Kapitel 112 - Der Hass I
„Achten Sie auf ihn, Lacrimosa-san“, beschwor Youma Lacrimosa mit einem Wink auf Nocturn, der ihn von Weitem schweigend anstarrte. Er hatte kein Wort mehr gesagt, obwohl Feullé zu ihm getreten war. Auch auf sie hatte er nicht reagiert. Er stand einfach nur da mit leicht geweiteten Augen.
„Lassen Sie ihn keine Dummheiten machen.“ Die Fürstin gab ihm als Antwort einen Klaps auf den Rücken, dann teleportierte Youma sich auch schon nach Lerenien-Sei, nachdem er auch Neferteri verabschiedend zugenickt hatte.
Der Temperaturumschwung war recht krass, aber auch der Unterschied der Luft und Youma musste husten, als ihm die trockene Luft der Hauptstadt entgegenschlug. Er zog sich die Kapuze über den Kopf und straffte seinen schwarzen Mantel, der um ihn flatterte, während er herunter sah in die schwarze Stadt. Einen Moment verweilte er; blickte auf die schwarzen Häuser der im Tal liegenden Stadt, spürte die vielen Auren… und schloss die Augen, ehe er sie entschlossen wieder öffnete um die Hauptstraße hinunter zu gehen, mit dem Schloss im Rücken, das wir ein großer Schatten über ihn aufragte.
Er sollte den Kopf gesenkt halten, um nicht erkannt zu werden, aber er konnte es nicht – er war zu neugierig. Zu neugierig wie es der Stadt… ging.
Die Straßen waren leerer als bei Youmas letztem Besuch, welcher nun mittlerweile auch schon gut zwei Monate zurücklag. Seit dem Abendmahl und dem darauffolgenden Kampf gegen Nocturn war er nicht mehr hier gewesen. Natürlich nicht! Immerhin hatte der König selbst – auch wenn es nur Lerou war – den Befehl erteilt, Youma und Nocturn gefangen zu nehmen. Wer würde denn da direkt unter seiner Nase in seiner Stadt umherstreifen? Youma sollte es eigentlich auch nicht tun, aber er hatte keine Wahl.
Die Häuser waren dunkel wie bei seinem letzten Besuch und dadurch, dass es auf der Straße – es war immerhin die Hauptstraße – nicht von Dämonen wimmelte, wirkte Lerenien-Sei wie eine ausgestorbene Geisterstadt. Youma, immer noch voranschreitend, sah über die Schulter zum schwarzen Schloss, welches sich wie ein Koloss über den Häusern emporhob und fragte sich, was darin wohl vor sich ging. Lerenien-Sei hatte sicherlich ebenfalls viele Tote und Verletzte zu beklagen; wurden sie im Schloss versorgt? Hatten sie überhaupt Anti-Licht? Und wenn ja, teilten sie es? Karou war doch Arzt – arbeitete er gerade oder ließ er die Bewohner Lerenien-Seis sterben?
Youma verlangsamte seine Schritte ein wenig und warf einen etwas zögerlichen Blick in die Seitengassen, die sich von der Hauptstraße aus in die Dunkelheit der zickzackstehenden Häuser verirrten. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann sah er weniger Kinder. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Ganz ausgestorben war die Stadt nicht, aber deren Geräusche waren gedämpfter. Über den Dächern war Rauch zu sehen, der sich aus den vielen Schornsteinen in den roten Himmel empor schlängelte und hier und dort schnappte Youma Gesprächsfetzen auf. Er hörte auch Schreie. Warnende Schreie womöglich… und Schmerzensschreie. Und immer wieder dasselbe Wort: „Licht“.
Dieses Wort hörte er besonders oft und besonders laut, als er sich der bekannten Bar Weydes Lerenien-Seis näherte, von der Nocturn ihm erzählt und ihn gewarnt hatte. Wenn er nicht vergewaltigt und umgebracht werden wollen würde, dann sollte er sich von dort fernhalten, so seine Worte. Es hatte in seinen Ohren wie ein schrecklicher Ort geklungen, um den er einen Bogen machen würde und sollte, weswegen er erstaunt war, dass eben jene Bar gerade aussah wie ein Lazarett. Er roch eine große Konzentration von Blut und auch der Gestank von Erbrochenem stieg ihm in die Nase, aber dennoch eilte er nicht vorwärts. In den vielen Wächterbüchern, die Youma studierte, um deren Gesellschaft zu verstehen, las Youma immer wieder von der Grausamkeit der Dämonen; dass sie kein Mitgefühl besäßen, dass sie sich gegenseitig umbrächten und jedes Gefühl der Freundlichkeit umsonst bei ihnen zu suchen sei und doch sah er hier wie scheinbar fremde Dämonen einander halfen. Sie trugen Verletzte heran, tauschten Informationen aus, warnten sich, während Verletzte notdürftig und mehr schlecht als recht versorgt wurden. Es war ein ziemliches schreckliches Durcheinander ohne jegliche Struktur, aber es stand dennoch in einem krassen Gegenteil zu dem, was in den Wächterbüchern immer über Dämonen geschrieben stand. Hatte überhaupt einer von diesen Autoren Feldforschung betrieben?
Sie konnten jede Hilfe gebrauchen, die sie bekommen konnten, aber dennoch eilte Youma weiter – er konnte ihnen besser auf eine andere Art helfen.
Das Ende der breiten Straße war nach einigen weiteren Minuten erreicht und Youma befand sich am Fuße des gigantischen schwarzen Turmes, welcher immer noch absolut hässlich war. Ein Unwerk, welches man abreißen sollte, wenn es denn möglich war, aber er verlangte immer wieder, dass man erst einmal den Kopf in den Nacken legte, um seine immense Höhe zu betrachten und darüber zu staunen, dass man das Ende nicht sehen konnte. Er war trotzdem hässlich.
Youma senkte den Kopf wieder und war doch ein wenig erstaunt – und auch darüber verärgert – dass er nicht erwartet wurde. Die Dämonen standen inmitten einer Katastrophe und was tat „ihr Gott“? Nun, vielleicht ging Youma etwas voreilig mit ihm ins Gericht, aber eigentlich hatte er damit gerechnet, dass der namenlose Dämonenherrscher wusste, was Youma vorhatte und ihm… irgendwie entgegenkam.
Aber am Turm wartete niemand auf ihn. Die schwarze Kette, die um den Turm aufgespannt war, schwenkte ein wenig hin und her, aber ansonsten bewegte sich hier nichts. Etwas verärgert, aber auch ein wenig besorgt, denn er hatte wirklich damit gerechnet erwartet zu werden… stieg Youma über die Absperrung hinweg auf den schwarzen Pflasterstein, der um den Turm gelegt worden war. Obwohl Youma davon ausging, dass die anderen Dämonen Wichtigeres zu tun hatten, als sich um sein Vorhaben zu scheren, sah er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete, ehe er seine flache Hand auf die raue, kalte Oberfläche des Turms legte.
Lerenien-Sei verschwand und mit der Stadt auch sämtliche Gerüche und Geräusche, als der Turm ihn Willkommen hieß. Ein dumpfes Schweigen umfing den Wächter der Dunkelheit, der sich in seinem Element wiederfand, denn um ihn herum herrschte finsterste Nacht. Er war nicht überrascht, dass der Turm ein Innerstes besaß, aber er war doch etwas erstaunt darüber, dass er hier drin war… und dass er alleine war.
Youma, für dessen Augen die Dunkelheit natürlich keine Herausforderung darstellte, sah sich um in dem kleinen Raum, in dem er sich befand. Ein gänzlich schmuckloser Raum aus schwarzem Stein gehauen. Keine Vorrichtung für Fackeln, kein Bild, keine Gravuren und auch keinerlei Möbel irgendeiner Art. Diese absolute Kahlheit überraschte Youma doch ein wenig… Eigentlich schätzte er den namenlosen Dämonenherrscher recht eitel ein und das ehemalige Schloss Lerenien-Seis – das des alten, ersten Lerenien-Seis – war ihm auch sehr prunkvoll vorgekommen. Aber hier… hier war nichts. Nur der nackte Stein.
Hinter ihm war auch keine Tür, nur vor ihm. Eine Tür ebenfalls aus Stein, ohne Griff oder Knauf, doch sie öffnete sich für Youma, indem sie geräuschlos empor glitt. Youma versuchte sich einzureden, dass er verärgert und irritiert war und dass der namenlose Dämonenherrscher mit ihm spielte, indem er ihn auf eine Art Schnitzeljagd schickte, anstatt einfach vor ihm aufzutauchen. Vielleicht wollte er ihm auf diese Art sein „Meisterwerk“ zeigen, obwohl das absolut nicht der richtige Zeitpunkt war für dieserlei Spielchen. Doch Youma hatte nicht das Gefühl, Teil eines Spiels zu sein… und dass es nichts Gutes bedeutete, dass er den namenlosen Dämonenherrscher weder spüren, hören, noch sehen konnte. Er war alleine, gänzlich alleine. Die Welt um den Turm herum existierte nicht mehr.
Er sollte nicht hier sein. Niemand sollte hier sein. Das war keine Domäne, die betreten werden durfte.
Es gab jedoch etwas anderes, worüber Youma sich ärgerte – und zwar über sich selbst, denn er spürte, dass er zögerte voranzuschreiten. Irritiert schüttelte er den Kopf und trat dann hinaus aus der Steinkammer und… erstarrte.
Da war… etwas.
Er wusste nicht, was es war, aber jeder seiner Sinne warnte ihn vor diesem Etwas.
Youma versuchte ruhig auszuatmen, aber es gelang ihm nicht. Sein Atem zitterte. Irgendetwas hier jagte ihm Angst ein. Aber er wusste nicht, was es war – er hatte logischerweise keine Angst vor der Dunkelheit, welche hier ohnehin lichter war als im Raum zuvor und er konnte auch nichts ausmachen, was irgendwie bedrohlich wirkte.
Vor ihm türmte sich eine schwarze Säule empor, die aussah wie der Turm selbst. Sie war aus dem gleichen schwarzen Stein gehauen und erstreckte sich hinauf… Youma war hinausgetreten auf eine schwarze Wendeltreppe, die sich um die enorme Säule – mehrere Meter im Durchmesser – herum schlängelte… und entweder in den Abgrund führte oder hinauf zur Spitze des Turms.
Youma sah hinauf. Aber er wusste, dass das, was ihn ängstigte, unten lag. Etwas war hier. Etwas, was nicht hierhin gehörte. Er spürte es mit seinem gesamten Sein, mit seinem Element, mit seinem Herzen. Alles in ihm warnte ihn.
Es war nicht komplett dunkel in diesem ewigen Treppenhaus.
Aber das sollte es sein.
War es aber nicht.
Es war nicht dunkel, weil von unten Licht empor kroch. Helles, sehr, sehr helles Licht.
Es wurde heller und heller.
Youma sollte sich nicht herumdrehen. Er sollte nicht einmal den Kopf nach links drehen, zum Ursprung des Lichts. Er sollte verschwinden. Er sollte fliehen.
Aber er es war zu spät. Er hatte sich bereits nach links gedreht, zum Licht und im gleichen Moment packten zwei Hände seine Kehle.
Weiße Augen, die in Youmas entsetztes Gesicht starrten. Kleine Hände, die sich brennend in seine Kehle gruben und weiß. Alles war weiß. Alles war gleißend hell. Alles brannte. Die Luft, der Stein, Youma selbst. Er war so von Panik und Licht und Schmerz gelähmt, dass er nicht einmal schreien konnte.
Er konnte nur in die Augen des weißen Todes starren.
„LIGHT IST NICHT HIER UM DICH BESCHÜTZEN ZU KÖNNEN, HALBKIND.“
„Nein. Aber zum Glück bin ich es ja.“
Es hörte auf zu brennen, als Youmas Schulter von einer mächtigen Hand gepackt wurde und er mit einer enormen Macht zurückgerissen wurde. Die kleinen Finger, die seinen Hals so gerne verbrannt hätten, ließen ihn gehen, aber alles in ihm brannte immer noch. Es war immer noch weiß und er konnte nichts sehen, nichts hören, nichts anderes außer einem gellenden, hohen Lachen – bis Dunkelheit und Stille ihn plötzlich umfingen und er sein Augenlicht und auch seine Stimme wiederfand. Er war plötzlich in einem anderen Raum, aber das interessierte ihn nicht.
„HIKARU!“, schrie Youma mit heiserem Atem, kaum, dass er wieder sprechen konnte und befreite sich aus dem Griff des namenlosen Dämonenherrschers, der seinen Arm um ihn gelegt hatte.
„Das war HIKARU! Warum ist sie hier, warum ist sie im Turm?! Warum ist sie in Lerenien-Sei?!“ Aufgeregt, nein, panisch wirbelte Youma herum und warf seine Hände an die Brust des Dämonenherrschers, der ihn mit einer ernsten, steinernen Miene ansah.
„Warum ist sie hier?!“ Es war Hikaru, natürlich war es Hikaru gewesen! Aber wieso?! Wie?! Warum hier?! Warum in Henel?! Youma versuchte sich zu beruhigen, klar zu denken, aber er konnte kaum einen anderen Gedanken ergreifen als den Schrei in seinem Inneren, der ihren Namen so laut und kreischend brüllte, dass Youma an nichts anderes denken konnte als das. Er spürte noch immer ihre Hände an seiner Kehle, das Brennen ihres Lichts! Seine Augen flackerten noch, denn das Licht war so stark und so immens gewesen… nur Hikarus Licht konnte so strahlen…
„Du hättest nicht hierherkommen dürfen. Es ist viel zu gefährlich für dich. Ich habe nicht gescherzt, als ich dir sagte, dass sie deinen Tod wünscht und Hikaru belässt es nicht bei Wünschen.“ Youma hörte ihn gar nicht. Hikaru… sie… sie hatte anders ausgesehen… Er versuchte sich zu konzentrieren; sich auf das Bild der kleinen Hikari zu konzentrieren, die er früher täglich gesehen hatte. Sie war… immer noch ein Kind, aber ganz, ganz anders… es war aber dennoch unzweifelhaft Hikaru gewesen. Haare… da waren überall Haare gewesen… weiße, lange Haare… ein langes, abgetragenes, zerrissenes Gewand… ausgemagert und ausgezehrt, aber voller Licht und Hass.
„War das wirklich Hikaru…“
„War es, aber nein.“ Youma sah verwirrt empor zum namenlosen Dämonenherrscher, der ihn immer noch mit einer steinernen, ernsten Miene ansah. Seine roten Augen leuchteten deutlich hervor und schienen schier zu fordern, dass Youma ihn ansah. Er wollte sich abwenden, aber er konnte es nicht. Der namenlose Dämonenherrscher nahm sein Gesicht in seinen Händen und zog ihn nah an sein Gesicht.
„Du hast nichts gesehen. Das war nicht Hikaru.“
„Natürlich war es…“
„Du hast nichts gesehen. Du bist hierhergekommen und ich habe dich am Eingang abgeholt.“
Die Panik ließ nach. Der Schrei, der Hikarus Namen geformt hatte, verstummte und Youmas Gesichtsausdruck entspannte sich, während er langsam blinzelte, dabei genauestens von dem namenlosen Dämonenherrscher beobachtetet, der seine Arme um ihn legte und ihn umarmte, kurz, aber intensiv.
„Es genügt, wenn ich mich mit ihr herumschlage…“
Kaum, dass er das gesagt hatte, sackte er auch schon mit einem kleinen Stöhnen vor Youma auf die Knie. Überrascht und wie aus einem Traum erwacht, sah Youma auf den namenlosen Dämonenherrscher herunter, von dem er nicht erwartet hatte, dass er zusammensacken könnte.
„Was ist mit Ihnen? Was haben Sie?“
„5.001… tote Dämonen…“ Er röchelte mit einem schiefen Grinsen.
„Fordern auch von mir… ihren Tribut.“ Youma musste sich eingestehen, dass ihn das bestürzte und in diesem Moment wurde ihm auch klar, dass er, so ungerne er das auch wahrhaben wollte, doch anfing ihm zu glauben, dass er wahrhaftig ihr Gott war. Er hatte die ganze Zeit versucht sich einzureden, dass das nicht der Wahrheit entsprach, aber nun spürte er, dass er ihm doch leider glaubte. Und was Youma daran am meisten bestürzte war, dass auch er als Gott nicht unantastbar war.
„Es sind… zu viele auf einmal gestorben.“
„Das spüren Sie?“ Der namenlose Dämonenherrscher lachte hohl.
„Natürlich tue ich das. Ich spüre jeden Tod und jede Geburt.“ Grinsend hob er den Kopf.
„Ob du es willst oder nicht, aber ihr seid alle ein Teil von mir.“ Unter anderen Umständen hätte dieser Gedanke Youma wohl angewidert, aber in diesem Moment spürte er tatsächlich so etwas wie Sorge in sich. Er sah wirklich sehr angegriffen aus…
„Nun… gut, du ein bisschen weniger als die anderen.“ Darauf ging Youma nicht ein. Es gab Wichtigeres.
„Wollte sie… Hikaru… Sie schwächen? War das ihre Absicht mit diesem Angriff?“
„Nein, sie will einfach nur alle Dämonen auslöschen. So simpel ist das.“ Schwerfällig richtete er sich wieder auf, aber obwohl er wieder aufrecht stand, wirkte er deutlich schwächer als sonst. Etwas… müde wie Youma fand.
„Das heute war nur eine Art Begrüßung. Mich zu ärgern ist nur ein angenehmer Nebeneffekt dieses Auftakts.“ Das konnte Youma sich nun nicht vorstellen, aber etwas lenkte ihn von diesem Einwand ab – es war der Raum, in dem sie sich befanden und welchen Youma nun langsam in Augenschein nahm. Es war ein langer, rechteckiger Raum, deutlich aufwendig dekorierter im Vergleich zu der anderen Kammer, aus der Youma eben gekommen war. Die Wände waren auch nicht nur aus Stein, sondern aus buntem Marmor und die Wände waren bemalt… Hübsch bemalt, farbenfroh… Youma mochte das gar nicht sehen, denn er hatte beinahe das Gefühl, dass er in einer Halle war, die zu Zeiten Aeterniems hätte gebaut sein können und wenn er die Tür öffnete, dann wäre er Zuhause.
Aber er war nicht Zuhause. Er war immer noch im Turm und diese dunkle Kammer, die abermals keinerlei Fackeln besaß, war… Youma schluckte… eine Grabkammer mit sechs Särgen.
Der namenlose Dämonenherrscher bemerkte seinen Blick, der sich nicht von den Glassärgen abwenden konnte und lächelte wehmütig, als er ebenfalls zu ihnen sah.
„Meine geliebten Söhne.“ Youma sah erstaunt zu ihm. So sanft und zärtlich hatte seine Stimme noch nie geklungen.
„Sie ruhen hier für die Ewigkeit… kämpfen hier für unsere Welt bis zum letzten Tag dieser.“ Was meinte er damit? Sie waren tot. Youma spürte keine Aura, keine magische Aktivität. Wie konnten sie so für Henel kämpfen? Und warum waren da nur sechs… wo war… der siebte Sarg? Die Särge waren recht dunkel und Youma wollte nicht indiskret sein und in sie hineinstarren, aber er glaubte zu wissen, welcher Sarg fehlte…
Ob der namenlose Dämonenherrscher seine Gedanken lesen konnte? Wusste er, woran Youma dachte? War das der Grund für dieses bedrückende Schweigen? Youma spürte, dass er ihn ansah… wartete er darauf, dass Youma die Frage stellte, wo der Leichnam seines Vaters war…?
Aber Youma stellte die Frage nicht, auf die der namenlose Dämonenherrscher so sehr wartete und hoffte.
Aber stattdessen sagte Youma etwas anderes, was sein Herz zum Hüpfen brachte:
„Ich bin auch hier, um für unsere Welt zu kämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass nicht noch mehr sterben müssen.“
In der Tat war es so, dass Youma Blue gesagt hatte, dass es vielleicht ratsam war, in seiner Kammer zu bleiben. Aber auch nachdem dieser das Schloss verlassen hatte, kehrte Blue nicht dorthin zurück. Was sollte er dort auch tun? Es nützte ihm nichts, dort zu sitzen. Der dort ausgestellte Schmuck verbarg kaum irgendwelche Geheimnisse, ebenso wenig wie die Karten, außer dass er meinte, dass die Handschrift die eines Mannes war und nicht die einer Frau, aber er konnte sich diesbezüglich auch irren.
Aber es gab allerlei interessante Dinge aufzuschnappen in dem Salon Lacrimosas, wo ein großes Feuer in einem gigantischen Kamin loderte – so viel, dass es sich lohnte, die eisigen Blicke der Fürstin zu ignorieren und der Gefahr zu trotzen. Sie würde ihm sicherlich nichts tun, solange Nocturn seine schützende Hand über ihn hielt, auch wenn dieser im Moment nicht danach aussah, als hätte er vor, irgendjemanden zu schützen. Während Neferteri und Lacrimosa angeregt miteinander sprachen, hielt Nocturn sich gänzlich bedeckt. Er und Feullé teilten sich alleine ein violettes Canapé, welches am weitesten entfernt war vom Karmin und er starrte ins Nichts, während er Feullé, die bei ihm auf dem Knie lag, durch die Haare strich, als wäre sie eine Katze. Einen unglücklichen Eindruck machte sie nicht: im Gegenteil, Blue hatte den Eindruck, dass sie sich darüber freute, dass sie ihn ablenken konnte… wenn es denn das war, was sie tat. Aber irgendetwas… tat sie. Immer wieder tauschten die beiden ein französisches Wort im Flüsterton aus; es klang nicht wie ein Gespräch, sondern nur wie dahingeworfene Worte, Stichworte. Blue war in seinen nächtlichen Kammerstunden dabei, sich Französisch beizubringen, aber er war noch nicht weit genug gekommen, um sie verstehen zu können oder gar ihre Lippen zu lesen, so wie er es in seiner Muttersprache und Dämonisch konnte. Doch er meinte… Buchtitel zu hören, nein, Märchentitel. Was auch immer sie da taten, Feullé sorgte auf jeden Fall dafür, dass Nocturn ruhig war, obwohl eine sehr unheimliche Aura von ihm ausging, so starr wie er dort saß und in die Flammen starrte, als malte er sich aus, die gesamte Dämonenwelt in Brand zu stecken.
Während diese Art der Therapie sehr interessant zu beobachten war, galt Blues Aufmerksamkeit doch eher Neferteri und Lacrimosa. Mit Absicht hatte Blue sich in die absolut hinterste Ecke des Salons gestellt, um sie glauben zu lassen, sie könnten ungestört miteinander reden. Der Salon war recht groß und er hörte sie tatsächlich nicht. Aber er konnte ihre Lippen lesen.
Sie sprachen über Youma, schon seit gut einer Stunde. Zunächst hatten sie sich gefragt, was er wohl vorhatte, aber dann hatten sie sich mit einer anderen Frage beschäftigt – der Frage, ob er zum Dämonenkönig taugte. Blue hatte dazu eine ganz eindeutige Meinung – nein, er taugte nicht – aber Neferteri unterstützte Youma vollkommen. Lacrimosa musste ihm noch Zeit lassen: Es stimmte, dass er ein recht weiches Herz besaß und vielleicht auch zu mitfühlend war, aber ein zu hartes Herz würde auch niemals die Kinder Lerenien-Seis retten wollen und das war doch Lacrimosas Ziel? Ja, aber er sollte auch nicht sterben, ehe er es getan hatte. Sie mochte ihn. Sie wollte ihn nicht für ihr Ziel opfern. Er war noch jung, wiederholte Neferteri wieder. Kein König, der länger als 10 Jahre regiert hatte, war unter 100 gewesen. Die Krönung sollte ja nicht gleich am nächsten Tag oder im Laufe des nächsten Jahres geschehen. Sie hatte ihn Lacrimosa vorgeschlagen – aha…? – und geraten, ihr Vertrauen in ihn zu setzen – aha?! – eben weil er anders war als die meisten seiner Vorgänger. Sie benötigten Veränderung. Sie waren doch nicht wie die Wächter, die sich immer wieder im gleichen Kreis drehten! Aber Youma war kein brillanter Kämpfer… er schien das Töten und das Kämpfen gar nicht zu genießen, konterte Lacrimosa – und so konnte man doch kein Dämonenkönig werden.
Man musste aber auch nicht am laufenden Band foltern, so wie Kasra es getan hatte, antwortete Neferteri.
Ah, Blue bemerkte es sofort. Lacrimosa wurde bleich, als dieser Name fiel. Sie herrschte Neferteri umgehend an, dass sie diesen Namen in ihrem Schloss nicht hören wollte und heimste sich dafür Kritik ihrer Freundin ein. Kasra war schon so viele Jahre tot und trotzdem taten alle in der Dämonenwelt so, als wären sie von ihm traumatisiert. Es war Zeit, dass sie voranblickten und ihn hinter sich ließen.
Blue beugte sich ein wenig vor, um Lacrimosas Körperregung ein wenig besser zu sehen, denn diese war es, die Neferteri Einhalt gebot. Was hatte sie da getan? Hatte Lacrimosa sich verkrampft? Jedenfalls entschuldigte Neferteri sich… sagte irgendetwas davon… dass sie es nicht vergessen hatte. Sie war unsensibel gewesen… sie entschuldigte sich noch einmal… Was war es?
Lacrimosa versuchte von sich abzulenken und von dem Gesprächsthema loszukommen, welches ihr offensichtlich eine Belastung war. Sie redete wieder von Youma und dass Neferteri recht hatte – alles war besser als Kasra.
Das konnte Blue nicht beurteilen. Er wusste nichts vom ehemaligen König, denn auch in Ri-Ils Gebiet hatte er diesen Namen nur selten gehört. Unterricht in dämonischer Geschichte war nicht der Hauptfokuspunkt seiner Ausbildung gewesen und wenn von einem König die Rede gewesen war, dann war es stets Lerou gewesen. Ri-Il war ein Dämon, der im Jetzt lebte und für seine zukünftigen Pläne – weniger in der Vergangenheit, weshalb Blue nicht wusste, ob er das Thema ebenfalls gemieden hatte, weil er nicht über Kasra reden wollte oder ob es einfach nur ein uninteressantes Thema für ihn war, weil es in Geschichtsbücher gehörte und nicht woandershin. Aber es war auch allerlei, fand Blue. Es war egal, ob Youma besser war als dieser oder jener König. Wenn er nicht gleich durch Tod abgesetzt werden wollte, dann musste er ein guter König sein, ganz gleich mit wem er verglichen wurde – und ein guter Dämonenkönig war auch ein starker, fähiger Dämon. Tatsächlich wären sie wahrscheinlich besser mit Nocturn bedient als König als Youma…
Vielleicht ging Blue da ein wenig hart ins Gericht mit ihm, weil er einen Groll gegen ihn hegte, denn Neferteri hatte nicht Unrecht – er war noch sehr jung und wenn man bedachte, dass er ein Halbgott war und damit sicherlich sehr lange leben würde… konnte er sich auch noch bessern.
Doch der Groll saß recht tief. Nun umso mehr, da Blue sich sehr sicher war, dass es Youmas Schuld war, dass Green in dieses Spiel der Götter hineingeworfen worden war. Sein Verdacht hatte sich nun verhärtet, nun, da er ein wenig mehr Zeit gehabt hatte, um die Fakten im Kopf hin und her zu drehen. Silence hatte damals zu Green gesagt, dass sie sich ihr nur aus dem Grund gezeigt hatte, weil sie als Zwilling spüren konnte, dass Youmas Bannkreis am Brechen war und dass er bald erwachen würde. Damals war sie auf Rache aus gewesen und hatte Greens Körper gebraucht, um diese ausführen zu können. Stattdessen waren sie Freunde geworden und Green hatte sich ihrer Sache freiwillig angeschlossen, um die Geheimnisse Aeterniems zu lüften. Das bedeutete wiederum, dass Silence und Green sich niemals getroffen hätten, wenn Youmas Bannkreis nicht gebrochen wäre. Die Situation mit Hikaru war nicht groß anders. Wäre Youma dreißig Jahre später oder früher aufgewacht, wäre eine andere Hikari an der Macht gewesen und eine andere Hikari hätte Hikarus Katalysator sein müssen. Youma suchte verzweifelt nach einer Antwort dafür, warum Hikaru sich Green ausgesucht hatte, was Green besonders machte, nach dem Band zwischen den beiden… aber für Blue war es ganz offensichtlich – es gab keines. Es war purer Zufall, dass es Green geworden war und nicht White. Oder irgendjemand anderes. Youma war in dieser Generation erwacht und deswegen war es Green, die „ausgewählt“ worden war, um in einem Spiel mitzuspielen, für welches sie nicht gemacht worden war.
Youma war der Grund, weshalb Green in Gefahr war.
Blues Finger gruben sich in seine verschränkten Arme.
Und das würde er ihm nicht verzeihen.
Der namenlose Dämonenherrscher reichte Youma die Hand und obwohl Youma wusste, dass er sie nehmen sollte, verzog sich sein Gesicht.
„Nun komm“, bat der Namenlose:
„Du bist doch hier, weil du weißt, dass ich es nicht alleine schaffen kann. Ich sehe zwar nicht so aus, aber ich besitze leider keine fleischliche Hülle mehr; ich bin tot und du…“ Youma fiel ihm ins Wort:
„… diene als Anker, damit Sie sich leichter materialisieren können, wenn Sie in der Menschenwelt sind, ja, ich weiß. Das habe ich verstanden.“
„Gut!“ Kurzerhand übernahm der namenlose Dämonenherrscher es selbst und zog Youma an der Hand zu sich:
„Dann lass uns einen Abstecher in die Welt der Menschen machen, unsere ehemalige Heimat.“
„Sie hat nichts mehr mit unserer ehemaligen Heimat gemein, also…“ Youmas Beschwerde verschwand, löste sich auf in dem Moment, als sie sich beide auflösten, um in der Welt der Menschen wieder aufzutauchen.
Noch ehe Youma die Augen öffnete, spürte er das Stechen im Hals und auf seiner Haut; die Lichtmagie, die überall in der Welt der Menschen war und sich freute, noch einen Dämon gefunden zu haben… aber es genügte ein Schnippen des Dämonenherrschers und schon wurde die Luft um sie herum leichter und das Brennen ließ nach.
„Wo sind wir?“ Youma traute seinen Augen nicht… immer noch die Hand des namenlosen Dämonenherrschers haltend, doch Youmas zitterte vor Erregung.
„Was, das weißt du nicht? Dein Vater und ich waren hier so oft… Wir sind in der Stratosphäre, mein Hübscher.“ Das hatte Youma zwar bereits erkannt, aber noch nicht gänzlich verstanden. Sie waren in der Stratosphäre der Erde.
„Ich… wusste nicht, dass wir so hoch fliegen können.“
„Ouuu hat dir Light etwa gesagt „flieg nicht zu hoch, da oben ist es zu kalt“?“ Tatsächlich kam es ihn gar nicht so kalt vor, aber das musste an der Magie seines Begleiters liegen. Youma sollte sich konzentrieren und ihr Ziel vor Augen haben, aber… Sie waren in der Stratosphäre. Youma konnte den Mund gar nicht zubekommen, so groß war er von dem Staunen eingenommen. Die vielen Sterne über ihm! Die Wolken und das blaue Meer unter ihnen!
„Du bist ein Kind der Sterne. Natürlich ist es dir, möglich den Sternen so nah zu sein.“ Youma hörte ihm gar nicht zu. Er sollte wirklich an deren Ziel denken. Daran, dass die Zeit drängte… an die leidenden Dämonen… Aber das war einfach so schön. Dieser Anblick war so schön, dass ihm die Tränen kamen und er konnte nicht verhindern, dass sie herunterliefen.
„Du kannst viel mehr, als was du glaubst oder weißt, Youma…“, hauchte der namenlose Dämonenherrscher und wischte ihm mit einem sanften Finger die Tränen von der Wange, für die Youma sich sogleich schämte. Aber jeder wäre von einem solchen Anblick zu Tränen gerührt. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie es anders sein sollte…
„Es…“ Er musste sich räuspern, um zu seiner Stimme zurückzufinden.
„… handelt nun nicht darum, was ich kann, sondern was Sie zu tun vermögen.“
„Gut gesagt!“ Der namenlose Dämonenherrscher lachte heiter. Es hatte ganz den Anschein, als erquicke ihn dieser „Ausflug“. Er wirkte jetzt jedenfalls nicht mehr müde oder auf irgendeine Art angeschlagen.
„Es liegt nun an mir zu beweisen, dass ich der Gott der Dämonen bin!“