blut und durchweichten ihre Kleidung.
"Wollt ihr...", zischte Green gegen den Elementschlüssel, welchen sie so verbissen anstarrte, als wäre er die Personifizierung der göttlichen Wut.
"... etwa, dass ich um Vergebung flehe?!" Sie hätte gelacht, wäre nicht jeder Laut so entsetzlich schwer zu formen.
"Vergesst es!" Green wusste nicht, was sie für diesen Frevel hätte erwarten sollen und wahrscheinlich hätte sie darauf vorbereitet sein müssen, dass diese Worte nicht ungestraft bleiben würden. Aber sie war es nicht und ein Splittersturm, bestehend aus rosa leuchtenden Splittern und Donnergrollen, fegte gegen sie, warf sie empor wie ein Spielball, in einem solch hohen Bogen, dass sie genau wie Ryô zuvor gegen die zehn Meter entfernte Wand geschleudert wurde. Schmerz explodierte in ihrem Kopf und ihr Sichtfeld flimmerte. Das Blut rann ihr über den bebenden Körper, aus Wunden, die sie nicht benennen konnte und vielleicht hatte sie sich etwas gebrochen, sie wusste es nicht, da war zu viel Schmerz und eine zu große Erschütterung in ihr - und sie wusste genau, dass die Elementgottheiten eigentlich nur mit ihr spielten wie mit einem Spielzeug, das sie hin und her warfen. Wenn sie entschieden, dass sie genug gelitten hatte, dann würden sie sie töten können, einfach so. Vielleicht würde der Gott der Erde einfach entscheiden die Halle einstürzen zu lassen und dann würde die Decke sie und ihre Elementarwächter und Ryô und Itzumi beerdigen.
Und das alles nur weil Green Grey wiedergesehen hatte.
Das war doch absolut bescheuert!
Green sollte wohl verzweifeln. Sie sollte blanke Panik spüren angesichts dieser göttlichen Macht, aber alles was sie spürte war eins: Wut. Green schrie, ihre Schmerzen waren zu groß, aber ihr Schrei war nicht nur ein Schrei, der aus Schmerzen geboren war, sondern auch aus ihrer wütenden Seele - ihre Seele, die handeln wollte, die nicht aufgeben würde, die nicht zulassen würde, dass die Weihe so zu Ende ging und dass sie hier alle starben!
Die Elementgottheiten hatten sie zwar erfolgreich weggeschleudert, aber eines hatten sie nicht geschafft: Ihr den Elementschlüssel zu entreißen. Green hielt ihn immer noch fest umklammert und sie würde ihn zurückbringen, wo er hingehörte.
Sie würde die Götter besiegen!
"Green!" Es war Silence, die in ihrer Sorge um ihre beste Freundin ihren Namen hatte rufen müssen. Die Verbindung zu ihr war gekappt worden, aber genau wie Youma spürte auch sie, dass die Elemente in Aufruhr waren und dass das keine Aufruhr war, die von Begeisterung zeugte. Green hatte ihren Zorn geschürt, wie auch immer sie das gemacht hatte - aber Silence war nicht überrascht. Sie fluchte über sie, sie schimpfte sie schon aus, ohne sie zu sehen - man legte sich doch nicht mit den Göttern an! - aber die Sorge war größer als ihre Wut auf Green. Sie kannte die Elementgottheiten und wusste, dass sie kein Herz hatten, welches sich erweichen ließ. Sie lebten nur nach Prinzipien und hatten nur wenig Sympathie und Empathie. Selten hatte Silence einen von ihnen lächeln gesehen... ja, es war sehr schwer, sie für irgendetwas begeistern zu können, aber es war sehr leicht sie zu erzürnen.
Trotzdem... jede Weihe war verlaufen ohne, dass die Gottheiten ihre Wut gezeigt hatten; sie hatten sich dem Willen des Lichts doch immer gebeugt. Was nur hatte Green getan? Oder war es, weil ihre Elementarwächter so wenig im Einklang waren, dass sie eher einen Abgesang sangen? Nah... Silence hatte schon schlimmere Elementarwächter-Teams gesehen und sie waren dennoch alle geweiht worden.
Silence, immer noch Abstand haltend zu Sanctu Ele’Saces, obwohl sie am liebsten zu der Insel geflogen wäre, sah empor zum schwarzen, undurchdringlichen Himmel. Kein einziger Stern... kein einziges Leuchten... als würde niemals mehr die Sonne aufgehen. Wie spät war es? Müsste es nicht bereits dämmern...? Wo war das Licht?
Silence schluckte und sah in die Himmelsrichtung von Sanctu Ele’Saces.
Sie hatte noch nie gebetet.
Sie würde es auch jetzt nicht tun, aber Silence hoffte, dass die Hikari es taten.
Ryô, ebenso verletzt wie Green, lag in den Armen Itzumis und sie beide sahen hoch, als Green sich an ihnen vorbeikämpfte, eine Spur aus Blut hinterlassend, die vom Schlüssel herunterlief. In ihrem Blick lag pureste Entschlossenheit, welche auch nicht vom Blut gestoppt werden konnte, oder vom Wind oder vom Regen, noch von dem Beben der Halle. Das weiße Gewand klebte an ihrem Körper und ihre Arme und Beine waren von rosaleuchtenden Splittern übersäht, doch die Flamme der Entschlossenheit brannte in ihren dunkelblauen Augen. Sie schrie nicht, aber ihre Lippen formten immer wieder dieselben Worte:
Ich werde nicht um Vergebung flehen.
Jeder Schritt tat weh, jeder Schritt war ein Kampf. Der Wind wollte sie nicht voranrücken lassen; die Splitter bohrten sich tiefer in sie hinein und aufblitzende Bilder der Vergangenheit wollten sie in einen Traum hineinlocken, in den sie nicht hereinfallen durfte oder sie wurde verschlungen. Alles kämpfte gegen sie und sie kämpfte gegen alles. Immer wieder knickte Green ein, weil der Boden zu sehr bebte oder weil der Wind ihr zu sehr ins Gesicht blies, aber sie richtete sich immer wieder auf, ohne auf die Elemente zu achten oder auf Ryôs und Itzumis entgeisterte Blicke, die ihrem Kampf beiwohnten... bis Green an ihrer Plattform ankam.
"Ich..." Green setzte ihren Fuß auf die Plattform, rutschte aus, richtete sich wieder empor:
"... werde nicht..." Umklammerte den Stab, welchen sie über ihren Kopf hob.
"... um Vergebung flehen!" Ehe sie ihn mit aller Wucht, aller Kraft, die sie noch hatte, wieder zurück in den Boden hämmerte.
"NIEMALS!" Und mit diesem Schrei holte Green mit der linken Hand aus und hämmerte sie schier um den brennenden Schlüssel. Wieder musste sie schreien, wieder schoss das Blut herunter und sie fragte sich langsam, wie viel sie davon noch vergießen konnte, aber selbst wenn sie alles vergießen musste, sie würde kämpfen bis zum letzten Blutstropfen!
"Ich habe gesündigt, um meinen Bruder wiedersehen zu können!", schrie Green und dieses Mal wusste sie genau, dass jeder sie hören konnte. Ihre Elementarwächter, Ryô und Itzumi, die Gottheiten, jede Seele in dieser Halle.
"Und ich würde es wieder tun! Immer und immer wieder! Ich bin unbelehrbar und ich habe ganz sicherlich keinen Respekt vor den Göttern, die meine Elementarwächter für meine Fehler leiden lassen!" Ihre Hände brannten, als würde sie glühendes Metall umschließen, welches im Begriff war zu schmelzen, doch in diesem Wirbel aus den unterschiedlichsten Schmerzen spürte sie auch... das Lauschen ihrer Elementarwächter. Pinks Tränen, Firey, die ihr immer beistand, Ilangs Eifersucht und Hass, Kaira, die ihr tatsächlich zustimmte. Sie kämpften alle. Sie kämpften alle mit ihr.
"Es tut mir Leid, dass ich eure Zeit mit euren Vorfahren unwillentlich gekürzt habe..." Azuma war darüber nicht traurig, er hatte sowieso nur eine Standpauke nach dem anderen von Izzerin erhalten; Shitaya hatte vollstes Verständnis und Saiyon vertraute Green, während Yuuki einfach nur überleben wollte. Azura war traurig und sie wusste nicht, ob sie die Entschuldigung so einfach annehmen würde, aber jetzt gab es Wichtigeres.
"... das war nicht meine Absicht und ihr könnt mich alle dafür bestrafen, sobald die Weihe abgeschlossen ist!" Die Weihe... abschließen? Sie glaubten ihre Ohren nicht zu trauen. Green glaubte noch daran? Ihr Ziel war nicht einfach nur zu überleben, die Gottheiten irgendwie zu beschwichtigen - sie wollte auch noch ihren Segen?!
"Pink! Firey!", begann Green so laut zu schreien wie sie konnte:
"Kaira! Azura! Yuuki! Azuma! Shitaya! Saiyon!" Tatsächlich zögerte sie kurz den letzten Namen zu nennen, denn ihre Eifersucht war zu deutlich zu spüren, doch sie tat es dennoch:
"Ilang!" Green wandte ihren Kopf zu Ryô und Itzumi:
"Und auch ihr beide!" Die Augen der Zwillinge weiteten sich überrascht und sie dachten wohl den gleichen Gedanken: Sie waren doch aber nur Tempelwächter?
"Steht mir bei und ich schwöre euch, wir werden das hier überleben und ich werde eine Hikari sein, die eure Treue wert ist!" Wieder starrte Green mit purer Entschlossenheit den Elementschlüssel an, nein, ihren Stab, während ihr Gesicht immer neue Furchen erhielt.
"Und noch etwas schwöre ich...", zischte Green nun leiser, denn dieser Schwur war nur für sie selbst:
"Niemand von uns wird etwas vergessen. Ich werde diese Erinnerung..." Greys Lächeln, seine Umarmung, seine Liebe.
"... mit mir nehmen. Niemand wird sie mir nehmen! Und ich werde alles, was Light mir beigebracht hat, zu Silence tragen!" Green schluckte noch ein letztes Mal, doch es war kein Zögern. Es war ein Kraftholen. Sie schloss die Augen und versuchte auf nichts anderes zu hören als auf ihre Seele. Da war ihr eigener Herzschlag, so schnell und so laut. Natürlich hatte sie auch Angst. Angst zu sterben, Angst, dass man ihr die Erinnerung wieder nahm und dass dieser Kampf umsonst war. Aber sie spürte auch die Seelen ihrer Elementarwächter. Einige von ihnen schworen ihr die Treue ohne darüber nachzudenken. Andere überließen sich ihr nur für den Moment, aber das war in Ordnung. Das war okay. Sie mussten sich nicht gegenseitig lieben. Jetzt mussten sie nur zusammen kämpfen.
Nein, jetzt musste Green für sie kämpfen.
Green holte Luft und öffnete die Augen.
"LICHT!" Greens Stimme war lauter, fester und entschlossener als jemals zuvor und übertönte alles.
"Ich, Kurai Yogosu Hikari Green, die unreine Hikari..." Ihren Namen zu hören, ihren Namen zu schreien, mit dem sie sich endlich mehr denn je identifizierte, beflügelte sie und sie konnte spüren, dass ihre gesamte Seele zu glühen begann.
"... Das Licht der Hoffnung! Ich beschwöre dich, mein Element! Beschütze uns! Stehe mir bei in diesem Kampf wie auch in allen Kämpfen, die noch kommen mögen! Kämpfe an meiner Seite, führe und schütze meine Hand und die der Personen, die mir wichtig sind und ich schwöre, ich bringe das Licht und die Hoffnung über diese Welt!" Das Glühen in ihrer Seele nahm zu, aber der Stab wurde auch immer heißer und das Toben der Elemente gewann ebenfalls an Kraft. Green hörte, dass ihr Name gerufen wurde; verschiedene Stimmen riefen ihren Namen oder ihren Titel, doch ihr Gehör wurde immer mehr von dem Toben eingenommen und die Schmerzen wurden immer größer und größer, ebenso wie das Glühen. Green hatte das Gefühl, dass sie nicht nur von außen, sondern auch aus ihrem Innerstem heraus entzweigerissen werden würde--- immer und immer schneller schlug ihr Herz----- und lauter und lauter wurde der Herzschlag und das Brennen des Schlüssels. Der Raum bebte immer mehr und sämtliche Zeichen leuchteten in einer Farbenexplosion. Haare und Kleider wehten wie in einem Tornado und Blut, Regen, Tränen und Schweiß vermischten sich mit den Schreien.
"Light...", flüsterte Green, denn ihre Stimme konnte nicht mehr schreien.
"... du bist es doch, der mich erwäh..."
In diesem Moment geschah es.
Etwas in ihrem Inneren strahlte so hell und so gleißend, dass es einer Explosion glich; einer Explosion in ihrem Innersten. Der goldene Schmuck in ihren Haaren und an ihren Armen, ebenso wie der mächtige Reif um ihren Hals und Hüfte, zersprang und dessen Einzelteile fegten durch den Raum, rissen Arme und Hände und Gesichter entzwei wie Wurfgeschosse, doch Green spürte es nicht mehr, denn nicht nur der goldene Schmuck wurde zerfetzt.
Sondern auch ihr Stab. Ihr Glöckchen.
Wind und Regen erstarben sofort und der Boden bebte nicht länger. Die pinken Scherben fielen scheppernd zu Boden und die Illusionen verschwanden. Und zurück blieb... Stille.
Die Elementarwächter und die beiden Tempelwächter wagten es, ihre Augen zu öffnen und die Hände von ihren Gesichtern zu lösen, die sie erhoben hatten, um sich vor den goldenen Wurfgeschossen zu beschützen und sie alle sahen in die Mitte des Raumes, zum Podest der Hikari.
"... Gr-een", flüsterte Firey zitternd, während ein großer Tropfen Blut auf ihr Podest herablief, doch Green konnte sie nicht mehr hören. Sie stand. Aber ihre Augen waren tot. Sie waren groß und geweitet, doch leer und tot.
"GREEN!" Firey sammelte ihre letzte Kraft und sprang auf, wollte herunterspringen von ihrem Podest, doch Saiyon hielt sie auf:
"Nicht!" Ermahnend streckte er die Hand aus:
"Die Weihe ist noch nicht vollzogen!" Sie alle sahen auf den Boden unter ihnen und in der Tat - der Boden leuchtete immer noch.
"Wir alle haben es gespürt und wir alle wissen, dass wir uns nicht von unseren Podesten entfernen dürfen, solange die Magie noch aktiv ist!"
"Aber..." Firey sah mit bangem Blick zu Green, die immer noch starr dastand und nicht reagierte.
"... Green...!"
"Wenn du jetzt zu ihr rennst, ist ihr Kampf verloren!" Der Kampf... verloren? Was redete er da? Sah er nicht, was mit...
Aber da hielten Fireys Gedanken inne, denn etwas regte sich in Greens Gesichtszügen, als... als würde sie etwas sehen, etwas... erkennen.
Nein, es war nicht etwas, was Green erkannte und was nur sie sehen konnte - sondern jemand. Ihr Stab und ihr Glöckchen waren zersprungen, doch es war nur dessen äußere Hülle zerstört worden. Ihre Seele und das Leuchten dieser war noch da, nur für sie sichtbar, nur für sie spürbar. Sie stand gebadet im Licht, in ihrem eigenen Licht, in ihrer eigenen Seele, freigelöst von jeglicher Hülle... und in diesem Licht sahen ihre dunklen, starren Augen voller Blau die Umrisse einer... Person. Einer fremden Person... eine fremde und doch so wohlbekannte Person. Ein Mann in weiß gekleidet, hochgewachsen, viel höher als sie. Sein langes, weißes Haar wehte ganz sachte um ihn herum, wie in einer leichten Frühlingsbrise. Er war schmal und sein Gesicht etwas kantig, aber seine Augen waren weich, auch wenn sie trotz jeglicher Heiligkeit etwas... melancholisch wirkten.
Gebannt, völlig verzaubert und fasziniert sah Green ihn an, tauchte in seine dunkelblauen Augen hinab, die wie ihre waren und wusste genau, dass dieser Mann Inceres war.
Der wahre Inceres.
Sie hörten beide nichts. Sie spürten nichts. Sie waren von der Welt der Lebenden getrennt.
Es gab nur sie beide.
Green wollte etwas sagen, doch ihre Stimme war ihr abhandengekommen und auch er sprach nicht. Er verstand sie auch ohne Worte, hörte ihr Gebet, ihre Bitte alles nicht zu vergessen, auch ihn nicht. Nein, dieses Bild würde sie niemals vergessen, wenn sie seine Hand nahm. Eine flache, große, weiße Hand, die sich erhob, als würde er sie an eine Scheibe legen und Green tat es ihm sofort gleich. Sie hob die Hand, zögerte ein wenig... aber warum? Es war Inceres. Inceres, der sie liebte und den sie liebte.
Sie waren endlich wieder...
... Greens Hand näherte sich Inceres’...
eins.
Und als ihre Hände sich berührten entbrannte das Licht und die Nacht wurde zum Tag.
In dem Moment, als es geschah, waren Youma und Nocturn zusammen mit Feullé und Blue immer noch im Süden Frankreichs hoch oben über den Wolken. Nocturn und Youma waren etwas abseits, denn Feullé beobachtete ihre Diskussion eher mit etwas Abstand und Blue, der Youma natürlich glaubte, sah immer noch Richtung Himmel, neben Feullé schwebend. Er sah in die dunkle Nacht hinein, aber auch hinunter zu den Wolken unter ihnen, dann wieder nach Osten. Warum wehte der Wind nicht mehr... warum begann es nicht zu dämmern...?
Nocturn schloss sich der allgemeinen ernsten Stimmung wie immer nicht an. Er hatte nur gelacht und erkannte, laut Youma, den Ernst der Lage nicht. Etwas war im Begriff zu geschehen, verstünde er denn das nicht?!
Was genau im Begriff war zu geschehen interessierte Blue nur oberflächlich, aber... Blue hob die Augen wieder und sah Richtung Norden, wo Sanctu Ele’Saces lag... was mit Green geschah---
Blues Augen weiteten sich und er wirbelte zu Youma herum, der sich in Rage gesprochen hatte und es nicht bemerkte---
"YOUMA-SA---" Doch es war zu spät.
Denn das Licht kam, um alle unreinen Wesen zu vernichten.
Das Zentrum von Sanctu Ele’Saces erglühte und eine gewaltige Säule aus Licht schoss in den Himmel empor, ehe irgendein Wächter oder Hikari verstehen konnte, was im Begriff war zu geschehen. Die Lichtsäule explodierte in tausende Lichter, die in jede Himmelsrichtung davon schossen, um jedes Wesen mit Dämonenblut zu finden, welches es wagte, sich in der Menschenwelt aufzuhalten, um dessen Leben zu beenden.
Eben noch war die Nacht dunkel gewesen. Jetzt war sie hell.
Sanctu Ele’Saces war in einer gigantischen Säule aus Licht gebadet, die die gesamte Insel einhüllte, zusammen mit allen Wächtern und Hikari - ein Licht, das so gleißend war, dass sogar sie die Hände vor die Augen halten mussten. Wäre Hizashi im Jenseits und nicht dort auf dem Platz, hätte er mit seinen Computern messen können, dass das Licht wieder einmal eine enorme Leuchtkraft gewonnen hatte - eine so enorme, dass sie die, die Green einmal freigesetzt hatte, übertrumpfte. Doch Zahlen waren manchmal unwichtig - er spürte es auch so und Tränen der Freude rannten von seinem Gesicht herunter, als er, als der einzige Hikari, das Licht mit bloßen Augen sah und dessen Bedeutung verstand. Mit einem glückseligen Lächeln küsste er sein Glöckchen und dankte seiner Göttin.
Dieses Licht kannte keine Grenzen. Kein Erbarmen, keine Vergebung.
Es war gekommen, um zu töten.
Es war sehr lange her, dass sich Silence’ Augen vor Schrecken geweitet hatten, aber das taten sie jetzt, als sie die tausenden Sternenschnuppen sah, die über den dunklen Nachthimmel rasten. Nein, es waren keine Sternschnuppen - es waren Lichtkugeln, die den Tod brachten und Silence war noch nie so froh gewesen, dass dieser sie bereits vor Äonen heimgesucht hatte. Die Kugeln schossen über ihren Kopf hinweg, um sich andere Opfer zu suchen.
Eine dieser Sternschnuppen, die größte aller, schoss auf Youma zu.
Von Blues Ruf erschrocken drehte Youma sich gerade noch rechtzeitig herum, um das Licht zu sehen, welches auf ihn zugeschossen kam, aber niemals hätte er verhindern können, dass es ihn durchbohrte. Er hatte nicht schnell genug gehandelt.
Seine Augen erhellten sich, sein Gesicht wurde bereits weiß--- doch dann spiegelten sich für einen kurzen Moment die Flügel einer goldenen Lichtgestalt in seinen aufgerissenen Augen; eine goldene Lichtgestalt, die genau im letzten Moment die Sternschnuppe abwehrte, in dem sie den Arm in die Höhe riss und die Lichtkugel in den Himmel zurückwarf. Der Aufprall an sich war stark und hell genug, um Youma für einen Moment das Augenlicht zu nehmen, aber er zwang sie sofort wieder auf, obwohl jeder Zentimeter seiner Haut brannte.
Youmas Augen weiteten sich so sehr, dass es weh tat.
Er hatte ihn erkannt.
Niemand anderes hatte Flügel. Niemand anderes hatte solche Flügel. Es konnte nur---
"Light!" In seiner Stimme lag etwas, was er überhaupt nicht hören wollte; ein Gefühl, was sein Herz zerspringen ließ. Sehnsucht. Große, viel zu große Sehnsucht.
"FLIEH!" Youmas Augen zitterten, als seine Augen und Lights sich zum ersten Mal trafen, seitdem es geschehen war:
"Flieht in eure Welt, nur da---" Doch er konnte den Satz nicht beenden, ehe er verschwand und Youma, der die Aufforderung in die Tat umsetzen sollte, spürte, dass das nicht so einfach werden würde. Das Teleportieren war nicht mehr möglich. Die Luft war anders. Sie bebte. Sie glühte und... sie war schwer. Viel zu schwer.
Sie fielen. Sie stürzten wie Steine vom Himmel herab.
Nein, nur Nocturn, Feullé und Blue fielen. Youma konnte noch fliegen - warum auch immer, vielleicht weil Light ihn gerettet hatte, vielleicht weil er ein Halbgott war, wer wusste es, egal, egal! Sie fielen alle drei und Youma war der einzige, der sie retten konnte!
"NOCTURN!" Er schrie seinen Namen zuerst, ihm als erstes sofort hinterherfliegend, da er ihm am nächsten war, doch Nocturn hörte ihn nicht. Obwohl Light das Licht weggeschlagen hatte, hatte der Einschlag dieses gleißenden Lichtes ausgereicht, um den anderen drei Dämonen das Bewusstsein zu rauben.
Wie Kometen stürzten sie durch die regennassen Wolken und Youma hinterher, der immer schneller wurde und sich verzweifelt nach Nocturn ausstreckte. Warum war denn sein Umhang plötzlich weg?! Wenn Nocturn sich schon nicht nach ihm ausstrecken konnte, dann hätte Youma wenigstens seinen Umhang packen können! Argh! Hatte Nocturn ihm nicht mal gesagt, dass sein Umhang nur aus Magie bestand?! Aber sämtliche Magie war wirkungslos - was war hier nur geschehen?! Was hatte dieses Hikaru-Mädchen--- Egal! Wenn Youma nichts tat, würden alle drei auf dem Boden aufschlagen und keiner würde so einen Aufprall überleben!
"Nocturn!", schrie Youma noch einmal, dieses Mal inbrünstiger, während seine Hände verzweifelt versuchten, Nocturns Kragen zu packen zu bekommen--- Es fehlten doch nur noch ein paar Zentimeter!
"Verdammt nochmal! Ich habe dich nicht wiederbelebt, damit du so stirbst!" Aber es folgte keine Reaktion. Nichts regte sich in Nocturns Gesicht. Er sah... komischerweise sehr friedlich aus. Dieser verdammte Wahnsinnige!
"Jetzt ist nicht--- die Zeit--- ZUM STERBEN!" Und endlich - ENDLICH - gelang es zwei von Youmas Fingern, Nocturns Kragen zu packen und mit einem entschlossenen Ruck zog er ihn zu sich und umschloss diesen wahrlich sehr mageren Körper, der ihn kaum beschwerte. Dann sah er zu Feullé und Blue, die bereits gute 20 Meter weiter unter ihm waren. Nocturn war nicht schwer, aber er konnte nicht alle drei... Youma knirschte mit den Zähnen, während Nocturns Locken um ihn herumwirbelten und der Boden mit seinen Wäldern und Hängen immer näherkam. Teleportieren konnten er sie immer noch nicht, nein, die Luft wurde immer schwerer... auch für ihn wurde das Fliegen immer kraftaufwendiger... Was hatte dieses Hikaru-Mädchen nur getan?! Was geschah hier?! Hatte sie sämtliche Magie außer Kraft... nein, das konnte sie nicht, das war es nicht und über seines hatte sie auch definitiv keine Macht!
"Mutter!", rief Youma und streckte seine Hand Richtung Boden.
"Ich brauche dich!" Er hatte sein Element noch nie so direkt angerufen und doch wusste er ganz genau, dass es seinem Ruf, nein, dass seine Mutter, dem Ruf folgen würde.
"Hilf mir im Kampf gegen Hikaru!" Doch was genau passieren würde, das hatte Youma nicht kommen gesehen. Die Lichtung unter ihnen, die so kurz davor war, zu ihrer Grabstätte zu werden, leuchtete auf in einem lilanen, dunklen Zwielicht und es überzog das Gras und die Bäume, jeden Stein, der dort lag mit einer leuchtenden Kristallschicht, als würde alles zu Diamanten werden. Die Luft, die von diesen Diamanten erhellt wurde, wurde leichter und Youma bemerkte, dass er nicht länger fiel. Er erhielt die Kontrolle zurück und als er zu Blue und Feullé sah, sah er, dass sie sanft, als würden sie von einer unsichtbaren Person getragen werden, zu Boden glitten: einem Boden, der komplett... von einer Kristallschicht überzogen war, auf dessen blanker Oberfläche Youmas Stiefel sachte landeten.
Immer noch hielt er Nocturn fest an sich gedrückt, als hätte er vergessen, dass er ihn trug, denn zu überrascht und fasziniert sah er sich um. Das war... sein Werk? Diese Kristalle? Das war... sein Element?
"Fl-----ieh."
Youma spürte, dass Tränen in seine Augen aufstiegen. War das ein Echo Lights... oder war das die Stimme seiner Mutter? Doch egal wessen Stimme es war, er sollte dem Ruf folgen, doch... er wollte gar nicht weg. Er wollte sich von diesen Kristallen nicht entfernen, sie waren so schön, sie fühlten sich so heimisch an, so... als würde seine Mutter ihn...
Doch gerade als Youma sich um sich selbst gedreht hatte, um den Kristallwald in seiner gesamten Pracht sehen zu können, zersprang all seine Schönheit und zurück blieb nur dunkelste Nacht - und ein Husten durchschnitt die Stille.
Youma wurde zurück in die grausame Wirklichkeit geworfen und das Gewicht Nocturns kehrte auch zurück, welchen er immer noch auf den Armen trug. Es war er, der gehustet hatte, und es war auch er, der sich... Youmas Stirn runzelte sich... vor Schmerzen krümmte.
"Nocturn...?" Auch hinter Youma hörte er Husten - es war Blue, der sich unter Schmerzen versuchte, aufzurappeln.
"Die---Die Luft---", ächzte er empor und auch Feullé begann zu husten, gefolgt von einem kläglichen Schmerzensschrei. Auch Youma blieb nicht verschont. Niemand blieb verschont: Tränen aus Blut rannen von seinen Augen herunter, als er es verstand.
Die Luft war vergiftet.
Silver wurde aus dem Schlaf gerissen von den vielen Geräuschen, die plötzlich in seiner kleinen Schlafkammer zu hören waren. Er war... argh, verdammt, er war am Tisch eingeschlafen. Schon wieder! Das tat er fiel zu oft, seitdem Blue nicht mehr... Was zur Hölle war denn da oben los?
Der Rotschopf rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah zur Decke empor, wo er tausende Fußschritte hören konnte und dann zuckte er auch schon zusammen, denn da fiel gerade eine Vase oder Ähnliches herunter, weil wohl jemand geflogen war und sie zu Bruch gebracht hatte. Pah, sie durften doch nicht in Ri-Ils Anwesen fliegen, das wussten sie doch alle... Es sei denn...
Das Lachen verging Silver, denn es gab nur eine Ausnahme - wenn es einen Notfall gab.
Alarmiert sprang Silver auf und schob auch schon die Schiebetür zur Seite, die ihn zur bekannten Wendeltreppe führte, die er so schnell hinaufrannte, wie er konnte. Lauter und lauter wurden die Schritte und Schreie gesellten sich hinzu und Angst klomm in Silver empor. Wurden sie etwa angegriffen? Waren die Wächter so weit vorgerückt?! Aber dann wäre er doch geweckt worden... Nein. Nein, er spürte keine Wächter-Auren. Nur ihre, nur Auren von Dämonen. Aber warum waren alle so aufgebracht? Warum hörte er immer wieder das Wort "Schnell!" und "Beeilung!"... flohen sie etwa? Aber doch nicht...
Als Silver die Tür aufschlug und den Gang herunterrannte, der zum Hauptkorridor von Ri-Ils Anwesen führte, schienen die roten Lampions um ihn herum hin und her zu schwenken und als er die letzte Tür aufschlug, schlug ihm ein enorm heftiger Blutgeruch entgegen, so heftig, dass sogar ihm als Dämon kurz übel wurde.
Er sah Darius, über und über mit Blut befleckt, dann rannte sein Kommandeur auch schon zusammen mit einem anderen Hordenmitglied und einer der Frauen in die andere Richtung, ohne Silver irgendetwas zu erklären, der einfach nur verwirrt und geschockt in der Tür stehen blieb, ohne beachtet zu werden.
"Unser Meister opfert sein Leben für uns, also wagt es nicht zu sterben! WAGT ES NICHT!"
---- was?!
Silver wollte Darius hinterherrennen, aber da wurde er auch schon gepackt und zurück geworfen in den leeren Korridor. Sofort erkannte Silver das Parfüm Mekares, aber anstatt sich von ihr umarmen zu lassen, löste er sich abrupt von ihr--- doch sie zog ihn wieder an ihre Brust, mit einer größeren Stärke, als er es von ihr erwartet hatte. Das Geschrei wurde lauter, doch es drang nur dumpf zu ihnen.
"Bleib hier", flüsterte sie mit bebender Stimme in sein Haar.
"Bleib hier! Geh nicht da raus!"
"A-Aber was... Mekare! Was passiert da?! Was ist mit Ri-Il?!" Wieder versuchte Silver sich loszureißen, aber Mekares Griff war sehr fest.
"Ri-Il! Was ist mit ihm?! Was ist mit Sensei?!" Doch da verstummten Silvers Rufe, denn er spürte Tränen auf seinem Kopf, in seinem Haar. Mekare... weinte.
"Er... er..." Sie versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.
"Vielleicht stirbt er." Das "vielleicht" kostete sie viel Überwindung und Silver hörte mit bebendem Herzen, dass sie nicht daran glaubte. Aber Ri-Il... das konnte doch gar nicht...
Ri-Il konnte doch gar nicht sterben.
"D-Das... das Licht... es tötet uns alle... Jeder Dämon, der in der Menschenwelt ist... jeder, der da draußen ist... wird sterben." Mekare schluckte und drückte den erstarrten Silver noch näher an sich heran.
"Aber Ri-Il, Silver-kun... er lässt das nicht geschehen. Seine Hordenmitglieder lässt er nicht sterben. Niemals würde er das zulassen! Er beschützt uns alle!" Noch mehr Tränen liefen herunter:
"Er ist da draußen! In der Menschenwelt! Und rettet alle 244 von uns, die sich jetzt gerade in der Menschenwelt aufhalten! Er hat schon so viele... gerettet... und mit jedem Dämon, den er zurückholt wird er... schwächer..." Mekare löste sich von ihm. Sie musste es tun, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
"Er ist nicht allmächtig, weißt du, Silver-kun... und so viel Licht... das hält auch er..." Entgeistert starrte Silver die weinende Dämonin an, die er nur als die stärkste Frau kannte, die er jemals gesehen hatte. Sie weinte wegen dem stärksten und coolsten Dämon, den es gab. Silver konnte das Ganze nicht glauben. Er... träumte noch. Er war in einen Albtraum.
"Blue." Silver verstand gar nicht, was er da sagte, aber seine Stimme arbeitete auch ohne, dass er es verstand:
"Er ist doch... in der Menschenwelt." Mekares Bewegungen verharrten und Silver nutzte den Moment ihrer schrecklichen Realisation, um sich von ihr zu lösen.
"Wird Ri-Il auch ihn..." Nein, das würde er nicht. Blue gehörte nicht mehr zu ihnen und diese Wahrheit sah Silver auch in Mekares entgeisterten, aber auch verstehenden Augen.
Silver dachte nicht nach. Weder über die Konsequenzen noch über die Situation an sich oder die Sorge, die in Mekare explodierte, als Silver genau vor ihren Augen verschwand und sich in die Menschenwelt teleportierte. Er dachte nicht an ihr armes Herz, welches ihr einen weiteren Schrei entlockte, als sie sich der grausamen Gewissheit gegenübersah, dass sie nicht nur ihren geschätzten Meister verlieren könnte, sondern auch ihr letztes Kind.
Dieses Mal machte Silver nicht wieder den Fehler sich der Empfangsdame auszusetzen, die im Hochhaus von Quai de Grenelle ihre Finger lackierte - er teleportierte sich direkt in das dunkle Wohnzimmer von Appartement 667. Die plötzliche Stille wirkte betäubend auf seine Ohren und der Umschwung verwirrte ihn zunächst - doch noch mehr verwirrte ihn wie normal alles war. Das Wohnzimmer lag verlassen vor ihm, ebenso wie die Küchendiele hinter ihm verlassen war. Die roten Ziffern der Digitaluhr der Mikrowelle sprangen gerade auf 08:30 Uhr, aber Silver war zu verwirrt, um sich über die eigenartige Dunkelheit zu wundern; die Abwesenheit der Sonne an diesem Novembermorgen, wo es schon längst dämmern sollte.
Hier war niemand... hier war alles normal... warum waren denn alle so pani---
Seine Gedanken wurden sofort unterbrochen, als ein plötzlicher Husten aus seiner Kehle drang; ein Husten, der sein Innerstes zu verbrennen schien und noch ehe er sich darüber wundern konnte, zwang sein Körper ihn auch schon dazu auf den Boden zu gehen.
"Was--- was zum..." Seine Augen brannten und Blut spritzte zu Boden. Was zur Hölle war mit der Luft los?! War es das... was sie tötete...?! Silver konnte das Husten gar nicht kontrollieren und immer mehr Blut verteilte sich auf dem hellen Teppichboden, während er sich mit flackerndem Sichtfeld versuchte umzusehen. Nirgendwo sonst sah er Blut... Blue war nicht hier gewesen, als es - was auch immer es war - geschehen war. Silver fluchte über sich selbst - Blue hatte sich doch natürlich in Sicherheit gebracht! Er war ja auch nicht alleine und keiner von ihnen wollte sicherlich sterben...
Silvers Kopf donnerte mit einem Schrei auf den Boden, aber unter Blut und Röcheln versuchte er sich wieder aufzurappeln. Er musste... er musste... hier weg... Die Menschenwelt war nicht mehr sicher... sie war verpestet...
Mit einer plötzlichen Realisation schlug Silver die blutigen Augen auf. Rui war in der Menschenwelt. Rui war wegen ihm in der Menschenwelt, wegen ihm und seinem dummen Klamottenwunsch! Hatte Ri-Il sie bereits gerettet?! Oh nein, oh nein, verdammte Scheiß... Rui trug doch deren Ingnix - Ri-Il konnte sie gar nicht retten!
Silver musste zurück nach Hause, so schnell er konnte, aber... aber... er konnte Rui doch nicht hier zurücklassen?!
Sie brachte sich wegen ihm in Gefahr, immer und immer wieder. Silver konnte nicht einfach in seinem Zuhause auf sie warten, bis Ri-Il sie fand und rettete. Er war es auch, der wusste, wo sie war - in seinem verdammten Lieblingsgeschäft in Shibuya. Er war es, der sie retten musste, also tat er das auch und teleportierte sich nicht in Sicherheit, sondern nach Tokio, nach Shibuya, wo er ohne es sich zu überlegen in das Geschäft hineinstürzte. Die Glastüren öffneten sich für ihn, doch weiter kam er nicht, denn dort musste er sich bereits festhalten. Die Luft war so schwer, so schrecklich schwer... sie brannte... sie brannte in seiner Lunge, in seinen Augen... Zitternd hob Silver die Hand zu diesen und seine Augen weiteten sich entsetzt, als er sah, dass seine Hand voller Blut war. Es lief... aus seinen Augen, aus seiner Nase, aus seinem Mund. Silver schluckte und überall war nur noch Blut, in ihm, auf ihm, überall, aber er versuchte es wegzuwischen, um klar sehen zu können, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Der Moment genügte.
Rui sah genauso aus, nein, noch schlimmer als er und weckte genauso viel Aufmerksamkeit der Menschen wie er. Sie waren unberührt von der Luft, atmeten normal, bluteten nicht, aber sie sahen wie diese beiden Dämonen bluteten, wie sie starben.
Silver biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mit Gewalt durch die Menschen, die sich um Rui herum gestellt hatten. Einige hatten Handys am Ohr. Vielleicht riefen sie einen Krankenwagen oder einen Arzt oder was auch immer - Silver konnte es nicht hören. Sein Körper konnte das hier gar nicht aushalten, wie... wie schaffte es Ri-Il...
"Ru---i---" Rui öffnete kraftlos die blutenden Augen und schwach... brachte sie es tatsächlich zustande zu lächeln.
"Silver...sama..." Silver ging neben ihr auf die Knie und versuchte sie hochzuheben, aber seinem Körper mangelte es bereits an Kraft.
"... ich habe... so ein cooles Outfit... gefunden... Ihr werdet... so toll..."
"Du bist echt schlimm... weißt du das, Rui..."
"Ihr seid beide "schlimm" möchte ich anmerken." Silvers Gesicht hellte auf vor Erleichterung, als er die Stimme seines Lehrmeisters hörte und würde aus seinen Augen nicht das Blut herauslaufen, er hätte geweint. Doch als er sich herumwandte und Ri-Il hinter sich stehen stand, erstarrte sein Lächeln. Er sah Ri-Il nur verschwommen durch ein rötliches Flimmermeer, aber das, was er sah, war... entsetzlich. Seine Stimme klang noch... normal... aber... er war...
"Es tut mir Leid", wimmerte Silver, der Ri-Il einfach nur anstarren konnte. Ri-Il, der... wirklich... im Begriff war... da war so viel Blut an ihm... seine Aura, sonst so stark, so mächtig, einer großen Flamme gleich, war nur noch eine kleine flackernde Kerze... er atmete schwer und röchelnd wie im Sterbebett und doch stand er aufrecht. Er trug sogar seinen Zylinder, als wäre er nur auf einem Spaziergang.
"I-Ich konnte einfach nicht anders, Rui, sie... Ich weiß, das war nicht klug und sicherlich nicht etwas... was Ihr tun würdet..."
"Nein, gewiss nicht."
"Ich konnte aber einfach nicht... anders, ich... ich bin doch für sie verantwortlich!" Ri-Il beugte sich herunter und nahm Ruis Hand, ehe er seine Hand auf Silvers Kopf legte.
"Schon gut, Silver-kun, jetzt atme ein." Und dann wurde die Luft leichter. Nicht viel, aber genug, dass Silver einen tiefen Atemzug nehmen konnte.
"Ihr seid zum Glück..." Ri-Ils Stimme knickte und Silver entfloh ein stummer Schrei und Tränen vermischten sich mit Blut.
"... die letzten."
Ri-Il brachte Silver und Rui genauso zurück in sein Gebiet, wie er auch seine anderen Hordenmitglieder gerettet hatte - wie, verstand Silver nicht, denn es fühlte sich nicht wie eine Teleportation an. Er hatte eher das Gefühl, dass er fliegen würde - sehr, sehr schnell fliegen würde, durch sämtliche Hindernisse hinweg, durch Räume und Wolken, und alles, was es gab, als machte Ri-Il sämtliche Substanzen nichtig. Silver klammerte sich an seinen Lehrmeister und an Rui, bis er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte und... die Luft... normal war. Dieselbe etwas rauchig schmeckende Luft wie immer, nur, dass sie viel, viel blutiger war als sonst.
Silver fiel im Kommandoraum von Ri-Ils Anwesen auf die Knie, erleichtert aufjauchzend. Mekare rannte zu ihm und verpasste ihm eine harte Ohrfeige, ehe sie ihn halb schreiend in die Arme schloss. Eine Entschuldigung an Ri-Il, der gerade seinen Zylinder dem herbeigestürmten Darius reichte, blieb daher ungesagt.
"Sag dem herbeistürmenden Lycram, dass ich ihn nicht empfangen kann." Ri-Ils gebrochene Stimme war kaum mehr als ein Kratzen, aber er unterdrückte jedes Husten. Darius sah ihn mit Verzweiflung in den Augen an, ebenso wie Mekare es tat, die den Kopf von Silver hob, den sie immer noch fest an ihre Brust drückte. Darius schluckte. Es fiel ihm schwer, nichts dazu zu sagen wie... Ri-Il aussah, wie flackernd seine Aura war, nur seinen Zylinder zu halten, anstatt ihn zu stützen.
"A-Aber Ri-Il-sama, Fürst Lycram ist nicht hie---" Genau in dem Moment wurde die Schiebetür auch schon zur Seite gedonnert.
"Entschuldige mal, du bescheuerte Zopfvisage?! In der Menschenwelt verrecken alle, bekommst du das nicht mit?! Wir haben verdammt nochmal schon zum zehnten Mal zu einer Konferenz..." Aber dann verstummte der schreiende Lycram, denn genau in dem Moment versiegte der letzte Tropfen von Ri-Ils als unerschöpflich geltender Magie. Die Spitzen seiner leuchtenden, orangenen Haare wurden von den Spitzen angefangen in tiefes Schwarz gehüllt und wie ein Wasserfall fielen seine langen, lockigen Haare über seine gekrümmten Schultern, über seinen Rücken und auf den Boden, ehe auch der Fürst selbst zu Boden ging.
Immer noch vom Licht gebadet lächelte Hizashi breit und zutiefst zufrieden. Auch viele Wächter tanzten erfreut. Sie sangen und feierten über diese erfolgreiche Weihe, die jede andere übertroffen hatte.
"Sie sterben immer noch", flüsterte Hizashi entzückt an seine Mithikari. An den ernsten Shaginai und die steife White, der er ein stolzes, gerührtes Lächeln schenkte, ehe er sein Monokel wieder zurechtschob, wo die Zahl der sterbenden Dämonen stetig empor kletterte.
"Es sind bereits mehr als 3000." Begleitet von der Begeisterung der Wächter schlug Hizashi die Augen nieder und sprach mit erfreuter Stimme:
"Was für ein Freudenfest eure Tochter und Enkelin uns gebracht hat."
Nocturn war derjenige, der Youma fragte, was in ihn gefahren war, aber Youma antwortete ihm nicht - denn er hörte seine Frage nicht. Er spürte das Echo der Elemente in sich, so stark, dass er alles andere ausblendete, als wäre er selbst anwesend bei der Weihe und nicht nur ein weit entfernter Mitwisser.
Er wusste nicht, spürte nicht genau, was geschehen war, aber er vernahm die Konsequenz der Untat dafür umso deutlicher. Er spürte den Zorn und die Missachtung der Götter; eine enorme Abscheu und kräftige Empörung, die sich in Unison gegen Green richtete. Sie hatte etwas getan, was sie nicht hatte tun sollen; niemals, niemals hätte tun dürfen und nun hatte sie den Zorn der Götter auf sich gezogen.
"Höööörst du miiiiiich, Kronprinz?" Nocturn hatte Feullé losgelassen und war zu Youma geflogen, der etwas abseits geschwebt hatte, aber dieser hörte ihn immer noch nicht, denn zu sehr horchte er den aufgewirbelten Gefühlen der Elemente, um zu versuchen zu verstehen, was geschehen war... was Green getan hatte... doch er hörte und spürte nur eins: wilden Zorn.
"... irgendetwas ist passiert", flüsterte Youma und nun weiteten sich auch Blues Augen.
"Sie hat etwas getan. Eine Untat... ein Verbrechen... Ein Sakrileg gegen die Götter und die Götter werden sie strafen..." Er sagte ihren Namen nicht, aber selbstverständlich wusste Blue sofort, dass er Green meinte und anders als Nocturn war er auch sofort alarmiert. Nocturn dagegen zog die Augenbraue mit einem leichten Grinsen hoch.
"Aaaah, da kommt wieder das ach so sensible Gespür für magische Veränderungen..." Youmas eigene Wut ließ ihn hochfahren und er war sehr, sehr kurz davor Nocturn anzuschreien, dass er ein verdammter Halbgott war und selbstverständlich spüren konnte, wenn die Elemente dermaßen in Aufruhr geraten waren. Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken, denn in diesem Moment verebbten die Lichtströme am Himmel und es wurde mit einem Mal so dunkel um sie, als hätte jemand ein Licht ausgeschaltet. Nicht einmal das Funkeln der Sterne war zu vernehmen und als auch der Wind dahinstarb, schwand auch Nocturns Grinsen.
Mit bangem Blick sah Blue in den stockfinsteren Himmel empor und konnte nichts anders: stumm und ohne die Stimme zu benutzen, entfloh ihm Greens Name.
U N R E I N !
Green hörte diesen Richtspruch so deutlich, so zerreißend in sich und in ihrer Seele, als würde man sie von innen heraus in Stücke reißen wollen. Seele und Körper waren wieder vereint und ihre Hände lagen wieder um den bebenden Elementschlüssel, aber das konnte sich jederzeit ändern, denn ihre Seele und ihr Körper fühlten sich nicht mehr danach an, als wären sie eins - die Götter, sie... sie wollten sie wirklich auseinanderreißen.
Der Elementschlüssel bebte und brannte in ihren Händen. Es schmerzte, es schmerzte so sehr, doch sie wusste genau, wenn sie den Schlüssel gehen lassen würde, dann war alles vorbei. Doch es war schwer, beinahe unmöglich nicht nachzugeben und einfach loszulassen. Die Halle hatte sich in einen Kochtopf aus Magieströmen verwandelt; sämtliche freigesetzte Magie wirbelte wie ein Tornado durch die Halle mit nur einem Ziel - Green dazu zu bringen, loszulassen. Damit wäre die Weihe zuende. Sie war dann endgültig verloren und mit ihr... Green wusste es nicht. Aber sie spürte, dass die Elementgottheiten ihren Tod wünschten für den Frevel, den sie begangen hatte - und was mit ihren Elementarwächtern war, wusste Green nicht. Sie konnte die Augen nicht offenhalten und die Magie war so enorm, so von Chaos und Zorn zersetzt, dass Green sich nicht auf die Auren ihrer Elementarwächter konzentrieren konnte. Doch sie spürte keine Bindung mehr zu ihnen... obwohl der Schlüssel immer noch im Boden steckte. Der Wind fegte durch die Halle und der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben. Es war kochend heiß, obwohl ein heftiger Regen ihr ins Gesicht peitschte, gemischt mit Splittern wie aus Glas, die ihr Gesicht und ihr Kleid zerrissen. Sie hörte tausende Stimmen; verzerrte Stimmen aus der Vergangenheit, die sie in den Abgrund hinabreißen wollten - und die Macht der Götter, die sie verdammten mit ihrem Richtspruch, dem Chaos der Elemente erhaben:
UNREIN!
VON EGOISMUS UND IGNORANZ VERDORBEN!
Green hatte Lust "NA UND?!" zu schreien, aber genau wie sie ihre Augen nicht öffnen konnte, konnte sie auch ihren Mund nicht öffnen. Sie biss die Zähne zusammen und hielt sich am bebenden Elementschlüssel fest; sie wollte an Shaginai denken, an ihre Mutter, Kraft schöpfen, um das hier zu überstehen, aber sie rutschte ab, ging auf die Knie mit blutenden Fingern, die sich an den Stab klammerten, der sich senkrecht über ihr erhob und umzufallen drohte.
SÜNDERIN!
Sie hatten sie doch nicht mehr alle! Sie, eine Sünderin?! Ja, vielleicht, aber ganz bestimmt nicht, weil sie ihren Bruder hatte sehen wollen! Green verstand, dass sie das nicht hatte tun dürfen, weil sie sich selbst ganz und gar hatte aufgeben müssen, um als Leitstein zu fungieren, aber... aber...
UNREIN! SCHANDE!
Eine eiskalte Windböe warf ihr Schnee und Hagel ins Gesicht, wie um ihre Worte passend zu unterstreichen. Green biss die Zähne zusammen - glaubten die etwa, sie würde durch so etwas zu besiegen sein? Durch ihr Trauma? Pah! Sie war stärker als das, sie hatte es überwunden...
Sämtlicher Trotz fiel jedoch von ihr, als sich Bilder vor ihrem inneren Auge auftaten. Die Augen konnte sie nicht öffnen - zu gewaltig war die Magie - doch die Götter wollten dennoch sichergehen, dass Green wusste, was sie angerichtet hatte; welches Unglück sie mit ihrem Egoismus über ihre Elementarwächter gebracht hatte. Illusionen zeigten ihr hinter ihren zusammengekniffenen Augenlidern die Bilder ihrer leidenden Elementarwächter. Sie hörte ihre Schreie in ihrem Herzen, spürte deren Schmerzen auf ihrer Haut, als wären es ihre eigenen.
SCHANDE! UNWÜRDIG UND IGNORANT!
Die Worte hallten in ihrem Innersten wider, vermischten sich mit Fireys Schmerzensschrei und Pinks Schreien nach ihrem Plüschtier. Green hatte nicht nur sich selbst dem Zorn der Götter ausgesetzt, sondern auch ihre Elementarwächter. Genau wie sie kämpften sie den Kampf der Schmerzen; sie krümmten sich vor Pein auf ihren Podesten und konnten sich genauso wenig aufrechthalten wie Green. Green hatte ihnen nicht nur die Gelegenheit genommen, mit ihren Vorfahren in Kontakt zu treten und diesen Kontakt so lange wie möglich zu genießen, sondern hatte sie auch in diesen Zorn hineingeworfen. Die Elementgottheiten hatten recht. Ja, sie hatten ganz recht. Sie war... sie war wirklich eine Egoistin. Keine Sekunde hatte sie daran gedacht, was es für ihre Elementarwächter bedeuten würde, wenn sie das Unmögliche möglich machte und zu Grey rannte, nur um ihn kurz noch zu sehen. Aber sie hatte nicht gewollt, dass sie wegen ihr litten!
Green versuchte die Augen zu öffnen, den schrecklichen Bildern zu entfliehen, aber als sie sie auseinanderzwang, sah sie nur die grausame Wirklichkeit mit eigenen Augen. Sie hatte ihre Elementarwächter genauso verdammt wie sich selbst.
"Ich... ich wollte doch nur Grey sehen. Das war alles... Mein Bruder... nur kurz..." Ihre Worte wurden vom Magiewirbel verschluckt, der ihr wie eine Peitsche ins Gesicht schlug und mit einem erstickten Schrei lösten sich die blutigen Finger ihrer linken Hand vom Elementschlüssel und sie drohte rückwärts vom Podest auf den Boden zu fallen, auch noch die rechte Hand gehen zu lassen, als sie verklärt wahrnahm, dass sie... jemand aufgefangen hatte.
Es war Ryô.
Der echte, wache Ryô; Ryô mit dem milden Lächeln und den warmen Augen, der sie besorgt und unter größter Anstrengung ansah. Er wusste nicht, was er sagen sollte und auch Green wusste es nicht, zu verwirrt war sie davon, ihn plötzlich zu sehen, so. Normal, so wie er sein sollte... War er wieder erwacht, weil die Weihe gescheitert war...? Oder hatte er ihre Worte gehört...? War es Greys Name, der ihn...
"Ich habe ihn gesehen." Greens Stimme zitterte:
"...ich hätte es nicht tun dürfen, aber ich habe es... ich habe mit ihm sprechen können, Ryô! Mit Grey!" Das Blut rann vom Elementschlüssel herunter, doch der Schmerz in Ryôs Augen war größer als das. Er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, aber er hielt sie und seine Hände an ihren Armen zu spüren gab ihr Mut. Er verstand sie. Das spürte Green, das sah sie in seinen Bernsteinaugen, die nicht aufflackerten, obwohl der Wind seine Wange aufriss. Für diese Möglichkeit wäre er ebenfalls zum Sünder geworden.
"Haltet durch", sagte er simpel und ergreifend.
Aber es war genug.
Nicht nur Youma spürte, dass etwas geschehen war, was niemals hätte geschehen dürfen, sondern auch die Hikari. Immer noch knieten sie auf dem Platz am Ende der Straße des Lichts, doch ihre Gebete richteten sich nicht länger an ihre Gottheiten und ihr Element. Sie spürten das Aufwirbeln der Elemente und auch die anderen Wächter taten es: mit bangem Blick und flackernder Kerze sah Tinami empor zum Himmel, als würde sie die Antwort ihrer Sorge im schwarzen Himmel erblicken können. Die Luft war zu ruhig, kein einziges Windchen wehte und die Temperatur zu schnell gefallen, um natürlichen Ursprungs zu sein und eine dichte, undurchdringliche Wolkendecke hatte sämtliche Sterne vom Himmel gerissen... Die Wächter um sie herum wagten es nicht zu flüstern; sie wagten es nicht sich zu bewegen, als wären sie alle erstarrt.
Was hatte das zu bedeuten? Das war nicht das, was hätte passieren sollen!
Das wussten auch die Hikari, die ebenfalls zum Himmel sahen, bis auf White. Sie löste sich von ihrer Starre und wollte aufspringen, den Namen ihrer Tochter auf den Lippen, doch Shaginai packte ihr Handgelenk.
"Das darfst du nicht, White." Seine strengen - aber auch deutlich bestürzten - Titanaugen sahen sie fest an und untersagten jeden Widerspruch, aber White widersprach dennoch:
"Green ist in Gefahr!" White ging wieder zurück auf die Knie, um im Flüsterton fortzufahren:
"Spürst du es nicht, Vater?! Die Weihe! Sie scheitert!"
"Du kannst ihr nicht helfen!", zischte Shaginai:
"Niemand kann ihr helfen. Sie ist in der Obhut der Götter." Sein Blick wurde finsterer:
"Das einzige, was du tun kannst, ist beten."
Ryô an ihrer Seite zu haben tat gut. Seine Hände, die sie festhielten und ihr nicht nur Halt gaben, sondern auch Kraft. Ohne ihn hätte sie vielleicht bereits den Schlüssel losgelassen, aber dank ihm konnte sie ihn immer noch halten. Durchhalten, sagte sie sich selbst. Das hier war ein Test. Sie hatte versagt, was ihre Reinheit und Heiligkeit anbelangte - wie sie sich anders vor ihnen als würdig erweisen konnte, das wusste sie nicht, aber eins war ihr klar: Wenn sie den Elementschlüssel gehen ließ, dann war alles verloren.
Verzweifelt versuchte sie ihre linke Hand nach dem Schlüssel auszustrecken, doch ihr Arm wurde immer wieder zurückgedrückt von dem mächtigen Magiedruck, der durch die Halle fegte. Dieser Schlüssel war nicht nur ein Bindeglied mit den Elementgottheiten... er war vor allen Dingen eins: ihr Glöckchen. Aus ihrem Glöckchen war dieser Schlüssel geboren worden: Das, was sie in der Hand hielt, war doch daher... nichts anderes als ihre Seele... sie durfte nicht loslassen... niemals...
Durch halb zusammengepresste Augen sah sie nur eins - eine lange, leuchtende Linie genau vor ihr, golden strahlend, wie die Sonne. Sie musste ihn mit beiden Händen umschließen und die Magie, die Elemente, die Gottheiten beruhigen, aber...
Ein weiterer Peitschenhieb durchschnitt die brennende Luft, als hätten die Götter ihren Gedanken gehört und wollten ihr die Hoffnungslosigkeit dieses Vorhabens demonstrieren, doch anstatt, dass er sich gegen Green richtete, richtete er sich gegen Ryô, gegen den armen Tempelwächter, der ihr einfach nur hatte beistehen wollen.
UNWÜRDIGE WESEN HABEN IHREN PLATZ ZU KENNEN!
Greens Schrei wurde verschluckt, als sie herumwirbelte. Ryô wurde von ihr weggerissen, weggeschleudert und wie ein Gegenstand durch die Luft, gegen die Steinwand der Halle geworfen. Blut spritzte durch die Luft, als er zu Boden stürzte und zwei Finger lösten sich bereits vom Schlüsselstab, um zu ihm zu gelangen, doch Ryô selbst war es, der dieses Vorhaben bremste, in dem er mühselig die Augen öffnete, über die das Blut herunterlief. Seine Lippen formten stumme Worte, doch seine Stimme wurde vom Getöse der Magie verschluckt. Green verstand ihn jedoch auch ohne Worte und ihre Finger festigten sich wieder um den Stab - sie musste durchhalten. Das hatte er ihr gesagt und diese Bitte lag auch in seinen Augen, in seinem schmerzverzerrten Gesicht, als er versuchte sich aufzurappeln.
Ihre blutigen Finger zitterten. Ihr ganzer Körper zitterte und erst da spürte sie, dass nicht nur Ryô ein blutiges Gesicht hatte, sondern auch sie. Ihr Gesicht war aufgerissen und aus mehreren Schnittwunden rann das Blut auf ihre Brust herunter, über die goldenen Riemen.
So hatte es nicht sein sollen... so hatte es niemals kommen dürfen... Schwerfällig drehte Green das Gesicht und als wollten die Elemente, dass die unreine Hikari ihre Untaten auf einem Silbertablett serviert bekam, sah sie nun auch deutlich mit eigenen Augen das Leiden ihrer Elementarwächter, die sich alle vor Schmerzen wandten, weil Green egoistisch gewesen war.
Ja, weil sie ihrem Herzen gefolgt war, anstatt an ihre Mitwächter zu denken. Sie hatte ihr Glück rücksichtslos über das der anderen gestellt. Sie war alles andere, aber nicht selbstlos gewesen. Sie hatte sich den Göttern nicht hingegeben, sie hatte sich ihnen nicht zur Verfügung gestellt, sie war nicht eins mit ihnen gewesen.
Schreie wurden verschluckt und Green hörte sie nicht, aber die zwölf verzerrten Gesichter ihrer Elementarwächter waren von Schmerz und Leid so zerfurcht worden, dass sie deren Schreie gar nicht zu hören brauchte - sie spürte sie, sah sie. Ihr Innerstes wurde genauso zerrissen wie Greens. Haare, Kleider und Bänder wirbelten genau wie Greens wild um sie herum und auch sie versuchten gegen den Magiestrom anzukommen, jeder auf ihre Art, doch sie waren alle in die Knie gezwungen worden. Sogar Kaira und Shitaya, die sich beide mit gesenktem Kopf krümmten vor Schmerzen und deren blutige Finger sich in den Stein gruben.
"Es tut mir Leid." Wahrscheinlich konnten sie sie genauso wenig hören wie Green sie, doch die Worte befreiten sich dennoch aus ihrem Innerstem.
"Es tut mir Leid, dass ihr mitleiden müsst für einen Fehler, den ich begangen habe." Green schluckte und sie schmeckte Blut auf ihrer Zunge und in ihrer Kehle.
"Fair...", knirschte die Hikari hervor:
"...ist das nicht gerade, oder, Elementgottheiten?!" Oh, natürlich folgte nun keine Antwort der ach so heiligen Gottheiten, doch ihre Elemente schwiegen nicht. Der Boden bebte weiter und schien Green und ihren Elementarwächtern jede Chance nehmen zu wollen sich aufzurichten. Regen und Wind peitschten Green ins Gesicht, verwischten das Blut und durchweichten ihre Kleidung.
"Wollt ihr...", zischte Green gegen den Elementschlüssel, welchen sie so verbissen anstarrte, als wäre er die Personifizierung der göttlichen Wut.
"... etwa, dass ich um Vergebung flehe?!" Sie hätte gelacht, wäre nicht jeder Laut so entsetzlich schwer zu formen.
"Vergesst es!" Green wusste nicht, was sie für diesen Frevel hätte erwarten sollen und wahrscheinlich hätte sie darauf vorbereitet sein müssen, dass diese Worte nicht ungestraft bleiben würden. Aber sie war es nicht und ein Splittersturm, bestehend aus rosa leuchtenden Splittern und Donnergrollen, fegte gegen sie, warf sie empor wie ein Spielball, in einem solch hohen Bogen, dass sie genau wie Ryô zuvor gegen die zehn Meter entfernte Wand geschleudert wurde. Schmerz explodierte in ihrem Kopf und ihr Sichtfeld flimmerte. Das Blut rann ihr über den bebenden Körper, aus Wunden, die sie nicht benennen konnte und vielleicht hatte sie sich etwas gebrochen, sie wusste es nicht, da war zu viel Schmerz und eine zu große Erschütterung in ihr - und sie wusste genau, dass die Elementgottheiten eigentlich nur mit ihr spielten wie mit einem Spielzeug, das sie hin und her warfen. Wenn sie entschieden, dass sie genug gelitten hatte, dann würden sie sie töten können, einfach so. Vielleicht würde der Gott der Erde einfach entscheiden die Halle einstürzen zu lassen und dann würde die Decke sie und ihre Elementarwächter und Ryô und Itzumi beerdigen.
Und das alles nur weil Green Grey wiedergesehen hatte.
Das war doch absolut bescheuert!
Green sollte wohl verzweifeln. Sie sollte blanke Panik spüren angesichts dieser göttlichen Macht, aber alles was sie spürte war eins: Wut. Green schrie, ihre Schmerzen waren zu groß, aber ihr Schrei war nicht nur ein Schrei, der aus Schmerzen geboren war, sondern auch aus ihrer wütenden Seele - ihre Seele, die handeln wollte, die nicht aufgeben würde, die nicht zulassen würde, dass die Weihe so zu Ende ging und dass sie hier alle starben!
Die Elementgottheiten hatten sie zwar erfolgreich weggeschleudert, aber eines hatten sie nicht geschafft: Ihr den Elementschlüssel zu entreißen. Green hielt ihn immer noch fest umklammert und sie würde ihn zurückbringen, wo er hingehörte.
Sie würde die Götter besiegen!
"Green!" Es war Silence, die in ihrer Sorge um ihre beste Freundin ihren Namen hatte rufen müssen. Die Verbindung zu ihr war gekappt worden, aber genau wie Youma spürte auch sie, dass die Elemente in Aufruhr waren und dass das keine Aufruhr war, die von Begeisterung zeugte. Green hatte ihren Zorn geschürt, wie auch immer sie das gemacht hatte - aber Silence war nicht überrascht. Sie fluchte über sie, sie schimpfte sie schon aus, ohne sie zu sehen - man legte sich doch nicht mit den Göttern an! - aber die Sorge war größer als ihre Wut auf Green. Sie kannte die Elementgottheiten und wusste, dass sie kein Herz hatten, welches sich erweichen ließ. Sie lebten nur nach Prinzipien und hatten nur wenig Sympathie und Empathie. Selten hatte Silence einen von ihnen lächeln gesehen... ja, es war sehr schwer, sie für irgendetwas begeistern zu können, aber es war sehr leicht sie zu erzürnen.
Trotzdem... jede Weihe war verlaufen ohne, dass die Gottheiten ihre Wut gezeigt hatten; sie hatten sich dem Willen des Lichts doch immer gebeugt. Was nur hatte Green getan? Oder war es, weil ihre Elementarwächter so wenig im Einklang waren, dass sie eher einen Abgesang sangen? Nah... Silence hatte schon schlimmere Elementarwächter-Teams gesehen und sie waren dennoch alle geweiht worden.
Silence, immer noch Abstand haltend zu Sanctu Ele’Saces, obwohl sie am liebsten zu der Insel geflogen wäre, sah empor zum schwarzen, undurchdringlichen Himmel. Kein einziger Stern... kein einziges Leuchten... als würde niemals mehr die Sonne aufgehen. Wie spät war es? Müsste es nicht bereits dämmern...? Wo war das Licht?
Silence schluckte und sah in die Himmelsrichtung von Sanctu Ele’Saces.
Sie hatte noch nie gebetet.
Sie würde es auch jetzt nicht tun, aber Silence hoffte, dass die Hikari es taten.
Ryô, ebenso verletzt wie Green, lag in den Armen Itzumis und sie beide sahen hoch, als Green sich an ihnen vorbeikämpfte, eine Spur aus Blut hinterlassend, die vom Schlüssel herunterlief. In ihrem Blick lag pureste Entschlossenheit, welche auch nicht vom Blut gestoppt werden konnte, oder vom Wind oder vom Regen, noch von dem Beben der Halle. Das weiße Gewand klebte an ihrem Körper und ihre Arme und Beine waren von rosaleuchtenden Splittern übersäht, doch die Flamme der Entschlossenheit brannte in ihren dunkelblauen Augen. Sie schrie nicht, aber ihre Lippen formten immer wieder dieselben Worte:
Ich werde nicht um Vergebung flehen.
Jeder Schritt tat weh, jeder Schritt war ein Kampf. Der Wind wollte sie nicht voranrücken lassen; die Splitter bohrten sich tiefer in sie hinein und aufblitzende Bilder der Vergangenheit wollten sie in einen Traum hineinlocken, in den sie nicht hereinfallen durfte oder sie wurde verschlungen. Alles kämpfte gegen sie und sie kämpfte gegen alles. Immer wieder knickte Green ein, weil der Boden zu sehr bebte oder weil der Wind ihr zu sehr ins Gesicht blies, aber sie richtete sich immer wieder auf, ohne auf die Elemente zu achten oder auf Ryôs und Itzumis entgeisterte Blicke, die ihrem Kampf beiwohnten... bis Green an ihrer Plattform ankam.
"Ich..." Green setzte ihren Fuß auf die Plattform, rutschte aus, richtete sich wieder empor:
"... werde nicht..." Umklammerte den Stab, welchen sie über ihren Kopf hob.
"... um Vergebung flehen!" Ehe sie ihn mit aller Wucht, aller Kraft, die sie noch hatte, wieder zurück in den Boden hämmerte.
"NIEMALS!" Und mit diesem Schrei holte Green mit der linken Hand aus und hämmerte sie schier um den brennenden Schlüssel. Wieder musste sie schreien, wieder schoss das Blut herunter und sie fragte sich langsam, wie viel sie davon noch vergießen konnte, aber selbst wenn sie alles vergießen musste, sie würde kämpfen bis zum letzten Blutstropfen!
"Ich habe gesündigt, um meinen Bruder wiedersehen zu können!", schrie Green und dieses Mal wusste sie genau, dass jeder sie hören konnte. Ihre Elementarwächter, Ryô und Itzumi, die Gottheiten, jede Seele in dieser Halle.
"Und ich würde es wieder tun! Immer und immer wieder! Ich bin unbelehrbar und ich habe ganz sicherlich keinen Respekt vor den Göttern, die meine Elementarwächter für meine Fehler leiden lassen!" Ihre Hände brannten, als würde sie glühendes Metall umschließen, welches im Begriff war zu schmelzen, doch in diesem Wirbel aus den unterschiedlichsten Schmerzen spürte sie auch... das Lauschen ihrer Elementarwächter. Pinks Tränen, Firey, die ihr immer beistand, Ilangs Eifersucht und Hass, Kaira, die ihr tatsächlich zustimmte. Sie kämpften alle. Sie kämpften alle mit ihr.
"Es tut mir Leid, dass ich eure Zeit mit euren Vorfahren unwillentlich gekürzt habe..." Azuma war darüber nicht traurig, er hatte sowieso nur eine Standpauke nach dem anderen von Izzerin erhalten; Shitaya hatte vollstes Verständnis und Saiyon vertraute Green, während Yuuki einfach nur überleben wollte. Azura war traurig und sie wusste nicht, ob sie die Entschuldigung so einfach annehmen würde, aber jetzt gab es Wichtigeres.
"... das war nicht meine Absicht und ihr könnt mich alle dafür bestrafen, sobald die Weihe abgeschlossen ist!" Die Weihe... abschließen? Sie glaubten ihre Ohren nicht zu trauen. Green glaubte noch daran? Ihr Ziel war nicht einfach nur zu überleben, die Gottheiten irgendwie zu beschwichtigen - sie wollte auch noch ihren Segen?!
"Pink! Firey!", begann Green so laut zu schreien wie sie konnte:
"Kaira! Azura! Yuuki! Azuma! Shitaya! Saiyon!" Tatsächlich zögerte sie kurz den letzten Namen zu nennen, denn ihre Eifersucht war zu deutlich zu spüren, doch sie tat es dennoch:
"Ilang!" Green wandte ihren Kopf zu Ryô und Itzumi:
"Und auch ihr beide!" Die Augen der Zwillinge weiteten sich überrascht und sie dachten wohl den gleichen Gedanken: Sie waren doch aber nur Tempelwächter?
"Steht mir bei und ich schwöre euch, wir werden das hier überleben und ich werde eine Hikari sein, die eure Treue wert ist!" Wieder starrte Green mit purer Entschlossenheit den Elementschlüssel an, nein, ihren Stab, während ihr Gesicht immer neue Furchen erhielt.
"Und noch etwas schwöre ich...", zischte Green nun leiser, denn dieser Schwur war nur für sie selbst:
"Niemand von uns wird etwas vergessen. Ich werde diese Erinnerung..." Greys Lächeln, seine Umarmung, seine Liebe.
"... mit mir nehmen. Niemand wird sie mir nehmen! Und ich werde alles, was Light mir beigebracht hat, zu Silence tragen!" Green schluckte noch ein letztes Mal, doch es war kein Zögern. Es war ein Kraftholen. Sie schloss die Augen und versuchte auf nichts anderes zu hören als auf ihre Seele. Da war ihr eigener Herzschlag, so schnell und so laut. Natürlich hatte sie auch Angst. Angst zu sterben, Angst, dass man ihr die Erinnerung wieder nahm und dass dieser Kampf umsonst war. Aber sie spürte auch die Seelen ihrer Elementarwächter. Einige von ihnen schworen ihr die Treue ohne darüber nachzudenken. Andere überließen sich ihr nur für den Moment, aber das war in Ordnung. Das war okay. Sie mussten sich nicht gegenseitig lieben. Jetzt mussten sie nur zusammen kämpfen.
Nein, jetzt musste Green für sie kämpfen.
Green holte Luft und öffnete die Augen.
"LICHT!" Greens Stimme war lauter, fester und entschlossener als jemals zuvor und übertönte alles.
"Ich, Kurai Yogosu Hikari Green, die unreine Hikari..." Ihren Namen zu hören, ihren Namen zu schreien, mit dem sie sich endlich mehr denn je identifizierte, beflügelte sie und sie konnte spüren, dass ihre gesamte Seele zu glühen begann.
"... Das Licht der Hoffnung! Ich beschwöre dich, mein Element! Beschütze uns! Stehe mir bei in diesem Kampf wie auch in allen Kämpfen, die noch kommen mögen! Kämpfe an meiner Seite, führe und schütze meine Hand und die der Personen, die mir wichtig sind und ich schwöre, ich bringe das Licht und die Hoffnung über diese Welt!" Das Glühen in ihrer Seele nahm zu, aber der Stab wurde auch immer heißer und das Toben der Elemente gewann ebenfalls an Kraft. Green hörte, dass ihr Name gerufen wurde; verschiedene Stimmen riefen ihren Namen oder ihren Titel, doch ihr Gehör wurde immer mehr von dem Toben eingenommen und die Schmerzen wurden immer größer und größer, ebenso wie das Glühen. Green hatte das Gefühl, dass sie nicht nur von außen, sondern auch aus ihrem Innerstem heraus entzweigerissen werden würde--- immer und immer schneller schlug ihr Herz----- und lauter und lauter wurde der Herzschlag und das Brennen des Schlüssels. Der Raum bebte immer mehr und sämtliche Zeichen leuchteten in einer Farbenexplosion. Haare und Kleider wehten wie in einem Tornado und Blut, Regen, Tränen und Schweiß vermischten sich mit den Schreien.
"Light...", flüsterte Green, denn ihre Stimme konnte nicht mehr schreien.
"... du bist es doch, der mich erwäh..."
In diesem Moment geschah es.
Etwas in ihrem Inneren strahlte so hell und so gleißend, dass es einer Explosion glich; einer Explosion in ihrem Innersten. Der goldene Schmuck in ihren Haaren und an ihren Armen, ebenso wie der mächtige Reif um ihren Hals und Hüfte, zersprang und dessen Einzelteile fegten durch den Raum, rissen Arme und Hände und Gesichter entzwei wie Wurfgeschosse, doch Green spürte es nicht mehr, denn nicht nur der goldene Schmuck wurde zerfetzt.
Sondern auch ihr Stab. Ihr Glöckchen.
Wind und Regen erstarben sofort und der Boden bebte nicht länger. Die pinken Scherben fielen scheppernd zu Boden und die Illusionen verschwanden. Und zurück blieb... Stille.
Die Elementarwächter und die beiden Tempelwächter wagten es, ihre Augen zu öffnen und die Hände von ihren Gesichtern zu lösen, die sie erhoben hatten, um sich vor den goldenen Wurfgeschossen zu beschützen und sie alle sahen in die Mitte des Raumes, zum Podest der Hikari.
"... Gr-een", flüsterte Firey zitternd, während ein großer Tropfen Blut auf ihr Podest herablief, doch Green konnte sie nicht mehr hören. Sie stand. Aber ihre Augen waren tot. Sie waren groß und geweitet, doch leer und tot.
"GREEN!" Firey sammelte ihre letzte Kraft und sprang auf, wollte herunterspringen von ihrem Podest, doch Saiyon hielt sie auf:
"Nicht!" Ermahnend streckte er die Hand aus:
"Die Weihe ist noch nicht vollzogen!" Sie alle sahen auf den Boden unter ihnen und in der Tat - der Boden leuchtete immer noch.
"Wir alle haben es gespürt und wir alle wissen, dass wir uns nicht von unseren Podesten entfernen dürfen, solange die Magie noch aktiv ist!"
"Aber..." Firey sah mit bangem Blick zu Green, die immer noch starr dastand und nicht reagierte.
"... Green...!"
"Wenn du jetzt zu ihr rennst, ist ihr Kampf verloren!" Der Kampf... verloren? Was redete er da? Sah er nicht, was mit...
Aber da hielten Fireys Gedanken inne, denn etwas regte sich in Greens Gesichtszügen, als... als würde sie etwas sehen, etwas... erkennen.
Nein, es war nicht etwas, was Green erkannte und was nur sie sehen konnte - sondern jemand. Ihr Stab und ihr Glöckchen waren zersprungen, doch es war nur dessen äußere Hülle zerstört worden. Ihre Seele und das Leuchten dieser war noch da, nur für sie sichtbar, nur für sie spürbar. Sie stand gebadet im Licht, in ihrem eigenen Licht, in ihrer eigenen Seele, freigelöst von jeglicher Hülle... und in diesem Licht sahen ihre dunklen, starren Augen voller Blau die Umrisse einer... Person. Einer fremden Person... eine fremde und doch so wohlbekannte Person. Ein Mann in weiß gekleidet, hochgewachsen, viel höher als sie. Sein langes, weißes Haar wehte ganz sachte um ihn herum, wie in einer leichten Frühlingsbrise. Er war schmal und sein Gesicht etwas kantig, aber seine Augen waren weich, auch wenn sie trotz jeglicher Heiligkeit etwas... melancholisch wirkten.
Gebannt, völlig verzaubert und fasziniert sah Green ihn an, tauchte in seine dunkelblauen Augen hinab, die wie ihre waren und wusste genau, dass dieser Mann Inceres war.
Der wahre Inceres.
Sie hörten beide nichts. Sie spürten nichts. Sie waren von der Welt der Lebenden getrennt.
Es gab nur sie beide.
Green wollte etwas sagen, doch ihre Stimme war ihr abhandengekommen und auch er sprach nicht. Er verstand sie auch ohne Worte, hörte ihr Gebet, ihre Bitte alles nicht zu vergessen, auch ihn nicht. Nein, dieses Bild würde sie niemals vergessen, wenn sie seine Hand nahm. Eine flache, große, weiße Hand, die sich erhob, als würde er sie an eine Scheibe legen und Green tat es ihm sofort gleich. Sie hob die Hand, zögerte ein wenig... aber warum? Es war Inceres. Inceres, der sie liebte und den sie liebte.
Sie waren endlich wieder...
... Greens Hand näherte sich Inceres’...
eins.
Und als ihre Hände sich berührten entbrannte das Licht und die Nacht wurde zum Tag.
In dem Moment, als es geschah, waren Youma und Nocturn zusammen mit Feullé und Blue immer noch im Süden Frankreichs hoch oben über den Wolken. Nocturn und Youma waren etwas abseits, denn Feullé beobachtete ihre Diskussion eher mit etwas Abstand und Blue, der Youma natürlich glaubte, sah immer noch Richtung Himmel, neben Feullé schwebend. Er sah in die dunkle Nacht hinein, aber auch hinunter zu den Wolken unter ihnen, dann wieder nach Osten. Warum wehte der Wind nicht mehr... warum begann es nicht zu dämmern...?
Nocturn schloss sich der allgemeinen ernsten Stimmung wie immer nicht an. Er hatte nur gelacht und erkannte, laut Youma, den Ernst der Lage nicht. Etwas war im Begriff zu geschehen, verstünde er denn das nicht?!
Was genau im Begriff war zu geschehen interessierte Blue nur oberflächlich, aber... Blue hob die Augen wieder und sah Richtung Norden, wo Sanctu Ele’Saces lag... was mit Green geschah---
Blues Augen weiteten sich und er wirbelte zu Youma herum, der sich in Rage gesprochen hatte und es nicht bemerkte---
"YOUMA-SA---" Doch es war zu spät.
Denn das Licht kam, um alle unreinen Wesen zu vernichten.
Das Zentrum von Sanctu Ele’Saces erglühte und eine gewaltige Säule aus Licht schoss in den Himmel empor, ehe irgendein Wächter oder Hikari verstehen konnte, was im Begriff war zu geschehen. Die Lichtsäule explodierte in tausende Lichter, die in jede Himmelsrichtung davon schossen, um jedes Wesen mit Dämonenblut zu finden, welches es wagte, sich in der Menschenwelt aufzuhalten, um dessen Leben zu beenden.
Eben noch war die Nacht dunkel gewesen. Jetzt war sie hell.
Sanctu Ele’Saces war in einer gigantischen Säule aus Licht gebadet, die die gesamte Insel einhüllte, zusammen mit allen Wächtern und Hikari - ein Licht, das so gleißend war, dass sogar sie die Hände vor die Augen halten mussten. Wäre Hizashi im Jenseits und nicht dort auf dem Platz, hätte er mit seinen Computern messen können, dass das Licht wieder einmal eine enorme Leuchtkraft gewonnen hatte - eine so enorme, dass sie die, die Green einmal freigesetzt hatte, übertrumpfte. Doch Zahlen waren manchmal unwichtig - er spürte es auch so und Tränen der Freude rannten von seinem Gesicht herunter, als er, als der einzige Hikari, das Licht mit bloßen Augen sah und dessen Bedeutung verstand. Mit einem glückseligen Lächeln küsste er sein Glöckchen und dankte seiner Göttin.
Dieses Licht kannte keine Grenzen. Kein Erbarmen, keine Vergebung.
Es war gekommen, um zu töten.
Es war sehr lange her, dass sich Silence’ Augen vor Schrecken geweitet hatten, aber das taten sie jetzt, als sie die tausenden Sternenschnuppen sah, die über den dunklen Nachthimmel rasten. Nein, es waren keine Sternschnuppen - es waren Lichtkugeln, die den Tod brachten und Silence war noch nie so froh gewesen, dass dieser sie bereits vor Äonen heimgesucht hatte. Die Kugeln schossen über ihren Kopf hinweg, um sich andere Opfer zu suchen.
Eine dieser Sternschnuppen, die größte aller, schoss auf Youma zu.
Von Blues Ruf erschrocken drehte Youma sich gerade noch rechtzeitig herum, um das Licht zu sehen, welches auf ihn zugeschossen kam, aber niemals hätte er verhindern können, dass es ihn durchbohrte. Er hatte nicht schnell genug gehandelt.
Seine Augen erhellten sich, sein Gesicht wurde bereits weiß--- doch dann spiegelten sich für einen kurzen Moment die Flügel einer goldenen Lichtgestalt in seinen aufgerissenen Augen; eine goldene Lichtgestalt, die genau im letzten Moment die Sternschnuppe abwehrte, in dem sie den Arm in die Höhe riss und die Lichtkugel in den Himmel zurückwarf. Der Aufprall an sich war stark und hell genug, um Youma für einen Moment das Augenlicht zu nehmen, aber er zwang sie sofort wieder auf, obwohl jeder Zentimeter seiner Haut brannte.
Youmas Augen weiteten sich so sehr, dass es weh tat.
Er hatte ihn erkannt.
Niemand anderes hatte Flügel. Niemand anderes hatte solche Flügel. Es konnte nur---
"Light!" In seiner Stimme lag etwas, was er überhaupt nicht hören wollte; ein Gefühl, was sein Herz zerspringen ließ. Sehnsucht. Große, viel zu große Sehnsucht.
"FLIEH!" Youmas Augen zitterten, als seine Augen und Lights sich zum ersten Mal trafen, seitdem es geschehen war:
"Flieht in eure Welt, nur da---" Doch er konnte den Satz nicht beenden, ehe er verschwand und Youma, der die Aufforderung in die Tat umsetzen sollte, spürte, dass das nicht so einfach werden würde. Das Teleportieren war nicht mehr möglich. Die Luft war anders. Sie bebte. Sie glühte und... sie war schwer. Viel zu schwer.
Sie fielen. Sie stürzten wie Steine vom Himmel herab.
Nein, nur Nocturn, Feullé und Blue fielen. Youma konnte noch fliegen - warum auch immer, vielleicht weil Light ihn gerettet hatte, vielleicht weil er ein Halbgott war, wer wusste es, egal, egal! Sie fielen alle drei und Youma war der einzige, der sie retten konnte!
"NOCTURN!" Er schrie seinen Namen zuerst, ihm als erstes sofort hinterherfliegend, da er ihm am nächsten war, doch Nocturn hörte ihn nicht. Obwohl Light das Licht weggeschlagen hatte, hatte der Einschlag dieses gleißenden Lichtes ausgereicht, um den anderen drei Dämonen das Bewusstsein zu rauben.
Wie Kometen stürzten sie durch die regennassen Wolken und Youma hinterher, der immer schneller wurde und sich verzweifelt nach Nocturn ausstreckte. Warum war denn sein Umhang plötzlich weg?! Wenn Nocturn sich schon nicht nach ihm ausstrecken konnte, dann hätte Youma wenigstens seinen Umhang packen können! Argh! Hatte Nocturn ihm nicht mal gesagt, dass sein Umhang nur aus Magie bestand?! Aber sämtliche Magie war wirkungslos - was war hier nur geschehen?! Was hatte dieses Hikaru-Mädchen--- Egal! Wenn Youma nichts tat, würden alle drei auf dem Boden aufschlagen und keiner würde so einen Aufprall überleben!
"Nocturn!", schrie Youma noch einmal, dieses Mal inbrünstiger, während seine Hände verzweifelt versuchten, Nocturns Kragen zu packen zu bekommen--- Es fehlten doch nur noch ein paar Zentimeter!
"Verdammt nochmal! Ich habe dich nicht wiederbelebt, damit du so stirbst!" Aber es folgte keine Reaktion. Nichts regte sich in Nocturns Gesicht. Er sah... komischerweise sehr friedlich aus. Dieser verdammte Wahnsinnige!
"Jetzt ist nicht--- die Zeit--- ZUM STERBEN!" Und endlich - ENDLICH - gelang es zwei von Youmas Fingern, Nocturns Kragen zu packen und mit einem entschlossenen Ruck zog er ihn zu sich und umschloss diesen wahrlich sehr mageren Körper, der ihn kaum beschwerte. Dann sah er zu Feullé und Blue, die bereits gute 20 Meter weiter unter ihm waren. Nocturn war nicht schwer, aber er konnte nicht alle drei... Youma knirschte mit den Zähnen, während Nocturns Locken um ihn herumwirbelten und der Boden mit seinen Wäldern und Hängen immer näherkam. Teleportieren konnten er sie immer noch nicht, nein, die Luft wurde immer schwerer... auch für ihn wurde das Fliegen immer kraftaufwendiger... Was hatte dieses Hikaru-Mädchen nur getan?! Was geschah hier?! Hatte sie sämtliche Magie außer Kraft... nein, das konnte sie nicht, das war es nicht und über seines hatte sie auch definitiv keine Macht!
"Mutter!", rief Youma und streckte seine Hand Richtung Boden.
"Ich brauche dich!" Er hatte sein Element noch nie so direkt angerufen und doch wusste er ganz genau, dass es seinem Ruf, nein, dass seine Mutter, dem Ruf folgen würde.
"Hilf mir im Kampf gegen Hikaru!" Doch was genau passieren würde, das hatte Youma nicht kommen gesehen. Die Lichtung unter ihnen, die so kurz davor war, zu ihrer Grabstätte zu werden, leuchtete auf in einem lilanen, dunklen Zwielicht und es überzog das Gras und die Bäume, jeden Stein, der dort lag mit einer leuchtenden Kristallschicht, als würde alles zu Diamanten werden. Die Luft, die von diesen Diamanten erhellt wurde, wurde leichter und Youma bemerkte, dass er nicht länger fiel. Er erhielt die Kontrolle zurück und als er zu Blue und Feullé sah, sah er, dass sie sanft, als würden sie von einer unsichtbaren Person getragen werden, zu Boden glitten: einem Boden, der komplett... von einer Kristallschicht überzogen war, auf dessen blanker Oberfläche Youmas Stiefel sachte landeten.
Immer noch hielt er Nocturn fest an sich gedrückt, als hätte er vergessen, dass er ihn trug, denn zu überrascht und fasziniert sah er sich um. Das war... sein Werk? Diese Kristalle? Das war... sein Element?
"Fl-----ieh."
Youma spürte, dass Tränen in seine Augen aufstiegen. War das ein Echo Lights... oder war das die Stimme seiner Mutter? Doch egal wessen Stimme es war, er sollte dem Ruf folgen, doch... er wollte gar nicht weg. Er wollte sich von diesen Kristallen nicht entfernen, sie waren so schön, sie fühlten sich so heimisch an, so... als würde seine Mutter ihn...
Doch gerade als Youma sich um sich selbst gedreht hatte, um den Kristallwald in seiner gesamten Pracht sehen zu können, zersprang all seine Schönheit und zurück blieb nur dunkelste Nacht - und ein Husten durchschnitt die Stille.
Youma wurde zurück in die grausame Wirklichkeit geworfen und das Gewicht Nocturns kehrte auch zurück, welchen er immer noch auf den Armen trug. Es war er, der gehustet hatte, und es war auch er, der sich... Youmas Stirn runzelte sich... vor Schmerzen krümmte.
"Nocturn...?" Auch hinter Youma hörte er Husten - es war Blue, der sich unter Schmerzen versuchte, aufzurappeln.
"Die---Die Luft---", ächzte er empor und auch Feullé begann zu husten, gefolgt von einem kläglichen Schmerzensschrei. Auch Youma blieb nicht verschont. Niemand blieb verschont: Tränen aus Blut rannen von seinen Augen herunter, als er es verstand.
Die Luft war vergiftet.
Silver wurde aus dem Schlaf gerissen von den vielen Geräuschen, die plötzlich in seiner kleinen Schlafkammer zu hören waren. Er war... argh, verdammt, er war am Tisch eingeschlafen. Schon wieder! Das tat er fiel zu oft, seitdem Blue nicht mehr... Was zur Hölle war denn da oben los?
Der Rotschopf rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah zur Decke empor, wo er tausende Fußschritte hören konnte und dann zuckte er auch schon zusammen, denn da fiel gerade eine Vase oder Ähnliches herunter, weil wohl jemand geflogen war und sie zu Bruch gebracht hatte. Pah, sie durften doch nicht in Ri-Ils Anwesen fliegen, das wussten sie doch alle... Es sei denn...
Das Lachen verging Silver, denn es gab nur eine Ausnahme - wenn es einen Notfall gab.
Alarmiert sprang Silver auf und schob auch schon die Schiebetür zur Seite, die ihn zur bekannten Wendeltreppe führte, die er so schnell hinaufrannte, wie er konnte. Lauter und lauter wurden die Schritte und Schreie gesellten sich hinzu und Angst klomm in Silver empor. Wurden sie etwa angegriffen? Waren die Wächter so weit vorgerückt?! Aber dann wäre er doch geweckt worden... Nein. Nein, er spürte keine Wächter-Auren. Nur ihre, nur Auren von Dämonen. Aber warum waren alle so aufgebracht? Warum hörte er immer wieder das Wort "Schnell!" und "Beeilung!"... flohen sie etwa? Aber doch nicht...
Als Silver die Tür aufschlug und den Gang herunterrannte, der zum Hauptkorridor von Ri-Ils Anwesen führte, schienen die roten Lampions um ihn herum hin und her zu schwenken und als er die letzte Tür aufschlug, schlug ihm ein enorm heftiger Blutgeruch entgegen, so heftig, dass sogar ihm als Dämon kurz übel wurde.
Er sah Darius, über und über mit Blut befleckt, dann rannte sein Kommandeur auch schon zusammen mit einem anderen Hordenmitglied und einer der Frauen in die andere Richtung, ohne Silver irgendetwas zu erklären, der einfach nur verwirrt und geschockt in der Tür stehen blieb, ohne beachtet zu werden.
"Unser Meister opfert sein Leben für uns, also wagt es nicht zu sterben! WAGT ES NICHT!"
---- was?!
Silver wollte Darius hinterherrennen, aber da wurde er auch schon gepackt und zurück geworfen in den leeren Korridor. Sofort erkannte Silver das Parfüm Mekares, aber anstatt sich von ihr umarmen zu lassen, löste er sich abrupt von ihr--- doch sie zog ihn wieder an ihre Brust, mit einer größeren Stärke, als er es von ihr erwartet hatte. Das Geschrei wurde lauter, doch es drang nur dumpf zu ihnen.
"Bleib hier", flüsterte sie mit bebender Stimme in sein Haar.
"Bleib hier! Geh nicht da raus!"
"A-Aber was... Mekare! Was passiert da?! Was ist mit Ri-Il?!" Wieder versuchte Silver sich loszureißen, aber Mekares Griff war sehr fest.
"Ri-Il! Was ist mit ihm?! Was ist mit Sensei?!" Doch da verstummten Silvers Rufe, denn er spürte Tränen auf seinem Kopf, in seinem Haar. Mekare... weinte.
"Er... er..." Sie versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.
"Vielleicht stirbt er." Das "vielleicht" kostete sie viel Überwindung und Silver hörte mit bebendem Herzen, dass sie nicht daran glaubte. Aber Ri-Il... das konnte doch gar nicht...
Ri-Il konnte doch gar nicht sterben.
"D-Das... das Licht... es tötet uns alle... Jeder Dämon, der in der Menschenwelt ist... jeder, der da draußen ist... wird sterben." Mekare schluckte und drückte den erstarrten Silver noch näher an sich heran.
"Aber Ri-Il, Silver-kun... er lässt das nicht geschehen. Seine Hordenmitglieder lässt er nicht sterben. Niemals würde er das zulassen! Er beschützt uns alle!" Noch mehr Tränen liefen herunter:
"Er ist da draußen! In der Menschenwelt! Und rettet alle 244 von uns, die sich jetzt gerade in der Menschenwelt aufhalten! Er hat schon so viele... gerettet... und mit jedem Dämon, den er zurückholt wird er... schwächer..." Mekare löste sich von ihm. Sie musste es tun, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
"Er ist nicht allmächtig, weißt du, Silver-kun... und so viel Licht... das hält auch er..." Entgeistert starrte Silver die weinende Dämonin an, die er nur als die stärkste Frau kannte, die er jemals gesehen hatte. Sie weinte wegen dem stärksten und coolsten Dämon, den es gab. Silver konnte das Ganze nicht glauben. Er... träumte noch. Er war in einen Albtraum.
"Blue." Silver verstand gar nicht, was er da sagte, aber seine Stimme arbeitete auch ohne, dass er es verstand:
"Er ist doch... in der Menschenwelt." Mekares Bewegungen verharrten und Silver nutzte den Moment ihrer schrecklichen Realisation, um sich von ihr zu lösen.
"Wird Ri-Il auch ihn..." Nein, das würde er nicht. Blue gehörte nicht mehr zu ihnen und diese Wahrheit sah Silver auch in Mekares entgeisterten, aber auch verstehenden Augen.
Silver dachte nicht nach. Weder über die Konsequenzen noch über die Situation an sich oder die Sorge, die in Mekare explodierte, als Silver genau vor ihren Augen verschwand und sich in die Menschenwelt teleportierte. Er dachte nicht an ihr armes Herz, welches ihr einen weiteren Schrei entlockte, als sie sich der grausamen Gewissheit gegenübersah, dass sie nicht nur ihren geschätzten Meister verlieren könnte, sondern auch ihr letztes Kind.
Dieses Mal machte Silver nicht wieder den Fehler sich der Empfangsdame auszusetzen, die im Hochhaus von Quai de Grenelle ihre Finger lackierte - er teleportierte sich direkt in das dunkle Wohnzimmer von Appartement 667. Die plötzliche Stille wirkte betäubend auf seine Ohren und der Umschwung verwirrte ihn zunächst - doch noch mehr verwirrte ihn wie normal alles war. Das Wohnzimmer lag verlassen vor ihm, ebenso wie die Küchendiele hinter ihm verlassen war. Die roten Ziffern der Digitaluhr der Mikrowelle sprangen gerade auf 08:30 Uhr, aber Silver war zu verwirrt, um sich über die eigenartige Dunkelheit zu wundern; die Abwesenheit der Sonne an diesem Novembermorgen, wo es schon längst dämmern sollte.
Hier war niemand... hier war alles normal... warum waren denn alle so pani---
Seine Gedanken wurden sofort unterbrochen, als ein plötzlicher Husten aus seiner Kehle drang; ein Husten, der sein Innerstes zu verbrennen schien und noch ehe er sich darüber wundern konnte, zwang sein Körper ihn auch schon dazu auf den Boden zu gehen.
"Was--- was zum..." Seine Augen brannten und Blut spritzte zu Boden. Was zur Hölle war mit der Luft los?! War es das... was sie tötete...?! Silver konnte das Husten gar nicht kontrollieren und immer mehr Blut verteilte sich auf dem hellen Teppichboden, während er sich mit flackerndem Sichtfeld versuchte umzusehen. Nirgendwo sonst sah er Blut... Blue war nicht hier gewesen, als es - was auch immer es war - geschehen war. Silver fluchte über sich selbst - Blue hatte sich doch natürlich in Sicherheit gebracht! Er war ja auch nicht alleine und keiner von ihnen wollte sicherlich sterben...
Silvers Kopf donnerte mit einem Schrei auf den Boden, aber unter Blut und Röcheln versuchte er sich wieder aufzurappeln. Er musste... er musste... hier weg... Die Menschenwelt war nicht mehr sicher... sie war verpestet...
Mit einer plötzlichen Realisation schlug Silver die blutigen Augen auf. Rui war in der Menschenwelt. Rui war wegen ihm in der Menschenwelt, wegen ihm und seinem dummen Klamottenwunsch! Hatte Ri-Il sie bereits gerettet?! Oh nein, oh nein, verdammte Scheiß... Rui trug doch deren Ingnix - Ri-Il konnte sie gar nicht retten!
Silver musste zurück nach Hause, so schnell er konnte, aber... aber... er konnte Rui doch nicht hier zurücklassen?!
Sie brachte sich wegen ihm in Gefahr, immer und immer wieder. Silver konnte nicht einfach in seinem Zuhause auf sie warten, bis Ri-Il sie fand und rettete. Er war es auch, der wusste, wo sie war - in seinem verdammten Lieblingsgeschäft in Shibuya. Er war es, der sie retten musste, also tat er das auch und teleportierte sich nicht in Sicherheit, sondern nach Tokio, nach Shibuya, wo er ohne es sich zu überlegen in das Geschäft hineinstürzte. Die Glastüren öffneten sich für ihn, doch weiter kam er nicht, denn dort musste er sich bereits festhalten. Die Luft war so schwer, so schrecklich schwer... sie brannte... sie brannte in seiner Lunge, in seinen Augen... Zitternd hob Silver die Hand zu diesen und seine Augen weiteten sich entsetzt, als er sah, dass seine Hand voller Blut war. Es lief... aus seinen Augen, aus seiner Nase, aus seinem Mund. Silver schluckte und überall war nur noch Blut, in ihm, auf ihm, überall, aber er versuchte es wegzuwischen, um klar sehen zu können, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Der Moment genügte.
Rui sah genauso aus, nein, noch schlimmer als er und weckte genauso viel Aufmerksamkeit der Menschen wie er. Sie waren unberührt von der Luft, atmeten normal, bluteten nicht, aber sie sahen wie diese beiden Dämonen bluteten, wie sie starben.
Silver biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mit Gewalt durch die Menschen, die sich um Rui herum gestellt hatten. Einige hatten Handys am Ohr. Vielleicht riefen sie einen Krankenwagen oder einen Arzt oder was auch immer - Silver konnte es nicht hören. Sein Körper konnte das hier gar nicht aushalten, wie... wie schaffte es Ri-Il...
"Ru---i---" Rui öffnete kraftlos die blutenden Augen und schwach... brachte sie es tatsächlich zustande zu lächeln.
"Silver...sama..." Silver ging neben ihr auf die Knie und versuchte sie hochzuheben, aber seinem Körper mangelte es bereits an Kraft.
"... ich habe... so ein cooles Outfit... gefunden... Ihr werdet... so toll..."
"Du bist echt schlimm... weißt du das, Rui..."
"Ihr seid beide "schlimm" möchte ich anmerken." Silvers Gesicht hellte auf vor Erleichterung, als er die Stimme seines Lehrmeisters hörte und würde aus seinen Augen nicht das Blut herauslaufen, er hätte geweint. Doch als er sich herumwandte und Ri-Il hinter sich stehen stand, erstarrte sein Lächeln. Er sah Ri-Il nur verschwommen durch ein rötliches Flimmermeer, aber das, was er sah, war... entsetzlich. Seine Stimme klang noch... normal... aber... er war...
"Es tut mir Leid", wimmerte Silver, der Ri-Il einfach nur anstarren konnte. Ri-Il, der... wirklich... im Begriff war... da war so viel Blut an ihm... seine Aura, sonst so stark, so mächtig, einer großen Flamme gleich, war nur noch eine kleine flackernde Kerze... er atmete schwer und röchelnd wie im Sterbebett und doch stand er aufrecht. Er trug sogar seinen Zylinder, als wäre er nur auf einem Spaziergang.
"I-Ich konnte einfach nicht anders, Rui, sie... Ich weiß, das war nicht klug und sicherlich nicht etwas... was Ihr tun würdet..."
"Nein, gewiss nicht."
"Ich konnte aber einfach nicht... anders, ich... ich bin doch für sie verantwortlich!" Ri-Il beugte sich herunter und nahm Ruis Hand, ehe er seine Hand auf Silvers Kopf legte.
"Schon gut, Silver-kun, jetzt atme ein." Und dann wurde die Luft leichter. Nicht viel, aber genug, dass Silver einen tiefen Atemzug nehmen konnte.
"Ihr seid zum Glück..." Ri-Ils Stimme knickte und Silver entfloh ein stummer Schrei und Tränen vermischten sich mit Blut.
"... die letzten."
Ri-Il brachte Silver und Rui genauso zurück in sein Gebiet, wie er auch seine anderen Hordenmitglieder gerettet hatte - wie, verstand Silver nicht, denn es fühlte sich nicht wie eine Teleportation an. Er hatte eher das Gefühl, dass er fliegen würde - sehr, sehr schnell fliegen würde, durch sämtliche Hindernisse hinweg, durch Räume und Wolken, und alles, was es gab, als machte Ri-Il sämtliche Substanzen nichtig. Silver klammerte sich an seinen Lehrmeister und an Rui, bis er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte und... die Luft... normal war. Dieselbe etwas rauchig schmeckende Luft wie immer, nur, dass sie viel, viel blutiger war als sonst.
Silver fiel im Kommandoraum von Ri-Ils Anwesen auf die Knie, erleichtert aufjauchzend. Mekare rannte zu ihm und verpasste ihm eine harte Ohrfeige, ehe sie ihn halb schreiend in die Arme schloss. Eine Entschuldigung an Ri-Il, der gerade seinen Zylinder dem herbeigestürmten Darius reichte, blieb daher ungesagt.
"Sag dem herbeistürmenden Lycram, dass ich ihn nicht empfangen kann." Ri-Ils gebrochene Stimme war kaum mehr als ein Kratzen, aber er unterdrückte jedes Husten. Darius sah ihn mit Verzweiflung in den Augen an, ebenso wie Mekare es tat, die den Kopf von Silver hob, den sie immer noch fest an ihre Brust drückte. Darius schluckte. Es fiel ihm schwer, nichts dazu zu sagen wie... Ri-Il aussah, wie flackernd seine Aura war, nur seinen Zylinder zu halten, anstatt ihn zu stützen.
"A-Aber Ri-Il-sama, Fürst Lycram ist nicht hie---" Genau in dem Moment wurde die Schiebetür auch schon zur Seite gedonnert.
"Entschuldige mal, du bescheuerte Zopfvisage?! In der Menschenwelt verrecken alle, bekommst du das nicht mit?! Wir haben verdammt nochmal schon zum zehnten Mal zu einer Konferenz..." Aber dann verstummte der schreiende Lycram, denn genau in dem Moment versiegte der letzte Tropfen von Ri-Ils als unerschöpflich geltender Magie. Die Spitzen seiner leuchtenden, orangenen Haare wurden von den Spitzen angefangen in tiefes Schwarz gehüllt und wie ein Wasserfall fielen seine langen, lockigen Haare über seine gekrümmten Schultern, über seinen Rücken und auf den Boden, ehe auch der Fürst selbst zu Boden ging.
Immer noch vom Licht gebadet lächelte Hizashi breit und zutiefst zufrieden. Auch viele Wächter tanzten erfreut. Sie sangen und feierten über diese erfolgreiche Weihe, die jede andere übertroffen hatte.
"Sie sterben immer noch", flüsterte Hizashi entzückt an seine Mithikari. An den ernsten Shaginai und die steife White, der er ein stolzes, gerührtes Lächeln schenkte, ehe er sein Monokel wieder zurechtschob, wo die Zahl der sterbenden Dämonen stetig empor kletterte.
"Es sind bereits mehr als 3000." Begleitet von der Begeisterung der Wächter schlug Hizashi die Augen nieder und sprach mit erfreuter Stimme:
"Was für ein Freudenfest eure Tochter und Enkelin uns gebracht hat."