Kapitel 113 - Der Hass II
„Ich will Nudeln. Die geringelten. Fusilli heißen die. Ich will sie mit zwei Teelöffeln Salz. Nicht weich und nicht hart. Mit einer braunen Hackfleischsoße und Gewürzgurken. Nicht schon wieder die mit Chiligeschmack“, herrschte Green Itzumi an, die sie eben hatte rufen lassen:
„Die ganz normalen.“ Jetzt hatte Green es geschafft. Jetzt hatte sie es endlich vollbracht dafür zu sorgen, dass Hizashi nicht mehr bis über beide Ohren strahlte. Jetzt sah er sie an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Itzumi dagegen verbeugte sich einfach nur und ging – sie hatte diesen Essenswunsch schon ein paar Mal gehört. Man hatte Green gerade gefragt, was sie nun vorhatte - ihre Antwort war es nach Itzumi zu verlangen, damit diese für ihr leibliches Wohl sorgen konnte. Green sah ihre etwas verwirrten Familienmitglieder an, die sicherlich noch nie von diesem Gericht gehört hatten, und verzog ihr etwas irritiert aussehendes Gesicht kein bisschen.
„Ich war 12 Tage lang in einem Turm eingesperrt, ohne Nahrung zu mir zu nehmen. Ich habe Hunger.“ Das konnte so oder so sicherlich keiner der Hikari nachvollziehen, auch wenn Green einen anderen Wunsch geäußert hätte – sie hatten immerhin schon lange aufgehört irgendetwas zu sich zu nehmen.
„Das ist überaus verständlich“, antwortete ihr ihre Mutter dennoch, nachdem die anderen Hikari immer noch ein paar Sekunden geschwiegen hatten. Sie waren hier im Begriff ihrer aller Zukunft zu entscheiden und Green dachte an eine solch triviale Speise?!
Ihre Mutter aber schmunzelte, als Green sich aufrichtete und irgendwie wirkte sie auf Green richtig erleichtert, als sie ihre Tochter ansah, als hätte diese etwas ganz Besonderes getan.
„Es war eine große Anstrengung für dich. Sowohl körperlich als auch geistlich.“ Ihre Hände lagen immer noch auf Greens Schultern, aber sie sah nun zu den anderen Hikari – besonders zu Hizashi.
„Wir haben eine Ewigkeit auf den Sieg über die Dämonen gewartet. Wir können auch noch ein wenig länger warten. Es ist nun wichtig, dass wir nichts überstürzen.“
„Gut gesagt“, erwiderte Mary mit einem Seitenblick zu Hizashi, der allerdings gänzlich unbeeindruckt blieb und auch nichts erwiderte oder seine Meinung dazu sagte, dass Adir verkündete, dass sie sich ins Jenseits aufmachen sollten, um die neuen Ereignisse mit dem Rat zu besprechen. Hizashi sah aus, als würde er Green am liebsten sofort nach Henel schicken, um dort das Licht zu verbreiten.
Das Licht zu verbreiten… Green sah auf die Bildschirme, über die die bekannten Namen der getöteten Dämonen flimmerten. Sie wusste immer noch nicht genau, was sie gemacht hatte, und erst recht nicht, ob sie es wieder tun könnte… oder wollte. Aber alleine dieser Gedanke – die Frage, ob sie es wollte oder nicht – verwirrte sie. Sie wollte es doch, oder nicht?
Green war gerade im Begriff sich von den Bildschirmen und den vielen Namen der Toten abzuwenden, als ein Name ihre Aufmerksamkeit fing. Rui… hatte sie da gerade wirklich Rui gelesen? Hatte sie Rui umgebracht…? Eine kleine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass die plötzlichen Bauchschmerzen heuchlerisch waren. Rui und sie hatten sich ja nie gemocht… eigentlich nicht mal viel miteinander gesprochen… hatten sie überhaupt mit einander gesprochen… eigentlich kannten sie sich nicht.
Doch, genau das war es, weshalb Greens Augen sich weiteten und sie sich nicht von dem Bildschirm abwenden konnte, obwohl da schon längst andere Namen oder Nummern standen. Sie hatte Rui gekannt. Ihr Name war nicht nur eine Nummer… gewesen. Da war ein Gesicht zu diesem Namen. Eine Stimme. Eine Stimme und ein Gesicht, welches jetzt nicht mehr da war, weil Green das Licht über die Welt gebracht hatte.
Green hatte alle Dämonen getötet, die in der Menschenwelt gewesen waren. So hatte Hizashi es ihr gesagt. Und Rui war eine davon gewesen. Sie war nun einfach weg. Einfach so.
Aber das war Krieg, oder?
„Green-san. Ihr Stab.“ Green sah überrascht auf, als Hizashi ihn ihr reichte und sofort verfinsterte sich ihr Blick wieder, denn das Lächeln war schon wieder auf seinem Gesicht zurückgekehrt. Wie machte er das nur?
„Sie wollen doch nicht ohne Glöckchen hinausgehen? Nicht, dass die Fusilli Ihre letzte Mahlzeit werden.“
„Danke…“ Das hatte Green eigentlich nicht sagen wollen, aber ihre Augen sahen immer noch Ruis Namen vor sich. Doch ihre blauen Augen wurden schnell abgelenkt, denn in dem Moment, als Hizashi ihn ihr zurückgab, erstrahlte dieser kurz, ehe er seine Form verlor und das kleine, goldene Relikt der Hikari auf ihrer offenen Handfläche landete… und wie ein Vogelbaby kleine Flügelchen ausbreitete, die sich langsam… ja, Green sah es genau… schwarz färbten.
Erleichtert darüber, diese schwarzen Flügelchen zu sehen, lächelte Green gerührt und auch irgendwie geehrt und es freute sie, dass ihre Mutter ihr da scheinbar zustimmte, denn sie drückte die Schultern ihrer Tochter kurz. Diese Nacht hatte also doch nicht alles verändert…
Na, das gefiel Hizashi sicherlich ni---
Doch er lächelte immer noch.
Der namenlose Dämonenherrscher verlor keine Zeit. Keinerlei Spielerei, keine Angeberei, die Youma eigentlich erwartet hatte, doch er war dankbar dafür, dass sein der Namenlose den Ernst der Lage verstanden hatte – was man bei ihm immerhin nicht erwarten konnte. Der namenlose Dämonenherrscher bedeutete Youma Abstand zu nehmen, was dieser auch sofort tat, wobei sein Blick immer wieder von der leuchtend blauen Oberfläche der Erde unter ihnen angezogen wurde… aber er folgte der Hand des Namenlosen mit den Augen, als er diese über sich erhob in einer schnellen, kraftvollen Bewegung. Er sagte nichts. Keinerlei Beschwörung, keine Formel, keinerlei Worte des Befehls, doch in seinen Augen war eine starke Entschlossenheit zu sehen, eine, die Youma überraschte. Er hatte gedacht, dass sei alles nur ein Spiel, ein Zeitvertreib für ihn – war es das etwa nicht? Sein Gesicht sah so ernst aus und seine leuchtend roten Augen, die auf einen unsichtbaren Feind gerichtet zu sein schienen, jagten Youma einen Schauer über den Rücken.
Das was geschah, war nicht mit dem bloßen Auge zu sehen. Doch Youma spürte es. Die Magiekonzentration nahm zu. Stärker und stärker wurde sie, bis die vielen, einzelnen Lichtpartikelchen, die eigentlich gar nicht mit dem bloßen Auge zu sehen waren, sich zu einer so großen Menge zusammengestaut hatten, dass sie wie ein gigantischer Blizzard aus Licht um den Dämonenherrscher herumwirbelten. Ein solcher monumentaler Anblick und die schiere Ansammlung von purem, strahlendsten Licht, hätten wohl vielen Dämonen das Augenlicht gekostet, doch der Dämonenherrscher schützte Youma mit einer rötlichen Aura, die jedes Licht abprallen ließ, ebenso wie es bei ihm der Fall war. Immer größer wurde der Sturm und immer heller wurde das Licht, welches sämtliche Farben auszulöschen schien--- die Finger des namenlosen Dämonenherrschers zitterten, seine Hand bebte, sein ganzer Arm revoltierte unter dieser enormen Kraftanstrengung dem Licht standzuhalten und sich Hikarus Magie entgegenzustellen. Seine Finger zuckten in verschiedene Richtungen und wäre er ein normales, lebendes Wesen ohne jegliche Göttlichkeit, sie wären gebrochen bei seinem Versuch--- bei seinem Versuch--- Youma sah es kaum, er konnte es nicht mehr gut erkennen, zu weiß war alles geworden, zu gleißend--- aber er glaubte, zu sehen… ja… der namenlose Dämonenherrscher versuchte, die Hand zu einer Faust zu ballen.
Und gerade als Youma es klar sehen und erkennen konnte, gelang es ihm.
Der Lichtsturm hielt inne, als hätte etwas ihn vereist, und ein triumphierendes Lächeln erschien auf Youmas Gesicht, als das gesamte Licht eingesogen wurde…
… bis ein Schmerzensschrei ihn erschrocken zusammenfahren ließ.
Es war der Schrei des Dämonenherrschers, der ihm durch Mark und Bein ging – er konnte schreien? Er konnte Schmerzen spüren? Das Licht Hikarus---- es konnte IHN verletzen?!
Youma sah nichts mehr, er hörte nur den langanhaltenden Schrei und die Schmerzen, die er kannte – Schmerzen, die nur vom Licht kommen konnten, nein, die nur von Hikaru ausgelöst werden konnten. Niemand anderes konnte Dämonen, egal wie stark sie waren, diese Schmerzen zufügen.
Youma löste sich aus seiner Starre, aus seiner Angst und obwohl die Barriere um ihn herum nachließ und er das Licht auch auf seiner Haut zu spüren begann, machte er sich daran, ins Zentrum des Lichts, des Schmerzes, zu gelangen. Das Licht, nun wieder aufgeregt herumwirbelnd, wollte ihn daran hindern, zu seinem Gönner zu gelangen; es drückte ihn zurück, drückte ihn weg, riss die Haut seines Armes auf, welchen er sich schützend vor die Augen hielt. Der Stoff seiner Uniform und seines Handschuhs nützte ihm nichts, gab ihm keinen Schutz und als er die linke Hand ausstreckte und sich selbst eine schwarz gleißende Barriere aus Dunkelheit erschuf, merkte er deutlich, dass auch dies ihn nicht lange würde retten können.
„Bleib weg, Youma!“, hörte er den namenlosen Dämonenherrscher schreien, ehe der Schmerz wieder zu groß wurde, aber als ob er es könnte! Er musste etwas tun, er musste! Ansonsten wären sie alle verloren! Dann hatten die Kinder umsonst geweint und die Dämonen in Lerenien-Sei kämpften umsonst. Nein, Youma würde nicht einfach nur zusehen und auf das beste hoffen!
Wilde Entschlossenheit zeichnete Youmas Gesicht, als er sich Schritt für Schritt vorankämpfte; seine Augen brannten, seine Haut würde bald entzweigerissen werden--- aber mit zusammengebissenen Zähnen gelang es ihm die paar Meter, die zwischen ihm und dem namenlosen Dämonenherrscher lagen, zu überwinden und sein entschlossenes Gesicht zeigte sich schockiert, als er den Schreienden erblickte.
Er schrie, weil das Licht in seinen Körper drang, nein, weil es bereits in seinen Körper gedrungen war.
„Ich habe… doch gesagt… dass du wegbleiben sollst.“ Youma hörte ihn gar nicht, so sehr schockierte ihn dieser grauenhafte Anblick. Wie bei zerspringender Keramik hatten sich überall Risse aufgetan in dem äußeren Erscheinungsbild des namenlosen Dämonenherrschers – leuchtende Risse, denn überall strahlte das Licht hervor. Die Risse pochten, revoltierten und schienen vor Youmas Augen immer und immer breiter zu werden. Sie waren in dem Gesicht des namenlosen Dämonenherrschers, zerrissen seine Haare, seine Kleidung, seine Haut, seine Augen und doch lächelte er Youma an, als wäre das nur eine leichte Kraftanstrengung--- bis das Licht aus seinen Fingern hervorbrach und diese auseinanderriss.
„Dieses verdammte Miststück!“, fluchte er mit zusammengebissenen, gefletschten Zähnen.
„Sie wusste… was ich tun würde… Sie wusste es genau… Sie hat mich in eine Falle gelockt…“
„Hikaru will Sie vernichten“, stammelte Youma völlig schockiert und heisere Worte purzelten aus seinem Mund, die er nicht kontrollieren konnte.
„Ha ja… natürlich will sie das.“ Ein Grinsen voller Pein zeigte sich auf seinem zerfurchten Gesicht.
„Das hat sie immer… gewollt.“ Aber das durfte sie nicht. Hikaru durfte den namenlosen Dämonenherrscher nicht vernichten – und mit diesem einzigen Gedanken im Kopf packte Youma ohne zu zögern das Handgelenk seines Gönners; das Handgelenk, welches zu der Hand gehörte, mit der er die Lichtmagie zu bannen versucht hatte.
Für einen kurzen Moment war der namenlose Dämonenherrscher von dieser Tat so überrumpelt, dass er nichts Anderes tat als Youma fassungslos anzustarren. Sah er das etwa gerade wirkl--- aber als Youma ebenfalls zu schreien begann, löste er sich aus seiner Starre und versuchte seine Hand und seinen Arm von Youma loszureißen.
„Nicht! Stop, Youma, STOP! Ich lebe nicht mehr; ich habe keine fleischliche Hülle, die sie töten kann, aber du hast es!“
„Das… das ist egal…“ Blut rann über Youmas Lippen und sein Herz schien zu zerspringen, als das Licht sofort seinen Arm emporzüngelte. Das Blut sammelte sich ebenfalls in seinen Augen und es rann aus seinen Ohren, als er den namenlosen Dämonenherrscher ansah, der seinen Blick bestürzt erwiderte.
„Verstehen Sie nicht?! Ich bin nicht wichtig für uns und unser Fortbestehen, aber Sie schon! Sie sind wichtig!“ Ein Stoß bebte durch den Körper des namenlosen Dämonenherrschers, als er diese Worte hörte – ein Stoß, stärker als jedes Licht. Ein Stoß, den er tief in seiner Seele und in seinem Herzen spürte.
„Sie dürfen nicht aufgeben!“ Youma schüttelte den Kopf und das Blut spritzte auf seine Kleidung und auf die seines völlig fassungslosen Gönners.
„Sie dürfen den Kampf gegen Hikaru NIEMALS aufgeben!“ Die Kinder Neferteris, die Dämonen in Lerenien-Sei, die Gestorbenen in der Menschenwelt, Nocturn, der von Hikarus Licht gebrochen worden war--- es musste aufgehalten werden, es durfte so nicht weitergehen! Hikaru musste ein Ende gesetzt werden! Sie hatten genug gelitten! Es musste aufhören, bevor es noch schlimmer wurde!
„Ich darf hier sterben, aber Sie---“ Youma konnte nicht weiterreden, nicht weiterdenken---
Das Licht… Hikarus Licht… es war einfach zu stark. Es blendete so sehr, ließ sich nicht von seinem Element zurückdrängen, es verschluckte die Schatten, verschluckte die Dunkelheit--- es kannte kein Erbarmen, egal wie sehr Youma auch schrie.
Schon einmal hatte er die Übermacht des Lichts schmerzhaft erkennen müssen. In dem Moment, wo sie sich gegenübergestanden hatten und Hikaru zum ersten Mal zu ihm gesprochen hatte. Damals… zwischen Aeterniya und Lerenien-Sei, gerade als es geschehen war. Aeterniem im Begriff zu sterben, Aeterniem im Begriff unterzugehen im Blut. Sie standen vor dem Abgrund, den Lights Tod in die Welt gerissen hatte.
Youma hatte ihr angesehen, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, die Flügel ihrer Waffe zu entfalten und sie gegen Youma zu richten. In einem Kampf und nicht in einem Operationssaal oder einem Keller. Nicht im Geheimen, nicht im Versteckten. Sondern hier. Nur sie beide. Sie genoss es sicherlich, dass er zu ihr hochsehen musste, ja, sie stand sicherlich nicht ohne Grund auf einer Ansammlung von Felsen, von welchen sie auf ihn herunterblickte. Der Stein unter ihren Füßen leuchtete. Die Luft um sie herum leuchtete in dieser dunklen, gänzlich sternenlosen Nacht.
Trauer über das, was geschehen war, war nicht in ihrem Gesicht, obwohl sie gerade ihren Bruder verloren hatte, der ihr doch angeblich etwas bedeutet hatte. Keine Träne, ja, nicht einmal Groll schien da zu sein, der sich gegen Youma richtete, den Mörder Lights.
„Wie dumm von dir, dich mir entgegenzustellen.“ Er hatte ihre Stimme vorher noch nie gehört. Noch nie hatte sie irgendein Wort an ihn gerichtet. Noch nie auf irgendeine Art mit ihm kommuniziert. Weder mit einem geschriebenen Wort, noch via Light oder gar mit einem vielsagenden Blick. Nichts. Als gäbe es keine mögliche Form der Kommunikation zwischen ihnen.
„Aber ich sehr froh über diese Dummheit.“ Sie lächelte und Youma spürte einen enormen Hass gegen sie aufkommen, der ihn verwunderte. Es war immer Silence gewesen, die Hikaru gehasst hatte. Youma wollte eigentlich nur von ihr in Ruhe gelassen werden. Sie nicht sehen. Sie ignorieren. Woher kam dieser Hass? Warum kämpfte er eigentlich gegen sie…? Warum hielt er seine Sense, bereit sie gegen Hikaru zu richten?
„Ich bin sogar dankbar für diese, Halbkind…“ Die Flügel ihres Stabs leuchteten. Sie schienen zu wachsen.
„Immer so ernst, immer so fragil, immerzu beschützt von Light… das kleine, ach so einsame Söhnchen. Alleine gelassen von der Welt, ohne jemals ein Zuhause zu kennen. Nicht einmal deine Geburt war gewünscht. So bemitleidenswert. So ein armer Junge, der es sich so leicht gemacht hat, Lights Mitleid zu erschleichen. Einfach nur traurig aus dem Fenster sehen und schon war er da. So verwöhnt, so schwach und so verhätschelt und doch so undankbar.“ Ihre Augen funkelten erregt; erregt von ihrem unbändigen Hass.
„Dich zu töten war mir immer die größte Freude.“ Mit einem Satz landete sie vor Youma, der seine Sense fest umklammert hielt und den starrenden Blick ihrer weißen Puppenaugen tapfer und voller Wut erwiderte.
„Vielleicht weil ich leider nicht anwesend sein konnte, als dein Vater verendete…“ Youma war nicht so wütend wegen seinem Vater. Sie glaubte es womöglich, aber es war nicht wegen ihm. Man hatte gewollt, dass er Hikaru hasste, weil sie Luzifer getötet hatte, aber das hatte er nicht getan. Aber was war es… was war es… weshalb stand er da… weshalb wollte er Hikaru töten… weshalb umschloss er seine Sense so fest? Diese Entschlossenheit war eine andere als heute. Aber Youma wusste es nicht mehr… warum wusste er es nicht mehr…?
„Ohne dich…“ Youmas Stimme zitterte vor Hass und Zorn.
„… hätten wir glücklich sein können. Wir alle!“
Warum nur erinnerte er sich nicht mehr daran, wieso er diese Worte gesagt hatte? Es war, als hätte das Licht alles gefressen, alles vernichtet… der Hass hatte alles verschlungen in diesem Kampf, in dem er wie ein Vieh von ihr geschlachtet worden war. So viele Fragen waren darin eingebrannt, die er sich heute nicht mehr erklären konnte.
Warum hatte er gegen sie gekämpft? Der Kampf war aussichtlos gewesen und trotzdem hatte er es getan.
Und warum nur hatte sie ihn am Leben gelassen?
Das Licht hatte ihn damals verbrannt, genau wie es das jetzt tat… es bahnte sich den Weg zu seinem Herzen… zu jedem seiner lebenswichtigen Organe… Nocturn hatte ihm beigebracht, wie er diese schützte und jetzt… tat Youma nichts, um zu verhindern, dass das Licht vordringen konnte. Aber das Licht musste ablassen, es durfte den namenlosen Dämonenherrscher nicht vernichten, Youma musste es in sich aufnehmen, anstatt dass es ihn… ganz gleich welchen Preis er dafür bezahlen musste.
Ja, denn seine Worte waren wahr – er durfte sterb…
„Nein, Youma, sie sind nicht wahr. Du darfst niemals sterben.“
Itzumi würde ihre Hikari sicherlich verfluchen und sich fragen, warum die Götter sie nicht samt und sonders auseinandergerissen hatten, denn Green hatte sich nicht in den Speisesaal begeben, wo ihre Tempelwächterin sicherlich mit dem Essen bereits auf sie wartete. Stattdessen war Green auf dem Weg hinaus aus dem Tempel. Weg von anderen Wächtern, die sich tiefer denn je vor ihr verneigten und sie anstrahlten, als wäre sie eine Heilige. Es war ja schön, keine skeptischen oder vorwurfsvollen Blicke mehr zu erhalten, aber… so ganz geheuer war es ihr nicht.
Eigentlich wollte Green wirklich gerne einfach nur ihre Nudeln essen und danach schlafen. Sie war erschöpft. Aber sie bekämpfte den Drang ihres Körpers, der sich einfach nur ausruhen wollte, denn sie konnte sich ihren eigenen Bedürfnissen jetzt nicht widmen. Jetzt jedenfalls noch nicht. So viele Dinge wollte sie in diesem Moment eigentlich tun: Ihre Elementarwächter noch einmal versammeln, um sich ein weiteres Mal zu entschuldigen. Mit Ryô wollte sie reden, alleine, ohne, dass Ilang sie hören konnte. Die Eifersucht, die Green während der Weihe gespürt hatte, hatte ihr sehr deutlich gesagt, dass sie Ilang meiden sollte… und Green konnte ihr dafür nicht einmal böse sein. Sie hatte mit Grey sprechen können. Sie, die „nur“ die Schwester war, während sie die Mutter von deren Kind war; sie, die Frau, die er hätte heiraten sollen, hatte nicht die Chance erhalten, ihn noch einmal zu sprechen… das war bitter und Green wollte es ihr nicht auch noch unter die Nase reiben, um die Eifersucht nicht noch zu verschlimmern. Mit White wollte sie auch alleine reden. Ebenfalls über Grey. Inceres… sie musste auch zu Inceres…
Und dann war da das mit Blue… Gary… worüber sie mit niemandem reden konnte und was sie auch ganz schnell verdrängte. Nicht jetzt. Und eigentlich nie.
Das würde sie alles in Angriff nehmen, sobald sie sich ausgeruht hatte – aber eine Sache musste sie vorher klären; das war wichtiger als Mahlzeit und Schlaf. Silence. Sie musste mit Silence sprechen. Sie musste sie sehen, wenn auch nur kurz. Das war auch der Grund, weshalb sie durch den Tempel eilte, denn sie wollte einen Ort finden, wo sie ungestört sein würden. Nicht in ihrem eigenen Gemach, so viel war sicher. Dort konnte Saiyon auftauchen – wenn er nicht schon dort war und auf sie wartete – in der Bibliothek waren Wächter, draußen waren Wächter… ach, sie waren natürlich überall, es war mitten am Tag und es war auch noch ein Feiertag, ein Freudentag für sie alle… würden sie womöglich am Abend, nachdem sich die Elementarwächter und Green ausgeruht hatten, weiterfeiern? Die Weihe? Und die Tausenden von Dämonen, die tot waren?
Green war nicht verwundert, dass ihre Füße sie zu der Halle der Götter führten. Dort, wo sie vor vielen Jahren das erste Mal von Hikari, Light und Hikaru gelesen hatte und von den anderen Gottheiten, die sie jetzt so erzürnt hatte. Wie unwissend war sie damals nicht gewesen… sie hatte das Buch Taos mehr wie ein Märchenbuch gelesen als als etwas, was wirklich passiert war… und jetzt war sie mittendrin.
Helles Sonnenlicht flutete durch die Glaskuppel auf die großen Steingesichter der Gottheiten und auf die Häupter der Wächter, die vor ihnen knieten. Drei Klimawächter und ein Toki, den sie nicht kannte… oh, doch, natürlich kannte sie ihn, es war Cebir, der Offizier der Zeit, der jetzt der Kommandant der Offiziere war. Green fluchte etwas über sich selbst und beschloss, niemandem zu sagen, dass sie ihn nicht erkannt hatte – sie hatte ihn vor gut 13 Tagen erst vor sich knien gehabt, als sie ihm diese Position übertragen hatte! Manchmal hatte ihr Großvater doch Recht…
Cebir war es auch, der Green als erstes bemerkte und sein Gebet unterbrach, um sich aufzurichten und sich vor seiner Hikari zu verneigen.
„Hikari-sama…“ Die anderen drei Klimawächter taten es Cebir gleich und verneigten sich noch tiefer vor Green als der Offizier der Zeit. Sie schienen etwas befangen zu sein, als hätte Green sie bei etwas Peinlichem entdeckt – bis auf Cebir, dieser sah sie genauso ernst an, wie Kaira es täte. Oder vielleicht ein bisschen weniger ernst. Niemand war so ernst wie ihre Elementarwächterin der Zeit. Waren sie vielleicht so befangen, weil sie vorher eher gegen Green gewesen waren und nun nicht wussten, wie sie sie ansehen sollten? Hielten sie deshalb den Blick gesenkt…
„Ich wollte euch nicht stören“, sagte Green eilig, doch Cebir schüttelte den Kopf.
„Nein, wir sind es, die stören. Wenn Hikari-sama wünscht, mit Ihren Gottheiten alleine zu sein…“ Das hatte sie eigentlich nicht vorgehabt…
„… um sich für Ihren Beistand zu bedanken…“ Green bemühte sich weiterhin zu lächeln, aber sie war noch nicht so gut darin, immer zu lächeln.
„… dann sind wir es, die an diesem Ort nicht sein sollten.“ Er richtete sich an seine Begleiterinnen.
„Kommt. Lassen wir Hikari-sama alleine.“ Das war zwar genau das, was Green wollte, aber als sie es dann war, als die vier Wächter sie alleine ließen und sie da einfach einsam im Raum stand, umringt von den Statuen der Gottheiten… fühlte sie sich doch ein wenig eigenartig. Hikaru hielt wie immer ihr Regelbuch im Arm, Light die Waage mit der Sonne und dem Mond… und Hikari das große, geflügelte Glöckchen, viel größer als jedes, welches Green je gesehen hatte, mit großen, weißen Schwingen und einem ruhigen Lächeln, welches auch auf Light und Hikarus Gesicht zu sehen war. Die heilige Familie…
„… ist unantastbar.“ Kaum, dass ihre Lippen diese Worte geformt hatten, durchfuhr sie ein leichtes Kribbeln – aber das wurde unwichtig, als Green Silence hinter sich spürte.
„Na end…“ Aber als Green sich herumwandte, verpuffte jede Freude darüber, ihre beste Freundin zu sehen.
So einen kalten Blick… so einen verurteilenden Blick… hatte Green noch nie auf sich ruhen gespürt. Nicht von Shaginai, nicht von Silence, von niemandem. Sie sah sie fest mit diesen Augen an, strafte sie mit ihren schwarzen Augen und hob leicht vom Boden ab, aber nicht um wie üblich eine gemütliche, schwebende Sitzposition einzunehmen, sondern um sie von oben herab zu verurteilen.
„Und…?“ Green konnte nichts sagen. Sie konnte sich nicht regen. Sie konnte nur dastehen und Silence‘ Richtspruch in Empfang nehmen und sich so klein, so schrecklich klein fühlen wie noch nie.
„… Hat es dir Spaß gemacht…“ Sie kniff die Augen zusammen und in ihren Augen lag der Hass. Tiefster Hass.
„...Hikaru?“
Was war es, was Youma da hörte…? Alles in ihm kochte noch, aber da war… da war Kälte um ihn herum. Ein kühler Wind streifte sein heißes Gesicht, linderte seine Schmerzen… das Geräusch… überaus ungewohnt, denn er hatte es schon so lange nicht mehr gehört, aber das waren… Wellen?
Schwerfällig und ziemlich erschöpft öffnete Youma seine Augen, doch das, was er sah, konnte er nicht platzieren… ein graublauer Himmel… und Vögel. Was war passiert…? Wo war er?
„Ist das Prinzchen wach?“ Für einen Moment glaubte Youma, dass es Nocturn war, der ihn triezte, aber es war der namenlose Dämonenherrscher, der ein paar Steine links von ihm auf einem Felsen saß; das eine Bein angewinkelt, das andere ließ er von den tosenden Wellen umspülen. Youma konnte gar nicht platzieren, was er da sah. War das gerade eben – war es gerade eben? – wirklich geschehen? War es ein Traum gewesen oder war das hier… ein Traum?
„Wo… wo sind wir…?“ Verwirrt sah Youma sich um, wischte sich die wehenden Haare aus dem Gesicht, doch da waren nur graue Felsen und ein aufgebrachtes, tosendes Meer. Kalte, feuchte Luft und Wasser, das gegen die Felsen peitschte.
„Das weiß ich zugegeben nicht. Ich habe aufgehört, diese Welt zu verstehen, nachdem die Kontinentalplatten auseinandergetrieben sind. Wir sind… irgendwo auf Terra. Wer weiß schon wo.“ Youma musste ein wenig schmunzeln über diese Worte. Es war irgendwie gut zu wissen, dass er nicht der Einzige war, der die Menschenwelt nicht länger verstand. „Wer weiß schon wo“, ja, das könnte von ihm stammen…
„Irgendwo wo es Meer und Wellen gibt. Ich mag das. Ein „Meer“. Das hätte ich auch gerne für uns gehabt. Ein großes, schwarzes Meer mit tosenden Wellen. Immer in Bewegung, voller Kraft und vollständig ruhelos. Es ist beruhigend, das zu sehen.“ Youma schmunzelte immer noch, während er sich mit dem Unterarm auf dem rutschigen Felsen abstützte und versuchte, in eine sitzende Position zu gelangen.
„Es scheint Ihnen ja wieder gut zu gehen. Und hier bin ich und habe mir ernsthafte Sorgen um Ihr Wohlbefinden gemacht.“ Der namenlose Dämonenherrscher gluckste in sich hinein, aber das Lachen verstummte, als er sich zu Youma herumwandte und sie sich ansahen. Doch das Lachen mochte verschwunden sein, sein Lächeln war es nicht.
„Das ist dir zu verdanken.“
„Ich habe doch kaum etwas getan.“ Theatralisch streckte der namenlose Dämonenherrscher seine Hand in die unruhigen Wolken.
„Doch doch. Gott und zukünftiger König haben zusammen den Tag gerettet! So wie es sein soll!“ Youma fand, dass er mächtig übertrieb, aber… er konnte atmen. Ohne, dass Magie eingesetzt wurde, um ihn zu schützen. Das musste doch bedeuten… dass sie es in der Tat geschafft hatten. Die Menschenwelt… war keine Bedrohung mehr für sie. Sie konnten Henel wieder verlassen, ohne dass hier der Tod auf sie lauerte. Sie hatten Erfolg gehabt, ohne dass einer von ihnen hatte sterben müssen. Der namenlose Dämonenherrscher war auch nicht mehr mit Rissen übersäht. Er hatte keine Wunden und er sah auch sehr gesund aus, als hätten sie nur einen Spaziergang gemacht. Auch Youma spürte nur eine große Erschöpfung, aber keine Schmerzen mehr. Er hatte seinen Gönner retten wollen – stattdessen hatte er ihn gerettet.
„Du hast viel getan, Youma. Mehr als du denkst.“ Youma wollte es nicht, aber er errötete. Sein Gönner sah so… glücklich aus?
„Du warst so leidenschaftlich, wie du um mich geschrien hast! Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass so viel Leidenschaft in dir schlummert…“ Neckisch grinste er Youma an, dessen Röte zunahm.
„Ich habe mich nicht ihretwegen eingesetzt, sondern weil sie wichtig sind für alle Dämonen!“, stellte Youma entschieden fest.
„Wer weiß, was mit uns passiert, wenn Sie ausgelöscht werden.“ Das neckende Grinsen wurde zu einem erfreuten Lächeln.
„Oh, du hast es ja schon wieder gesagt…“ Youma sah ihn verwundert an – was hatte er gesagt?
„Ein kleines Wort kann einen großen Effekt haben… auch auf Götter. Oder besonders auf Götter.“ Youmas Röte verschwand und er wollte ihn gerade kritisieren, als sein Gegenüber fortfuhr:
„Du hast „uns“ gesagt. „Uns“ Dämonen. Jetzt und auch vorhin.“ Youma sah ihn perplex und etwas erstarrt an, während der namenlose Dämonenherrscher immer noch lächelte. Es war nur ein kleines Lächeln… aber es war ein erfreutes Lächeln voller Stolz.
„Ich freue mich sehr darüber, dass du endlich eine Seite gewählt hast.“ Eine Seite… gewählt? Youma wich seinem Blick aus, sah auf seine Hand… und hinaus aufs Meer. Hatte er wirklich… gewählt?
„Ja…“, antwortete er mehr sich selbst als dem namenlosen Dämonenherrscher.
„… ich habe gewählt.“ Youma ballte die Hand zur Faust und ein kühler Wind erfasste seine feuchten Haare.
„Ich habe gewählt, gegen Hikaru zu kämpfen.“
Der Dämonenherrscher lächelte gerührt und stolz. Es war lange her, dass ihn irgendetwas gerührt hatte oder dass er das Gefühl gehabt hatte, dass er irgendeinen Moment in der Zeit einfrieren wollte – aber dies war ein solcher Moment.
Daran änderte auch sein linker Arm nichts, welchen Youma aus seiner Sicht nicht sehen konnte. Er zuckte, weiß wie er geworden war, aber der namenlose Dämonenherrscher war zu froh über Youmas erstarkte Augen, um sich seine Freude vom Licht kaputtmachen zu lassen.
„Dann lass uns nun nach Hause zurückkehren und dort…“ Youma fiel ihm nun mit einem kritischen Fingerzeig ins Wort:
„Werden Sie nicht übermütig. Henel ist nicht mein Zuhause. Ich…“
--- alleine gelassen von der Welt, ohne jemals ein Zuhause zu kennen---
Youma hielt inne, als er Hikarus Worte wieder in seinem Kopf hörte und ihr… leider zustimmen musste, so sehr er sich auch wünschte, es nicht tun zu müssen. Aeterniya war das, was einem „Zuhause“, einem „Heim“, am nächsten kam, aber… auch dort hatte er sich immer wie ein Fremder gefühlt. Er hatte sich immer gewünscht, er hätte so stark sein können wie Silence. Für sie war das nicht wichtig gewesen. Aber Youma…
„Ich weiß nicht, wo mein Zuhause ist, aber Henel ist es bestimmt nicht.“ Der namenlose Dämonenherrscher sah ihn mit einem neugierigen Blick an:
„Also ist Paris dein Zuhause?“
„Ha, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich verstehe diese Welt genauso wenig wie Sie.“ Youma richtete sich empor und dasselbe tat auch sein Begleiter, der ihn mit einem versteckten Grinsen bedachte, während er seinen linken Arm auf den Rücken legte.
„So schön es hier in der Tat auch ist, ich wünsche aufzubrechen. Ich bin erschö…“
„Ohja, das sollten wir in der Tat“, antwortete der namenlose Dämonenherrscher mit einem vielsagenden Grinsen:
„Denn es ist an der Zeit für deine erste Konferenz der Hohen!“
„… was?“
„Die ganz normalen.“ Jetzt hatte Green es geschafft. Jetzt hatte sie es endlich vollbracht dafür zu sorgen, dass Hizashi nicht mehr bis über beide Ohren strahlte. Jetzt sah er sie an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Itzumi dagegen verbeugte sich einfach nur und ging – sie hatte diesen Essenswunsch schon ein paar Mal gehört. Man hatte Green gerade gefragt, was sie nun vorhatte - ihre Antwort war es nach Itzumi zu verlangen, damit diese für ihr leibliches Wohl sorgen konnte. Green sah ihre etwas verwirrten Familienmitglieder an, die sicherlich noch nie von diesem Gericht gehört hatten, und verzog ihr etwas irritiert aussehendes Gesicht kein bisschen.
„Ich war 12 Tage lang in einem Turm eingesperrt, ohne Nahrung zu mir zu nehmen. Ich habe Hunger.“ Das konnte so oder so sicherlich keiner der Hikari nachvollziehen, auch wenn Green einen anderen Wunsch geäußert hätte – sie hatten immerhin schon lange aufgehört irgendetwas zu sich zu nehmen.
„Das ist überaus verständlich“, antwortete ihr ihre Mutter dennoch, nachdem die anderen Hikari immer noch ein paar Sekunden geschwiegen hatten. Sie waren hier im Begriff ihrer aller Zukunft zu entscheiden und Green dachte an eine solch triviale Speise?!
Ihre Mutter aber schmunzelte, als Green sich aufrichtete und irgendwie wirkte sie auf Green richtig erleichtert, als sie ihre Tochter ansah, als hätte diese etwas ganz Besonderes getan.
„Es war eine große Anstrengung für dich. Sowohl körperlich als auch geistlich.“ Ihre Hände lagen immer noch auf Greens Schultern, aber sie sah nun zu den anderen Hikari – besonders zu Hizashi.
„Wir haben eine Ewigkeit auf den Sieg über die Dämonen gewartet. Wir können auch noch ein wenig länger warten. Es ist nun wichtig, dass wir nichts überstürzen.“
„Gut gesagt“, erwiderte Mary mit einem Seitenblick zu Hizashi, der allerdings gänzlich unbeeindruckt blieb und auch nichts erwiderte oder seine Meinung dazu sagte, dass Adir verkündete, dass sie sich ins Jenseits aufmachen sollten, um die neuen Ereignisse mit dem Rat zu besprechen. Hizashi sah aus, als würde er Green am liebsten sofort nach Henel schicken, um dort das Licht zu verbreiten.
Das Licht zu verbreiten… Green sah auf die Bildschirme, über die die bekannten Namen der getöteten Dämonen flimmerten. Sie wusste immer noch nicht genau, was sie gemacht hatte, und erst recht nicht, ob sie es wieder tun könnte… oder wollte. Aber alleine dieser Gedanke – die Frage, ob sie es wollte oder nicht – verwirrte sie. Sie wollte es doch, oder nicht?
Green war gerade im Begriff sich von den Bildschirmen und den vielen Namen der Toten abzuwenden, als ein Name ihre Aufmerksamkeit fing. Rui… hatte sie da gerade wirklich Rui gelesen? Hatte sie Rui umgebracht…? Eine kleine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass die plötzlichen Bauchschmerzen heuchlerisch waren. Rui und sie hatten sich ja nie gemocht… eigentlich nicht mal viel miteinander gesprochen… hatten sie überhaupt mit einander gesprochen… eigentlich kannten sie sich nicht.
Doch, genau das war es, weshalb Greens Augen sich weiteten und sie sich nicht von dem Bildschirm abwenden konnte, obwohl da schon längst andere Namen oder Nummern standen. Sie hatte Rui gekannt. Ihr Name war nicht nur eine Nummer… gewesen. Da war ein Gesicht zu diesem Namen. Eine Stimme. Eine Stimme und ein Gesicht, welches jetzt nicht mehr da war, weil Green das Licht über die Welt gebracht hatte.
Green hatte alle Dämonen getötet, die in der Menschenwelt gewesen waren. So hatte Hizashi es ihr gesagt. Und Rui war eine davon gewesen. Sie war nun einfach weg. Einfach so.
Aber das war Krieg, oder?
„Green-san. Ihr Stab.“ Green sah überrascht auf, als Hizashi ihn ihr reichte und sofort verfinsterte sich ihr Blick wieder, denn das Lächeln war schon wieder auf seinem Gesicht zurückgekehrt. Wie machte er das nur?
„Sie wollen doch nicht ohne Glöckchen hinausgehen? Nicht, dass die Fusilli Ihre letzte Mahlzeit werden.“
„Danke…“ Das hatte Green eigentlich nicht sagen wollen, aber ihre Augen sahen immer noch Ruis Namen vor sich. Doch ihre blauen Augen wurden schnell abgelenkt, denn in dem Moment, als Hizashi ihn ihr zurückgab, erstrahlte dieser kurz, ehe er seine Form verlor und das kleine, goldene Relikt der Hikari auf ihrer offenen Handfläche landete… und wie ein Vogelbaby kleine Flügelchen ausbreitete, die sich langsam… ja, Green sah es genau… schwarz färbten.
Erleichtert darüber, diese schwarzen Flügelchen zu sehen, lächelte Green gerührt und auch irgendwie geehrt und es freute sie, dass ihre Mutter ihr da scheinbar zustimmte, denn sie drückte die Schultern ihrer Tochter kurz. Diese Nacht hatte also doch nicht alles verändert…
Na, das gefiel Hizashi sicherlich ni---
Doch er lächelte immer noch.
Der namenlose Dämonenherrscher verlor keine Zeit. Keinerlei Spielerei, keine Angeberei, die Youma eigentlich erwartet hatte, doch er war dankbar dafür, dass sein der Namenlose den Ernst der Lage verstanden hatte – was man bei ihm immerhin nicht erwarten konnte. Der namenlose Dämonenherrscher bedeutete Youma Abstand zu nehmen, was dieser auch sofort tat, wobei sein Blick immer wieder von der leuchtend blauen Oberfläche der Erde unter ihnen angezogen wurde… aber er folgte der Hand des Namenlosen mit den Augen, als er diese über sich erhob in einer schnellen, kraftvollen Bewegung. Er sagte nichts. Keinerlei Beschwörung, keine Formel, keinerlei Worte des Befehls, doch in seinen Augen war eine starke Entschlossenheit zu sehen, eine, die Youma überraschte. Er hatte gedacht, dass sei alles nur ein Spiel, ein Zeitvertreib für ihn – war es das etwa nicht? Sein Gesicht sah so ernst aus und seine leuchtend roten Augen, die auf einen unsichtbaren Feind gerichtet zu sein schienen, jagten Youma einen Schauer über den Rücken.
Das was geschah, war nicht mit dem bloßen Auge zu sehen. Doch Youma spürte es. Die Magiekonzentration nahm zu. Stärker und stärker wurde sie, bis die vielen, einzelnen Lichtpartikelchen, die eigentlich gar nicht mit dem bloßen Auge zu sehen waren, sich zu einer so großen Menge zusammengestaut hatten, dass sie wie ein gigantischer Blizzard aus Licht um den Dämonenherrscher herumwirbelten. Ein solcher monumentaler Anblick und die schiere Ansammlung von purem, strahlendsten Licht, hätten wohl vielen Dämonen das Augenlicht gekostet, doch der Dämonenherrscher schützte Youma mit einer rötlichen Aura, die jedes Licht abprallen ließ, ebenso wie es bei ihm der Fall war. Immer größer wurde der Sturm und immer heller wurde das Licht, welches sämtliche Farben auszulöschen schien--- die Finger des namenlosen Dämonenherrschers zitterten, seine Hand bebte, sein ganzer Arm revoltierte unter dieser enormen Kraftanstrengung dem Licht standzuhalten und sich Hikarus Magie entgegenzustellen. Seine Finger zuckten in verschiedene Richtungen und wäre er ein normales, lebendes Wesen ohne jegliche Göttlichkeit, sie wären gebrochen bei seinem Versuch--- bei seinem Versuch--- Youma sah es kaum, er konnte es nicht mehr gut erkennen, zu weiß war alles geworden, zu gleißend--- aber er glaubte, zu sehen… ja… der namenlose Dämonenherrscher versuchte, die Hand zu einer Faust zu ballen.
Und gerade als Youma es klar sehen und erkennen konnte, gelang es ihm.
Der Lichtsturm hielt inne, als hätte etwas ihn vereist, und ein triumphierendes Lächeln erschien auf Youmas Gesicht, als das gesamte Licht eingesogen wurde…
… bis ein Schmerzensschrei ihn erschrocken zusammenfahren ließ.
Es war der Schrei des Dämonenherrschers, der ihm durch Mark und Bein ging – er konnte schreien? Er konnte Schmerzen spüren? Das Licht Hikarus---- es konnte IHN verletzen?!
Youma sah nichts mehr, er hörte nur den langanhaltenden Schrei und die Schmerzen, die er kannte – Schmerzen, die nur vom Licht kommen konnten, nein, die nur von Hikaru ausgelöst werden konnten. Niemand anderes konnte Dämonen, egal wie stark sie waren, diese Schmerzen zufügen.
Youma löste sich aus seiner Starre, aus seiner Angst und obwohl die Barriere um ihn herum nachließ und er das Licht auch auf seiner Haut zu spüren begann, machte er sich daran, ins Zentrum des Lichts, des Schmerzes, zu gelangen. Das Licht, nun wieder aufgeregt herumwirbelnd, wollte ihn daran hindern, zu seinem Gönner zu gelangen; es drückte ihn zurück, drückte ihn weg, riss die Haut seines Armes auf, welchen er sich schützend vor die Augen hielt. Der Stoff seiner Uniform und seines Handschuhs nützte ihm nichts, gab ihm keinen Schutz und als er die linke Hand ausstreckte und sich selbst eine schwarz gleißende Barriere aus Dunkelheit erschuf, merkte er deutlich, dass auch dies ihn nicht lange würde retten können.
„Bleib weg, Youma!“, hörte er den namenlosen Dämonenherrscher schreien, ehe der Schmerz wieder zu groß wurde, aber als ob er es könnte! Er musste etwas tun, er musste! Ansonsten wären sie alle verloren! Dann hatten die Kinder umsonst geweint und die Dämonen in Lerenien-Sei kämpften umsonst. Nein, Youma würde nicht einfach nur zusehen und auf das beste hoffen!
Wilde Entschlossenheit zeichnete Youmas Gesicht, als er sich Schritt für Schritt vorankämpfte; seine Augen brannten, seine Haut würde bald entzweigerissen werden--- aber mit zusammengebissenen Zähnen gelang es ihm die paar Meter, die zwischen ihm und dem namenlosen Dämonenherrscher lagen, zu überwinden und sein entschlossenes Gesicht zeigte sich schockiert, als er den Schreienden erblickte.
Er schrie, weil das Licht in seinen Körper drang, nein, weil es bereits in seinen Körper gedrungen war.
„Ich habe… doch gesagt… dass du wegbleiben sollst.“ Youma hörte ihn gar nicht, so sehr schockierte ihn dieser grauenhafte Anblick. Wie bei zerspringender Keramik hatten sich überall Risse aufgetan in dem äußeren Erscheinungsbild des namenlosen Dämonenherrschers – leuchtende Risse, denn überall strahlte das Licht hervor. Die Risse pochten, revoltierten und schienen vor Youmas Augen immer und immer breiter zu werden. Sie waren in dem Gesicht des namenlosen Dämonenherrschers, zerrissen seine Haare, seine Kleidung, seine Haut, seine Augen und doch lächelte er Youma an, als wäre das nur eine leichte Kraftanstrengung--- bis das Licht aus seinen Fingern hervorbrach und diese auseinanderriss.
„Dieses verdammte Miststück!“, fluchte er mit zusammengebissenen, gefletschten Zähnen.
„Sie wusste… was ich tun würde… Sie wusste es genau… Sie hat mich in eine Falle gelockt…“
„Hikaru will Sie vernichten“, stammelte Youma völlig schockiert und heisere Worte purzelten aus seinem Mund, die er nicht kontrollieren konnte.
„Ha ja… natürlich will sie das.“ Ein Grinsen voller Pein zeigte sich auf seinem zerfurchten Gesicht.
„Das hat sie immer… gewollt.“ Aber das durfte sie nicht. Hikaru durfte den namenlosen Dämonenherrscher nicht vernichten – und mit diesem einzigen Gedanken im Kopf packte Youma ohne zu zögern das Handgelenk seines Gönners; das Handgelenk, welches zu der Hand gehörte, mit der er die Lichtmagie zu bannen versucht hatte.
Für einen kurzen Moment war der namenlose Dämonenherrscher von dieser Tat so überrumpelt, dass er nichts Anderes tat als Youma fassungslos anzustarren. Sah er das etwa gerade wirkl--- aber als Youma ebenfalls zu schreien begann, löste er sich aus seiner Starre und versuchte seine Hand und seinen Arm von Youma loszureißen.
„Nicht! Stop, Youma, STOP! Ich lebe nicht mehr; ich habe keine fleischliche Hülle, die sie töten kann, aber du hast es!“
„Das… das ist egal…“ Blut rann über Youmas Lippen und sein Herz schien zu zerspringen, als das Licht sofort seinen Arm emporzüngelte. Das Blut sammelte sich ebenfalls in seinen Augen und es rann aus seinen Ohren, als er den namenlosen Dämonenherrscher ansah, der seinen Blick bestürzt erwiderte.
„Verstehen Sie nicht?! Ich bin nicht wichtig für uns und unser Fortbestehen, aber Sie schon! Sie sind wichtig!“ Ein Stoß bebte durch den Körper des namenlosen Dämonenherrschers, als er diese Worte hörte – ein Stoß, stärker als jedes Licht. Ein Stoß, den er tief in seiner Seele und in seinem Herzen spürte.
„Sie dürfen nicht aufgeben!“ Youma schüttelte den Kopf und das Blut spritzte auf seine Kleidung und auf die seines völlig fassungslosen Gönners.
„Sie dürfen den Kampf gegen Hikaru NIEMALS aufgeben!“ Die Kinder Neferteris, die Dämonen in Lerenien-Sei, die Gestorbenen in der Menschenwelt, Nocturn, der von Hikarus Licht gebrochen worden war--- es musste aufgehalten werden, es durfte so nicht weitergehen! Hikaru musste ein Ende gesetzt werden! Sie hatten genug gelitten! Es musste aufhören, bevor es noch schlimmer wurde!
„Ich darf hier sterben, aber Sie---“ Youma konnte nicht weiterreden, nicht weiterdenken---
Das Licht… Hikarus Licht… es war einfach zu stark. Es blendete so sehr, ließ sich nicht von seinem Element zurückdrängen, es verschluckte die Schatten, verschluckte die Dunkelheit--- es kannte kein Erbarmen, egal wie sehr Youma auch schrie.
Schon einmal hatte er die Übermacht des Lichts schmerzhaft erkennen müssen. In dem Moment, wo sie sich gegenübergestanden hatten und Hikaru zum ersten Mal zu ihm gesprochen hatte. Damals… zwischen Aeterniya und Lerenien-Sei, gerade als es geschehen war. Aeterniem im Begriff zu sterben, Aeterniem im Begriff unterzugehen im Blut. Sie standen vor dem Abgrund, den Lights Tod in die Welt gerissen hatte.
Youma hatte ihr angesehen, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, die Flügel ihrer Waffe zu entfalten und sie gegen Youma zu richten. In einem Kampf und nicht in einem Operationssaal oder einem Keller. Nicht im Geheimen, nicht im Versteckten. Sondern hier. Nur sie beide. Sie genoss es sicherlich, dass er zu ihr hochsehen musste, ja, sie stand sicherlich nicht ohne Grund auf einer Ansammlung von Felsen, von welchen sie auf ihn herunterblickte. Der Stein unter ihren Füßen leuchtete. Die Luft um sie herum leuchtete in dieser dunklen, gänzlich sternenlosen Nacht.
Trauer über das, was geschehen war, war nicht in ihrem Gesicht, obwohl sie gerade ihren Bruder verloren hatte, der ihr doch angeblich etwas bedeutet hatte. Keine Träne, ja, nicht einmal Groll schien da zu sein, der sich gegen Youma richtete, den Mörder Lights.
„Wie dumm von dir, dich mir entgegenzustellen.“ Er hatte ihre Stimme vorher noch nie gehört. Noch nie hatte sie irgendein Wort an ihn gerichtet. Noch nie auf irgendeine Art mit ihm kommuniziert. Weder mit einem geschriebenen Wort, noch via Light oder gar mit einem vielsagenden Blick. Nichts. Als gäbe es keine mögliche Form der Kommunikation zwischen ihnen.
„Aber ich sehr froh über diese Dummheit.“ Sie lächelte und Youma spürte einen enormen Hass gegen sie aufkommen, der ihn verwunderte. Es war immer Silence gewesen, die Hikaru gehasst hatte. Youma wollte eigentlich nur von ihr in Ruhe gelassen werden. Sie nicht sehen. Sie ignorieren. Woher kam dieser Hass? Warum kämpfte er eigentlich gegen sie…? Warum hielt er seine Sense, bereit sie gegen Hikaru zu richten?
„Ich bin sogar dankbar für diese, Halbkind…“ Die Flügel ihres Stabs leuchteten. Sie schienen zu wachsen.
„Immer so ernst, immer so fragil, immerzu beschützt von Light… das kleine, ach so einsame Söhnchen. Alleine gelassen von der Welt, ohne jemals ein Zuhause zu kennen. Nicht einmal deine Geburt war gewünscht. So bemitleidenswert. So ein armer Junge, der es sich so leicht gemacht hat, Lights Mitleid zu erschleichen. Einfach nur traurig aus dem Fenster sehen und schon war er da. So verwöhnt, so schwach und so verhätschelt und doch so undankbar.“ Ihre Augen funkelten erregt; erregt von ihrem unbändigen Hass.
„Dich zu töten war mir immer die größte Freude.“ Mit einem Satz landete sie vor Youma, der seine Sense fest umklammert hielt und den starrenden Blick ihrer weißen Puppenaugen tapfer und voller Wut erwiderte.
„Vielleicht weil ich leider nicht anwesend sein konnte, als dein Vater verendete…“ Youma war nicht so wütend wegen seinem Vater. Sie glaubte es womöglich, aber es war nicht wegen ihm. Man hatte gewollt, dass er Hikaru hasste, weil sie Luzifer getötet hatte, aber das hatte er nicht getan. Aber was war es… was war es… weshalb stand er da… weshalb wollte er Hikaru töten… weshalb umschloss er seine Sense so fest? Diese Entschlossenheit war eine andere als heute. Aber Youma wusste es nicht mehr… warum wusste er es nicht mehr…?
„Ohne dich…“ Youmas Stimme zitterte vor Hass und Zorn.
„… hätten wir glücklich sein können. Wir alle!“
Warum nur erinnerte er sich nicht mehr daran, wieso er diese Worte gesagt hatte? Es war, als hätte das Licht alles gefressen, alles vernichtet… der Hass hatte alles verschlungen in diesem Kampf, in dem er wie ein Vieh von ihr geschlachtet worden war. So viele Fragen waren darin eingebrannt, die er sich heute nicht mehr erklären konnte.
Warum hatte er gegen sie gekämpft? Der Kampf war aussichtlos gewesen und trotzdem hatte er es getan.
Und warum nur hatte sie ihn am Leben gelassen?
Das Licht hatte ihn damals verbrannt, genau wie es das jetzt tat… es bahnte sich den Weg zu seinem Herzen… zu jedem seiner lebenswichtigen Organe… Nocturn hatte ihm beigebracht, wie er diese schützte und jetzt… tat Youma nichts, um zu verhindern, dass das Licht vordringen konnte. Aber das Licht musste ablassen, es durfte den namenlosen Dämonenherrscher nicht vernichten, Youma musste es in sich aufnehmen, anstatt dass es ihn… ganz gleich welchen Preis er dafür bezahlen musste.
Ja, denn seine Worte waren wahr – er durfte sterb…
„Nein, Youma, sie sind nicht wahr. Du darfst niemals sterben.“
Itzumi würde ihre Hikari sicherlich verfluchen und sich fragen, warum die Götter sie nicht samt und sonders auseinandergerissen hatten, denn Green hatte sich nicht in den Speisesaal begeben, wo ihre Tempelwächterin sicherlich mit dem Essen bereits auf sie wartete. Stattdessen war Green auf dem Weg hinaus aus dem Tempel. Weg von anderen Wächtern, die sich tiefer denn je vor ihr verneigten und sie anstrahlten, als wäre sie eine Heilige. Es war ja schön, keine skeptischen oder vorwurfsvollen Blicke mehr zu erhalten, aber… so ganz geheuer war es ihr nicht.
Eigentlich wollte Green wirklich gerne einfach nur ihre Nudeln essen und danach schlafen. Sie war erschöpft. Aber sie bekämpfte den Drang ihres Körpers, der sich einfach nur ausruhen wollte, denn sie konnte sich ihren eigenen Bedürfnissen jetzt nicht widmen. Jetzt jedenfalls noch nicht. So viele Dinge wollte sie in diesem Moment eigentlich tun: Ihre Elementarwächter noch einmal versammeln, um sich ein weiteres Mal zu entschuldigen. Mit Ryô wollte sie reden, alleine, ohne, dass Ilang sie hören konnte. Die Eifersucht, die Green während der Weihe gespürt hatte, hatte ihr sehr deutlich gesagt, dass sie Ilang meiden sollte… und Green konnte ihr dafür nicht einmal böse sein. Sie hatte mit Grey sprechen können. Sie, die „nur“ die Schwester war, während sie die Mutter von deren Kind war; sie, die Frau, die er hätte heiraten sollen, hatte nicht die Chance erhalten, ihn noch einmal zu sprechen… das war bitter und Green wollte es ihr nicht auch noch unter die Nase reiben, um die Eifersucht nicht noch zu verschlimmern. Mit White wollte sie auch alleine reden. Ebenfalls über Grey. Inceres… sie musste auch zu Inceres…
Und dann war da das mit Blue… Gary… worüber sie mit niemandem reden konnte und was sie auch ganz schnell verdrängte. Nicht jetzt. Und eigentlich nie.
Das würde sie alles in Angriff nehmen, sobald sie sich ausgeruht hatte – aber eine Sache musste sie vorher klären; das war wichtiger als Mahlzeit und Schlaf. Silence. Sie musste mit Silence sprechen. Sie musste sie sehen, wenn auch nur kurz. Das war auch der Grund, weshalb sie durch den Tempel eilte, denn sie wollte einen Ort finden, wo sie ungestört sein würden. Nicht in ihrem eigenen Gemach, so viel war sicher. Dort konnte Saiyon auftauchen – wenn er nicht schon dort war und auf sie wartete – in der Bibliothek waren Wächter, draußen waren Wächter… ach, sie waren natürlich überall, es war mitten am Tag und es war auch noch ein Feiertag, ein Freudentag für sie alle… würden sie womöglich am Abend, nachdem sich die Elementarwächter und Green ausgeruht hatten, weiterfeiern? Die Weihe? Und die Tausenden von Dämonen, die tot waren?
Green war nicht verwundert, dass ihre Füße sie zu der Halle der Götter führten. Dort, wo sie vor vielen Jahren das erste Mal von Hikari, Light und Hikaru gelesen hatte und von den anderen Gottheiten, die sie jetzt so erzürnt hatte. Wie unwissend war sie damals nicht gewesen… sie hatte das Buch Taos mehr wie ein Märchenbuch gelesen als als etwas, was wirklich passiert war… und jetzt war sie mittendrin.
Helles Sonnenlicht flutete durch die Glaskuppel auf die großen Steingesichter der Gottheiten und auf die Häupter der Wächter, die vor ihnen knieten. Drei Klimawächter und ein Toki, den sie nicht kannte… oh, doch, natürlich kannte sie ihn, es war Cebir, der Offizier der Zeit, der jetzt der Kommandant der Offiziere war. Green fluchte etwas über sich selbst und beschloss, niemandem zu sagen, dass sie ihn nicht erkannt hatte – sie hatte ihn vor gut 13 Tagen erst vor sich knien gehabt, als sie ihm diese Position übertragen hatte! Manchmal hatte ihr Großvater doch Recht…
Cebir war es auch, der Green als erstes bemerkte und sein Gebet unterbrach, um sich aufzurichten und sich vor seiner Hikari zu verneigen.
„Hikari-sama…“ Die anderen drei Klimawächter taten es Cebir gleich und verneigten sich noch tiefer vor Green als der Offizier der Zeit. Sie schienen etwas befangen zu sein, als hätte Green sie bei etwas Peinlichem entdeckt – bis auf Cebir, dieser sah sie genauso ernst an, wie Kaira es täte. Oder vielleicht ein bisschen weniger ernst. Niemand war so ernst wie ihre Elementarwächterin der Zeit. Waren sie vielleicht so befangen, weil sie vorher eher gegen Green gewesen waren und nun nicht wussten, wie sie sie ansehen sollten? Hielten sie deshalb den Blick gesenkt…
„Ich wollte euch nicht stören“, sagte Green eilig, doch Cebir schüttelte den Kopf.
„Nein, wir sind es, die stören. Wenn Hikari-sama wünscht, mit Ihren Gottheiten alleine zu sein…“ Das hatte sie eigentlich nicht vorgehabt…
„… um sich für Ihren Beistand zu bedanken…“ Green bemühte sich weiterhin zu lächeln, aber sie war noch nicht so gut darin, immer zu lächeln.
„… dann sind wir es, die an diesem Ort nicht sein sollten.“ Er richtete sich an seine Begleiterinnen.
„Kommt. Lassen wir Hikari-sama alleine.“ Das war zwar genau das, was Green wollte, aber als sie es dann war, als die vier Wächter sie alleine ließen und sie da einfach einsam im Raum stand, umringt von den Statuen der Gottheiten… fühlte sie sich doch ein wenig eigenartig. Hikaru hielt wie immer ihr Regelbuch im Arm, Light die Waage mit der Sonne und dem Mond… und Hikari das große, geflügelte Glöckchen, viel größer als jedes, welches Green je gesehen hatte, mit großen, weißen Schwingen und einem ruhigen Lächeln, welches auch auf Light und Hikarus Gesicht zu sehen war. Die heilige Familie…
„… ist unantastbar.“ Kaum, dass ihre Lippen diese Worte geformt hatten, durchfuhr sie ein leichtes Kribbeln – aber das wurde unwichtig, als Green Silence hinter sich spürte.
„Na end…“ Aber als Green sich herumwandte, verpuffte jede Freude darüber, ihre beste Freundin zu sehen.
So einen kalten Blick… so einen verurteilenden Blick… hatte Green noch nie auf sich ruhen gespürt. Nicht von Shaginai, nicht von Silence, von niemandem. Sie sah sie fest mit diesen Augen an, strafte sie mit ihren schwarzen Augen und hob leicht vom Boden ab, aber nicht um wie üblich eine gemütliche, schwebende Sitzposition einzunehmen, sondern um sie von oben herab zu verurteilen.
„Und…?“ Green konnte nichts sagen. Sie konnte sich nicht regen. Sie konnte nur dastehen und Silence‘ Richtspruch in Empfang nehmen und sich so klein, so schrecklich klein fühlen wie noch nie.
„… Hat es dir Spaß gemacht…“ Sie kniff die Augen zusammen und in ihren Augen lag der Hass. Tiefster Hass.
„...Hikaru?“
Was war es, was Youma da hörte…? Alles in ihm kochte noch, aber da war… da war Kälte um ihn herum. Ein kühler Wind streifte sein heißes Gesicht, linderte seine Schmerzen… das Geräusch… überaus ungewohnt, denn er hatte es schon so lange nicht mehr gehört, aber das waren… Wellen?
Schwerfällig und ziemlich erschöpft öffnete Youma seine Augen, doch das, was er sah, konnte er nicht platzieren… ein graublauer Himmel… und Vögel. Was war passiert…? Wo war er?
„Ist das Prinzchen wach?“ Für einen Moment glaubte Youma, dass es Nocturn war, der ihn triezte, aber es war der namenlose Dämonenherrscher, der ein paar Steine links von ihm auf einem Felsen saß; das eine Bein angewinkelt, das andere ließ er von den tosenden Wellen umspülen. Youma konnte gar nicht platzieren, was er da sah. War das gerade eben – war es gerade eben? – wirklich geschehen? War es ein Traum gewesen oder war das hier… ein Traum?
„Wo… wo sind wir…?“ Verwirrt sah Youma sich um, wischte sich die wehenden Haare aus dem Gesicht, doch da waren nur graue Felsen und ein aufgebrachtes, tosendes Meer. Kalte, feuchte Luft und Wasser, das gegen die Felsen peitschte.
„Das weiß ich zugegeben nicht. Ich habe aufgehört, diese Welt zu verstehen, nachdem die Kontinentalplatten auseinandergetrieben sind. Wir sind… irgendwo auf Terra. Wer weiß schon wo.“ Youma musste ein wenig schmunzeln über diese Worte. Es war irgendwie gut zu wissen, dass er nicht der Einzige war, der die Menschenwelt nicht länger verstand. „Wer weiß schon wo“, ja, das könnte von ihm stammen…
„Irgendwo wo es Meer und Wellen gibt. Ich mag das. Ein „Meer“. Das hätte ich auch gerne für uns gehabt. Ein großes, schwarzes Meer mit tosenden Wellen. Immer in Bewegung, voller Kraft und vollständig ruhelos. Es ist beruhigend, das zu sehen.“ Youma schmunzelte immer noch, während er sich mit dem Unterarm auf dem rutschigen Felsen abstützte und versuchte, in eine sitzende Position zu gelangen.
„Es scheint Ihnen ja wieder gut zu gehen. Und hier bin ich und habe mir ernsthafte Sorgen um Ihr Wohlbefinden gemacht.“ Der namenlose Dämonenherrscher gluckste in sich hinein, aber das Lachen verstummte, als er sich zu Youma herumwandte und sie sich ansahen. Doch das Lachen mochte verschwunden sein, sein Lächeln war es nicht.
„Das ist dir zu verdanken.“
„Ich habe doch kaum etwas getan.“ Theatralisch streckte der namenlose Dämonenherrscher seine Hand in die unruhigen Wolken.
„Doch doch. Gott und zukünftiger König haben zusammen den Tag gerettet! So wie es sein soll!“ Youma fand, dass er mächtig übertrieb, aber… er konnte atmen. Ohne, dass Magie eingesetzt wurde, um ihn zu schützen. Das musste doch bedeuten… dass sie es in der Tat geschafft hatten. Die Menschenwelt… war keine Bedrohung mehr für sie. Sie konnten Henel wieder verlassen, ohne dass hier der Tod auf sie lauerte. Sie hatten Erfolg gehabt, ohne dass einer von ihnen hatte sterben müssen. Der namenlose Dämonenherrscher war auch nicht mehr mit Rissen übersäht. Er hatte keine Wunden und er sah auch sehr gesund aus, als hätten sie nur einen Spaziergang gemacht. Auch Youma spürte nur eine große Erschöpfung, aber keine Schmerzen mehr. Er hatte seinen Gönner retten wollen – stattdessen hatte er ihn gerettet.
„Du hast viel getan, Youma. Mehr als du denkst.“ Youma wollte es nicht, aber er errötete. Sein Gönner sah so… glücklich aus?
„Du warst so leidenschaftlich, wie du um mich geschrien hast! Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass so viel Leidenschaft in dir schlummert…“ Neckisch grinste er Youma an, dessen Röte zunahm.
„Ich habe mich nicht ihretwegen eingesetzt, sondern weil sie wichtig sind für alle Dämonen!“, stellte Youma entschieden fest.
„Wer weiß, was mit uns passiert, wenn Sie ausgelöscht werden.“ Das neckende Grinsen wurde zu einem erfreuten Lächeln.
„Oh, du hast es ja schon wieder gesagt…“ Youma sah ihn verwundert an – was hatte er gesagt?
„Ein kleines Wort kann einen großen Effekt haben… auch auf Götter. Oder besonders auf Götter.“ Youmas Röte verschwand und er wollte ihn gerade kritisieren, als sein Gegenüber fortfuhr:
„Du hast „uns“ gesagt. „Uns“ Dämonen. Jetzt und auch vorhin.“ Youma sah ihn perplex und etwas erstarrt an, während der namenlose Dämonenherrscher immer noch lächelte. Es war nur ein kleines Lächeln… aber es war ein erfreutes Lächeln voller Stolz.
„Ich freue mich sehr darüber, dass du endlich eine Seite gewählt hast.“ Eine Seite… gewählt? Youma wich seinem Blick aus, sah auf seine Hand… und hinaus aufs Meer. Hatte er wirklich… gewählt?
„Ja…“, antwortete er mehr sich selbst als dem namenlosen Dämonenherrscher.
„… ich habe gewählt.“ Youma ballte die Hand zur Faust und ein kühler Wind erfasste seine feuchten Haare.
„Ich habe gewählt, gegen Hikaru zu kämpfen.“
Der Dämonenherrscher lächelte gerührt und stolz. Es war lange her, dass ihn irgendetwas gerührt hatte oder dass er das Gefühl gehabt hatte, dass er irgendeinen Moment in der Zeit einfrieren wollte – aber dies war ein solcher Moment.
Daran änderte auch sein linker Arm nichts, welchen Youma aus seiner Sicht nicht sehen konnte. Er zuckte, weiß wie er geworden war, aber der namenlose Dämonenherrscher war zu froh über Youmas erstarkte Augen, um sich seine Freude vom Licht kaputtmachen zu lassen.
„Dann lass uns nun nach Hause zurückkehren und dort…“ Youma fiel ihm nun mit einem kritischen Fingerzeig ins Wort:
„Werden Sie nicht übermütig. Henel ist nicht mein Zuhause. Ich…“
--- alleine gelassen von der Welt, ohne jemals ein Zuhause zu kennen---
Youma hielt inne, als er Hikarus Worte wieder in seinem Kopf hörte und ihr… leider zustimmen musste, so sehr er sich auch wünschte, es nicht tun zu müssen. Aeterniya war das, was einem „Zuhause“, einem „Heim“, am nächsten kam, aber… auch dort hatte er sich immer wie ein Fremder gefühlt. Er hatte sich immer gewünscht, er hätte so stark sein können wie Silence. Für sie war das nicht wichtig gewesen. Aber Youma…
„Ich weiß nicht, wo mein Zuhause ist, aber Henel ist es bestimmt nicht.“ Der namenlose Dämonenherrscher sah ihn mit einem neugierigen Blick an:
„Also ist Paris dein Zuhause?“
„Ha, wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich verstehe diese Welt genauso wenig wie Sie.“ Youma richtete sich empor und dasselbe tat auch sein Begleiter, der ihn mit einem versteckten Grinsen bedachte, während er seinen linken Arm auf den Rücken legte.
„So schön es hier in der Tat auch ist, ich wünsche aufzubrechen. Ich bin erschö…“
„Ohja, das sollten wir in der Tat“, antwortete der namenlose Dämonenherrscher mit einem vielsagenden Grinsen:
„Denn es ist an der Zeit für deine erste Konferenz der Hohen!“
„… was?“