Kapitel 114 - Die ohne Wege
Youma war beflügelt von neugewonnener Entschlossenheit, die ihn auch zielsicher zurück in das Gebiet Lacrimosas brachte; Green war gebrochen und schlich sich durch Geheimgänge zurück in ihr Gemach, welches glücklicherweise leer war, bis auf einen Teller Nudeln, für die sich Green nicht weniger interessieren könnte... sie legte sich ins Bett und stellte sich schlafend, als Saiyon herein kam um ein Gespräch mit ihm zu umgehen.
Das würde Inceres ebenfalls gerne, aber - Inceres saß vor seiner Mutter.
Sie tranken einen Tee der Gemütlichkeit und der Tradition wegen, nicht weil sie die warme Flüssigkeit noch genießen konnten oder besonderen Genuss an den Kräutern hatten, die sie ohnehin nicht mehr schmecken konnten. Es war skurril, doch die gesamte Szene war skurril. Sie saßen jeweils auf einem hohen Stuhl mit schmaler Lehne und schmalen Gelenken, hoch über dem weißen Boden unter ihnen, so dass ihre kurzen Kinderbeine in der Luft hingen und die Ketten Inceres‘ ebenfalls frei herunterbaumelten und etwas klirrten, wenn er sich bewegte. Der Boden war weiß. Der Tisch war weiß. Die Stühle ebenfalls. Sie saßen auf einem enorm hohen Podest, dessen Ende sich in der weißen Leere verlor und der sich von gigantischen Säulen abhob, die diese eigenartige Szene einrahmten. Jedes Element dieser Szene war von gigantischer Größe und Höhe: das Podest, die Säulen, die Stühle und der Tisch - so dass Mutter und Sohn beide beinahe verlorengingen, wenn da nicht ihre deutlichen Schatten wären, die über die weißen Säulen tanzten. Die Schatten stammten von Mutter und Sohn, doch schienen sie nicht ihre Konturen zu zeigen, sondern andere… Der Schatten des Sohnes war größer und sah nicht aus wie der Schatten eines Kindes, sondern wie der eines Mannes, während der Schatten der Mutter…
Inceres wandte sich ab. Sah in seine Tasse. Es erschien ihm unhöflich, seine Mutter anzustarren.
„Die Weihe war ein Erfolg.“ Hikaru rührte mit einem zierlichen, goldenen Löffel in ihrem Tee herum. Sie sprach weiter und kommentierte nicht, dass Inceres sie anstarrte.
„Light ist zur Vernunft gekommen.“ Wieder musste Inceres den Blick heben, denn es war nicht nur der Schatten seiner Mutter, der dazu einlud, angestarrt zu werden, sondern… auch ihre rechte Hand. Beziehungsweise das Fehlen dieser. Hikaru saß vor Inceres mit nur einer Hand und er wusste absolut nicht, wie das sein konnte – und auch nicht, ob er danach fragen durfte.
„Er hat eingelenkt und sich dem Allgemeinwohl der Wächter verschrieben. Er wird nun in Zukunft an unserer Seite kämpfen.“ Wieder huschten Inceres‘ blaue Augen zu Hikarus rechtem Arm. Er war kein Experte in kämpferischen Handlungen – fern davon – aber der Schnitt erschien ihm von einem Schwert gekommen zu sein – was sonst konnte auch eine Hand vom Körper trennen – und auch wenn kein Blut herausfloss und es seiner Mutter sicherlich auch nicht weh getan hatte, dass ihre Hand vom Körper getrennt worden war… es war nicht gerade ein friedlicher Akt.
„Das ist eine erfreuliche Nachricht.“ Inceres lächelte.
„Besonders für Euch, Mutter.“ Sie lächelte zurück.
„Aber die Einigung scheint mir… erst nach einer Auseinandersetzung geglückt zu sein…?“, tastete Inceres sich langsam vor und konnte es nicht verhindern, dass seine Augen nach rechts huschten, zur fehlenden Hand. Aber dennoch lächelte Hikaru weiter – nein, ihr Lächeln schien sogar ein wenig breiter zu werden.
„Ach das.“ Sie sah zu ihrem Armstumpf, als hätte sie es vergessen.
„Unter Geschwistern kommt es manchmal zum Streit… auch zwischen mir und Light.“ Inceres antwortete nicht.
„Es hat mich dennoch sehr überrascht und das war sicherlich auch seine Absicht. Als wir uns beide nach dem Glöckchen ausstreckten, zückte er sein Schwert und attackierte mich.“ Das erschien Inceres definitiv alles andere als friedlich.
„Sein Licht stellt selbstverständlich keine Gefahr für mich da, aber sein Schwert konnte schneiden. Verletzen tat es mich nicht, aber er nutzte das Überraschungsmoment gekonnt.“ Inceres wollte gerade antworten, als er sofort schwieg, denn das Lächeln, welches sich plötzlich auf Hikarus Gesicht ausbreitete, ließ ihn erstarren und ihm wurde angst und bange.
„Es hat mir sehr gefallen.“ Inceres schluckte. Er traute sich nicht etwas zu sagen. Nicht solange da dieses Lächeln war.
„Es war viel spaßiger und schöner ihn in dieser Generation wiederzusehen als jemals zuvor. Endlich…“ Sie machte eine hastige Bewegung mit dem rechten Arm und die Hand bildete sich wieder, Finger für Finger.
„… ist mein liebster Bruder wiedererwacht.“ Inceres traute sich immer noch nicht etwas zu sagen. Er saß ganz steif auf seinem Stuhl, mit den Händen unter dem Tisch, auf seinen Knien versteift. Erst als Hikaru wieder anfing, in ihrem Tee herumzurühren, entspannte er sich ein wenig, denn der Schatten, der ihr Gesicht verdunkelt und ihr Lächeln erfüllt hatte, war wieder verschwunden.
„Es ist lustig, dabei hätte er einfach nur nach dem Glöckchen fragen müssen und ich hätte es ihm überlassen. Aber gut, der Fehler ist auch bei mir zu suchen, ich habe einen Streit angezettelt… Ihn Gewalt anwenden zu sehen war…“ Sie rührte schneller um und beendete ihren Satz nicht.
„Das Ergebnis ist dasselbe. Das Licht meines Bruders ist nun ebenfalls in dem Mädchen, womit das Licht nun in ihr vereint ist.“ Mit einer eleganten Handbewegung führte Hikaru den Tee zu ihren Lippen und trank von ihm. Inceres konnte sich diesem abstrusen Spiel nicht anschließen, aber nicht, weil es unsinnig war, sondern… weil er einfach nicht so tun konnte, als sei das hier gemütlich oder irgendwie entspannt.
„Das Licht ist wieder vereint, mein Sohn.“ Hikaru stellte die Tasse zurück auf den Unterteller, welchen sie in der Hand behielt, ihren Sohn anlächelnd, der sich nicht von ihrem Lächeln abwenden konnte, denn es lag… nein, da musste er sich irren, aber… war das Stolz? Lächelte sie ihn stolz an?
„Und das ist dir zu verdanken. Dir und deinem unermüdlichen Einsatz über all die Äonen hinweg. Nun hat das Warten ein Ende. Die Ewigkeit hat ein Ende und eine neue wird beginnen. Ich bin stolz sagen zu können, dass dies nur möglich ist dank meinem Sohn.“ Inceres war so von den Gefühlen überrumpelt, dass er sich nicht einmal bedanken konnte. Am Rand der Tränen starrte er seine Mutter einfach nur fassungslos an, bis er irgendwelche Worte von „Es war ihm eine Ehre“ gestammelt bekam.
„Du bist ein gutes Kind.“ Nicht im Stande dazu, diese Worte wirklich aufzunehmen, starrte Inceres mit roten Wangen auf die Tischplatte, völlig überrumpelt.
„Dabei… dabei…“ Er schluckte, sah seine lächelnde Mutter wieder an, sah wieder weg.
„… Wisst Ihr doch, Mutter, von meinem großen… großen Fehler…“
„Ja, Ecui und Acui haben es mir berichtet.“ Inceres‘ Finger krallten sich in seinen weißen Stoff.
„Grolle Ihnen nicht, Inceres. Sie tun nur ihre Pflicht und sie waren auch um dich sehr besorgt. Sie mussten es mir berichten, anstatt es zu verschweigen, ganz gleich wie groß der Fehler war.“
„Vergebt mir…“ Die Teetasse klirrte, als Hikaru sie auf den Tisch stellte.
„Es gibt nichts zu vergeben. Du hast es vermocht, deinen Fehler zum Positiven zu wenden, weshalb wir nicht mehr darüber sprechen werden.“ Inceres wollte gerade ausatmen, als seine Mutter jedoch dafür sorgte, dass sein Herz einen Schlag aussetzte.
„Sie haben mir allerdings auch etwas anderes berichtet…“ Er traute sich nicht sie anzusehen. Er erlaubte sich nicht, sich überhaupt irgendwie zu bewegen. Seine Mutter hatte ihm eine Missetat vergeben. Sie würde ihm keine zweite vergeben, das hörte er aus ihrem drohenden, kalten Tonfall heraus.
„… etwas… was mich doch sehr überrascht hat, mein Sohn.“ Wenn sie in diesem Tonfall „mein Sohn“ sagte, dann vergaß Inceres sofort, dass sie vor ein paar Minuten noch gesagt hatte, dass sie stolz auf ihn war. Dann war da nur diese Kälte und die Schande über das, was er getan hatte, was sie enttäuscht hatte. Ja, enttäuscht. Er konnte es hören, auch wenn sie es nicht sagte. Seine Mutter war enttäuscht und erzürnt.
„Sieh mich an“, zischte sie und Inceres hob sofort mechanisch den Kopf, doch seine Augen zögerten, huschten in andere Richtungen, hinaus in das weiße Nichts, dann wieder zu den hohen Säulen… aber er spürte, dass Hikaru die Geduld mit ihm verlor und er folgte ihrem Befehl.
„Du hast großen Einsatz darin investiert, die Weihe zu verhindern. Ich frage mich wieso.“ Jede einzelne Silbe war eine Bedrohung, jede Silbe war ein schneidendes Schwert, welches sich gegen Inceres und sein Herz richtete. Er konnte und wollte ihrem Blick nicht mehr standhalten, aber er traute sich auch nicht, etwas anderes zu tun. Es war so schrecklich! Er wollte vor ihr auf dem Boden liegen und um Vergebung flehen!
„Sag es mir und lüge nicht, Inceres. Du weißt, ich schätze das nicht.“ Es gab keinen Ausweg. Er konnte nicht fliehen und kein Betteln würde ihn retten.
„I-Ich…“ Ihre Augen verengten sich streng: Sie mochte es nicht, wenn er stammelte.
„… war noch nicht bereit.“ Das war nur ein Teil der Wahrheit, aber mit einem Teil der Wahrheit begnügte sich Hikaru auch nicht.
„Ich bin noch nicht bereit, Green gehen zu lassen, Mutter. Ich glaube auch nicht, dass Green bereit ist, ihre Pflicht zu erfüllen…“ Jetzt sagte er einfach nur irgendetwas, nur um den Kern der Wahrheit zu beschützen und das durchschaute Hikaru ebenfalls.
„Ob sie bereit ist oder nicht spielt keine Rolle.“
„Aber für mich tut es das! Mutter, ich… ich mag sie!“ Das hatte er nicht sagen wollen und das hätte er auch nicht so direkt zugeben sollen, denn Gefühle waren kein Argument, mit welchem er seine Mutter überzeugen konnte. Sie sah ihn auch immer noch streng an, musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, aber er fuhr nicht fort. Er hatte bereits genug gesagt. Genug wofür er sich schämte… Zu guter Letzt erlöste ihn ein leichtes Seufzen.
„Du kommst in der Tat nach Light.“ Es war Unsinn, weil Light keinen Anteil hatte an Inceres Schaffung, aber diese Worte zu hören klangen dennoch in Inceres‘ Ohren wie ein Kompliment, auch wenn seine Mutter eher genervt klang.
„Es ist Unfug, Inceres, und dass du deshalb die Ausrottung der Elementlosen hinausgezögert hast, ist überaus kindisch von dir. Aber es ist wohl verständlich in Anbetracht der vielen Äonen, in denen du beinahe kontaktlos hier existiert und gewartet hast… Es bleibt jedoch ein Ärgernis.“ Erleichtert darüber, dass Hikaru ein wenig Verständnis gezeigt hatte – wenn auch nur ein wenig – fasste Inceres neuen Mut und wie um sich seiner Mutter nun erneut zu beweisen, lenkte er das Thema zurück, weg von Green:
„Ich gelobe, dass es keinerlei weitere Verzögerungen geben wird, Mutter, die Euch erzürnen könnten.“ Er straffte sich ein wenig, wie um älter zu wirken, und fuhr fort.
„So wie ich Eure Nachkommen durch Observation kennengelernt habe, denke ich, dass diese Green in die Welt der Dämonen schicken werden, um dort ihr Licht zu testen und sicherlich auch schrittweise mit der Ausrottung zu beginnen. Da dies jedoch Eurem Ziel nicht dienlich ist, denke ich, dass es ratsam wäre, wenn ich eine solche Unternehmung verhindere. Ich werde, wenn Ihr einverstanden seid, Mutter, Green mit hierher nehmen und sie isolieren…“
„Nein.“ Inceres Lächeln wurde steif, bis es gänzlich verfiel.
„Es ist unsinnig, wenn du noch weiterhin Zeit mit ihr verbringst. Sie scheint deinem Geist nicht gutzutun.“
„Aber…“ Inceres sollte mit Logik argumentieren. Nur Logik konnte Hikaru überzeugen.
„… sollte Green nicht beschützt werden? Sie soll doch nicht kaputtgehen, ehe der Tag des Lichts gekommen ist.“ Hikaru lachte bitter.
„Das Mädchen hat die Heilkraft meines Bruders und meine Angriffskraft. Wenn sie es unter diesen Umständen schafft, kaputtzugehen, dann muss sie überaus einfältig sein.“ Hikaru schüttelte den Kopf, etwas amüsiert:
„Nein, meine Nachkommen sollen sie hinschicken, wo sie wollen. Die Wächter haben sich so viele Äonen vor den Dämonen fürchten müssen… es ist Zeit, dass sie das Fürchten lernen.“ Inceres versuchte, sich nicht von ihrem Lächeln verunsichern zu lassen und rückte etwas nach vorne auf seinem Stuhl.
„Aber Mutter, der Tag des Lichts… ich dachte, er solle bald stattfinden?“
„Bald, ja. Sobald du deine letzte Pflicht erfüllt hast, dessen Ausführung nun besonders interessant wird…“ Inceres Augen weiteten sich. Er wusste genau, welcher Teil noch fehlte, aber er verstand nicht, warum… das noch wichtig war.
„Du besitzt Lights Glöckchen noch nicht.“
„Aber wozu brauche ich denn das noch, wenn Euer beider Licht sich in Green vereint hat?“
„Es ist nicht komplett ohne Lights Glöckchen.“
„Aber es genügt bereits vollkommen…“ Hikaru unterbrach ihn mit einer Hand, die sie auf den Tisch schlug und einer so großen Wut, dass Inceres ganz klein wurde:
„Lights heiliges Glöckchen darf nicht länger um den Hals dieses widerlichen Gunsterschleichers hängen!“ Die Tassen hatten geklirrt und danach war es ruhig geworden. Inceres hätte es nicht gewagt, auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben unter Hikarus wütendem Blick, der ihn – oder direkt Youma – zu durchbohren schien.
„Du wirst diesem scharmlosen Mischling das Glöckchen entreißen und du wirst ihn töten.“ Er nickte sofort.
„Es ist deine Pflicht, es war schon immer deine Pflicht.“ Sie versuchte zu lächeln, aber die enorme Wut in ihr verzerrte das Lächeln.
„Erinnerst du dich, mein Kind?“ Wieder nickte Inceres sofort. Natürlich erinnerte er sich.
„Diese Aufgabe ist dir schon zuteil geworden, als du noch lebtest und weißt du noch, was du mir geschworen hast?“ Er nickte noch einmal, doch das war Hikaru dieses Mal nicht genug. Ihre Augen forderten, dass er es aussprach.
„Ich habe Euch geschworen, dass ich jeden Eurer Wünsche erfüllen werde und dass ich dafür auch töten würde.“
„Ou, Inceres, das hast du aber süß gesagt.“
„Ich meine es wirklich, Mutter. Für Euch würde ich alles tun.“
„Das erfreut deine Mutter sehr, aber ich denke, ein Kind wie du begreift gar nicht, was du da sagst.“
„Doch das tue ich, Mutter. Ich würde sogar meine Geschwister töten, wenn das eine Freude für Euch wäre.“
„Na na, so etwas möchte ich aber nicht hören. Sei nicht eifersüchtig auf sie, nur weil sie in der Sonne spielen dürfen, mein Junge…“
Sie hatte ihn so lange angesehen. Er hatte ein wenig Angst bekommen.
„Würdest du auch Youma für mich töten?“
Er hatte ihn ja damals gar nicht gekannt. Da war es ihm gar nicht schwergefallen, „ja“ zu sagen.
Hikaru richtete sich auf und sah auf Inceres herunter, dem absolut elendig zumute war.
„Dann tue es.“
Inceres wollte nicht darüber nachdenken, dass er keine Wahl hatte. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, wie er es tun sollte. Ironischerweise war er mit den Gedanken bei genau dem, den er töten sollte – bei Youma. Inceres war im Begriff, das gigantische Podest zu verlassen, aber anders als seine Mutter löste er sich nicht auf. Wie auch… er war ja im Jenseits und er war hier angekettet. Er ging hinunter. Auf magischen Treppenstufen, die er sich schuf und die unter seinen Füßen aufleuchteten. Sie schlängelten sich um das Podest herum wie eine kleine, schmale Wendeltreppe, die ihn immer weiter hinunterführte… aber das „Nichts“ war nun nicht mehr weiß, sondern dunkelblau. Er erschuf hier immerhin alles… er konnte bestimmen, welche Farbe dieses oder jenes hatte… und er mochte blau lieber. Er mochte jede Nuance von „blau“. Den Himmel am Morgen. Den Himmel in der Nacht. Das Blau des Wassers, das Blau von Tränen. Das Blau ihrer gemeinsamen Augen.
Das Podest löste sich hinter ihm auf, umso tiefer er kam und ein leuchtender Funkenregen begleitete den armen, einsamen Sohn, auf dessen Schultern eine so große Last lag. Seine Hand lag auf der weißen Oberfläche des Turms, als benötigte er Halt, obwohl er sich genauso gut hinunterwerfen konnte.
Er wusste, dass er darüber nachdenken sollte, was er als nächstes tun würde, aber stattdessen… schloss er die Augen und betrachtete die Wege Youmas. Eine folgenschwere Entscheidung lag hinter ihm und Inceres glaubte für einen Moment, dass er sich geirrt hatte – konnte es denn wirklich wahr sein? Youma hatte seine größte Hürde überwunden und den Weg des Dämons eingeschlagen, obwohl alles in ihm sich doch immer zu dem Weg des Wächters hingezogen gefühlt hatte? Youma hatte tatsächlich gewählt? Unglaublich.
Aber Inceres dachte dies nicht mit Ironie… sondern tatsächlich mit ein wenig Neid. Er hatte gewählt… um sich Hikaru entgegenzustellen. Das hätte er ihr sagen können oder sagen sollen. Aber das hätte sie wohl nicht interessiert und an sich auch nichts an irgendetwas geändert. Sie hätte wohl nur gelacht.
Youmas nächste Wege waren nicht zu sehen. Noch nicht. Die Wege seiner Mutter standen fest… sie waren aus Stein. Es gab keine Entscheidungen mehr, die sie fällen musste. Keinerlei Verunsicherung… und Green…
Inceres blieb stehen und musste ein wenig schmunzeln. Sie hatte so viele Wege… so viele kleine Entscheidungen, die sie fällen musste… ein Leben zu führen… am Morgen musste sie sich entscheiden, ob sie nochmal versuchte, mit Silence zu sprechen oder ob sie Inceres besuchen würde… oh, und sie musste sich entscheiden, ob sie mit Saiyon über Blue sprach oder nicht.
So viele Dinge… Green hatte so viele Gefühle in sich… die ihre Wege beeinflussten und ihre Entscheidungen… aber bald würde es enden. Dann konnte sie sich nicht mehr entscheiden und Inceres würde auch keine Wege mehr sehen.
Denn dann würden alle Wege Greens enden.
Genau wie Inceres‘ Wege schon längst geendet hatten.
Es war logisch, dass er seine eigenen nicht sah. Denn es gab keine für ihn… seine Wege waren die seiner Mutter.
Und bald würden auch Greens die seiner Mutter sein.
Das würde Inceres ebenfalls gerne, aber - Inceres saß vor seiner Mutter.
Sie tranken einen Tee der Gemütlichkeit und der Tradition wegen, nicht weil sie die warme Flüssigkeit noch genießen konnten oder besonderen Genuss an den Kräutern hatten, die sie ohnehin nicht mehr schmecken konnten. Es war skurril, doch die gesamte Szene war skurril. Sie saßen jeweils auf einem hohen Stuhl mit schmaler Lehne und schmalen Gelenken, hoch über dem weißen Boden unter ihnen, so dass ihre kurzen Kinderbeine in der Luft hingen und die Ketten Inceres‘ ebenfalls frei herunterbaumelten und etwas klirrten, wenn er sich bewegte. Der Boden war weiß. Der Tisch war weiß. Die Stühle ebenfalls. Sie saßen auf einem enorm hohen Podest, dessen Ende sich in der weißen Leere verlor und der sich von gigantischen Säulen abhob, die diese eigenartige Szene einrahmten. Jedes Element dieser Szene war von gigantischer Größe und Höhe: das Podest, die Säulen, die Stühle und der Tisch - so dass Mutter und Sohn beide beinahe verlorengingen, wenn da nicht ihre deutlichen Schatten wären, die über die weißen Säulen tanzten. Die Schatten stammten von Mutter und Sohn, doch schienen sie nicht ihre Konturen zu zeigen, sondern andere… Der Schatten des Sohnes war größer und sah nicht aus wie der Schatten eines Kindes, sondern wie der eines Mannes, während der Schatten der Mutter…
Inceres wandte sich ab. Sah in seine Tasse. Es erschien ihm unhöflich, seine Mutter anzustarren.
„Die Weihe war ein Erfolg.“ Hikaru rührte mit einem zierlichen, goldenen Löffel in ihrem Tee herum. Sie sprach weiter und kommentierte nicht, dass Inceres sie anstarrte.
„Light ist zur Vernunft gekommen.“ Wieder musste Inceres den Blick heben, denn es war nicht nur der Schatten seiner Mutter, der dazu einlud, angestarrt zu werden, sondern… auch ihre rechte Hand. Beziehungsweise das Fehlen dieser. Hikaru saß vor Inceres mit nur einer Hand und er wusste absolut nicht, wie das sein konnte – und auch nicht, ob er danach fragen durfte.
„Er hat eingelenkt und sich dem Allgemeinwohl der Wächter verschrieben. Er wird nun in Zukunft an unserer Seite kämpfen.“ Wieder huschten Inceres‘ blaue Augen zu Hikarus rechtem Arm. Er war kein Experte in kämpferischen Handlungen – fern davon – aber der Schnitt erschien ihm von einem Schwert gekommen zu sein – was sonst konnte auch eine Hand vom Körper trennen – und auch wenn kein Blut herausfloss und es seiner Mutter sicherlich auch nicht weh getan hatte, dass ihre Hand vom Körper getrennt worden war… es war nicht gerade ein friedlicher Akt.
„Das ist eine erfreuliche Nachricht.“ Inceres lächelte.
„Besonders für Euch, Mutter.“ Sie lächelte zurück.
„Aber die Einigung scheint mir… erst nach einer Auseinandersetzung geglückt zu sein…?“, tastete Inceres sich langsam vor und konnte es nicht verhindern, dass seine Augen nach rechts huschten, zur fehlenden Hand. Aber dennoch lächelte Hikaru weiter – nein, ihr Lächeln schien sogar ein wenig breiter zu werden.
„Ach das.“ Sie sah zu ihrem Armstumpf, als hätte sie es vergessen.
„Unter Geschwistern kommt es manchmal zum Streit… auch zwischen mir und Light.“ Inceres antwortete nicht.
„Es hat mich dennoch sehr überrascht und das war sicherlich auch seine Absicht. Als wir uns beide nach dem Glöckchen ausstreckten, zückte er sein Schwert und attackierte mich.“ Das erschien Inceres definitiv alles andere als friedlich.
„Sein Licht stellt selbstverständlich keine Gefahr für mich da, aber sein Schwert konnte schneiden. Verletzen tat es mich nicht, aber er nutzte das Überraschungsmoment gekonnt.“ Inceres wollte gerade antworten, als er sofort schwieg, denn das Lächeln, welches sich plötzlich auf Hikarus Gesicht ausbreitete, ließ ihn erstarren und ihm wurde angst und bange.
„Es hat mir sehr gefallen.“ Inceres schluckte. Er traute sich nicht etwas zu sagen. Nicht solange da dieses Lächeln war.
„Es war viel spaßiger und schöner ihn in dieser Generation wiederzusehen als jemals zuvor. Endlich…“ Sie machte eine hastige Bewegung mit dem rechten Arm und die Hand bildete sich wieder, Finger für Finger.
„… ist mein liebster Bruder wiedererwacht.“ Inceres traute sich immer noch nicht etwas zu sagen. Er saß ganz steif auf seinem Stuhl, mit den Händen unter dem Tisch, auf seinen Knien versteift. Erst als Hikaru wieder anfing, in ihrem Tee herumzurühren, entspannte er sich ein wenig, denn der Schatten, der ihr Gesicht verdunkelt und ihr Lächeln erfüllt hatte, war wieder verschwunden.
„Es ist lustig, dabei hätte er einfach nur nach dem Glöckchen fragen müssen und ich hätte es ihm überlassen. Aber gut, der Fehler ist auch bei mir zu suchen, ich habe einen Streit angezettelt… Ihn Gewalt anwenden zu sehen war…“ Sie rührte schneller um und beendete ihren Satz nicht.
„Das Ergebnis ist dasselbe. Das Licht meines Bruders ist nun ebenfalls in dem Mädchen, womit das Licht nun in ihr vereint ist.“ Mit einer eleganten Handbewegung führte Hikaru den Tee zu ihren Lippen und trank von ihm. Inceres konnte sich diesem abstrusen Spiel nicht anschließen, aber nicht, weil es unsinnig war, sondern… weil er einfach nicht so tun konnte, als sei das hier gemütlich oder irgendwie entspannt.
„Das Licht ist wieder vereint, mein Sohn.“ Hikaru stellte die Tasse zurück auf den Unterteller, welchen sie in der Hand behielt, ihren Sohn anlächelnd, der sich nicht von ihrem Lächeln abwenden konnte, denn es lag… nein, da musste er sich irren, aber… war das Stolz? Lächelte sie ihn stolz an?
„Und das ist dir zu verdanken. Dir und deinem unermüdlichen Einsatz über all die Äonen hinweg. Nun hat das Warten ein Ende. Die Ewigkeit hat ein Ende und eine neue wird beginnen. Ich bin stolz sagen zu können, dass dies nur möglich ist dank meinem Sohn.“ Inceres war so von den Gefühlen überrumpelt, dass er sich nicht einmal bedanken konnte. Am Rand der Tränen starrte er seine Mutter einfach nur fassungslos an, bis er irgendwelche Worte von „Es war ihm eine Ehre“ gestammelt bekam.
„Du bist ein gutes Kind.“ Nicht im Stande dazu, diese Worte wirklich aufzunehmen, starrte Inceres mit roten Wangen auf die Tischplatte, völlig überrumpelt.
„Dabei… dabei…“ Er schluckte, sah seine lächelnde Mutter wieder an, sah wieder weg.
„… Wisst Ihr doch, Mutter, von meinem großen… großen Fehler…“
„Ja, Ecui und Acui haben es mir berichtet.“ Inceres‘ Finger krallten sich in seinen weißen Stoff.
„Grolle Ihnen nicht, Inceres. Sie tun nur ihre Pflicht und sie waren auch um dich sehr besorgt. Sie mussten es mir berichten, anstatt es zu verschweigen, ganz gleich wie groß der Fehler war.“
„Vergebt mir…“ Die Teetasse klirrte, als Hikaru sie auf den Tisch stellte.
„Es gibt nichts zu vergeben. Du hast es vermocht, deinen Fehler zum Positiven zu wenden, weshalb wir nicht mehr darüber sprechen werden.“ Inceres wollte gerade ausatmen, als seine Mutter jedoch dafür sorgte, dass sein Herz einen Schlag aussetzte.
„Sie haben mir allerdings auch etwas anderes berichtet…“ Er traute sich nicht sie anzusehen. Er erlaubte sich nicht, sich überhaupt irgendwie zu bewegen. Seine Mutter hatte ihm eine Missetat vergeben. Sie würde ihm keine zweite vergeben, das hörte er aus ihrem drohenden, kalten Tonfall heraus.
„… etwas… was mich doch sehr überrascht hat, mein Sohn.“ Wenn sie in diesem Tonfall „mein Sohn“ sagte, dann vergaß Inceres sofort, dass sie vor ein paar Minuten noch gesagt hatte, dass sie stolz auf ihn war. Dann war da nur diese Kälte und die Schande über das, was er getan hatte, was sie enttäuscht hatte. Ja, enttäuscht. Er konnte es hören, auch wenn sie es nicht sagte. Seine Mutter war enttäuscht und erzürnt.
„Sieh mich an“, zischte sie und Inceres hob sofort mechanisch den Kopf, doch seine Augen zögerten, huschten in andere Richtungen, hinaus in das weiße Nichts, dann wieder zu den hohen Säulen… aber er spürte, dass Hikaru die Geduld mit ihm verlor und er folgte ihrem Befehl.
„Du hast großen Einsatz darin investiert, die Weihe zu verhindern. Ich frage mich wieso.“ Jede einzelne Silbe war eine Bedrohung, jede Silbe war ein schneidendes Schwert, welches sich gegen Inceres und sein Herz richtete. Er konnte und wollte ihrem Blick nicht mehr standhalten, aber er traute sich auch nicht, etwas anderes zu tun. Es war so schrecklich! Er wollte vor ihr auf dem Boden liegen und um Vergebung flehen!
„Sag es mir und lüge nicht, Inceres. Du weißt, ich schätze das nicht.“ Es gab keinen Ausweg. Er konnte nicht fliehen und kein Betteln würde ihn retten.
„I-Ich…“ Ihre Augen verengten sich streng: Sie mochte es nicht, wenn er stammelte.
„… war noch nicht bereit.“ Das war nur ein Teil der Wahrheit, aber mit einem Teil der Wahrheit begnügte sich Hikaru auch nicht.
„Ich bin noch nicht bereit, Green gehen zu lassen, Mutter. Ich glaube auch nicht, dass Green bereit ist, ihre Pflicht zu erfüllen…“ Jetzt sagte er einfach nur irgendetwas, nur um den Kern der Wahrheit zu beschützen und das durchschaute Hikaru ebenfalls.
„Ob sie bereit ist oder nicht spielt keine Rolle.“
„Aber für mich tut es das! Mutter, ich… ich mag sie!“ Das hatte er nicht sagen wollen und das hätte er auch nicht so direkt zugeben sollen, denn Gefühle waren kein Argument, mit welchem er seine Mutter überzeugen konnte. Sie sah ihn auch immer noch streng an, musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen, aber er fuhr nicht fort. Er hatte bereits genug gesagt. Genug wofür er sich schämte… Zu guter Letzt erlöste ihn ein leichtes Seufzen.
„Du kommst in der Tat nach Light.“ Es war Unsinn, weil Light keinen Anteil hatte an Inceres Schaffung, aber diese Worte zu hören klangen dennoch in Inceres‘ Ohren wie ein Kompliment, auch wenn seine Mutter eher genervt klang.
„Es ist Unfug, Inceres, und dass du deshalb die Ausrottung der Elementlosen hinausgezögert hast, ist überaus kindisch von dir. Aber es ist wohl verständlich in Anbetracht der vielen Äonen, in denen du beinahe kontaktlos hier existiert und gewartet hast… Es bleibt jedoch ein Ärgernis.“ Erleichtert darüber, dass Hikaru ein wenig Verständnis gezeigt hatte – wenn auch nur ein wenig – fasste Inceres neuen Mut und wie um sich seiner Mutter nun erneut zu beweisen, lenkte er das Thema zurück, weg von Green:
„Ich gelobe, dass es keinerlei weitere Verzögerungen geben wird, Mutter, die Euch erzürnen könnten.“ Er straffte sich ein wenig, wie um älter zu wirken, und fuhr fort.
„So wie ich Eure Nachkommen durch Observation kennengelernt habe, denke ich, dass diese Green in die Welt der Dämonen schicken werden, um dort ihr Licht zu testen und sicherlich auch schrittweise mit der Ausrottung zu beginnen. Da dies jedoch Eurem Ziel nicht dienlich ist, denke ich, dass es ratsam wäre, wenn ich eine solche Unternehmung verhindere. Ich werde, wenn Ihr einverstanden seid, Mutter, Green mit hierher nehmen und sie isolieren…“
„Nein.“ Inceres Lächeln wurde steif, bis es gänzlich verfiel.
„Es ist unsinnig, wenn du noch weiterhin Zeit mit ihr verbringst. Sie scheint deinem Geist nicht gutzutun.“
„Aber…“ Inceres sollte mit Logik argumentieren. Nur Logik konnte Hikaru überzeugen.
„… sollte Green nicht beschützt werden? Sie soll doch nicht kaputtgehen, ehe der Tag des Lichts gekommen ist.“ Hikaru lachte bitter.
„Das Mädchen hat die Heilkraft meines Bruders und meine Angriffskraft. Wenn sie es unter diesen Umständen schafft, kaputtzugehen, dann muss sie überaus einfältig sein.“ Hikaru schüttelte den Kopf, etwas amüsiert:
„Nein, meine Nachkommen sollen sie hinschicken, wo sie wollen. Die Wächter haben sich so viele Äonen vor den Dämonen fürchten müssen… es ist Zeit, dass sie das Fürchten lernen.“ Inceres versuchte, sich nicht von ihrem Lächeln verunsichern zu lassen und rückte etwas nach vorne auf seinem Stuhl.
„Aber Mutter, der Tag des Lichts… ich dachte, er solle bald stattfinden?“
„Bald, ja. Sobald du deine letzte Pflicht erfüllt hast, dessen Ausführung nun besonders interessant wird…“ Inceres Augen weiteten sich. Er wusste genau, welcher Teil noch fehlte, aber er verstand nicht, warum… das noch wichtig war.
„Du besitzt Lights Glöckchen noch nicht.“
„Aber wozu brauche ich denn das noch, wenn Euer beider Licht sich in Green vereint hat?“
„Es ist nicht komplett ohne Lights Glöckchen.“
„Aber es genügt bereits vollkommen…“ Hikaru unterbrach ihn mit einer Hand, die sie auf den Tisch schlug und einer so großen Wut, dass Inceres ganz klein wurde:
„Lights heiliges Glöckchen darf nicht länger um den Hals dieses widerlichen Gunsterschleichers hängen!“ Die Tassen hatten geklirrt und danach war es ruhig geworden. Inceres hätte es nicht gewagt, auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben unter Hikarus wütendem Blick, der ihn – oder direkt Youma – zu durchbohren schien.
„Du wirst diesem scharmlosen Mischling das Glöckchen entreißen und du wirst ihn töten.“ Er nickte sofort.
„Es ist deine Pflicht, es war schon immer deine Pflicht.“ Sie versuchte zu lächeln, aber die enorme Wut in ihr verzerrte das Lächeln.
„Erinnerst du dich, mein Kind?“ Wieder nickte Inceres sofort. Natürlich erinnerte er sich.
„Diese Aufgabe ist dir schon zuteil geworden, als du noch lebtest und weißt du noch, was du mir geschworen hast?“ Er nickte noch einmal, doch das war Hikaru dieses Mal nicht genug. Ihre Augen forderten, dass er es aussprach.
„Ich habe Euch geschworen, dass ich jeden Eurer Wünsche erfüllen werde und dass ich dafür auch töten würde.“
„Ou, Inceres, das hast du aber süß gesagt.“
„Ich meine es wirklich, Mutter. Für Euch würde ich alles tun.“
„Das erfreut deine Mutter sehr, aber ich denke, ein Kind wie du begreift gar nicht, was du da sagst.“
„Doch das tue ich, Mutter. Ich würde sogar meine Geschwister töten, wenn das eine Freude für Euch wäre.“
„Na na, so etwas möchte ich aber nicht hören. Sei nicht eifersüchtig auf sie, nur weil sie in der Sonne spielen dürfen, mein Junge…“
Sie hatte ihn so lange angesehen. Er hatte ein wenig Angst bekommen.
„Würdest du auch Youma für mich töten?“
Er hatte ihn ja damals gar nicht gekannt. Da war es ihm gar nicht schwergefallen, „ja“ zu sagen.
Hikaru richtete sich auf und sah auf Inceres herunter, dem absolut elendig zumute war.
„Dann tue es.“
Inceres wollte nicht darüber nachdenken, dass er keine Wahl hatte. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, wie er es tun sollte. Ironischerweise war er mit den Gedanken bei genau dem, den er töten sollte – bei Youma. Inceres war im Begriff, das gigantische Podest zu verlassen, aber anders als seine Mutter löste er sich nicht auf. Wie auch… er war ja im Jenseits und er war hier angekettet. Er ging hinunter. Auf magischen Treppenstufen, die er sich schuf und die unter seinen Füßen aufleuchteten. Sie schlängelten sich um das Podest herum wie eine kleine, schmale Wendeltreppe, die ihn immer weiter hinunterführte… aber das „Nichts“ war nun nicht mehr weiß, sondern dunkelblau. Er erschuf hier immerhin alles… er konnte bestimmen, welche Farbe dieses oder jenes hatte… und er mochte blau lieber. Er mochte jede Nuance von „blau“. Den Himmel am Morgen. Den Himmel in der Nacht. Das Blau des Wassers, das Blau von Tränen. Das Blau ihrer gemeinsamen Augen.
Das Podest löste sich hinter ihm auf, umso tiefer er kam und ein leuchtender Funkenregen begleitete den armen, einsamen Sohn, auf dessen Schultern eine so große Last lag. Seine Hand lag auf der weißen Oberfläche des Turms, als benötigte er Halt, obwohl er sich genauso gut hinunterwerfen konnte.
Er wusste, dass er darüber nachdenken sollte, was er als nächstes tun würde, aber stattdessen… schloss er die Augen und betrachtete die Wege Youmas. Eine folgenschwere Entscheidung lag hinter ihm und Inceres glaubte für einen Moment, dass er sich geirrt hatte – konnte es denn wirklich wahr sein? Youma hatte seine größte Hürde überwunden und den Weg des Dämons eingeschlagen, obwohl alles in ihm sich doch immer zu dem Weg des Wächters hingezogen gefühlt hatte? Youma hatte tatsächlich gewählt? Unglaublich.
Aber Inceres dachte dies nicht mit Ironie… sondern tatsächlich mit ein wenig Neid. Er hatte gewählt… um sich Hikaru entgegenzustellen. Das hätte er ihr sagen können oder sagen sollen. Aber das hätte sie wohl nicht interessiert und an sich auch nichts an irgendetwas geändert. Sie hätte wohl nur gelacht.
Youmas nächste Wege waren nicht zu sehen. Noch nicht. Die Wege seiner Mutter standen fest… sie waren aus Stein. Es gab keine Entscheidungen mehr, die sie fällen musste. Keinerlei Verunsicherung… und Green…
Inceres blieb stehen und musste ein wenig schmunzeln. Sie hatte so viele Wege… so viele kleine Entscheidungen, die sie fällen musste… ein Leben zu führen… am Morgen musste sie sich entscheiden, ob sie nochmal versuchte, mit Silence zu sprechen oder ob sie Inceres besuchen würde… oh, und sie musste sich entscheiden, ob sie mit Saiyon über Blue sprach oder nicht.
So viele Dinge… Green hatte so viele Gefühle in sich… die ihre Wege beeinflussten und ihre Entscheidungen… aber bald würde es enden. Dann konnte sie sich nicht mehr entscheiden und Inceres würde auch keine Wege mehr sehen.
Denn dann würden alle Wege Greens enden.
Genau wie Inceres‘ Wege schon längst geendet hatten.
Es war logisch, dass er seine eigenen nicht sah. Denn es gab keine für ihn… seine Wege waren die seiner Mutter.
Und bald würden auch Greens die seiner Mutter sein.