Kapitel 110 - Neuinterpretation
Green war absolut überfordert von allem, was um sie herum geschah. Als sie heraustraten in das strahlende Licht der Sonne, waren sie, ihre Elementarwächter und die beiden Tempelwächter überrumpelt worden von Tausenden Stimmen, Rufen, Gesängen, Geschrei. Es war laut; viel lauter als sonst im Reich der Wächter und Green hatte Lust, allen zu befehlen ruhig zu sein. Sie hielt sich an Saiyons Hand fest, denn sie hatte das Gefühl hinweggeschwemmt zu werden von dieser Welle der… ja, sie glaubte, es war Begeisterung. Aber wofür? Etwa einfach weil die Weihe vorüber und ein Erfolg gewesen war? Fest drückte sie die Hand ihres Verlobten, aber noch fester hielt sie ihren Stab umschlossen, als wäre er immer noch der Elementschlüssel, der ihr Überleben sicherte. Er brannte nicht genauso sehr wie dieser, aber er war immer noch sehr heiß.
Shitaya wurde von Säil und seinen ehemaligen Offizierskollegen begrüßt und Green sah unwirklich, wie in einem Film, dass Tinami auf Kaira zurannte und sich ihr um den Hals warf, ehe sie auch Azura an sich drückte. Daichi stürmte auf seine Schwester zu, die die erste Gelegenheit nutzte, die sich ihr auftat, um sich begleitet von Ryô wegführen zu lassen, um die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes zu gewährleisten… und was sah Green da? Ging Pelagius etwa extra zu Azura, um sie zu beglückwünschen, während sein Vater Firey, Yuuki und Azuma in Empfang nahm? Aha? Green versuchte mehr von Azura und Pelagius zu sehen, aber Ignes versperrte die Sicht, als er seine drei Schüler in die Arme schloss.
Es war alles schön zu sehen, sehr herzerwärmend, aber Green wollte einfach nur weg. Die ganzen Stimmen waren ihr zu viel und die Heiterkeit erdrückte sie… und doch suchte sie nach jemandem in der Menge… auf den Dächern, auf den Türmen… irgendwo, wo vielleicht niemand war…
Aber sie sah Silence nicht.
„Green!“ Ihr Hoffen wurde erhört – allerdings von der falschen Person, doch es freute Green auch, ihre Mutter zu sehen. Schritt für Schritt wurden die vielen Stimmen um sie herum leiser, als die zwölf Hikari vortraten, genau wie Green es tat, als sie sich von Saiyon löste. Die Gesänge der Wächter verstummten und die Tanzbewegungen verlangsamten sich, ehe sie gänzlich zum Stillstand kamen, genau in dem Moment als White vortrat, so dass sie und Green nun auf der Mitte des Hauptplatzes von Sanctu Ele’Saces standen, inmitten von steinernen Blumen und Elementbeschwörungen, die auf dem Boden eingraviert waren unter einem strahlenden, blauen Himmel, erwärmt von der gerade aufstehenden Sonne.
Whites Augen waren glasig und die Hand auf ihrer Brust verkrampft. Green überkam das schlechte Gewissen. Sie hatte sich in Lebensgefahr gebracht und… dabei gar nicht daran gedacht, wie sehr White leiden würde, wenn ihr…
Es war deutlich, dass White mit sich selbst und ihren Gefühlen rang. Sie schien auf Green zu rennen zu wollen, tat dies aber nicht, weil zu viele Augen auf den Zweien lagen. Doch als sie genau vor ihrer Tochter stand, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und schlang die Arme um Green.
„Ich bin so froh, dass du wohlbehalten bist… So froh!“
„Es tut mir leid, Mutter… Wirklich, ich… ich wollte dir keine Sorgen machen…“ Aber sie war gut darin, dass wusste sie und fest erwiderte sie die Umarmung ihrer Mutter. Es tat ihr leid – es tat ihr wirklich leid. Ihre Mutter, die schon so viel durchgemacht hatte, hatte mehr verdient als so eine schwierige Tochter wie Green, als… letztes Kind.
„Green, wie siehst du nur aus?“ White löste sich von ihr und strich ihr behutsam über die Wange, auch wenn dort keine Kratzer mehr zu sehen waren.
„Oh, was ist nur geschehen?“
„Naja… also…“ Nein, nicht jetzt. Außerdem wollte Green etwas ganz Anderes von White wissen:
„Wo ist Silence?“ White sah sie verwundert an, als erwähne sie den Namen von jemandem, den sie nicht kannte. Gut, sie sprachen auch sehr wenig von ihr…
„Ich kann sie nicht spüren…“, erklärte Green, aber da störte Shaginai deren öffentliche Zweisamkeit schon mit seiner üblichen Unsensibilität.
„Zügle deine Gefühle, White. Sie sind ohnehin unangebracht.“ Shaginai räusperte sich und obwohl Green ihn gerade am liebsten schlagen wollte – sie wollte gerne von White umarmt werden! Alle anderen wurden doch auch umarmt, warum durften nur Hikari das nicht! – war sie auch froh, ihn zu sehen und sie glaubte… da ein wenig Erleichterung in seinen Augen zu sehen, aber vielleicht wollte sie das auch einfach nur.
„Yogosu war niemals in Gefahr. Sie war immerhin in der Obhut des Lichts.“
„“Yogosu“?“, wiederholte Green und sah ihren Großvater mit zusammengekniffenen Augen an, während sie immer noch die Hand ihrer Mutter hielt.
„Ich bin jetzt eine geweihte Hikari, Großvater, ich finde…“
„Du bleibst immer Yogosu.“ Green öffnete den Mund, um zu protestierten, aber da mischte sich Mary ein, die Greens Gewand argwöhnisch inspizierte.
„Unser Element, Shaginai-kun, zerreißt aber keine Stoffe… und irre ich mich oder ist das Blut?“ Nun, ja, das war ein Problem und eine richtige Beobachtung. Greens Heilmagie hatte ihre Wunden heilen können und Blut zum Versiegen gebracht, nicht aber ihre Kleidung hergestellt oder diese gewaschen. Es war nicht so, dass sie nackt auf dem runden Hauptplatz von Sanctu Ele’Saces standen, aber ihre weißen, ach so heiligen Gewänder sahen eher wie zerrissene Lumpen aus, was sie dem Gott des Windes und der Göttin des Schutzes zu verdanken hatten.
„Es scheint mir einiges geschehen zu sein.“ Hizashi. Er war so ziemlich der letzte Hikari, mit dem Green jetzt reden wollte.
„Ich wünschte, ich könnte um einen detaillierten Bericht bitten…“ Ah, natürlich… er ging davon aus, dass keiner von ihnen noch etwas wusste. Moment, das bedeutete, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon alles hätten vergessen sollen?! Dann war es Green wirklich gelungen sie vor dem Vergessen zu bewahren!?
Green hielt den stechenden Augen Hizashis stand, aber antwortete nicht, denn sie hatte das Gefühl, dass er gut darin war, Lügen zu durchschauen und auf einem Platz voller Wächter und Hikari wollte sie ihm nicht mitten ins Gesicht lügen.
„Was für ein formidabler Stab.“ Hizashis Augen glitten herunter, folgten der Form des Stabs, welcher für Green garantiert keine Liebe auf den ersten Blick war. Er war immer noch kochend heiß, schwer und sah aus wie ein Schlagstock.
„Er erinnert mich an den, den die Göttin Hikaru getragen hat…“ Immer noch dem Blick standhalten… standhalten… obwohl sie das absolut nicht hören wollte und das ganz besonders nicht von Hizashi, von welchem sie sich absolut sicher war, dass er einer von Hikarus Erwählten war. Er besaß das strahlendste Lächeln von allen Hikari, die sie kannte, und doch lag nur Kälte in seinen Augen und in seinem Lächeln. Er könnte ihr Sohn sein!
„… und ich freue mich darauf, die nötigen Tests mit Ihnen durchzuführen, Green-san.“ Green gewiss nicht.
„Sie haben schon jetzt so Großes vollbracht!“, fuhr er fort und Green wechselte einen etwas unsicheren Blick mit White und Shaginai, als Hizashi die Arme ausstreckte, als wolle er sie umarmen, aber deren ernste Blicke verwirrten sie nur weiter. Aber ihre ernsten Blicke wechselten zu entsetzten, als Hizashi fortfuhr und ein Thema ansprach, von dem niemand von ihnen erwartet hatte, dass er es tun würde.
„Vor 18 Jahren, als Ihre Schicksalskarten gelegt wurden…“ Auch Adir sah Hizashi bestürzt an, ebenso wie Mary es tat. Über die Karten sprach man nicht! Das war ein ungeschriebenes Gebot! Man sprach über niemandes Karten!
„…da sagte man voraus, dass Sie den Untergang des Wächtertums besiegeln würden…“ Das Lächeln Hizashis wurde schmal. Das Entsetzen seiner Mithikari schien ihm absolut keinen Einhalt zu gebieten, im Gegenteil, es schien ihn zu beflügeln und er starrte tief in Greens Augen, die sich nicht abwenden konnte und fassungslos zurückstarrte. Sie wusste nichts von diesem Tabu, aber sie hätte dennoch nie gedacht, dass ihre Karten jemals wieder auf den Tisch kommen würden, wo es doch diese gewesen waren, die für ihre Hinrichtung gesorgt hatten.
„… aber womöglich war das eine bedauerliche Fehlinterpretation, angeregt von Falscheinschätzungen…“ Shaginai verzog das Gesicht – was unterstellte er ihm da gerade?!
„… und einem übereifrigen Gemüt.“ Bitte?!
„Die Tatsache, dass sie von göttlicher Hand gerettet wurde…“ Er flüsterte nun, denn natürlich sollte das nicht jeder Wächter hören.
„… zusammen mit Green-sans heutigen Taten… lassen nur eine Schlussfolgerung zu – die Karten sind falsch interpretiert worden.“ Shaginai öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Adir schickte ihm einen Blick zu, der ihm befahl ruhig zu bleiben. Er hatte es gerade selbst zu White gesagt – sie waren in der Öffentlichkeit und die Wächter wussten nichts von der Hinrichtung Greens, was nun mehr denn je auch so bleiben musste.
Shaginai hatte absolut keine Absicht, das zu akzeptieren; Hizashi stellte sich gerade so hin, als hätte er nicht zu dieser „Fehlinterpretation“ beigetragen, dabei war er eine der führenden Stimmen gewesen!
Daran dachte Hizashi aber scheinbar nicht mehr:
„Green-sans Geburt bedeutet nicht den Untergang des Wächtertums, sondern die komplette Auslöschung der Dämonen! Es ist IHR Tod; IHRE komplette Vernichtung, die die Schicksalskarten vorausgesagt haben!“ Green, immer noch völlig im Unklaren darüber, was in den letzten Stunden außerhalb der Halle geschehen war, sah Hizashi völlig verwirrt an, ebenso wie ihre Elementarwächter es taten, die sich wieder hinter Green sammelten.
„Nichts anderes kann eine so große Menge ausgelöschter Dämonen bedeuten! 4.782!“ Hizashi verkündete diese Zahl so laut und triumphierend, dass es jeder hören konnte, als wäre seine Stimme dafür gemacht, solch Botschaften zu verbreiten. Die Begeisterung der Wächter begann wieder anzuschwellen, doch Greens Augen weiteten sich nicht vor Freude, als sie zu verstehen begann.
Inceres…
… als sie seine Hand genommen hatte, da… da hatte sie das Gefühl gehabt…
„So lautet die momentane Zahl der toten Dämonen, die in weniger als zwei Stunden terminiert wurden! Und sie sterben immer noch!“
… dass sie Schreie gehört hatte.
„Meine Mitwächter!“ Von feierlichem Eifer beflügelt, drehte Hizashi sich herum und richtete sein Wort an die Wächter, die ihn begeistert ansahen – ihn und Green und ihre Elementarwächter.
„Die Lichtgötter sind uns in dieser Form erschienen – um durch uns das ewige Werk zu einem Ende zu bringen! In dieser Generation wird es geschehen! Es wird die letzte sein, die im Krieg lebt! Sie ist unsere Hoffnungsträgerin! Die Lichtbringerin!“ Green hatte das Gefühl, dass ihr der Stab aus der Hand rutschte.
„Die Dämonen werden ausgelöscht werden!“ Und Hizashis leidenschaftliche Worte wurden beantwortet:
„Tod den Dämonen!“ Es war nur eine Stimme – wer das geschrien hatte, das wusste Green nicht, aber es war auch unerheblich, denn sofort schrien sie es alle zusammen:
„TOD DEN DÄMONEN! TOD DEN DÄMONEN!“ Hizashi lächelte so zufrieden wie noch nie, als dieser Ruf sich immer und immer wieder wiederholte und zu einem lauten Getose wurde.
„TOD DEN DÄMONEN!“ Er achtete gar nicht auf Mary, die ihm zuraunte, dass er eine solche Ansprache vielleicht vorher mit ihr besprechen sollte, zu sehr genoss er die Rufe, die immer lauter wurden. Die erhabenen Drei wechselten unauffällig Blicke aus und Firey fragte sich, ob sie denn wirklich die einzige war, der von diesen Rufen übel wurde. Shitaya und Saiyon riefen es ebenfalls, genau wie Azuma es tat…
Green war nicht übel.
Sie versuchte zu lächeln, obwohl sie bleich geworden war… bleich und… eiskalt.
Wenn sie bei ihrer Weihe 4.782 Dämonen getötet hatte, dann war es absolut unmöglich, dass Light sie gewählt hatte.
Hikaru.
Es konnte nur Hikaru sein.
Hikaru… Sie war eine von Hikarus erwählten Hikari.
Warum konnte Blue eigentlich nie schöne Träume haben, in denen er Green wiedertraf? Er verstand und war auch gänzlich damit einverstanden, dass er mit Albträumen bestraft wurde, aber warum mussten sie sich immer auf einem Friedhof gegenüberstehen? Im wachen Zustand versuchte er, darin einen Sinn zu erkennen; versuchte sich die unzähligen Grabsteine vorzustellen, um ihre Inschrift lesen zu können, aber es gelang ihm nie und wenn er dort war… dann interessierten ihn die schwarzen Denkmäler nicht. Dann zählte nur Green. Er versuchte nicht, den Ort zu ergründen und er hatte auch schon längst aufgegeben zu versuchen, das andauernde Lachen einer Person zuzuschreiben oder ihr einen Namen zu geben. Heute klang das Lachen zum ersten Mal etwas ferner… sie befanden sich auch nicht mehr in einer der vielen Reihen, nicht mehr mitten auf dem Friedhof, sondern am Ende des Friedhofes, an dessen Spitze, vor einer gigantischen Statue eines Engels, dessen große Flügel Blue zu erdrücken schienen, wenn er es wagte, den Kopf zu heben. Vor ihm hockte Green auf dem nassen Boden, mit Pfützen um sie herum, denn es regnete stets und immer an diesem Ort.
„Green?“ Sie reagierte nicht. Hörte sie ihn nicht? War sie zu sehr vertieft in ihre Gebete? Aber seit wann war Green denn so fromm? Seit wann interessierte es sie, ob jemand göttlich war oder nicht?
„… du hast es mir versprochen.“ Blues Augen weiteten sich, als er ihre Stimme hörte. Das tat er selten. War das doch kein Albtraum?
„Was habe ich dir versprochen, Green?“ Ermutigt von ihren Worten verringerte er den Abstand zwischen ihnen – allerdings ohne zu nah heranzukommen. Das Gespräch kündigte immerhin an, ein bedrückendes zu werden, denn es gab viele… zu viele Versprechen, die Blue gebrochen hatte.
„Wir würden es…“ Blue blieb stehen.
„… zusammen durchstehen, das was aus Aeterniem zu uns gekommen ist.“ Abrupt wirbelte Green zu ihm herum, aber er sah nicht ihr Gesicht, sondern hörte nur ihre anklagenden Worte:
„Und wo bist du jetzt?! Jetzt muss ich alleine sein!“
Alleine – Alleine – Alleine – Alleine – Alleine – Alleine – Alleine ------------------
Niemals zusammen!
Blues Augen rissen auf und noch während Greens Anklage in seinem Kopf wie ein schreiendes Echo zu hören war, überkam ihn der Drang sich zu übergeben – und er konnte nichts dagegen tun, dass es geschah und er sich erbrach, gänzlich orientierungslos. Die Frage wo er war, was geschehen war oder irgendeine andere logische Frage, wurde in den Hintergrund gedrängt, als er seinen Magen in einem Eimer neben seinem Bett entleerte. Sein Magen genügte allerdings nicht; Galle und Speichel folgten und Blut ebenfalls.
„Wie überaus charmant.“
Urgh… er war nicht alleine? Blue wischte sich, angewidert von sich selbst, das Blut von den Lippen, obwohl er das Gefühl hatte, dass noch mehr hinausmusste. Das war keine normale Übelkeit, spürte er jetzt, wo seine Sinne aufwachten und nicht mehr in seinem Albtraum festhingen – das war Anti-Licht. Und plötzlich erinnerte er sich an alles, weshalb er es sehr überraschend und etwas eigenartig fand, dass es ausgerechnet Youma war, der bei ihm an der Tür stand. Warum war er, der sich doch überhaupt nicht für ihn interessierte… bei ihm?
„Was… tun Sie hier?“ Youma war auf dem Weg hinaus gewesen, aber nun schloss er die Tür wieder, die er eben geöffnet hatte, während Blue den Drang zurückschob, sich noch einmal zu übergeben. Das Anti-Licht war noch in ihm und die Medizin drängte danach, das vergiftete Blut hinauszubefördern, aber Blue wollte sich definitiv nicht noch einmal vor Youma übergeben – nur schade, dass das Anti-Licht absolut keine Rücksicht auf Blues Stolz nahm und ihn weiteres Mal dazu zwang, sich würgend zu krümmen.
Youma kommentierte es dieses Mal nicht und das machte es noch unangenehmer, aber wenigstens gab das unerträgliche Schweigen Blue die Gelegenheit, sich wieder zu sammeln und sich unauffällig umzusehen. Sie waren nicht in Paris. Nein, obwohl Blue noch nie hier gewesen war, verstand er, dass sie in Lacrimosas Palast waren – niemand sonst hatte Wände und Böden aus Eis. Er befand sich in einer kleinen Kammer, in dessen rechter Ecke ein kleines, blaues Feuer brannte, gleich neben der Tür. Links von Blue war ein ovales Fenster in das Eis gehauen, vor dessen Scheibe sich ein Schneesturm austobte. Das Zimmer war kein Krankenzimmer, wie Blue auffiel… es war ein privates Zimmer, ausgelegt mit bunten Teppichen. Da war ein zierlicher Schreibtisch, der offensichtlich in Benutzung war; Vitrinen mit ergaunertem Wächterschmuck; Karten an den Wänden mit Markierungen… Karten von Lerenien-Sei, wenn Blue sich nicht irrte… aber da erhaschte Blue Youmas Blick, der ihm deutlich sagte, dass er Blues Beobachtungen sehr unhöflich fand.
„Lacrimosa-san hat uns in der Not sehr große Gastfreundlichkeit bewiesen – besonders dir. Sie wollte dich nicht aufnehmen und dir auch nicht dieses Zimmer zur Erholung geben, geschweige denn Anti-Licht. Danke ihrer Gnade nicht mit…“ Youma rümpfte die Nase.
„… Herumschnüffeln.“ Blue mochte es nicht, Youma Recht zu geben, aber er sah ein, dass er vorsichtig sein sollte. Sie sprachen immerhin von einer Fürstin, die Männer umbrachte und die, Blues Geschlecht gänzlich ungeachtet, nicht gut auf ihn zu sprechen war. Das bedeutete aber auch… dass jemand Blue hatte verteidigen müssen. Etwa… Youma? Wenn Youma bei Blue war, dann bedeutete das, dass Nocturn noch nicht bei Bewusstsein war, ansonsten wäre es eher Nocturn, der nach Blue sehen würde anstatt Youma und das bedeutete auch, dass er dafür gesorgt hatte, dass Blue versorgt wurde.
„Sie haben mich gerettet.“ Nicht nur vor Lacrimosa, sondern auch… vor dem Licht. Blue erinnerte sich wieder daran – schemenhaft, aber genug um zu verstehen, dass er nicht hier wäre ohne Youma. Er war der einzige von ihnen gewesen, der sich noch hatte bewegen können, dort auf der Lichtung in Frankreich. Aus seinen Augen war das Blut ebenfalls gerannt, aber sein Körper war nicht so gelähmt… nicht so vom Licht verseucht gewesen wie Blues und Feullés oder Nocturns. Er hatte sie zu Lacrimosa gebracht…
„Vor dem Licht…“, tastete Blue sich langsam vor, Youmas sich kurz weitende Augen genau beobachtend, ehe sie wieder skeptisch wurden.
„… und auch vor Lacrimosa-sama.“
„Ich habe euch gerettet“, korrigierte Youma abwehrend.
„Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt.“ Doch, eigentlich schon und die Frage warum er Blue nicht einfach hatte sterben lassen, wo deren gegenseitige Abneigung eigentlich recht groß war, musste Blue ins Gesicht geschrieben stehen – oder Youma konnte es sich denken.
„Ich lasse niemanden sterben, mit dem ich tagtäglich zusammen speise.“ Eine solche Antwort zu hören überraschte Blue, aber nicht weil er sie als unpassend für Youma empfand, sondern… weil sie absolut ungewohnt war. Ungewohnt… nicht-dämonisch.
„Wie geht es Nocturn-sama?“, fragte Blue, weil er sich nicht bei Youma bedanken wollte – und weil er seinen Verdacht bestätigt haben wollte, dass ihr Pseudoanführer noch nicht bei Bewusstsein war.
„Schlecht“, antwortete Youma geradeheraus und bestätigte Blues Gedanken. Nocturn war in Youmas Nähe gewesen, als das Licht eingeschlagen war… und er als reinrassiger Dämon hatte mit dem Licht sicherlich mehr zu kämpfen als ein Halbdämon wie Blue, trotz des kräftemäßigen Unterschieds zwischen ihnen.
Youma schien Blue nicht mehr sagen zu wollen und der Halbdämon sah auch, dass seine Hand wieder an der Klinke der Tür lag, doch Blue wollte nicht, dass er ging. Es war sehr selten, dass sie nur zu zweit waren. Wenn Blue irgendetwas aus Youma herausbekommen wollte – und das wollte er, denn das Wort „zusammen“ hallte in seinem Kopf nach – dann musste es jetzt sein. Einst, in einem anderen Leben, welches künstlich, aber mit echten Gefühlen erfüllt gewesen war, hatte Green Silver und ihm alles erzählt, was sie über Aeterniem und die Zwillinge wusste, weil sie gewollt hatte, dass sie drei es – was auch immer „es“ war – zusammen durchstanden. Das „es“ war immer noch unklar, aber dass es kam… oder bereits gekommen war, dessen war Blue sich sicher. Aeterniem hatte sie eingeholt, als wäre es ein Fluch.
Was auch immer geschehen war; was auch immer mit Green geschehen war, es stand mit Youma in Verbindung. Das Licht hatte es nicht auf sie alle abgesehen gehabt, sondern auf Youma. Es war ein zielgerichteter Angriff gewesen und sie wären alle tot, wenn dieser Lichtstrahl nicht abgewehrt worden wäre von… da war sich Blue nicht sicher. Er hatte die Augen zukneifen müssen, noch ehe er etwas erkannt hatte.
„Was ist passiert?“ Nicht, dass Blue erwartete, dass Youma sich zu ihm setzen würde und ihm alles berichtete, aber manchmal war auch das Ungesagte sehr viel wert. Körpersprache sagte manchmal viel mehr aus als irgendein gelogenes Wort… und Youmas Körpersprache war deutlich abwehrend, aber er drückte die Klinke der Tür nicht herunter. Er überlegte.
„Noch wissen wir es nicht genau, doch es scheint so, als hätte das Licht der momentanen Hikari die Luft der Menschenwelt mit Licht zersetzt, so dass es für uns unmöglich ist, dort zu atmen. Alle Dämonen, die sich in der Menschenwelt aufhielten, sind tot, da das Teleportieren – jedenfalls dort, wo das Licht die Erde berührt hat – nicht mehr möglich war. Es gibt daher enorme Verluste zu beklagen. Die genaue Zahl ist noch nicht bekannt.“ Sämtliche Nachforschungsgedanken Blues verschwanden bei dieser schrecklichen Nachricht, als eine brennende Frage sich sofort aufdrängte – Silver. War Silver in der Menschenwelt gewesen, als das geschehen war?!
Youma runzelte die Stirn und er ließ die Klinke gehen, denn er bemerkte wie bleich Blue plötzlich wurde und dass eine große Unruhe ihn befiel, doch dieser versuchte sie bereits zu verdrängen. Eigentlich war Silver nicht in der Menschenwelt… es war lange her, dass sie… er es gewesen war… Ri-Il hatte ihnen keine Aufträge mehr gegeben, die das Aufhalten in der Menschenwelt benötigten, diese Unruhe war daher eigentlich nicht sonderlich logisch. Aber es fiel Blue dennoch schwer sie abzuwimmeln. Sein dummer Bruder tat so Vieles, was unüberlegt war… und Vieles, was verboten war…
„Dann muss ich mich wohl…“ Blue musste sich zusammennehmen. Er konnte sich nicht einfach so zu Ri-Il teleportieren – nicht als Abtrünniger!
„… wirklich für Ihre Hilfe bedanken. Sie haben mir dreifach das Leben gerettet.“
„Nein, das musst du nicht. Wie gesagt, ich lasse niemanden sterben, wenn ich es verhindern kann.“ Blue konnte nichts dagegen tun, aber er glaubte ihm und das behagte ihm nicht. Youma war wirklich ein Widerspruch in sich und dabei sagte er das immer Nocturn nach…
„Ich würde mich gerne dafür erkenntlich zeigen“, sagte Blue zwar – denn er wollte nicht in Youmas Schuld stehen – aber mit den Gedanken war er immer noch bei Silver. Das änderte sich jedoch, als Youma sich tatsächlich einen Drahtstuhl heranschob und sich vor ihn setzte.
„Dann tue es.“ Blues Augen verengten sich skeptisch, aber Youma ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Ich möchte gerne alles über Green wissen.“
Blue musste sich zusammennehmen, denn er hätte beinahe gelacht. Gewiss nicht erfreut, sondern hohl und sicherlich recht finster klingend. Er sollte alles von Green erzählen? Er? Wusste Youma, dass er genau an die richtige Person herangetreten war mit dieser Frage oder war es ein Zufall? Nein, es war keiner. Youma war sich im Klarem darüber, welch tausende Berichte Blue über Green geschrieben hatte. Fünf Jahre lang. Jede verdammte Nacht.
Sofort fragte Blue sich, woher er es wusste, aber dieser Frage konnte er sich später widmen.
„“Alles von Green“?“, wiederholte Blue und obwohl er nicht lachte, so war das bittere Lächeln doch auf seinem Gesicht zu sehen und Youmas Gesicht verdunkelte sich.
„Sie wissen, dass dafür ein Tag nicht genügt?“ Ganz zu schweigen davon, dass Blue kein Interesse daran hatte, ihm Greens Lebensgeschichte auf einem Silbertablett zu servieren. Aber er sah ein, dass er Youma für seine Rettung in der Tat etwas schuldig war.
„Mein Interesse gilt auch nicht ihr als Person“, erklärte Youma, das eine Bein über das andere schlagend.
„Es gilt ihrer Bedeutung. Ihren Fähigkeiten. Ich möchte wissen, was sie besonders macht.“ Er unterschlug die Frage, ob oder eher wie gefährlich Green war, aber Blue meinte sie dennoch herauszuhören. Hatten Youma und Nocturn darüber gesprochen, als sie sich am Vorabend, nein, vor zwei Tagen frühmorgens in der Stube getroffen hatten? Die beiden hatten vorgestern in der Sprache der Wächter miteinander gesprochen, aber Blue hatte dennoch Greens Namen sehr oft gehört… und zwar in einem Gespräch, welches sehr ernst geklungen hatte – und wenn nicht nur Youma ernst war, sondern auch Nocturn, dann musste das etwas bedeuten.
„Green macht nichts besonders“, erwiderte Blue ehrlich:
„Das einzige, was sie „besonders“ macht, ist, dass sie als Tochter Whites überraschend unterdurchschnittlich und fähigkeitslos ist.“ Da war er wieder. Der Blick, den Blue an Youma hasste. Er legte den Kopf eine Ahnung in den Nacken, neigte ihn ein wenig zur Seite und verengte die Augen – ein Blick voller Arroganz und Überheblichkeit. Blue hatte schon mit so vielen mächtigen Personen zu tun gehabt; Fürsten, Hikari und Ri-Il, Nocturn ebenfalls. Sie waren alle mächtig, sie waren stark, sie waren in der Lage, einen das Fürchten zu lehren. Blue beugte sich ihnen, sich seines eigenen Platzes bewusst und er tat es ohne mit den Zähnen zu knirschen. Aber es fiel ihm sehr schwer, sich Youma unterzuordnen, der mehr als alle mächtigen Dämonen und Hikari seine Arroganz deutlich machte. Er war ein Halbgott, ja, das wusste Blue. Aber Youma hatte nichts, absolut gar nichts erbracht, um sich das Recht herausnehmen zu können, eingebildet zu sein und doch wirkte er immer so, als säße er bereits auf einem Thron mit Krone auf dem Haupt und Zepter in der Hand.
„Offensichtlich…“ Da war auch schon wieder dieser eingebildete Tonfall, von dem Nocturn sich erheitert fühlte, aber Blue machte er wütend.
„… sieht das Element des Lichts das ein wenig anders als du.“ Wenn Youma Blues Einschätzung nicht vertraute, warum führten sie dann überhaupt dieses Gespräch?
„Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du ehrlich bist. Es geht hier immerhin um alle Dämonen, deinen Bruder inklusive.“ So eine Bemerkung hätte Blue eher Nocturn zugetraut, aber leider funktionierte sie auch aus Youmas Mund.
„Ich bin ehrlich“, stellte Blue entschieden fest.
„Ich kann mir nicht erklären, warum das Lichtelement plötzlich Gefallen an Green findet. Ich weiß nicht, wie informiert Sie über Greens Werdegang sind, aber dieser war nicht gerade glanzvoll. Sie war als unreine Hikari bekannt, eine befleckte Person, mit der die Hikari nichts zu tun haben wollten und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich etwas an ihrer Unreinheit geändert hat.“ Oder vielleicht hatte es, dachte Blue mit einem Ziehen im Herzen. Vielleicht hatte sie ihren unschmeichelhaften Titel abgelegt, nun da es weder Silver noch Blue in ihrem Leben gab. Was wusste Blue eigentlich darüber, wie Green sich verändert hatte? Sie war stärker geworden, das hatte er unzweifelhaft am eigenen Leib zu spüren bekommen.
„Ihre Magie war stets unterdurchschnittlich und ihr Können ebenfalls“, fuhr Blue fort, doch Youma unterbrach ihn:
„Im Kampf gegen dich war sie nicht unterdurchschnittlich, sondern absolut überdurchschnittlich.“ Blue schwieg kurz, dann antwortete er so sachlich wie möglich:
„Die Magie der Hikari ist verbunden mit ihren Gefühlen. Umso stärker die Gefühle, umso stärker ihr Angriff.“ Aber das sollte Youma eigentlich wissen und Blue ging nicht davon aus, dass er ihm etwas Neues erzählte – in seinem Fall war es sicherlich nicht anders. Blue ging jedenfalls davon aus, dass das Element des Lichtes und das der Dunkelheit Überschneidungen hatten.
„Und Green hegt einen großen Hass gegen mich“, sagte Blue so sachlich, als rede er über Mathematik und scheinbar – und das behagte Blue überhaupt nicht – wusste Youma, warum er so gekünstelt klang, denn sein Blick wurde misstrauisch. Wusste er von… Blues Gefühlen für Green? Hatte Nocturn ihm das erzählt?
„Ich bin mit dieser Eigenart des Elementes vertraut.“ Ja, natürlich war er das, aber das sagte Blue nicht, er schwieg und hörte zu.
„Aber aufkommende Gefühle, egal wie tosend sie auch sein mögen, können einem nicht mehr Magie geben als vorhanden ist. Es ist eher mit einem temporären Adrenalinschub zu vergleichen, der die Magie freisetzt, die tief verborgen liegt, aber ganz gleich wie stark das Gefühl ist, es wird niemals in der Lage sein, die Magie zu verdoppeln oder gar noch mehr, so wie es bei Green der Fall war. Egal wie stark oder welcher Natur ihre Gefühle für dich auch sein mögen…“ Sein Schweigen sagte Blue deutlich, dass Youma es leider wusste.
„… das ist nicht das, was geschehen ist. Es muss eine andere Erklärung dafür geben, warum das Element des Lichts sie als Katalysator ausgesucht hat.“
„Ich kann Ihnen nicht gänzlich folgen“, gab Blue widerstrebend zu, aber Youma antwortete ihm nicht, denn er wusste nicht, wie er es ihm erklären sollte, ohne zu viel über sich selbst preiszugeben. Es war nicht das Licht der jetzigen Hikari gewesen, dass die vielen Dämonen getötet hatte: Es war Hikarus. Es war ihre Aura, die er vor ein paar Monaten in Henel gespürt hatte und es war ihr Hass, der sich gegen ihn, gegen sie alle, richtete. Nicht Greens.
Aber das wusste Youma nur mit absoluter Sicherheit, weil er Hikaru erlebt hatte. Er war die einzige lebende Person, die das getan hatte, wenn man den namenlosen Dämonenherrscher nicht miteinbezog, der offensichtlich ebenfalls gegen Hikaru gekämpft… und scheinbar verloren hatte. Es war jedenfalls in Youmas Augen kein Sieg, wenn Hikaru noch irgendwie, irgendwo existierte und ihr Licht einsetzen konnte!
„Es ist das Element selbst…“, tastete Blue sich nun langsam vor, denn er wusste immerhin, worauf Youma hinauswollte und warum er so zögerte, aber keiner von ihnen wollte die Karten auf den Tisch legen. Noch würde Blue gewiss nicht offen legen, dass er Youmas Geschichte kannte.
„… das durch Green wirkt? Ist es das, was Sie sagen wollen?“
„Bei der großen Leuchtkraft liegt diese Vermutung jedenfalls nahe oder nicht?“ Youma schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück:
„Die Frage ist nur wieso. Dass das Licht uns auslöschen will ist keine Frage, aber wenn das Element seit jeher in der Lage war, durch seine Erben in dieser Form zu Tage zu treten, durch sie zu wirken, durch sie gezielt zu töten, dann stellt sich die Frage, warum das nicht schon früher geschehen ist. Laut Nocturn waren die Hikari überaus schockiert, als es das letzte Mal in Henel geschehen ist, weshalb wir davon ausgehen können, dass niemals zuvor etwas Ähnliches geschehen ist – die Hikari sind immerhin Augenzeugen, vorne heran der Forscher. Warum also Whites Tochter? Warum jetzt und nicht früher? White ist eine überaus mächtige Hikari: Sie verfügt über mächtige Lichtmagie und großes Können, um diese zielsicher einsetzen zu können. Sie hat tausenden Dämonen das Leben genommen und noch mehr das Fürchten gelehrt. Warum also hat das Element des Lichts nicht bereits durch sie alle Dämonen ausgelöscht?“ Blue begann einen Verdacht zu haben… einen Verdacht, der seine Antisympathie gegen Youma vergrößerte.
„Vielleicht war es vorher nicht möglich. Die nötigen Bedingungen waren möglicherweise noch nicht erfüllt…“, tastete Blue sich vor mit leiser, ernster Stimme.
„… oder…“ Er sah Youma genau in die Augen.
„… es hat auf etwas gewartet.“
Es, nein, Hikaru, hatte nicht auf etwas gewartet, dessen war Blue sich sicher.
Sie hatte auf Youma gewartet.
Shitaya wurde von Säil und seinen ehemaligen Offizierskollegen begrüßt und Green sah unwirklich, wie in einem Film, dass Tinami auf Kaira zurannte und sich ihr um den Hals warf, ehe sie auch Azura an sich drückte. Daichi stürmte auf seine Schwester zu, die die erste Gelegenheit nutzte, die sich ihr auftat, um sich begleitet von Ryô wegführen zu lassen, um die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes zu gewährleisten… und was sah Green da? Ging Pelagius etwa extra zu Azura, um sie zu beglückwünschen, während sein Vater Firey, Yuuki und Azuma in Empfang nahm? Aha? Green versuchte mehr von Azura und Pelagius zu sehen, aber Ignes versperrte die Sicht, als er seine drei Schüler in die Arme schloss.
Es war alles schön zu sehen, sehr herzerwärmend, aber Green wollte einfach nur weg. Die ganzen Stimmen waren ihr zu viel und die Heiterkeit erdrückte sie… und doch suchte sie nach jemandem in der Menge… auf den Dächern, auf den Türmen… irgendwo, wo vielleicht niemand war…
Aber sie sah Silence nicht.
„Green!“ Ihr Hoffen wurde erhört – allerdings von der falschen Person, doch es freute Green auch, ihre Mutter zu sehen. Schritt für Schritt wurden die vielen Stimmen um sie herum leiser, als die zwölf Hikari vortraten, genau wie Green es tat, als sie sich von Saiyon löste. Die Gesänge der Wächter verstummten und die Tanzbewegungen verlangsamten sich, ehe sie gänzlich zum Stillstand kamen, genau in dem Moment als White vortrat, so dass sie und Green nun auf der Mitte des Hauptplatzes von Sanctu Ele’Saces standen, inmitten von steinernen Blumen und Elementbeschwörungen, die auf dem Boden eingraviert waren unter einem strahlenden, blauen Himmel, erwärmt von der gerade aufstehenden Sonne.
Whites Augen waren glasig und die Hand auf ihrer Brust verkrampft. Green überkam das schlechte Gewissen. Sie hatte sich in Lebensgefahr gebracht und… dabei gar nicht daran gedacht, wie sehr White leiden würde, wenn ihr…
Es war deutlich, dass White mit sich selbst und ihren Gefühlen rang. Sie schien auf Green zu rennen zu wollen, tat dies aber nicht, weil zu viele Augen auf den Zweien lagen. Doch als sie genau vor ihrer Tochter stand, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und schlang die Arme um Green.
„Ich bin so froh, dass du wohlbehalten bist… So froh!“
„Es tut mir leid, Mutter… Wirklich, ich… ich wollte dir keine Sorgen machen…“ Aber sie war gut darin, dass wusste sie und fest erwiderte sie die Umarmung ihrer Mutter. Es tat ihr leid – es tat ihr wirklich leid. Ihre Mutter, die schon so viel durchgemacht hatte, hatte mehr verdient als so eine schwierige Tochter wie Green, als… letztes Kind.
„Green, wie siehst du nur aus?“ White löste sich von ihr und strich ihr behutsam über die Wange, auch wenn dort keine Kratzer mehr zu sehen waren.
„Oh, was ist nur geschehen?“
„Naja… also…“ Nein, nicht jetzt. Außerdem wollte Green etwas ganz Anderes von White wissen:
„Wo ist Silence?“ White sah sie verwundert an, als erwähne sie den Namen von jemandem, den sie nicht kannte. Gut, sie sprachen auch sehr wenig von ihr…
„Ich kann sie nicht spüren…“, erklärte Green, aber da störte Shaginai deren öffentliche Zweisamkeit schon mit seiner üblichen Unsensibilität.
„Zügle deine Gefühle, White. Sie sind ohnehin unangebracht.“ Shaginai räusperte sich und obwohl Green ihn gerade am liebsten schlagen wollte – sie wollte gerne von White umarmt werden! Alle anderen wurden doch auch umarmt, warum durften nur Hikari das nicht! – war sie auch froh, ihn zu sehen und sie glaubte… da ein wenig Erleichterung in seinen Augen zu sehen, aber vielleicht wollte sie das auch einfach nur.
„Yogosu war niemals in Gefahr. Sie war immerhin in der Obhut des Lichts.“
„“Yogosu“?“, wiederholte Green und sah ihren Großvater mit zusammengekniffenen Augen an, während sie immer noch die Hand ihrer Mutter hielt.
„Ich bin jetzt eine geweihte Hikari, Großvater, ich finde…“
„Du bleibst immer Yogosu.“ Green öffnete den Mund, um zu protestierten, aber da mischte sich Mary ein, die Greens Gewand argwöhnisch inspizierte.
„Unser Element, Shaginai-kun, zerreißt aber keine Stoffe… und irre ich mich oder ist das Blut?“ Nun, ja, das war ein Problem und eine richtige Beobachtung. Greens Heilmagie hatte ihre Wunden heilen können und Blut zum Versiegen gebracht, nicht aber ihre Kleidung hergestellt oder diese gewaschen. Es war nicht so, dass sie nackt auf dem runden Hauptplatz von Sanctu Ele’Saces standen, aber ihre weißen, ach so heiligen Gewänder sahen eher wie zerrissene Lumpen aus, was sie dem Gott des Windes und der Göttin des Schutzes zu verdanken hatten.
„Es scheint mir einiges geschehen zu sein.“ Hizashi. Er war so ziemlich der letzte Hikari, mit dem Green jetzt reden wollte.
„Ich wünschte, ich könnte um einen detaillierten Bericht bitten…“ Ah, natürlich… er ging davon aus, dass keiner von ihnen noch etwas wusste. Moment, das bedeutete, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon alles hätten vergessen sollen?! Dann war es Green wirklich gelungen sie vor dem Vergessen zu bewahren!?
Green hielt den stechenden Augen Hizashis stand, aber antwortete nicht, denn sie hatte das Gefühl, dass er gut darin war, Lügen zu durchschauen und auf einem Platz voller Wächter und Hikari wollte sie ihm nicht mitten ins Gesicht lügen.
„Was für ein formidabler Stab.“ Hizashis Augen glitten herunter, folgten der Form des Stabs, welcher für Green garantiert keine Liebe auf den ersten Blick war. Er war immer noch kochend heiß, schwer und sah aus wie ein Schlagstock.
„Er erinnert mich an den, den die Göttin Hikaru getragen hat…“ Immer noch dem Blick standhalten… standhalten… obwohl sie das absolut nicht hören wollte und das ganz besonders nicht von Hizashi, von welchem sie sich absolut sicher war, dass er einer von Hikarus Erwählten war. Er besaß das strahlendste Lächeln von allen Hikari, die sie kannte, und doch lag nur Kälte in seinen Augen und in seinem Lächeln. Er könnte ihr Sohn sein!
„… und ich freue mich darauf, die nötigen Tests mit Ihnen durchzuführen, Green-san.“ Green gewiss nicht.
„Sie haben schon jetzt so Großes vollbracht!“, fuhr er fort und Green wechselte einen etwas unsicheren Blick mit White und Shaginai, als Hizashi die Arme ausstreckte, als wolle er sie umarmen, aber deren ernste Blicke verwirrten sie nur weiter. Aber ihre ernsten Blicke wechselten zu entsetzten, als Hizashi fortfuhr und ein Thema ansprach, von dem niemand von ihnen erwartet hatte, dass er es tun würde.
„Vor 18 Jahren, als Ihre Schicksalskarten gelegt wurden…“ Auch Adir sah Hizashi bestürzt an, ebenso wie Mary es tat. Über die Karten sprach man nicht! Das war ein ungeschriebenes Gebot! Man sprach über niemandes Karten!
„…da sagte man voraus, dass Sie den Untergang des Wächtertums besiegeln würden…“ Das Lächeln Hizashis wurde schmal. Das Entsetzen seiner Mithikari schien ihm absolut keinen Einhalt zu gebieten, im Gegenteil, es schien ihn zu beflügeln und er starrte tief in Greens Augen, die sich nicht abwenden konnte und fassungslos zurückstarrte. Sie wusste nichts von diesem Tabu, aber sie hätte dennoch nie gedacht, dass ihre Karten jemals wieder auf den Tisch kommen würden, wo es doch diese gewesen waren, die für ihre Hinrichtung gesorgt hatten.
„… aber womöglich war das eine bedauerliche Fehlinterpretation, angeregt von Falscheinschätzungen…“ Shaginai verzog das Gesicht – was unterstellte er ihm da gerade?!
„… und einem übereifrigen Gemüt.“ Bitte?!
„Die Tatsache, dass sie von göttlicher Hand gerettet wurde…“ Er flüsterte nun, denn natürlich sollte das nicht jeder Wächter hören.
„… zusammen mit Green-sans heutigen Taten… lassen nur eine Schlussfolgerung zu – die Karten sind falsch interpretiert worden.“ Shaginai öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Adir schickte ihm einen Blick zu, der ihm befahl ruhig zu bleiben. Er hatte es gerade selbst zu White gesagt – sie waren in der Öffentlichkeit und die Wächter wussten nichts von der Hinrichtung Greens, was nun mehr denn je auch so bleiben musste.
Shaginai hatte absolut keine Absicht, das zu akzeptieren; Hizashi stellte sich gerade so hin, als hätte er nicht zu dieser „Fehlinterpretation“ beigetragen, dabei war er eine der führenden Stimmen gewesen!
Daran dachte Hizashi aber scheinbar nicht mehr:
„Green-sans Geburt bedeutet nicht den Untergang des Wächtertums, sondern die komplette Auslöschung der Dämonen! Es ist IHR Tod; IHRE komplette Vernichtung, die die Schicksalskarten vorausgesagt haben!“ Green, immer noch völlig im Unklaren darüber, was in den letzten Stunden außerhalb der Halle geschehen war, sah Hizashi völlig verwirrt an, ebenso wie ihre Elementarwächter es taten, die sich wieder hinter Green sammelten.
„Nichts anderes kann eine so große Menge ausgelöschter Dämonen bedeuten! 4.782!“ Hizashi verkündete diese Zahl so laut und triumphierend, dass es jeder hören konnte, als wäre seine Stimme dafür gemacht, solch Botschaften zu verbreiten. Die Begeisterung der Wächter begann wieder anzuschwellen, doch Greens Augen weiteten sich nicht vor Freude, als sie zu verstehen begann.
Inceres…
… als sie seine Hand genommen hatte, da… da hatte sie das Gefühl gehabt…
„So lautet die momentane Zahl der toten Dämonen, die in weniger als zwei Stunden terminiert wurden! Und sie sterben immer noch!“
… dass sie Schreie gehört hatte.
„Meine Mitwächter!“ Von feierlichem Eifer beflügelt, drehte Hizashi sich herum und richtete sein Wort an die Wächter, die ihn begeistert ansahen – ihn und Green und ihre Elementarwächter.
„Die Lichtgötter sind uns in dieser Form erschienen – um durch uns das ewige Werk zu einem Ende zu bringen! In dieser Generation wird es geschehen! Es wird die letzte sein, die im Krieg lebt! Sie ist unsere Hoffnungsträgerin! Die Lichtbringerin!“ Green hatte das Gefühl, dass ihr der Stab aus der Hand rutschte.
„Die Dämonen werden ausgelöscht werden!“ Und Hizashis leidenschaftliche Worte wurden beantwortet:
„Tod den Dämonen!“ Es war nur eine Stimme – wer das geschrien hatte, das wusste Green nicht, aber es war auch unerheblich, denn sofort schrien sie es alle zusammen:
„TOD DEN DÄMONEN! TOD DEN DÄMONEN!“ Hizashi lächelte so zufrieden wie noch nie, als dieser Ruf sich immer und immer wieder wiederholte und zu einem lauten Getose wurde.
„TOD DEN DÄMONEN!“ Er achtete gar nicht auf Mary, die ihm zuraunte, dass er eine solche Ansprache vielleicht vorher mit ihr besprechen sollte, zu sehr genoss er die Rufe, die immer lauter wurden. Die erhabenen Drei wechselten unauffällig Blicke aus und Firey fragte sich, ob sie denn wirklich die einzige war, der von diesen Rufen übel wurde. Shitaya und Saiyon riefen es ebenfalls, genau wie Azuma es tat…
Green war nicht übel.
Sie versuchte zu lächeln, obwohl sie bleich geworden war… bleich und… eiskalt.
Wenn sie bei ihrer Weihe 4.782 Dämonen getötet hatte, dann war es absolut unmöglich, dass Light sie gewählt hatte.
Hikaru.
Es konnte nur Hikaru sein.
Hikaru… Sie war eine von Hikarus erwählten Hikari.
Warum konnte Blue eigentlich nie schöne Träume haben, in denen er Green wiedertraf? Er verstand und war auch gänzlich damit einverstanden, dass er mit Albträumen bestraft wurde, aber warum mussten sie sich immer auf einem Friedhof gegenüberstehen? Im wachen Zustand versuchte er, darin einen Sinn zu erkennen; versuchte sich die unzähligen Grabsteine vorzustellen, um ihre Inschrift lesen zu können, aber es gelang ihm nie und wenn er dort war… dann interessierten ihn die schwarzen Denkmäler nicht. Dann zählte nur Green. Er versuchte nicht, den Ort zu ergründen und er hatte auch schon längst aufgegeben zu versuchen, das andauernde Lachen einer Person zuzuschreiben oder ihr einen Namen zu geben. Heute klang das Lachen zum ersten Mal etwas ferner… sie befanden sich auch nicht mehr in einer der vielen Reihen, nicht mehr mitten auf dem Friedhof, sondern am Ende des Friedhofes, an dessen Spitze, vor einer gigantischen Statue eines Engels, dessen große Flügel Blue zu erdrücken schienen, wenn er es wagte, den Kopf zu heben. Vor ihm hockte Green auf dem nassen Boden, mit Pfützen um sie herum, denn es regnete stets und immer an diesem Ort.
„Green?“ Sie reagierte nicht. Hörte sie ihn nicht? War sie zu sehr vertieft in ihre Gebete? Aber seit wann war Green denn so fromm? Seit wann interessierte es sie, ob jemand göttlich war oder nicht?
„… du hast es mir versprochen.“ Blues Augen weiteten sich, als er ihre Stimme hörte. Das tat er selten. War das doch kein Albtraum?
„Was habe ich dir versprochen, Green?“ Ermutigt von ihren Worten verringerte er den Abstand zwischen ihnen – allerdings ohne zu nah heranzukommen. Das Gespräch kündigte immerhin an, ein bedrückendes zu werden, denn es gab viele… zu viele Versprechen, die Blue gebrochen hatte.
„Wir würden es…“ Blue blieb stehen.
„… zusammen durchstehen, das was aus Aeterniem zu uns gekommen ist.“ Abrupt wirbelte Green zu ihm herum, aber er sah nicht ihr Gesicht, sondern hörte nur ihre anklagenden Worte:
„Und wo bist du jetzt?! Jetzt muss ich alleine sein!“
Alleine – Alleine – Alleine – Alleine – Alleine – Alleine – Alleine ------------------
Niemals zusammen!
Blues Augen rissen auf und noch während Greens Anklage in seinem Kopf wie ein schreiendes Echo zu hören war, überkam ihn der Drang sich zu übergeben – und er konnte nichts dagegen tun, dass es geschah und er sich erbrach, gänzlich orientierungslos. Die Frage wo er war, was geschehen war oder irgendeine andere logische Frage, wurde in den Hintergrund gedrängt, als er seinen Magen in einem Eimer neben seinem Bett entleerte. Sein Magen genügte allerdings nicht; Galle und Speichel folgten und Blut ebenfalls.
„Wie überaus charmant.“
Urgh… er war nicht alleine? Blue wischte sich, angewidert von sich selbst, das Blut von den Lippen, obwohl er das Gefühl hatte, dass noch mehr hinausmusste. Das war keine normale Übelkeit, spürte er jetzt, wo seine Sinne aufwachten und nicht mehr in seinem Albtraum festhingen – das war Anti-Licht. Und plötzlich erinnerte er sich an alles, weshalb er es sehr überraschend und etwas eigenartig fand, dass es ausgerechnet Youma war, der bei ihm an der Tür stand. Warum war er, der sich doch überhaupt nicht für ihn interessierte… bei ihm?
„Was… tun Sie hier?“ Youma war auf dem Weg hinaus gewesen, aber nun schloss er die Tür wieder, die er eben geöffnet hatte, während Blue den Drang zurückschob, sich noch einmal zu übergeben. Das Anti-Licht war noch in ihm und die Medizin drängte danach, das vergiftete Blut hinauszubefördern, aber Blue wollte sich definitiv nicht noch einmal vor Youma übergeben – nur schade, dass das Anti-Licht absolut keine Rücksicht auf Blues Stolz nahm und ihn weiteres Mal dazu zwang, sich würgend zu krümmen.
Youma kommentierte es dieses Mal nicht und das machte es noch unangenehmer, aber wenigstens gab das unerträgliche Schweigen Blue die Gelegenheit, sich wieder zu sammeln und sich unauffällig umzusehen. Sie waren nicht in Paris. Nein, obwohl Blue noch nie hier gewesen war, verstand er, dass sie in Lacrimosas Palast waren – niemand sonst hatte Wände und Böden aus Eis. Er befand sich in einer kleinen Kammer, in dessen rechter Ecke ein kleines, blaues Feuer brannte, gleich neben der Tür. Links von Blue war ein ovales Fenster in das Eis gehauen, vor dessen Scheibe sich ein Schneesturm austobte. Das Zimmer war kein Krankenzimmer, wie Blue auffiel… es war ein privates Zimmer, ausgelegt mit bunten Teppichen. Da war ein zierlicher Schreibtisch, der offensichtlich in Benutzung war; Vitrinen mit ergaunertem Wächterschmuck; Karten an den Wänden mit Markierungen… Karten von Lerenien-Sei, wenn Blue sich nicht irrte… aber da erhaschte Blue Youmas Blick, der ihm deutlich sagte, dass er Blues Beobachtungen sehr unhöflich fand.
„Lacrimosa-san hat uns in der Not sehr große Gastfreundlichkeit bewiesen – besonders dir. Sie wollte dich nicht aufnehmen und dir auch nicht dieses Zimmer zur Erholung geben, geschweige denn Anti-Licht. Danke ihrer Gnade nicht mit…“ Youma rümpfte die Nase.
„… Herumschnüffeln.“ Blue mochte es nicht, Youma Recht zu geben, aber er sah ein, dass er vorsichtig sein sollte. Sie sprachen immerhin von einer Fürstin, die Männer umbrachte und die, Blues Geschlecht gänzlich ungeachtet, nicht gut auf ihn zu sprechen war. Das bedeutete aber auch… dass jemand Blue hatte verteidigen müssen. Etwa… Youma? Wenn Youma bei Blue war, dann bedeutete das, dass Nocturn noch nicht bei Bewusstsein war, ansonsten wäre es eher Nocturn, der nach Blue sehen würde anstatt Youma und das bedeutete auch, dass er dafür gesorgt hatte, dass Blue versorgt wurde.
„Sie haben mich gerettet.“ Nicht nur vor Lacrimosa, sondern auch… vor dem Licht. Blue erinnerte sich wieder daran – schemenhaft, aber genug um zu verstehen, dass er nicht hier wäre ohne Youma. Er war der einzige von ihnen gewesen, der sich noch hatte bewegen können, dort auf der Lichtung in Frankreich. Aus seinen Augen war das Blut ebenfalls gerannt, aber sein Körper war nicht so gelähmt… nicht so vom Licht verseucht gewesen wie Blues und Feullés oder Nocturns. Er hatte sie zu Lacrimosa gebracht…
„Vor dem Licht…“, tastete Blue sich langsam vor, Youmas sich kurz weitende Augen genau beobachtend, ehe sie wieder skeptisch wurden.
„… und auch vor Lacrimosa-sama.“
„Ich habe euch gerettet“, korrigierte Youma abwehrend.
„Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt.“ Doch, eigentlich schon und die Frage warum er Blue nicht einfach hatte sterben lassen, wo deren gegenseitige Abneigung eigentlich recht groß war, musste Blue ins Gesicht geschrieben stehen – oder Youma konnte es sich denken.
„Ich lasse niemanden sterben, mit dem ich tagtäglich zusammen speise.“ Eine solche Antwort zu hören überraschte Blue, aber nicht weil er sie als unpassend für Youma empfand, sondern… weil sie absolut ungewohnt war. Ungewohnt… nicht-dämonisch.
„Wie geht es Nocturn-sama?“, fragte Blue, weil er sich nicht bei Youma bedanken wollte – und weil er seinen Verdacht bestätigt haben wollte, dass ihr Pseudoanführer noch nicht bei Bewusstsein war.
„Schlecht“, antwortete Youma geradeheraus und bestätigte Blues Gedanken. Nocturn war in Youmas Nähe gewesen, als das Licht eingeschlagen war… und er als reinrassiger Dämon hatte mit dem Licht sicherlich mehr zu kämpfen als ein Halbdämon wie Blue, trotz des kräftemäßigen Unterschieds zwischen ihnen.
Youma schien Blue nicht mehr sagen zu wollen und der Halbdämon sah auch, dass seine Hand wieder an der Klinke der Tür lag, doch Blue wollte nicht, dass er ging. Es war sehr selten, dass sie nur zu zweit waren. Wenn Blue irgendetwas aus Youma herausbekommen wollte – und das wollte er, denn das Wort „zusammen“ hallte in seinem Kopf nach – dann musste es jetzt sein. Einst, in einem anderen Leben, welches künstlich, aber mit echten Gefühlen erfüllt gewesen war, hatte Green Silver und ihm alles erzählt, was sie über Aeterniem und die Zwillinge wusste, weil sie gewollt hatte, dass sie drei es – was auch immer „es“ war – zusammen durchstanden. Das „es“ war immer noch unklar, aber dass es kam… oder bereits gekommen war, dessen war Blue sich sicher. Aeterniem hatte sie eingeholt, als wäre es ein Fluch.
Was auch immer geschehen war; was auch immer mit Green geschehen war, es stand mit Youma in Verbindung. Das Licht hatte es nicht auf sie alle abgesehen gehabt, sondern auf Youma. Es war ein zielgerichteter Angriff gewesen und sie wären alle tot, wenn dieser Lichtstrahl nicht abgewehrt worden wäre von… da war sich Blue nicht sicher. Er hatte die Augen zukneifen müssen, noch ehe er etwas erkannt hatte.
„Was ist passiert?“ Nicht, dass Blue erwartete, dass Youma sich zu ihm setzen würde und ihm alles berichtete, aber manchmal war auch das Ungesagte sehr viel wert. Körpersprache sagte manchmal viel mehr aus als irgendein gelogenes Wort… und Youmas Körpersprache war deutlich abwehrend, aber er drückte die Klinke der Tür nicht herunter. Er überlegte.
„Noch wissen wir es nicht genau, doch es scheint so, als hätte das Licht der momentanen Hikari die Luft der Menschenwelt mit Licht zersetzt, so dass es für uns unmöglich ist, dort zu atmen. Alle Dämonen, die sich in der Menschenwelt aufhielten, sind tot, da das Teleportieren – jedenfalls dort, wo das Licht die Erde berührt hat – nicht mehr möglich war. Es gibt daher enorme Verluste zu beklagen. Die genaue Zahl ist noch nicht bekannt.“ Sämtliche Nachforschungsgedanken Blues verschwanden bei dieser schrecklichen Nachricht, als eine brennende Frage sich sofort aufdrängte – Silver. War Silver in der Menschenwelt gewesen, als das geschehen war?!
Youma runzelte die Stirn und er ließ die Klinke gehen, denn er bemerkte wie bleich Blue plötzlich wurde und dass eine große Unruhe ihn befiel, doch dieser versuchte sie bereits zu verdrängen. Eigentlich war Silver nicht in der Menschenwelt… es war lange her, dass sie… er es gewesen war… Ri-Il hatte ihnen keine Aufträge mehr gegeben, die das Aufhalten in der Menschenwelt benötigten, diese Unruhe war daher eigentlich nicht sonderlich logisch. Aber es fiel Blue dennoch schwer sie abzuwimmeln. Sein dummer Bruder tat so Vieles, was unüberlegt war… und Vieles, was verboten war…
„Dann muss ich mich wohl…“ Blue musste sich zusammennehmen. Er konnte sich nicht einfach so zu Ri-Il teleportieren – nicht als Abtrünniger!
„… wirklich für Ihre Hilfe bedanken. Sie haben mir dreifach das Leben gerettet.“
„Nein, das musst du nicht. Wie gesagt, ich lasse niemanden sterben, wenn ich es verhindern kann.“ Blue konnte nichts dagegen tun, aber er glaubte ihm und das behagte ihm nicht. Youma war wirklich ein Widerspruch in sich und dabei sagte er das immer Nocturn nach…
„Ich würde mich gerne dafür erkenntlich zeigen“, sagte Blue zwar – denn er wollte nicht in Youmas Schuld stehen – aber mit den Gedanken war er immer noch bei Silver. Das änderte sich jedoch, als Youma sich tatsächlich einen Drahtstuhl heranschob und sich vor ihn setzte.
„Dann tue es.“ Blues Augen verengten sich skeptisch, aber Youma ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Ich möchte gerne alles über Green wissen.“
Blue musste sich zusammennehmen, denn er hätte beinahe gelacht. Gewiss nicht erfreut, sondern hohl und sicherlich recht finster klingend. Er sollte alles von Green erzählen? Er? Wusste Youma, dass er genau an die richtige Person herangetreten war mit dieser Frage oder war es ein Zufall? Nein, es war keiner. Youma war sich im Klarem darüber, welch tausende Berichte Blue über Green geschrieben hatte. Fünf Jahre lang. Jede verdammte Nacht.
Sofort fragte Blue sich, woher er es wusste, aber dieser Frage konnte er sich später widmen.
„“Alles von Green“?“, wiederholte Blue und obwohl er nicht lachte, so war das bittere Lächeln doch auf seinem Gesicht zu sehen und Youmas Gesicht verdunkelte sich.
„Sie wissen, dass dafür ein Tag nicht genügt?“ Ganz zu schweigen davon, dass Blue kein Interesse daran hatte, ihm Greens Lebensgeschichte auf einem Silbertablett zu servieren. Aber er sah ein, dass er Youma für seine Rettung in der Tat etwas schuldig war.
„Mein Interesse gilt auch nicht ihr als Person“, erklärte Youma, das eine Bein über das andere schlagend.
„Es gilt ihrer Bedeutung. Ihren Fähigkeiten. Ich möchte wissen, was sie besonders macht.“ Er unterschlug die Frage, ob oder eher wie gefährlich Green war, aber Blue meinte sie dennoch herauszuhören. Hatten Youma und Nocturn darüber gesprochen, als sie sich am Vorabend, nein, vor zwei Tagen frühmorgens in der Stube getroffen hatten? Die beiden hatten vorgestern in der Sprache der Wächter miteinander gesprochen, aber Blue hatte dennoch Greens Namen sehr oft gehört… und zwar in einem Gespräch, welches sehr ernst geklungen hatte – und wenn nicht nur Youma ernst war, sondern auch Nocturn, dann musste das etwas bedeuten.
„Green macht nichts besonders“, erwiderte Blue ehrlich:
„Das einzige, was sie „besonders“ macht, ist, dass sie als Tochter Whites überraschend unterdurchschnittlich und fähigkeitslos ist.“ Da war er wieder. Der Blick, den Blue an Youma hasste. Er legte den Kopf eine Ahnung in den Nacken, neigte ihn ein wenig zur Seite und verengte die Augen – ein Blick voller Arroganz und Überheblichkeit. Blue hatte schon mit so vielen mächtigen Personen zu tun gehabt; Fürsten, Hikari und Ri-Il, Nocturn ebenfalls. Sie waren alle mächtig, sie waren stark, sie waren in der Lage, einen das Fürchten zu lehren. Blue beugte sich ihnen, sich seines eigenen Platzes bewusst und er tat es ohne mit den Zähnen zu knirschen. Aber es fiel ihm sehr schwer, sich Youma unterzuordnen, der mehr als alle mächtigen Dämonen und Hikari seine Arroganz deutlich machte. Er war ein Halbgott, ja, das wusste Blue. Aber Youma hatte nichts, absolut gar nichts erbracht, um sich das Recht herausnehmen zu können, eingebildet zu sein und doch wirkte er immer so, als säße er bereits auf einem Thron mit Krone auf dem Haupt und Zepter in der Hand.
„Offensichtlich…“ Da war auch schon wieder dieser eingebildete Tonfall, von dem Nocturn sich erheitert fühlte, aber Blue machte er wütend.
„… sieht das Element des Lichts das ein wenig anders als du.“ Wenn Youma Blues Einschätzung nicht vertraute, warum führten sie dann überhaupt dieses Gespräch?
„Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du ehrlich bist. Es geht hier immerhin um alle Dämonen, deinen Bruder inklusive.“ So eine Bemerkung hätte Blue eher Nocturn zugetraut, aber leider funktionierte sie auch aus Youmas Mund.
„Ich bin ehrlich“, stellte Blue entschieden fest.
„Ich kann mir nicht erklären, warum das Lichtelement plötzlich Gefallen an Green findet. Ich weiß nicht, wie informiert Sie über Greens Werdegang sind, aber dieser war nicht gerade glanzvoll. Sie war als unreine Hikari bekannt, eine befleckte Person, mit der die Hikari nichts zu tun haben wollten und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich etwas an ihrer Unreinheit geändert hat.“ Oder vielleicht hatte es, dachte Blue mit einem Ziehen im Herzen. Vielleicht hatte sie ihren unschmeichelhaften Titel abgelegt, nun da es weder Silver noch Blue in ihrem Leben gab. Was wusste Blue eigentlich darüber, wie Green sich verändert hatte? Sie war stärker geworden, das hatte er unzweifelhaft am eigenen Leib zu spüren bekommen.
„Ihre Magie war stets unterdurchschnittlich und ihr Können ebenfalls“, fuhr Blue fort, doch Youma unterbrach ihn:
„Im Kampf gegen dich war sie nicht unterdurchschnittlich, sondern absolut überdurchschnittlich.“ Blue schwieg kurz, dann antwortete er so sachlich wie möglich:
„Die Magie der Hikari ist verbunden mit ihren Gefühlen. Umso stärker die Gefühle, umso stärker ihr Angriff.“ Aber das sollte Youma eigentlich wissen und Blue ging nicht davon aus, dass er ihm etwas Neues erzählte – in seinem Fall war es sicherlich nicht anders. Blue ging jedenfalls davon aus, dass das Element des Lichtes und das der Dunkelheit Überschneidungen hatten.
„Und Green hegt einen großen Hass gegen mich“, sagte Blue so sachlich, als rede er über Mathematik und scheinbar – und das behagte Blue überhaupt nicht – wusste Youma, warum er so gekünstelt klang, denn sein Blick wurde misstrauisch. Wusste er von… Blues Gefühlen für Green? Hatte Nocturn ihm das erzählt?
„Ich bin mit dieser Eigenart des Elementes vertraut.“ Ja, natürlich war er das, aber das sagte Blue nicht, er schwieg und hörte zu.
„Aber aufkommende Gefühle, egal wie tosend sie auch sein mögen, können einem nicht mehr Magie geben als vorhanden ist. Es ist eher mit einem temporären Adrenalinschub zu vergleichen, der die Magie freisetzt, die tief verborgen liegt, aber ganz gleich wie stark das Gefühl ist, es wird niemals in der Lage sein, die Magie zu verdoppeln oder gar noch mehr, so wie es bei Green der Fall war. Egal wie stark oder welcher Natur ihre Gefühle für dich auch sein mögen…“ Sein Schweigen sagte Blue deutlich, dass Youma es leider wusste.
„… das ist nicht das, was geschehen ist. Es muss eine andere Erklärung dafür geben, warum das Element des Lichts sie als Katalysator ausgesucht hat.“
„Ich kann Ihnen nicht gänzlich folgen“, gab Blue widerstrebend zu, aber Youma antwortete ihm nicht, denn er wusste nicht, wie er es ihm erklären sollte, ohne zu viel über sich selbst preiszugeben. Es war nicht das Licht der jetzigen Hikari gewesen, dass die vielen Dämonen getötet hatte: Es war Hikarus. Es war ihre Aura, die er vor ein paar Monaten in Henel gespürt hatte und es war ihr Hass, der sich gegen ihn, gegen sie alle, richtete. Nicht Greens.
Aber das wusste Youma nur mit absoluter Sicherheit, weil er Hikaru erlebt hatte. Er war die einzige lebende Person, die das getan hatte, wenn man den namenlosen Dämonenherrscher nicht miteinbezog, der offensichtlich ebenfalls gegen Hikaru gekämpft… und scheinbar verloren hatte. Es war jedenfalls in Youmas Augen kein Sieg, wenn Hikaru noch irgendwie, irgendwo existierte und ihr Licht einsetzen konnte!
„Es ist das Element selbst…“, tastete Blue sich nun langsam vor, denn er wusste immerhin, worauf Youma hinauswollte und warum er so zögerte, aber keiner von ihnen wollte die Karten auf den Tisch legen. Noch würde Blue gewiss nicht offen legen, dass er Youmas Geschichte kannte.
„… das durch Green wirkt? Ist es das, was Sie sagen wollen?“
„Bei der großen Leuchtkraft liegt diese Vermutung jedenfalls nahe oder nicht?“ Youma schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück:
„Die Frage ist nur wieso. Dass das Licht uns auslöschen will ist keine Frage, aber wenn das Element seit jeher in der Lage war, durch seine Erben in dieser Form zu Tage zu treten, durch sie zu wirken, durch sie gezielt zu töten, dann stellt sich die Frage, warum das nicht schon früher geschehen ist. Laut Nocturn waren die Hikari überaus schockiert, als es das letzte Mal in Henel geschehen ist, weshalb wir davon ausgehen können, dass niemals zuvor etwas Ähnliches geschehen ist – die Hikari sind immerhin Augenzeugen, vorne heran der Forscher. Warum also Whites Tochter? Warum jetzt und nicht früher? White ist eine überaus mächtige Hikari: Sie verfügt über mächtige Lichtmagie und großes Können, um diese zielsicher einsetzen zu können. Sie hat tausenden Dämonen das Leben genommen und noch mehr das Fürchten gelehrt. Warum also hat das Element des Lichts nicht bereits durch sie alle Dämonen ausgelöscht?“ Blue begann einen Verdacht zu haben… einen Verdacht, der seine Antisympathie gegen Youma vergrößerte.
„Vielleicht war es vorher nicht möglich. Die nötigen Bedingungen waren möglicherweise noch nicht erfüllt…“, tastete Blue sich vor mit leiser, ernster Stimme.
„… oder…“ Er sah Youma genau in die Augen.
„… es hat auf etwas gewartet.“
Es, nein, Hikaru, hatte nicht auf etwas gewartet, dessen war Blue sich sicher.
Sie hatte auf Youma gewartet.