Kapitel 111 - Der neue Stab
Eigentlich wollte Green einfach nur in Ruhe gelassen werden. Die Weihe war vorbei. Die Feierlichkeiten ebenfalls. Warum waren da immer noch so viele um sie herum? Warum waren die meisten Hikari ebenfalls noch im Diesseits? Normalerweise lauerte Green eigentlich bei den Hikari nie auf irgendwelche Anzeichen, dass sie im Begriff waren sich aufzulösen, aber jetzt tat sie es. Doch es gab nicht einmal das kleinste Flimmern an Hizashis übermütigen Händen, der Greens Stab näher in Augenschein nahm, sobald die Hikari alleine in der Kommandozentrale des Tempels waren. Seine Augen strahlten immer noch so schrecklich erregt, aber während Adir und Shaginai skeptisch die Stirn runzelten, fragte Green sich nur eine Frage: Konnte sie nicht einfach in Ruhe gelassen werden?
White stand hinter dem Stuhl, auf dem Green saß, mit der Hand auf ihrer Schulter. Sie war beruhigend, aber auch sie wünschte Green sich ins Jenseits. Sie war kaputt, erschöpft und einfach nur fertig mit der Welt – konnten sie das denn nicht verstehen? White verstand es, deswegen hatte sie auch ihre Hand auf Greens Schulter gelegt, aber niemand kam gegen Hizashis Begeisterung an, der zwar pausenlos von Green redete, aber sich keine einzige Sekunde nahm, um zu sehen, dass sie sich einfach nur ausruhen musste. Wenigstens hatte Itzumi ihr ihre Uniform gebracht; Umziehen war scheinbar erlaubt.
„Seht!“, rief Hizashi begeistert, kaum, dass sie die Kommandozentrale des Tempels betreten hatten. Kaum dort angekommen und von den Augen ihrer Wächter befreit, hatte er mit einer Handbewegung sämtliche Computer aus ihrem Schlaf gerissen und ein blau leuchtendes Hologramm eines Stabs erscheinen lassen, welcher wirklich… nein, darüber wollte Green nicht nachdenken, denn sie wusste, oder eher ahnte, dass es Hikarus Stab war, den sie da flimmernd vor sich sah.
„Die Ähnlichkeit der beiden Stäbe ist verblüffend. Der unserer aller Mutter und der von unserer Neugeweihten.“ Green wollte das nicht hören, aber leider musste sie ihm recht geben. Die beiden Stäbe hatten dieselbe Form… dieselbe schwere Kugel als Spitze. Green ärgerte das immens – nicht nur, dass ihr Stab Hikarus ähnlichsah, sondern auch, dass sie ihren alten hatte aufgeben müssen. Sie hatte ein Band mit ihm gehabt! Sie hatte sich mit ihm identifiziert… irgendwie… auch wenn das komisch klang. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie einen Freund in der Halle der Weihe zurückgelassen hatte.
„Das ist nicht von der Hand zu weisen, aber das als Zeichen zu werten… Ich finde, wir sollten nicht zu viel hineininterpretieren“, antwortete Adir mit seiner üblichen Besonnenheit, aber auch diese klang sehr ernst und ein wenig genervt, aber das konnte Green sich auch einbilden, denn sie war verdammt genervt von Hizashi. Shaginai scheinbar ebenfalls, der aussah als würde er sich überlegen, wie er ihn vor Gericht schleifen konnte.
„Mir gefällt er nicht“, gab Green ehrlich und auch provozierend zu. Sie wollte, dass Hizashi aufhörte zu lächeln und fuhr fort:
„Kann man ihn verändern? Kann Tinami ihn umbauen?“
„Deine ehemalige Kikou hat keine Waffenlizenz mehr, Yogosu.“ Ach, sie konnte ihr Großvater anmaulen, aber Hizashi nicht?! Es war nicht fair, wenn er seine Wut an ihr ausließ, das konnte er ja wohl an der richtigen Quelle auslassen – an Hizashi – und nicht an ihr!
„Der Vorschlag, nein, der Gedanke an sich ist überaus obszön.“ Obwohl Hizashi es scheinbar bestürzend fand, lächelte er immer noch, während er Greens Stab zeigte, als sei er eine Trophäe. Warum verbrannte der Stab ihn nicht, so wie es bei Dämonen der Fall war…
„Die Waffe, die wir durch die Weihe erhalten, ist ein Geschenk unserer Gottheiten“, erklärte Hizashi:
„Und nicht mit den herkömmlichen, von Wächtern geschmiedeten Waffen zu vergleichen. Sie sind…“ Er sah Green direkt an und obwohl da immer noch dieses verfluchte Lächeln auf seinem bleichen Gesicht war, durchbohrten seine Augen sie finster und vorwurfsvoll.
„… gesegnet. Von unseren Göttern.“ Jeder einzelne Laut wurde ganz langsam ausgesprochen, extra für Green, damit er sich auch ja sichergehen konnte, dass sie ihn auch verstand – und das machte sie noch wütender. Ja, sie verstand ihn, verdammt nochmal. Er war ein Hikaru-Jünger. Der Schlimmste von ihnen. Wie würde er wohl reagieren, wenn Green ihm alles erzählen würde, was sie dank Light gelernt hatte?
Green sah von Adir zu Shaginai… sie sah Mary an und zu den weißen Fingern ihrer Mutter, die auf ihrer Schulter lagen. Wie würden sie alle… reagieren? Light hatte alle Hoffnung verloren, dass die Wahrheit irgendetwas bewirken würde… würde es wirklich überhaupt nichts bringen? Vielleicht würden sie ihr nicht einmal glauben – weder, was sie ihnen zu erzählen hatte, noch dass Green sich an jedes Detail der Weihe erinnern konnte. Shaginai… Green sah zu ihm, ohne dass er es bemerkte, denn er hörte wieder Hizashi zu und durchbohrte ihn finster, während dieser von den ganzen Plänen erzählte, die sie nun schmieden mussten mit Green an der Spitze… Von wem war ihr Großvater erwählt worden? Gehörte er ebenfalls zu Hikaru? Ihre Mutter war von Light erwählt worden, daran konnte es keinen Zweifel geben. Ihr Licht war so wundervoll warm… Adir gehörte ebenfalls zu Light, daran zweifelte Green nicht. Mary gehörte sicherlich zu Hikaru, obwohl sie Hizashi ebenfalls sehr skeptisch musterte und seit seiner Verkündung vor den Wächtern, dass sie alle Dämonen endlich ausrotten würden, kein Wort mehr mit ihm gesprochen hatte.
Sie wussten es aber alle nicht. Sie wussten nicht, welche Bedeutung es hatte und wenn man es genau nahm… wusste Green es ebenfalls nicht.
Unauffällig sah Green zu Hizashi, der so munter lächelte und ihr Gesicht verdunkelte sich ein wenig… Es stimmte nicht, dass sie es alle nicht wussten. Hizashi hatte sie vor der Weihe darauf hingewiesen, dass sie darauf „achten solle“ ob das Licht kalt oder warm war.
So eine Frage würde doch nur jemand stellen, der davon wusste. Vielleicht sogar jemand, der die gesamte Bedeutung gänzlich verstand.
Vielleicht war Green ja doch nicht die einzige Hikari, die sich an die Weihe erinnern konnte.
Es war so ungewohnt, Nocturn mit geschlossenen Augen zu sehen.
Youma legte den Kopf schief.
Wirklich, wirklich ungewohnt. Schlafend und ruhig… das passte gar nicht zu ihm und Youma wurde bewusst, dass er nicht nur noch nie gesehen hatte, dass Nocturn schlief, er hatte ihn auch nie vom Schlaf sprechen gehört. Sie lebten nun schon mehrere Monate zusammen und doch hatte er noch nie ein „Ich gehe ins Bett“ gehört. Das war Youma noch nie aufgefallen, aber jetzt stutzte er darüber, jetzt wo er Nocturn in einem Bett liegen sah, beinahe gänzlich regungslos. Leider hatte er keine Albträume – Youma hätte ihn zu gerne damit aufgezogen, so wie Nocturn es einmal bei ihm getan hatte. Aber Nocturn bewegte sich nicht und sagte auch nichts. Er sah wirklich… Youma legte den Kopf noch weiter schief… richtig harmlos aus.
Die Tür hinter Youma wurde geöffnet und er spürte, wie Lacrimosa das Zimmer betrat.
„Hat er sich immer noch nicht geregt?“, fragte sie im Flüsterton und Youma schüttelte den Kopf, immer noch Nocturn ansehend.
„Nein, nicht solange ich im Raum war.“ Lacrimosa runzelte besorgt die Stirn.
„Wie eigenartig. Man sollte meinen er sei Lichtintus gewohnt und ein wenig widerstandsfähiger. Ich hätte damit gerechnet, dass er bereits erwacht wäre zu diesem Zeitpunkt.“
„Vielleicht muss er Schlaf nachholen. Ich habe noch nie gesehen, dass er schläft.“ Lacrimosa seufzte aufgebend.
„Er sollte wirklich besser auf sich Acht geben… Feullé ist aber wach.“ Oh, sehr gut, das seien gute Neuigkeiten, antwortete Youma, sich nun Lacrimosa zuwendend, um ihr mitzuteilen, dass Blue ebenfalls erwacht war, woraufhin sich ihr Gesicht sofort verdunkelte.
„Ich hoffe, du hast ihm gesagt, dass er die Kammer nicht verlassen darf, in welcher er sich jetzt befindet.“
„Ich habe es ihm nahegelegt.“ Ob er sich daran halten würde war eine andere Frage. Blue hatte allerdings sehr… erpicht auf Youma gewirkt. Aber auf was er erpicht war, das wagte Youma nicht zu beurteilen. Aber er hatte sehr entschlossen ausgesehen.
„Wie ist die momentane Situation?“, fragte Youma, nachdem Lacrimosa ihm bedeutet hatte, ihr zu folgen. Sie wollte nicht vor Nocturn reden. Wenn er wirklich schon sehr lange nicht mehr geschlafen hatte, dann sollte er es jetzt tun dürfen.
„Alle Verletzten sind nun versorgt und damit ist unser Vorrat an Anti-Licht dahin.“ Das waren gute, aber auch schlechte Neuigkeiten. Anti-Licht war ein ohnehin schon ein seltenes Mittel, nun würde es noch seltener und noch teurer werden. Umso größer die Angst vor dem Licht wurde, umso mehr würde um es gekämpft werden…
„Ich danke Ihnen sehr, dass Sie uns trotz Ihrer eigenen Probleme aufgenommen haben.“
„Dich, Nocturn und Feullé-Schatz gerne, aber für Blue bist du mir noch was schuldig, das schwöre ich dir.“ Und das wiederum würde er Nocturn zuschieben, sobald er wach war. Das war nicht Youmas Baustelle… Er hatte immerhin nicht entschieden, dass Blue zu ihnen gehören sollte.
„Wie viele haben Sie verloren…?“ Lacrimosa schwieg, während sie den Gang hinunter gingen, der ungewöhnlich ruhig war. Stille war nichts, was in Lacrimosas Schloss normalerweise allgegenwärtig war. Normalerweise war das Schloss erfüllt von Leben und Stimmen, aber jetzt… war es ruhig wie in einem Grab. So ruhig, dass sie das Heulen des eisigen Windes vor den großen, ovalen Fenstern hören konnten.
„Zu viele, aber genau wissen wir es noch nicht. Cilan versucht gerade, sich einen Überblick zu beschaffen.“ Lacrimosa seufzte tief und Youma warf einen kurzen, besorgten Seitenblick zu ihr. Sie sah sehr mitgenommen aus… dunkle Schatten waren unter ihren Augen zu sehen und sie hatte keine Schminke aufgetragen. Auch ihre lilanen Haare waren nicht wie sonst zu zwei Hörnern emporgebunden, sondern hingen in einem lockeren Zopf herunter, als hätte man sie in ihrer Nachtruhe gestört, als es passiert war. Aber natürlich gab es Wichtigeres als das Aussehen, um was man sich jetzt kümmern musste.
„Die Hohenkonferenz wurde schon zum dritten Mal verschoben.“ Youma sah sie wieder an und Lacrimosa fuhr fort mit verdrehten Augen.
„Lycram besteht die ganze Zeit darauf, dabei ist er gar nicht Sprachführer in dieser Runde.“
„Und er hat nicht viele Dämonen, die in der Menschenwelt stationiert sind, daher wird sein Verlust nicht so hoch sein.“ Lacrimosa warf ihm ein lobendes Lächeln zu:
„Ah, jemand hat seine Hausaufgaben gemacht…! Es wird wirklich nicht seine eigene Horde sein, die ihn aufhält. Aber vielleicht die seines Bruders – oder gar Azzazello selbst und seine Kinder.“ Lacrimosas Lächeln verschwand.
„Azzazello und seine Familie halten sich sehr viel in Russland auf. Sie könnten verletzt oder tot sein.“ Youma wurde etwas flau im Magen bei der Vorstellung, dass Kinder an diesem Lichtgift elendig gestorben waren… aber es hielten sich hauptsächlich ausgewachsene Dämonen in der Menschenwelt auf, die Wahrscheinlichkeit war daher nicht so groß, dass Kinder gestorben waren… eigentlich. Es gab immerhin auch Dämonen, die in der Menschenwelt lebten und ein Leben als Mensch führten, frei vom Krieg. Auch sie waren tot, auch wenn sie noch nie einen Menschen oder Wächter umgebracht hatten; darauf nahm Hikaru keine Rücksicht.
So ein schmerzhafter Tod für ein Kind… nein, für jeden Dämon. Hikaru war sicherlich höchst erfreut.
„Glauben Sie nicht, dass Sie schon gehört hätten, wenn einer der Fürsten tot wäre?“ Die Absätze ihrer Stiefel klapperten über die Treppenstufen, als sie eine ausladende Treppe aus Eis hinuntergingen, die von einem Lüster mit blauem Kerzenschein erleuchtet war. Wo führte Lacrimosa ihn eigentlich hin?
„Ich glaube, im Moment weiß niemand, wer tot oder lebendig ist.“ Lacrimosa blieb stehen mit der Hand auf dem Treppengeländer und sofort tat Youma es auch.
„Was haben Sie?“ Sorge spielte in seiner Stimme; eine Sorge, die ihn selbst überraschte. Er fühlte sich verbundener mit Lacrimosa und diesem Gebiet, als er es gedacht hatte und er mochte es nicht, sie so bedrückt zu sehen. Ihre Sorge steckte an; nein, diese Stille steckte an.
„Es ist wegen Ri-Il. Ich bin der Meinung, dass ich seine Aura nicht mehr spüren kann.“ Youma, ein paar Treppenstufen hinter ihr, sah sie zuerst überrascht an, doch dann gewann die Skepsis.
„Sie sind meilenweit entfernt von Ri-Ils Gebiet. Glauben Sie wirklich, dass sie das spüren könnten?“ Lacrimosa schüttelte den Kopf, allerdings nicht verneinend, sondern als würde sie einen Gedanken von sich schütteln wollen.
„Du bist nicht oft genug, oder nicht lange genug hier, ansonsten wüsstest du, wovon ich spreche. Ich kann seine Aura nicht genau spüren, sondern mehr…“ Sie suchte nach den Worten:
„Die allgemeine Konzentration unserer gemeinsamen Auren? Seine Aura war immer hier. Immer ein Teil unserer Welt… Ach, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll…“ Wieder schüttelte sie den Kopf.
„… aber ich habe das Gefühl, dass wir erheblich schwächer geworden sind heute Nacht. Als hätten die Wächter etwas aus uns herausgerissen.“
„Und Sie glauben, dass das was herausgerissen wurde… nein, dass der, der herausgerissen wurde, Ri-Il ist?“ Sie wollte nicht antworten, aber die Antwort stand in ihrem Gesicht geschrieben.
„Von uns allen hatte er die meisten Drähte in der Menschenwelt und auch die meisten Dämonen dort stationiert…“ Lacrimosa sah Youma trotz ihrer Verunsicherung fest an.
„Wenn Ri-Il tot ist, dann wird es für uns sehr schwer sein dafür zu sorgen, dass keine Panik ausbricht.“ Worte, die wie eine Vorhersage klangen: Worte, die es sofort kälter werden ließen in der Eingangshalle ihres Schlosses und die Youma aber einfach nicht glauben…
„Ich muss schon sagen…“, begann eine Stimme, die weder von Lacrimosa noch von Youma stammte, der sich verwirrt herumdrehte.
„… ich bin schon ein wenig enttäuscht von dir, Lacrimosa. So eine Trauerstimme, wenn von Ri-Ils vermeintlichem Tod die Rede ist!“ Lacrimosa erkannte die Frauenstimme, Youma allerdings erst, als er sie erblickte – kein Wunder, er hatte sie immerhin schon seit Monaten weder gesehen noch gesprochen.
„Neferteri-san!“ Youma war überrascht, aber froh sie zu sehen. Wie gut, dass sie auch hier war: Jene Dämonin, die ihm vor einem Jahr für mehrere Woche größte Gastfreundschaft erwiesen hatte und ohne welche er sich gewiss in der Menschenwelt nicht zurechtgefunden hätte – einigermaßen jedenfalls. Da sie ebenfalls eine jener Dämonen war, die sich vom Krieg losgesagt hatten, hatte er sie seitdem nicht mehr gesehen, aber es war sehr schön, sie wieder zu treffen. Sie trug ihre schwarzen Haare nun in einem kecken, kurzen Stufenschnitt, aus welchem sich ein längerer, geflochtener grellgrüner Zopf herunterschlängelte mit roten Bändern. Ihre Augen, die Lacrimosa anklagend ansahen, waren genauso grell und grün wie jener hervorstechende Zopf und sie trug immer noch dieselbe freizügige Kleidung, die in Youmas Augen absolut unangebracht war.
Er wollte auf sie zugehen und sie mit einem Lächeln begrüßen, aber ein schrecklicher Gedanke wischte das Lächeln aus seinem Gesicht: Neferteri lebte hoch in einer bergigen Gegend zusammen mit ihren neun Kindern. Hatten sie es… alle geschafft? Sie stand alleine---
„Onkel YOUMAAAAAAAAAAAA!“ Und ehe Youma wusste, wie ihm geschah, wurde er von einem Haufen kleiner Dämonen umgeworfen, die ihn von vorne und von hinten über den Haufen rannten. Er wusste plötzlich nicht mehr, wo oben oder unten war: drei Kinder rannten ihm in die Arme, zwei kämpften darum, auf seine Schultern Platz zu finden und--- und es wurde sehr laut geschrien. So viele Kinderstimmen auf einmal, dass Youma kaum vermochte, seine eigene zu benutzen.
„Oberia, Tywell! Meine Güte, ihr seid aber groß geworden… Esther, nicht meine Haare! Die sind immer noch Tabu, auch für dich, Faello! Ruhig, ruhig, ich höre euch allen zu, einer nach dem anderen! Warum weinst du denn, Tsuou?“ Der kleinste Junge – ein Junge mit hellem, blonden Haar, welches er gewiss nicht von seiner Mutter hatte – weinte in der Tat große, deutliche Tränchen, die ihm über die runden Bäckchen liefen. Es war sehr schwer, das Alter von Dämonenkindern zu schätzen, aber er reichte Youma kaum bis zum Knie. Weinend umschloss er Youmas Bein – welcher nun auf den Treppenstupfen saß – und plötzlich waren auch die anderen Kinder ruhig, als spreche der kleine Junge für sie alle:
„Es hat so weh getan! So weh!“ Youma wusste natürlich, was er meinte, aber davon ging Oberia, das Älteste der Kinder, die ihre Arme um Youmas Hals geschlungen hatte, scheinbar nicht aus:
„Das Licht… er meint das Licht…“
„Ich weiß, was ihr meint. Es war schrecklich für uns alle…“ Fürsorglich strich er Tsuou über den Kopf und sah von einem zum anderen:
„… aber ihr seid jetzt in Sicherheit.“
„Das hoffe ich jedenfalls.“ Neferteri, die zusammen mit Lacrimosa ein wenig abseitsstand, sah ihre ehemalige Fürstin ernst an, welche aber immer noch von dem Bild abgelenkt wurde, welches sie da sah. Sie wusste gar nicht, dass Youma so gut mit Kindern zurechtkam… und er konnte sich die ganzen Namen merken?
„Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet, Lacrimosa.“ Neferteri gab der Eisfürstin einen leichten Seitenhieb, während sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte:
„Warum halten wir ein Trauerfest für Ri-Il? Bist du in meiner Abwesenheit eine Allianz mit ihm eingegangen, huh?“ Lacrimosas Wangen erröteten.
„Natürlich nicht! Aber wir reden hier immerhin von Ri-Il. Wenn er wirklich tot ist, hätte das eine überaus große, politische Bedeutung. Ich will mir gar nicht vorstellen, was dann passieren würde.“ Neferteri schnalzte mit der Zunge:
„Er ist nicht unser Allvater und die Hölle wird nicht zusammenbrechen, nur weil er mal abdankt. Im Gegenteil! Vielleicht würde es euch mal guttun. Ein wenig Selbstdenken zur Abwechslung…“ Jetzt war es Lacrimosa, die ihr einen Seitenhieb gab:
„Ich kann es mir auch nochmal anders überleben mit meiner Gastfreundlichkeit!“ Sie sahen sich finster an – aber nur für einen Moment. Dann grinsten sie sich wieder feixend an.
„Es ist gut, dich wieder hier zu haben, Teri – auch wenn ich gewünscht hätte, dass die Umstände anders wären.“
„Gleichfalls, Lacrimosa. Aber die Umstände hätten wirklich anders sein können. Meine Kinder werden sicherlich die nächsten Monate von Sonnen träumen, die sie fressen kommen…“ Lacrimosa wollte gerade antworten, als Neferteri sich versteifte. Eben noch hatte sie dabei zugesehen, wie Youma versuchte, seine Haare vor den Kindern zu retten, aber dann war ihr Blick nach oben geglitten… hoch zur Galerie, wo Lacrimosa genau wie ihre ehemalige Beraterin Blue im Schatten einer Eissäule stehen sah.
„Wer ist denn das? Seit wann lädst du hier Männer ein? Haben sich die Regeln etwa geändert?“ Lacrimosa verzog das Gesicht.
„Nein, der gehört zu Youma.“
„Dieser hässliche Igel?“ Blue hatte natürlich bemerkt, dass er entdeckt worden war und zog sich wieder in den Schatten zurück. Er wollte eben in seine Kammer zurückhuschen, als er beinahe gegen Nocturn gestoßen wäre.
„Sachte, sachte, Blue…“ Blue nahm sofort etwas überrumpelt Abstand zu Nocturn, welcher immer noch recht verschlafen aussah. Genau wie Youma es schon so oft getan hatte, fluchte Blue nun auch darüber, dass Nocturn keine Aura hatte, ansonsten hätte er nicht so leicht überrascht werden können.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Das weiß ich nicht, Nocturn-sama…“
„War jemand in dem Raum, in welchem ich geschlafen habe?“ Was war denn das für eine komische Frage?
„Auch das kann ich nicht beantworten, da ich selbst erst vor Kurzem erwacht bin.“ Nocturn sah recht unzufrieden aus, aber er ließ es nicht an Blue aus. Er ging an ihm vorbei und tauchte oberhalb der Treppe auf, wo er sich keine Zeit nahm Lacrimosa zu begrüßen oder einen der anderen Dämonen. Er achtete auch nicht auf die vielen Kinder, die auf Youmas Schoß und auf seinen Schultern oder um ihn herumsaßen, als sähe er sie überhaupt nicht.
„Kronprinz!“ Blue, der Nocturn gefolgt war, verwirrte Nocturns Tonfall – er klang wirklich überaus missvergnügt, einen Tonfall, den man selten von ihm hörte. Er nervte andere, aber er selbst war nie genervt. Dasselbe schien Youma auch zu denken, denn er sah verwirrt nach oben.
„Ich will nach Paris. Jetzt. Also beende, was auch immer du da gerade tust. Lacrimosa, wo ist Feullé? Sie soll sich fertig machen. Wenn ich noch eine Minute länger hierbleibe, werde ich wahnsinnig.“ Aus dem Mund eines anderen Dämons wäre das wohl reine Rhetorik, bei Nocturn wusste Blue nicht, ob das nicht eine Warnung war.
„Du kannst jetzt nicht nach Paris“, antwortete Youma sachlich, die Kinder auf den Boden setzend.
„Wenn du glaubst, dass ich darauf Rücksicht nehme, dass du gerade Gefallen daran hast, den Kindergärtner zu spielen, dann irrst du dich. Ich habe auch kein Interesse an irgendwelchen Besprechungen. Ich. Will. Nach. Paris.“ Aus Blue komplett unerklärlichen Gründen nestelte Nocturn an seinen Ärmeln… oder Händen… das war Blue nicht ganz klar. Als müsste er seine nicht vorhandenen Handschuhe kontrollieren. Es ging etwas überaus… Unruhiges von ihm aus und Blue war froh, dass Lacrimosa die Treppe emporging. Aber Nocturn sah sie nicht. Er redete weiter.
„Ich brauche ein Bad. Ich brauche frische Kleidung, aber vor allen Dingen brauche ich ein Bad.“
„Nocturn-kun, du kannst hier baden.“ Lacrimosa hatte ihre Hand nach ihm ausgestreckt, aber er schlug sie weg, scheinbar ohne es zu bemerken.
„Oh nein, oh nein, das kann ich nicht. Ich muss nach Paris!“ Seine zunächst sachlich klingenden Worte wurden zu einem schrillen Schrei und er hätte sich wohl auch teleportiert, hätte Youma nicht in zwei Sprüngen vier Treppenstufen auf einmal genommen, um seinen Oberarm zu packen.
„Du kannst nicht nach Paris, Nocturn.“ Mit kleinen Augen starrte Nocturn die Hand an, die seinen Arm gepackt hatte, aber er tat nichts. Er war gänzlich erstarrt. Blue war sich nicht sicher, ob er sich das getraut hätte… Nocturn hatte zwar keine Aura, die seine Magie spürbar machte, aber… er hatte eine andere Art Aura in diesem Moment. Eine, in der Gefahr lauerte. Neferteri hatte nicht ohne Grund ihre Kinder wieder zu sich geholt, die sich alle um ihre Mutter versammelt hatten und Nocturn mit bangen Augen ansahen.
„Es ist im Moment nicht möglich“, fuhr Youma fort, aber Nocturn sah ihn immer noch nicht an.
„Du kannst dich nirgendwo in die Menschenwelt teleportieren. Nicht jetzt.“
„Ich… ich kann nicht nach Hause…?“
Youmas Blick und sein Griff lockerten sich im gleichen Moment, als er diese verzagte Stimme Nocturns hörte, die ihn genauso traf wie das Weinen der Kinder. Sie klang tatsächlich… wie die eines Kindes. Nein, es war nicht nur sein Tonfall, der Youma traf. Es war das Wort. Zuhause.
Hatte jemand anderes diese Worte gehört? Youma war sich selbst nicht einmal sicher, ob er sie gehört hatte oder ob es nur eine Einbildung gewesen war. Diese zerbrochene Stimme konnte doch unmöglich Nocturn gehören…
„Nein, Nocturn-kun, jetzt geht das nicht.“ Lacrimosa ging auf Nocturn zu, der mit hochgezogenen Schultern in die Schatten der Galerie zurückwich, sobald Youma ihn gehen gelassen hatte.
„Die Hikari haben irgendetwas mit der Luft in der Menschenwelt gemacht“, begann Lacrimosa zu erklären, aber Youma war sich nicht sicher, ob Nocturn ihr wirklich zuhörte – und er war sich nicht so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, ihn loszulassen.
„Wir können dort nicht atmen ohne Lichtmagie einzuatmen, welche uns tötet. Wenn du dich nach Paris teleportierst, dann wirst du dort den Tod finden.“
„Das ist mir egal. Das ist mir ein willkommener Tod.“ Warum auch immer, aber Youma war erleichtert dies zu hören. Das klang wenigstens wie etwas, was Nocturn sagen würde, mit der Stimme, die Nocturn wirklich gehörte und nicht… wie das gerade eben.
„Sei nicht albern, Nocturn-kun. Du willst ja wohl nicht an deinem eigenen Blut ersticken.“ Nocturn schlug mit der zusammengeballten Faust gegen die Eissäule neben ihm und nicht nur Blue zuckte zusammen, sondern auch Lacrimosa wurde bleich, als sie sah, dass sich ein Riss in der Säule auftat.
„Nocturn-kun, könntest du bitte mein Schloss…“ Doch Lacrimosas Stimme ging unter in Nocturns verzweifelten, wütenden – aber auch sehr entschlossenen Worten:
„Lieber sterbe ich elendig in Paris, als hier zu bleiben!“
„Das wirst du nicht!“ Youma schritt vor und erwiderte Nocturns entschlossenen Blick:
„Ich habe dich nicht wiederbelebt, damit du für unter solchen Umständen stirbst für Nichts!“ Unerschrocken – und etwas wagemutig, wie Blue fand – bohrte sich sein Zeigefinger in Nocturns Brust, genau wie seine Augen entschlossen in Nocturns sahen.
„Du wirst hierbleiben und darauf warten, dass ich zurückkehre. Ein wenig Geduld fordere ich von dir! Und danach brauche ich dich!“ Youma rückte noch ein Stück vor, so dass die beiden kaum noch eine Hand voneinander trennte:
„Also reiß dich zusammen!“ Sichtlich verwirrt sah Nocturn ihn an, aber ehe er etwas erwidern konnte, hatte sich Youma auch schon mit wehenden Haaren abgewandt und Nocturn schlug Youmas Finger gänzlich umsonst weg, denn er hatte sich schon längst von ihm gelöst.
„Lacrimosa-san, ich würde gerne einen Reisemantel von Ihnen borgen. Wäre das möglich?“
„Natürlich, aber wo willst du hin?“ Dieselbe Frage hätte auch Blue ihm stellen können, aber Youma antwortete keinem von ihnen. Auch Nocturn gab er keine Erklärung, der seinem Partner hinterher sah, wie dieser die Treppe herunterschritt.
„Ich werde dafür sorgen, dass wir alle nach Hause können.“
White stand hinter dem Stuhl, auf dem Green saß, mit der Hand auf ihrer Schulter. Sie war beruhigend, aber auch sie wünschte Green sich ins Jenseits. Sie war kaputt, erschöpft und einfach nur fertig mit der Welt – konnten sie das denn nicht verstehen? White verstand es, deswegen hatte sie auch ihre Hand auf Greens Schulter gelegt, aber niemand kam gegen Hizashis Begeisterung an, der zwar pausenlos von Green redete, aber sich keine einzige Sekunde nahm, um zu sehen, dass sie sich einfach nur ausruhen musste. Wenigstens hatte Itzumi ihr ihre Uniform gebracht; Umziehen war scheinbar erlaubt.
„Seht!“, rief Hizashi begeistert, kaum, dass sie die Kommandozentrale des Tempels betreten hatten. Kaum dort angekommen und von den Augen ihrer Wächter befreit, hatte er mit einer Handbewegung sämtliche Computer aus ihrem Schlaf gerissen und ein blau leuchtendes Hologramm eines Stabs erscheinen lassen, welcher wirklich… nein, darüber wollte Green nicht nachdenken, denn sie wusste, oder eher ahnte, dass es Hikarus Stab war, den sie da flimmernd vor sich sah.
„Die Ähnlichkeit der beiden Stäbe ist verblüffend. Der unserer aller Mutter und der von unserer Neugeweihten.“ Green wollte das nicht hören, aber leider musste sie ihm recht geben. Die beiden Stäbe hatten dieselbe Form… dieselbe schwere Kugel als Spitze. Green ärgerte das immens – nicht nur, dass ihr Stab Hikarus ähnlichsah, sondern auch, dass sie ihren alten hatte aufgeben müssen. Sie hatte ein Band mit ihm gehabt! Sie hatte sich mit ihm identifiziert… irgendwie… auch wenn das komisch klang. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie einen Freund in der Halle der Weihe zurückgelassen hatte.
„Das ist nicht von der Hand zu weisen, aber das als Zeichen zu werten… Ich finde, wir sollten nicht zu viel hineininterpretieren“, antwortete Adir mit seiner üblichen Besonnenheit, aber auch diese klang sehr ernst und ein wenig genervt, aber das konnte Green sich auch einbilden, denn sie war verdammt genervt von Hizashi. Shaginai scheinbar ebenfalls, der aussah als würde er sich überlegen, wie er ihn vor Gericht schleifen konnte.
„Mir gefällt er nicht“, gab Green ehrlich und auch provozierend zu. Sie wollte, dass Hizashi aufhörte zu lächeln und fuhr fort:
„Kann man ihn verändern? Kann Tinami ihn umbauen?“
„Deine ehemalige Kikou hat keine Waffenlizenz mehr, Yogosu.“ Ach, sie konnte ihr Großvater anmaulen, aber Hizashi nicht?! Es war nicht fair, wenn er seine Wut an ihr ausließ, das konnte er ja wohl an der richtigen Quelle auslassen – an Hizashi – und nicht an ihr!
„Der Vorschlag, nein, der Gedanke an sich ist überaus obszön.“ Obwohl Hizashi es scheinbar bestürzend fand, lächelte er immer noch, während er Greens Stab zeigte, als sei er eine Trophäe. Warum verbrannte der Stab ihn nicht, so wie es bei Dämonen der Fall war…
„Die Waffe, die wir durch die Weihe erhalten, ist ein Geschenk unserer Gottheiten“, erklärte Hizashi:
„Und nicht mit den herkömmlichen, von Wächtern geschmiedeten Waffen zu vergleichen. Sie sind…“ Er sah Green direkt an und obwohl da immer noch dieses verfluchte Lächeln auf seinem bleichen Gesicht war, durchbohrten seine Augen sie finster und vorwurfsvoll.
„… gesegnet. Von unseren Göttern.“ Jeder einzelne Laut wurde ganz langsam ausgesprochen, extra für Green, damit er sich auch ja sichergehen konnte, dass sie ihn auch verstand – und das machte sie noch wütender. Ja, sie verstand ihn, verdammt nochmal. Er war ein Hikaru-Jünger. Der Schlimmste von ihnen. Wie würde er wohl reagieren, wenn Green ihm alles erzählen würde, was sie dank Light gelernt hatte?
Green sah von Adir zu Shaginai… sie sah Mary an und zu den weißen Fingern ihrer Mutter, die auf ihrer Schulter lagen. Wie würden sie alle… reagieren? Light hatte alle Hoffnung verloren, dass die Wahrheit irgendetwas bewirken würde… würde es wirklich überhaupt nichts bringen? Vielleicht würden sie ihr nicht einmal glauben – weder, was sie ihnen zu erzählen hatte, noch dass Green sich an jedes Detail der Weihe erinnern konnte. Shaginai… Green sah zu ihm, ohne dass er es bemerkte, denn er hörte wieder Hizashi zu und durchbohrte ihn finster, während dieser von den ganzen Plänen erzählte, die sie nun schmieden mussten mit Green an der Spitze… Von wem war ihr Großvater erwählt worden? Gehörte er ebenfalls zu Hikaru? Ihre Mutter war von Light erwählt worden, daran konnte es keinen Zweifel geben. Ihr Licht war so wundervoll warm… Adir gehörte ebenfalls zu Light, daran zweifelte Green nicht. Mary gehörte sicherlich zu Hikaru, obwohl sie Hizashi ebenfalls sehr skeptisch musterte und seit seiner Verkündung vor den Wächtern, dass sie alle Dämonen endlich ausrotten würden, kein Wort mehr mit ihm gesprochen hatte.
Sie wussten es aber alle nicht. Sie wussten nicht, welche Bedeutung es hatte und wenn man es genau nahm… wusste Green es ebenfalls nicht.
Unauffällig sah Green zu Hizashi, der so munter lächelte und ihr Gesicht verdunkelte sich ein wenig… Es stimmte nicht, dass sie es alle nicht wussten. Hizashi hatte sie vor der Weihe darauf hingewiesen, dass sie darauf „achten solle“ ob das Licht kalt oder warm war.
So eine Frage würde doch nur jemand stellen, der davon wusste. Vielleicht sogar jemand, der die gesamte Bedeutung gänzlich verstand.
Vielleicht war Green ja doch nicht die einzige Hikari, die sich an die Weihe erinnern konnte.
Es war so ungewohnt, Nocturn mit geschlossenen Augen zu sehen.
Youma legte den Kopf schief.
Wirklich, wirklich ungewohnt. Schlafend und ruhig… das passte gar nicht zu ihm und Youma wurde bewusst, dass er nicht nur noch nie gesehen hatte, dass Nocturn schlief, er hatte ihn auch nie vom Schlaf sprechen gehört. Sie lebten nun schon mehrere Monate zusammen und doch hatte er noch nie ein „Ich gehe ins Bett“ gehört. Das war Youma noch nie aufgefallen, aber jetzt stutzte er darüber, jetzt wo er Nocturn in einem Bett liegen sah, beinahe gänzlich regungslos. Leider hatte er keine Albträume – Youma hätte ihn zu gerne damit aufgezogen, so wie Nocturn es einmal bei ihm getan hatte. Aber Nocturn bewegte sich nicht und sagte auch nichts. Er sah wirklich… Youma legte den Kopf noch weiter schief… richtig harmlos aus.
Die Tür hinter Youma wurde geöffnet und er spürte, wie Lacrimosa das Zimmer betrat.
„Hat er sich immer noch nicht geregt?“, fragte sie im Flüsterton und Youma schüttelte den Kopf, immer noch Nocturn ansehend.
„Nein, nicht solange ich im Raum war.“ Lacrimosa runzelte besorgt die Stirn.
„Wie eigenartig. Man sollte meinen er sei Lichtintus gewohnt und ein wenig widerstandsfähiger. Ich hätte damit gerechnet, dass er bereits erwacht wäre zu diesem Zeitpunkt.“
„Vielleicht muss er Schlaf nachholen. Ich habe noch nie gesehen, dass er schläft.“ Lacrimosa seufzte aufgebend.
„Er sollte wirklich besser auf sich Acht geben… Feullé ist aber wach.“ Oh, sehr gut, das seien gute Neuigkeiten, antwortete Youma, sich nun Lacrimosa zuwendend, um ihr mitzuteilen, dass Blue ebenfalls erwacht war, woraufhin sich ihr Gesicht sofort verdunkelte.
„Ich hoffe, du hast ihm gesagt, dass er die Kammer nicht verlassen darf, in welcher er sich jetzt befindet.“
„Ich habe es ihm nahegelegt.“ Ob er sich daran halten würde war eine andere Frage. Blue hatte allerdings sehr… erpicht auf Youma gewirkt. Aber auf was er erpicht war, das wagte Youma nicht zu beurteilen. Aber er hatte sehr entschlossen ausgesehen.
„Wie ist die momentane Situation?“, fragte Youma, nachdem Lacrimosa ihm bedeutet hatte, ihr zu folgen. Sie wollte nicht vor Nocturn reden. Wenn er wirklich schon sehr lange nicht mehr geschlafen hatte, dann sollte er es jetzt tun dürfen.
„Alle Verletzten sind nun versorgt und damit ist unser Vorrat an Anti-Licht dahin.“ Das waren gute, aber auch schlechte Neuigkeiten. Anti-Licht war ein ohnehin schon ein seltenes Mittel, nun würde es noch seltener und noch teurer werden. Umso größer die Angst vor dem Licht wurde, umso mehr würde um es gekämpft werden…
„Ich danke Ihnen sehr, dass Sie uns trotz Ihrer eigenen Probleme aufgenommen haben.“
„Dich, Nocturn und Feullé-Schatz gerne, aber für Blue bist du mir noch was schuldig, das schwöre ich dir.“ Und das wiederum würde er Nocturn zuschieben, sobald er wach war. Das war nicht Youmas Baustelle… Er hatte immerhin nicht entschieden, dass Blue zu ihnen gehören sollte.
„Wie viele haben Sie verloren…?“ Lacrimosa schwieg, während sie den Gang hinunter gingen, der ungewöhnlich ruhig war. Stille war nichts, was in Lacrimosas Schloss normalerweise allgegenwärtig war. Normalerweise war das Schloss erfüllt von Leben und Stimmen, aber jetzt… war es ruhig wie in einem Grab. So ruhig, dass sie das Heulen des eisigen Windes vor den großen, ovalen Fenstern hören konnten.
„Zu viele, aber genau wissen wir es noch nicht. Cilan versucht gerade, sich einen Überblick zu beschaffen.“ Lacrimosa seufzte tief und Youma warf einen kurzen, besorgten Seitenblick zu ihr. Sie sah sehr mitgenommen aus… dunkle Schatten waren unter ihren Augen zu sehen und sie hatte keine Schminke aufgetragen. Auch ihre lilanen Haare waren nicht wie sonst zu zwei Hörnern emporgebunden, sondern hingen in einem lockeren Zopf herunter, als hätte man sie in ihrer Nachtruhe gestört, als es passiert war. Aber natürlich gab es Wichtigeres als das Aussehen, um was man sich jetzt kümmern musste.
„Die Hohenkonferenz wurde schon zum dritten Mal verschoben.“ Youma sah sie wieder an und Lacrimosa fuhr fort mit verdrehten Augen.
„Lycram besteht die ganze Zeit darauf, dabei ist er gar nicht Sprachführer in dieser Runde.“
„Und er hat nicht viele Dämonen, die in der Menschenwelt stationiert sind, daher wird sein Verlust nicht so hoch sein.“ Lacrimosa warf ihm ein lobendes Lächeln zu:
„Ah, jemand hat seine Hausaufgaben gemacht…! Es wird wirklich nicht seine eigene Horde sein, die ihn aufhält. Aber vielleicht die seines Bruders – oder gar Azzazello selbst und seine Kinder.“ Lacrimosas Lächeln verschwand.
„Azzazello und seine Familie halten sich sehr viel in Russland auf. Sie könnten verletzt oder tot sein.“ Youma wurde etwas flau im Magen bei der Vorstellung, dass Kinder an diesem Lichtgift elendig gestorben waren… aber es hielten sich hauptsächlich ausgewachsene Dämonen in der Menschenwelt auf, die Wahrscheinlichkeit war daher nicht so groß, dass Kinder gestorben waren… eigentlich. Es gab immerhin auch Dämonen, die in der Menschenwelt lebten und ein Leben als Mensch führten, frei vom Krieg. Auch sie waren tot, auch wenn sie noch nie einen Menschen oder Wächter umgebracht hatten; darauf nahm Hikaru keine Rücksicht.
So ein schmerzhafter Tod für ein Kind… nein, für jeden Dämon. Hikaru war sicherlich höchst erfreut.
„Glauben Sie nicht, dass Sie schon gehört hätten, wenn einer der Fürsten tot wäre?“ Die Absätze ihrer Stiefel klapperten über die Treppenstufen, als sie eine ausladende Treppe aus Eis hinuntergingen, die von einem Lüster mit blauem Kerzenschein erleuchtet war. Wo führte Lacrimosa ihn eigentlich hin?
„Ich glaube, im Moment weiß niemand, wer tot oder lebendig ist.“ Lacrimosa blieb stehen mit der Hand auf dem Treppengeländer und sofort tat Youma es auch.
„Was haben Sie?“ Sorge spielte in seiner Stimme; eine Sorge, die ihn selbst überraschte. Er fühlte sich verbundener mit Lacrimosa und diesem Gebiet, als er es gedacht hatte und er mochte es nicht, sie so bedrückt zu sehen. Ihre Sorge steckte an; nein, diese Stille steckte an.
„Es ist wegen Ri-Il. Ich bin der Meinung, dass ich seine Aura nicht mehr spüren kann.“ Youma, ein paar Treppenstufen hinter ihr, sah sie zuerst überrascht an, doch dann gewann die Skepsis.
„Sie sind meilenweit entfernt von Ri-Ils Gebiet. Glauben Sie wirklich, dass sie das spüren könnten?“ Lacrimosa schüttelte den Kopf, allerdings nicht verneinend, sondern als würde sie einen Gedanken von sich schütteln wollen.
„Du bist nicht oft genug, oder nicht lange genug hier, ansonsten wüsstest du, wovon ich spreche. Ich kann seine Aura nicht genau spüren, sondern mehr…“ Sie suchte nach den Worten:
„Die allgemeine Konzentration unserer gemeinsamen Auren? Seine Aura war immer hier. Immer ein Teil unserer Welt… Ach, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll…“ Wieder schüttelte sie den Kopf.
„… aber ich habe das Gefühl, dass wir erheblich schwächer geworden sind heute Nacht. Als hätten die Wächter etwas aus uns herausgerissen.“
„Und Sie glauben, dass das was herausgerissen wurde… nein, dass der, der herausgerissen wurde, Ri-Il ist?“ Sie wollte nicht antworten, aber die Antwort stand in ihrem Gesicht geschrieben.
„Von uns allen hatte er die meisten Drähte in der Menschenwelt und auch die meisten Dämonen dort stationiert…“ Lacrimosa sah Youma trotz ihrer Verunsicherung fest an.
„Wenn Ri-Il tot ist, dann wird es für uns sehr schwer sein dafür zu sorgen, dass keine Panik ausbricht.“ Worte, die wie eine Vorhersage klangen: Worte, die es sofort kälter werden ließen in der Eingangshalle ihres Schlosses und die Youma aber einfach nicht glauben…
„Ich muss schon sagen…“, begann eine Stimme, die weder von Lacrimosa noch von Youma stammte, der sich verwirrt herumdrehte.
„… ich bin schon ein wenig enttäuscht von dir, Lacrimosa. So eine Trauerstimme, wenn von Ri-Ils vermeintlichem Tod die Rede ist!“ Lacrimosa erkannte die Frauenstimme, Youma allerdings erst, als er sie erblickte – kein Wunder, er hatte sie immerhin schon seit Monaten weder gesehen noch gesprochen.
„Neferteri-san!“ Youma war überrascht, aber froh sie zu sehen. Wie gut, dass sie auch hier war: Jene Dämonin, die ihm vor einem Jahr für mehrere Woche größte Gastfreundschaft erwiesen hatte und ohne welche er sich gewiss in der Menschenwelt nicht zurechtgefunden hätte – einigermaßen jedenfalls. Da sie ebenfalls eine jener Dämonen war, die sich vom Krieg losgesagt hatten, hatte er sie seitdem nicht mehr gesehen, aber es war sehr schön, sie wieder zu treffen. Sie trug ihre schwarzen Haare nun in einem kecken, kurzen Stufenschnitt, aus welchem sich ein längerer, geflochtener grellgrüner Zopf herunterschlängelte mit roten Bändern. Ihre Augen, die Lacrimosa anklagend ansahen, waren genauso grell und grün wie jener hervorstechende Zopf und sie trug immer noch dieselbe freizügige Kleidung, die in Youmas Augen absolut unangebracht war.
Er wollte auf sie zugehen und sie mit einem Lächeln begrüßen, aber ein schrecklicher Gedanke wischte das Lächeln aus seinem Gesicht: Neferteri lebte hoch in einer bergigen Gegend zusammen mit ihren neun Kindern. Hatten sie es… alle geschafft? Sie stand alleine---
„Onkel YOUMAAAAAAAAAAAA!“ Und ehe Youma wusste, wie ihm geschah, wurde er von einem Haufen kleiner Dämonen umgeworfen, die ihn von vorne und von hinten über den Haufen rannten. Er wusste plötzlich nicht mehr, wo oben oder unten war: drei Kinder rannten ihm in die Arme, zwei kämpften darum, auf seine Schultern Platz zu finden und--- und es wurde sehr laut geschrien. So viele Kinderstimmen auf einmal, dass Youma kaum vermochte, seine eigene zu benutzen.
„Oberia, Tywell! Meine Güte, ihr seid aber groß geworden… Esther, nicht meine Haare! Die sind immer noch Tabu, auch für dich, Faello! Ruhig, ruhig, ich höre euch allen zu, einer nach dem anderen! Warum weinst du denn, Tsuou?“ Der kleinste Junge – ein Junge mit hellem, blonden Haar, welches er gewiss nicht von seiner Mutter hatte – weinte in der Tat große, deutliche Tränchen, die ihm über die runden Bäckchen liefen. Es war sehr schwer, das Alter von Dämonenkindern zu schätzen, aber er reichte Youma kaum bis zum Knie. Weinend umschloss er Youmas Bein – welcher nun auf den Treppenstupfen saß – und plötzlich waren auch die anderen Kinder ruhig, als spreche der kleine Junge für sie alle:
„Es hat so weh getan! So weh!“ Youma wusste natürlich, was er meinte, aber davon ging Oberia, das Älteste der Kinder, die ihre Arme um Youmas Hals geschlungen hatte, scheinbar nicht aus:
„Das Licht… er meint das Licht…“
„Ich weiß, was ihr meint. Es war schrecklich für uns alle…“ Fürsorglich strich er Tsuou über den Kopf und sah von einem zum anderen:
„… aber ihr seid jetzt in Sicherheit.“
„Das hoffe ich jedenfalls.“ Neferteri, die zusammen mit Lacrimosa ein wenig abseitsstand, sah ihre ehemalige Fürstin ernst an, welche aber immer noch von dem Bild abgelenkt wurde, welches sie da sah. Sie wusste gar nicht, dass Youma so gut mit Kindern zurechtkam… und er konnte sich die ganzen Namen merken?
„Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet, Lacrimosa.“ Neferteri gab der Eisfürstin einen leichten Seitenhieb, während sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte:
„Warum halten wir ein Trauerfest für Ri-Il? Bist du in meiner Abwesenheit eine Allianz mit ihm eingegangen, huh?“ Lacrimosas Wangen erröteten.
„Natürlich nicht! Aber wir reden hier immerhin von Ri-Il. Wenn er wirklich tot ist, hätte das eine überaus große, politische Bedeutung. Ich will mir gar nicht vorstellen, was dann passieren würde.“ Neferteri schnalzte mit der Zunge:
„Er ist nicht unser Allvater und die Hölle wird nicht zusammenbrechen, nur weil er mal abdankt. Im Gegenteil! Vielleicht würde es euch mal guttun. Ein wenig Selbstdenken zur Abwechslung…“ Jetzt war es Lacrimosa, die ihr einen Seitenhieb gab:
„Ich kann es mir auch nochmal anders überleben mit meiner Gastfreundlichkeit!“ Sie sahen sich finster an – aber nur für einen Moment. Dann grinsten sie sich wieder feixend an.
„Es ist gut, dich wieder hier zu haben, Teri – auch wenn ich gewünscht hätte, dass die Umstände anders wären.“
„Gleichfalls, Lacrimosa. Aber die Umstände hätten wirklich anders sein können. Meine Kinder werden sicherlich die nächsten Monate von Sonnen träumen, die sie fressen kommen…“ Lacrimosa wollte gerade antworten, als Neferteri sich versteifte. Eben noch hatte sie dabei zugesehen, wie Youma versuchte, seine Haare vor den Kindern zu retten, aber dann war ihr Blick nach oben geglitten… hoch zur Galerie, wo Lacrimosa genau wie ihre ehemalige Beraterin Blue im Schatten einer Eissäule stehen sah.
„Wer ist denn das? Seit wann lädst du hier Männer ein? Haben sich die Regeln etwa geändert?“ Lacrimosa verzog das Gesicht.
„Nein, der gehört zu Youma.“
„Dieser hässliche Igel?“ Blue hatte natürlich bemerkt, dass er entdeckt worden war und zog sich wieder in den Schatten zurück. Er wollte eben in seine Kammer zurückhuschen, als er beinahe gegen Nocturn gestoßen wäre.
„Sachte, sachte, Blue…“ Blue nahm sofort etwas überrumpelt Abstand zu Nocturn, welcher immer noch recht verschlafen aussah. Genau wie Youma es schon so oft getan hatte, fluchte Blue nun auch darüber, dass Nocturn keine Aura hatte, ansonsten hätte er nicht so leicht überrascht werden können.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Das weiß ich nicht, Nocturn-sama…“
„War jemand in dem Raum, in welchem ich geschlafen habe?“ Was war denn das für eine komische Frage?
„Auch das kann ich nicht beantworten, da ich selbst erst vor Kurzem erwacht bin.“ Nocturn sah recht unzufrieden aus, aber er ließ es nicht an Blue aus. Er ging an ihm vorbei und tauchte oberhalb der Treppe auf, wo er sich keine Zeit nahm Lacrimosa zu begrüßen oder einen der anderen Dämonen. Er achtete auch nicht auf die vielen Kinder, die auf Youmas Schoß und auf seinen Schultern oder um ihn herumsaßen, als sähe er sie überhaupt nicht.
„Kronprinz!“ Blue, der Nocturn gefolgt war, verwirrte Nocturns Tonfall – er klang wirklich überaus missvergnügt, einen Tonfall, den man selten von ihm hörte. Er nervte andere, aber er selbst war nie genervt. Dasselbe schien Youma auch zu denken, denn er sah verwirrt nach oben.
„Ich will nach Paris. Jetzt. Also beende, was auch immer du da gerade tust. Lacrimosa, wo ist Feullé? Sie soll sich fertig machen. Wenn ich noch eine Minute länger hierbleibe, werde ich wahnsinnig.“ Aus dem Mund eines anderen Dämons wäre das wohl reine Rhetorik, bei Nocturn wusste Blue nicht, ob das nicht eine Warnung war.
„Du kannst jetzt nicht nach Paris“, antwortete Youma sachlich, die Kinder auf den Boden setzend.
„Wenn du glaubst, dass ich darauf Rücksicht nehme, dass du gerade Gefallen daran hast, den Kindergärtner zu spielen, dann irrst du dich. Ich habe auch kein Interesse an irgendwelchen Besprechungen. Ich. Will. Nach. Paris.“ Aus Blue komplett unerklärlichen Gründen nestelte Nocturn an seinen Ärmeln… oder Händen… das war Blue nicht ganz klar. Als müsste er seine nicht vorhandenen Handschuhe kontrollieren. Es ging etwas überaus… Unruhiges von ihm aus und Blue war froh, dass Lacrimosa die Treppe emporging. Aber Nocturn sah sie nicht. Er redete weiter.
„Ich brauche ein Bad. Ich brauche frische Kleidung, aber vor allen Dingen brauche ich ein Bad.“
„Nocturn-kun, du kannst hier baden.“ Lacrimosa hatte ihre Hand nach ihm ausgestreckt, aber er schlug sie weg, scheinbar ohne es zu bemerken.
„Oh nein, oh nein, das kann ich nicht. Ich muss nach Paris!“ Seine zunächst sachlich klingenden Worte wurden zu einem schrillen Schrei und er hätte sich wohl auch teleportiert, hätte Youma nicht in zwei Sprüngen vier Treppenstufen auf einmal genommen, um seinen Oberarm zu packen.
„Du kannst nicht nach Paris, Nocturn.“ Mit kleinen Augen starrte Nocturn die Hand an, die seinen Arm gepackt hatte, aber er tat nichts. Er war gänzlich erstarrt. Blue war sich nicht sicher, ob er sich das getraut hätte… Nocturn hatte zwar keine Aura, die seine Magie spürbar machte, aber… er hatte eine andere Art Aura in diesem Moment. Eine, in der Gefahr lauerte. Neferteri hatte nicht ohne Grund ihre Kinder wieder zu sich geholt, die sich alle um ihre Mutter versammelt hatten und Nocturn mit bangen Augen ansahen.
„Es ist im Moment nicht möglich“, fuhr Youma fort, aber Nocturn sah ihn immer noch nicht an.
„Du kannst dich nirgendwo in die Menschenwelt teleportieren. Nicht jetzt.“
„Ich… ich kann nicht nach Hause…?“
Youmas Blick und sein Griff lockerten sich im gleichen Moment, als er diese verzagte Stimme Nocturns hörte, die ihn genauso traf wie das Weinen der Kinder. Sie klang tatsächlich… wie die eines Kindes. Nein, es war nicht nur sein Tonfall, der Youma traf. Es war das Wort. Zuhause.
Hatte jemand anderes diese Worte gehört? Youma war sich selbst nicht einmal sicher, ob er sie gehört hatte oder ob es nur eine Einbildung gewesen war. Diese zerbrochene Stimme konnte doch unmöglich Nocturn gehören…
„Nein, Nocturn-kun, jetzt geht das nicht.“ Lacrimosa ging auf Nocturn zu, der mit hochgezogenen Schultern in die Schatten der Galerie zurückwich, sobald Youma ihn gehen gelassen hatte.
„Die Hikari haben irgendetwas mit der Luft in der Menschenwelt gemacht“, begann Lacrimosa zu erklären, aber Youma war sich nicht sicher, ob Nocturn ihr wirklich zuhörte – und er war sich nicht so sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, ihn loszulassen.
„Wir können dort nicht atmen ohne Lichtmagie einzuatmen, welche uns tötet. Wenn du dich nach Paris teleportierst, dann wirst du dort den Tod finden.“
„Das ist mir egal. Das ist mir ein willkommener Tod.“ Warum auch immer, aber Youma war erleichtert dies zu hören. Das klang wenigstens wie etwas, was Nocturn sagen würde, mit der Stimme, die Nocturn wirklich gehörte und nicht… wie das gerade eben.
„Sei nicht albern, Nocturn-kun. Du willst ja wohl nicht an deinem eigenen Blut ersticken.“ Nocturn schlug mit der zusammengeballten Faust gegen die Eissäule neben ihm und nicht nur Blue zuckte zusammen, sondern auch Lacrimosa wurde bleich, als sie sah, dass sich ein Riss in der Säule auftat.
„Nocturn-kun, könntest du bitte mein Schloss…“ Doch Lacrimosas Stimme ging unter in Nocturns verzweifelten, wütenden – aber auch sehr entschlossenen Worten:
„Lieber sterbe ich elendig in Paris, als hier zu bleiben!“
„Das wirst du nicht!“ Youma schritt vor und erwiderte Nocturns entschlossenen Blick:
„Ich habe dich nicht wiederbelebt, damit du für unter solchen Umständen stirbst für Nichts!“ Unerschrocken – und etwas wagemutig, wie Blue fand – bohrte sich sein Zeigefinger in Nocturns Brust, genau wie seine Augen entschlossen in Nocturns sahen.
„Du wirst hierbleiben und darauf warten, dass ich zurückkehre. Ein wenig Geduld fordere ich von dir! Und danach brauche ich dich!“ Youma rückte noch ein Stück vor, so dass die beiden kaum noch eine Hand voneinander trennte:
„Also reiß dich zusammen!“ Sichtlich verwirrt sah Nocturn ihn an, aber ehe er etwas erwidern konnte, hatte sich Youma auch schon mit wehenden Haaren abgewandt und Nocturn schlug Youmas Finger gänzlich umsonst weg, denn er hatte sich schon längst von ihm gelöst.
„Lacrimosa-san, ich würde gerne einen Reisemantel von Ihnen borgen. Wäre das möglich?“
„Natürlich, aber wo willst du hin?“ Dieselbe Frage hätte auch Blue ihm stellen können, aber Youma antwortete keinem von ihnen. Auch Nocturn gab er keine Erklärung, der seinem Partner hinterher sah, wie dieser die Treppe herunterschritt.
„Ich werde dafür sorgen, dass wir alle nach Hause können.“