Kapitel 115 - Blumen der Eifersucht
„Verpissen – Sie – sich – aus – unserem – Gebiet…“ Darius atmete tief ein. Seine Wangen waren rot, dunkelstes Rot, denn es ging ihm gegen sein Ehrgefühl und auch gegen die „Erziehung“ die er unter Ri-Il genossen hatte, diese Straßensprache zu benutzen.
„… Fürst Lycram.“ Diese schreckliche Gossensprache – ja schrecklich! – hatte der Kommandeur Ri-Ils eigentlich schon vor Ewigkeiten abgelegt und dass er sie jetzt wieder hervorholen musste war als würde er die Schande selbst, die Zeit, die er auf den Straßen Lerenien-Seis verbracht hatte, hervorhohlen, aber anders konnte man den stets fluchenden Krawallfürsten offensichtlich nicht erreichen – er hatte Darius Aufforderung endlich zu gehen jedenfalls absolut ignoriert. Aber jetzt, da Darius ihm auf seinem Niveau entgegentrat, wandten seine orangenen Augen sich ihm zu.
„Oder was? Willst du mich rauswerfen?“ Viel zu lange schon befanden sie sich in Wartestellung, in einem der Besucherräume von Ri-Ils Anwesen: dem Teil des Anwesens welcher eigentlich für die Kunden reserviert war. Eigentlich. Aber heute war alles anders. Viel, viel zu anders für Darius Geschmack, der zwar bereit war für alles und das Gebiet Ri-Ils und alle Dämonen gegen jeden Angreifer beschützen würde, der sich aber dennoch nicht gegen ein gewisses Unwohlsein wehren konnte, nur weil er Ri-Ils Aura… kaum spüren konnte. Nur wenn er sich auf ihn konzentrierte war eine schwache, flackernde Aura zu vernehmen – und dabei waren sie nur von ein paar Etagen getrennt! So sollte es nicht sein! Ri-Ils Aura war ein strahlendes Leuchtfeuer, überall im Gebiet zu spüren – nein, in der gesamten Dämonenwelt!
Aber heute nicht. Heute spürten jene, die noch bei Bewusstsein waren, dass Ri-Il nicht unverwundbar war… und nicht nur seine Hordenmitglieder, sondern auch deren Gebietsnachbarn. Und was tat Darius? Er konnte nichts Anderes tun als warten. Zusammen mit Lycram, der jede Aufforderung zu gehen ignorierte.
„Ich habe eine ganze Horde hinter mir, die dich rauswerfen will“, knurrte Darius und bemerkte dabei, dass er das „sie“ vergessen hatte, doch er entschuldigte sich nicht dafür. Er hatte Lycram schon gekannt – und sich mit ihm geprügelt – ehe er Fürst geworden war. Eben jener Fürst – wie war er das nur geworden? – grinste so breit, dass man seine drei spitzen Backenzähne sehen konnte.
„Ach, alleine bekommst du das nicht hin, huh? Die letzte Niederlage hat ja auch ganz schön gesessen! Wann war das nochmal? Achja, da war Lerou gerade König geworden. Ist schon eine ganze Weile her und als Ri-Ils Kommandeur erwarte ich, dass du dich seitdem verbessert hast, aber das habe ich ebenfalls! Obwohl! Weißt du was…“ Er drehte sich nun vollends zu ihm herum und löste seine verschränkten Arme von seiner Brust um ihn die Faust zu zeigen.
„Warum eigentlich nicht?! Ich bin immer für einen Kampf zu haben! Dann können wir sehen, wer von uns beiden besser trainiert hat – ich jedenfalls habe nicht nur andere trainiert!“ Darius hatte Lust sich auf diese Einladung einzulassen und der erste zu sein, der die Faust in das Gesicht des anderen schmetterte, aber er war nicht länger irgendein Hordenmitglied, sondern der Kommandeur einer Horde.
„Hört ihr wohl auf euch wie dumme Jungdämonen aufzuführen?“ Ein wütendes Schlagen eines Fächers begleitete diese Worte, als Mekare den einzigen Raum des Anwesens betrat welcher nicht gefüllt war von blutenden und sich übergebenden Dämonen.
„Wir sind in einer immensen Krisensituation und ihr habt nicht besseres zu tun als dieses unsinnige Kräftemessen?“ Darius wandte sich sofort zu Mekare um und Lycram war umgehend vergessen:
„Wie geht es unserem Meister?!“ Auch Lycram, der sich ebenfalls herumgedreht hatte, vergaß das Säbelrasseln sofort und sah Mekare genauso gebannt an, während sie auf eine Antwort der verstimmt und erschöpft aussehenden Dämonin warteten.
„Das weiß ich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf:
„Ich weiß nicht mehr als ihr: also nur das leichte Spüren seiner Aura. Ich war bei Silver-kun und habe ihn gepflegt.“
„Scheiß auf diesen verdammten Jungen!“ Es war nicht Lycram dem diese brüsken Worte entflogen waren, sondern Darius – und es war auch er, dem Mekare eine Ohrfeige mit ihrem Fächer verpasste: einen so harten Schlag, dass der Dämon, der gute zwei Köpfe größer war als sie, zur Seite taumelte und ziemlich benommen und überrascht sein aufgerissenes Gesicht berührte. Lycram begutachtete dies mit erstaunten, etwas belustigten Augen – er wusste schon, warum er Mekare mehr als einmal gekauft hatte.
„Wir scheißen hier auf niemanden, Darius, hast du mich verstanden?! Wir scheißen auf niemanden den Ri-Il mit Einsatz seines Lebens gerettet hat und garantiert scheißen wir nicht auf seinen letzten Schüler!“
„Wie geht es dem Wicht denn?“, fragte Lycram amüsiert, sich bereitmachend seine Fäden zu benutzen um einen Schlag des Fächers zu verhindern, aber Mekare schien seine Frage entweder zu genehmigen oder vielleicht wollte sie auch keinen Fürsten angreifen. Darius hinter ihr musste ein Wimmern unterdrücken, aber darauf achtete Mekare nicht.
„Er wird durchkommen. Etwas anderes lasse ich auch nicht zu.“ Sie klappte ihren Fächer auf und zu und stellte sich vor Lycram, den sie streng ansah.
„Aber Darius hat Recht – Sie sollten in Ihr Gebiet zurückkehren und sich um Ihre eigenen Verletzten kümmern.“
„Die die ich hatte sind sowieso schon tot.“
„Und Ihr Bruder?“ Oh, was sah Darius da? Der sonst immer so selbstbewusste und stets laute Dämon war überrascht über die Frage und… wirkte sogar etwas befangen? Sah Darius da sogar etwas Röte an den Spitzen seiner Ohren?
„Er ist zwar ein Schwächling, aber nicht immer. Nicht wenn es darauf ankommt.“ Also ging es Azzazello und seinen Kindern gut – aber davon war Mekare ohnehin ausgegangen, ansonsten wäre Lycram nicht hier.
„Wenn ich in mein Gebiet zurückkehre…“, begann Lycram, obwohl seine Ohren immer noch rot waren.
„… wird die nächste Konferenz der Hohen beginnen und dann werden alle Fürsten sehen, dass eure verdammte Grinsefresse von einem Meister nicht anwesend ist.“ Lycram fixierte Darius:
„Ihr solltet also auf Eure Grenzen achten und eure Nachbarn im Auge behalten…“ Der Kommandeur fixierte ihn genauso herausfordernd und feindselig wie umgekehrt:
„Ich behalte sie gerade im Auge.“ Darius funkelte Lycram wütend an, der sich sofort von der Wut anstecken ließ und die Hand zur Faust ballte. Was wollte er ihm da gerade unterstellen?
„Seid Euch gewiss, dass wir unser Gebiet auch ohne unseren Meister an der Spitze beschützen werden – und dass wir Euch…“ Lycram unterbrach ihn mit einer wütenden Handbewegung:
„Ich?! Glaubst du ICH habe es NÖTIG dieses verfickte Gebiet anzugreifen, wenn Ri-Il nicht einsatzbereit ist?!“ Zornig und in seinen Stolz verletzt warf Lycram seinen Zopf über die Schulter.
„Jeden Meter den ich von diesem Gebiet erobern werde, werde ich erobern mit einem wachen, gesunden und einsatzbereiten Ri-Il in der Führung, verstanden?!“ Immer noch kochend vor Wut, wirbelte Lycram herum:
„Aber ihr habt noch andere Nachbarn außer mir – Nachbarn, die armselig sind IM VERGLEICH ZU MIR. Also hört auf zu labern und passt gefälligst auf!“ Er warf noch einen letzten Blick zu Darius:
„Ich habe nämlich absolut keinen Bock darauf ein Gebiet von der Größe Lioris‘ zu erobern!“ Mit zwei großen Schritten hatte er das eigentlich recht große Zimmer durchquert und die Schiebetür wurde mit einem gewaltigen Ruck zur Seite gerissen – doch noch kehrte er nicht in sein Gebiet zurück. Er wandte sich noch ein letztes Mal an Mekare ohne sie anzusehen.
„Sag dem verdammten Hurensohn, dass er sich beeilen soll mit dem Aufwachen – und dass er es nicht wagen soll mir mit schwarzen Haaren unter die Augen zu treten!“
Mekare verstand nicht was er meinte.
Aber einige Etagen weiter oben, auf der Fensterbank eines runden Fensters sitzend, brachten diese Worte den Fürsten dieses Gebietes zu einem kichernden Grinsen.
Silence.
Das war der einzige Gedanke in Green. Sie antwortete auf die Fragen und Anweisungen Marys und sie bewegte den Kopf zur Seite, wenn Itzumi sie darum bat, als sie ihr ihre Haare hochsteckte. Aber eigentlich wusste sie gar nicht, was sie tat oder was sie sagte. Sie hatte zum Glück eine endlich eine Nacht durchgeschlafen geschlafen aber nun, wo die Geweihten sich ausgeruht hatten, wurden sie geschmückt und zurechtgemacht, denn diese erfreuliche Weihe musste mit einem Freudenfest ausklingen. Die Wächter wollten mit den Geweihten zusammen feiern. Sie wollten sie sehen – ganz besonders Green.
Aber Green interessierte sich nicht für ihre nach oben geflochtenen Haare, die sich in Ringen um ihr Haupt schlängelten und in die Itzumi gerade leuchtende Perlen hineinfügte oder für Mary, die sie anwies, dass sie keine weiteren Verkündungen machen sollte, so wie sie es beim letzten Fest getan hatte – oder gar noch schlimmer: So einen Unfug wie Hizashi an diesem Vormittag! Bei der langen Zeit, die er im Jenseits verbracht hatte, müsste ihm doch bewusst sein, welche Wirkung auch nur das kleinste Wort hätte und einfach so zu verkünden, dass sie im Begriff waren, die Dämonen auszulöschen… wie kam er nur dazu, so etwas zu behaupten?
„Falsche Hoffnungen zu sähen…“ Green starrte auf ihr Spiegelbild.
„… könnte unser aller Untergang bedeuten.“
Falsche Hoffnung….
Silence hatte sie angesehen, als wäre sie eine falsche Hoffnung. Als wäre sie… eine falsche Person.
„Bist du nun zufrieden…“
Itzumi zupfte etwas zu sehr an ihren Haaren, aber Green spürte den Schmerz nicht.
„... Hikaru?“
Green schloss die Augen wie um ihrem Spiegelbild zu entgehen, aber sie öffnete sie schlagartig wieder, als die Tür sich zu ihrem Gemach öffnete und ihr Verlobter hereinkam und sie wieder daran erinnerte, dass sie nicht alleine in dem ehemaligen Gemach ihres Großvaters lebte. Es war deren Gemach, dennoch war Green eigenartig überrascht und auch überrumpelt, als sie Saiyon sah – und scheinbar nicht nur Green, denn auch Itzumi und Mary sagten nichts, als der Getreue der Hikari hereintrat. Itzumi hatte sogar ihre Arbeit unterbrochen. Ob sie dasselbe dachten wie Green, nur aus einem anderen Grund? Green war alleine eingeschlafen; sie hatte Saiyon seit der Weihe nicht mehr gesehen… darüber hatte sie sich nicht gewundert, denn sie war viel zu erschöpft gewesen, aber sie hatte es getan, als sie aufgewacht war. Dann war ihr plötzlich aufgefallen, wie leer das Bett war… und dass sie dieses gigantische Himmelbett eigentlich mit jemandem teilte.
„Saiyon“, kam es überrascht von Greens Lippen und beinahe hätte sie die absolut dumme Frage gestellt, was er denn bei ihr wollte. Aber sie schluckte weitere Worte herunter und war froh darüber, dass Mary sofort hervorpreschte:
„Oh, Saiyon-san!“ Sie lächelte über ihr gesamtes, viel zu hübsches Gesicht. Ein großes, strahlendes, falsches Lächeln, welches Miss Propaganda – so wie Silence sie immer nannte – absolut perfektioniert hatte.
„Wir sind gleich fertig, dann hast du deine Verlobte wieder ganz für dich alleine.“ Sie lachte hinter vorgehaltener Hand; ein schrecklich hohes Lachen, welches Green absolut nicht behagte. Ob Saiyon es genauso ging? Er schien jedenfalls zu überlegen, ob er rückwärts wieder rausgehen sollte… aber er nahm stattdessen einen Schritt vor und schloss die Zimmertür hinter sich, ohne etwas zu sagen. Er nickte nur, während Itzumi ihre Arbeit wieder aufnahm… und Green hoffte, dass ihre Tempelwächterin sich Zeit lassen würde.
Im Spiegel ihres Ankleidezimmers sah Green, wie Saiyon sich ein Buch nahm und sich ans Fenster setzte – aber er las nicht… seine Augen bewegten sich nicht. Er sah sehr müde aus, ein wenig angeschlagen gar, als hätte er in der Zeit, in der Green geschlafen hatte, gekämpft. Aber es hatte keine Schlacht gegeben; die Dämonen waren wahrscheinlich damit beschäftigt, ihre Toten zu zählen, hatte Mary ihr gesagt und sie dabei wieder mit einem lobenden Blick bedacht, auf welchen Green nach wie vor keine Antwort kannte.
Green konnte sich nicht vormachen, dass sie Saiyon vermisst hatte, aber der niedergeschlagene Anblick ihres Verlobten bereitete ihr dennoch Sorgen – mehr als das, sie bekam Bauchschmerzen und die Gedanken an Silence drängten sich in den Hintergrund: machten Platz für die Gedanken, die sie am allerweitesten weggeschoben hatte. So weit… so unendlich weit weg… aber vergessen hatte Green sie nicht – und Saiyon ganz offensichtlich auch nicht. Die Worte Greys. Seine Worte über Gary und Blue.
Sie würden darüber sprechen müssen, das wusste Green – Saiyon sah auf und traf den Blick ihres Spiegelbildes – ja, das wussten sie beide.
„Ja, das wird gehen“, beurteilte Mary, als Itzumi die Bürste weglegte und Greens Frisur perfekt saß.
„Sehr gute Arbeit, Itzumi-san.“ Ihre Tempelwächterin verbeugte sich pflichtgemäß und bedankte sich für das Lob, welches ihr starres Gesicht jedoch weder erweicht noch erwärmt hatte, obwohl es an sich keine Selbstverständlichkeit war, dass Mary ihren Namen kannte, noch dass sie sie ansprach.
„Du kannst gehen.“ Wieder kicherte Mary:
„Wir wollen die beiden baldigen Eheleute doch nicht weiter stören.“ Warum ging sie denn nicht ebenfalls? Ah, sie hatte noch letzte Worte an Green zu richten, die Itzumi nicht hören sollte. Deshalb legte sie auch nochmal ihre Hände auf Greens Schultern und beugte sich von hinten hinunter zur sitzenden Hikari:
„Man sagt, dass die fähigsten Lichterben direkt nach der Weihe gezeugt werden.“ Green wurde kalt und heiß zugleich und sie sah sofort im Spiegel zu Saiyon, doch er schien Marys Worte nicht gehört zu haben.
„Du kannst es nicht ewig vor dir herschieben… jetzt wäre der absolut beste Zeitpunkt, um schwanger zu werden. Das Wächtertum würde dich lieben und dein Schatten wäre für immer vergessen… und lass mich dir von Frau zu Frau sagen…“ Mary sah nun auch durch den Spiegel zu Saiyon:
„Du hast einen guten Getreuen. Besser als ich ihn hatte und besser als so manch andere vor uns. Er wird dir nicht wehtun und dich nicht entweihen.“
„Das ist nicht das, was ich…“ Doch Mary unterbrach sie und drückte ihre Schultern ein wenig mehr:
„Ihr habt zwei Stunden, ehe die Festlichkeiten beginnen. Bevor du aber vor deine Elementarwächter treten wirst, werden wir deine Frisur nochmal richten müssen. Dieserlei Tätigkeiten ruinieren immer die Haare!“ Green konnte nicht fassen, was sie da hörte; was Mary ihr da gerade vorschlug, nein, was sie ihr auftrug, genauso wie sie ihr immer die Reden vortrug! Das hier war ihr Leben, ihr Körper und sie tat das, was nötig war, um einen Lichterben zu zeugen garantiert nicht dann, wenn es am besten in einen ihrer ach so tollen Pläne passte!
Green war drauf und dran es, Mary um die Ohren zu werfen; nein, ihr auch noch eine Ohrfeige zu verpassen, aber da hatte die Hikari, das Licht der Schönheit, sich bereits von ihr entfernt und mit einem vielsagenden Lächeln verschwand sie aus der Zimmertür.
Immer noch war Green heiß und kalt zugleich und vor Wut wäre sie Mary am liebsten hinterhergerannt und hätte ihre Worte so laut geschrien, dass absolut jeder Wächter, der im Tempel wohnte, es gehört hätte.
Aber als sie hörte, wie sachte ein Buch hinter ihr geschlossen wurde, verrauchte ihre Wut und sämtliche Entschlossenheit fiel krachend in sich zusammen. Green schluckte und tausendmal lieber würde sie jetzt Shaginai entgegentreten. Oder einem Dämon. Oder einer ganzen Horde Dämonen.
Aber da war nur Saiyon. Saiyon, der ihre Worte brauchte.
„Du warst heute gar nicht im Bett“. Garantiert nicht diese, aber das war das erste, was Green einfiel.
„Warst du nach der Weihe gar nicht müde?“ Aber irgendwie musste sie ja auch anfangen und diese Stille war einfach nur grauenhaft.
„Ich dachte, du wärst erschöpfter als ich und dass du dich besser ausruhen könntest, wenn du das Bett für dich alleine hast.“ Das war mal wieder unglaublich nett von ihm, aber Green verstand schon, was zwischen den Zeilen stand, nämlich, dass er glaubte, dass er ihren Schlaf störe und dass sie lieber alleine sein wollte. Er war doch so ein guter Getreuer, hallte es wieder in ihren Ohren nach… und was war sie…
„Ich hätte doch auch gut schlafen können, wenn du da gewesen wärst“, antwortete Green und versuchte zu lächeln, aber als sie Saiyons ernsten Blick sah, da wollte sie wegsehen. Da wollte sie fliehen, vor ihm und seinen dunkelgrünen Augen, die, wenn er nicht lächelte und so ernst aussah, Garys… nein, nein jetzt musste sie mal aufhören. Er war ein guter Getreuer, wiederholten Greens Gedanken spottend Marys Worte ein weiteres Mal – es war jetzt an ihr zu zeigen, dass sie auch eine gute Verlobte war.
Doch es wurde sehr schwierig, als Saiyon ernst, aber auch ein wenig traurig antwortete:
„Hättest du das? Wenn das die Wahrheit ist, dann freut sie mich, wenn es aber Worte der Unwahrheit sind, dann betrüben sie mich.“ Noch einmal wollte Green schreiend aus dem Zimmer laufen, aber stattdessen ging sie zu ihm, was ihn scheinbar verwunderte, denn er weitete ein wenig die Augen, die aufmerksam ihren Bewegungen folgten, bis Green sich vor ihn gesetzt hatte – um etwas zu sagen. Um die Dinge zu klären. Um die Situation einfacherer zu machen. Sie wusste nur nicht wie. Aber es war… doch schon ein guter Anfang, dass sie sich zu ihm gesetzt hatte? Sie saß in einem Sessel genau gegenüber von ihm. Nur ein kleiner, runder Tisch war zwischen ihnen, wo Saiyons Buch lag – ein Philosophiebuch wie immer – und eine schlanke, lange Vase stand mit blauen Rosen, die Itzumi wohl ganz frisch hineingetan hatte.
Saiyon bemerkte scheinbar, dass sie mit sich haderte und die Worte nicht fand, denn er übernahm plötzlich den Anfang.
„Ich wünschte, ich könnte es vergessen, Green. Die Worte, die dein Bruder gesagt hat… aber ich kann es nicht. Das ist mir in den letzten Stunden bewusst geworden.“
„Aber sie bedeuten nichts!“, purzelten die Worte aus Greens Mund heraus, ehe sie überhaupt darüber hätte nachdenken können. Denn das war auch genau das Problem – sie hatte nicht darüber nachgedacht. Sie hatte Greys Worte und alles, was mit Gary und Blue zu tun hatte, so weit weg verdrängt gehabt, dass sie sich keine Gedanken darüber gemacht hatte, was sie zu Saiyon sagen sollte – ja, nicht einmal, was sie selbst darüber dachte, außer... dass sie diese Gedanken nicht haben wollte; dass sie am liebsten laut schreien wollte „geht weg!“.
„Die Worte deines Bruders…“ Saiyon runzelte die Stirn und sah sie misstrauisch an:
„… deines verstorbenen Bruders, die du nur hören konntest, weil du das Wunder vollbracht hast, den Elementstrom zu überqueren… sie sollen ohne Bedeutung sein?“ Green fühlte sich ertappt und vollkommen überfordert von dem Gespräch.
„Es ist lieb von dir, dass du das sagst, aber du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen.“
„Aber ich weiß es nicht!“, schrie Green so laut, dass Saiyon erschrocken zusammenfuhr. Nach wie vor war er als wohlerzogener Wächter Greens Gefühlsausbrüche nicht gewohnt. Sie hatte ja auch versucht, sich zurückzuhalten: Sie hatte versucht, sich der Lebensweise der Wächter anzupassen und zwar besonders, wenn sie mit Saiyon zusammen war, aber das konnte sie nicht. Jetzt nicht. Jetzt musste es raus. Ihre Gefühle konnten nicht kontrolliert werden, dafür waren sie zu groß und zu schmerzhaft und es war ihr absolut egal, wie eine normale Wächterin sich dieser Gefühle eigentlich Herr werden sollte. Sie konnte es nicht.
„Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht! Ich verstehe nicht, warum Grey das gesagt hat! Warum er überhaupt von ihm gesprochen hat! Warum er gesagt hat, dass Blue mich nicht töten wollte, warum er gesagt hat, dass er meine Erinnerungen gelöscht hat… Ich kann mir das genauso wenig erklären wie du. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat.“ Green hätte das wohl noch öfter gesagt, wenn Saiyon sie nicht davon abgehalten hätte.
„Erinnerungslöschungen kann man nachvollziehen… jedenfalls die, die mit verbotenen Techniken herbeigeführt worden sind.“ Green sah auf von ihren zusammengeballten Fäusten und in sein ernstes Gesicht.
„Ganz egal wie lange es her ist. Man kann nicht erfahren, was es ist, was man vergessen hat, aber jeder Einsatz dieser Künste hinterlässt eine Art… Spur.“ Saiyon hatte sich offensichtlich schon sehr viele Gedanken darüber gemacht, aber Green interessierte das nicht.
„Na und?“, antwortete Green ehrlich – etwas zu ehrlich, denn Saiyon sah sie etwas irritiert an.
„Selbst wenn es wahr ist und er meine Erinnerungen gelöscht hat… ich zweifle Greys Worte nicht an, er wird recht haben, ansonsten hätte er das nicht gesagt, aber na und?“ Green sah Saiyons Gesicht nicht, sie spürte auch nicht ihre eigenen steifen Gesichtszüge. Sie sah ins Nichts.
„Er hat mich gefoltert. In derselben Nacht, wie er mich angeblich auch gerettet haben soll. Vor was denn? Das einzige Monster, was da war, war er.“ Greens Hand krampfte sich über ihrer Brust zusammen, wo das Mal der Aberkennung immer zu sehen bleiben würde:
„Er hat mich mit meinem Glöckchen gefoltert, Saiyon. Das weißt du wahrscheinlich nicht, denn dann würdest du dieses Gespräch gar nicht führen wollen!“ Green drückte ihr Glöckchen so fest an sich, so fest an ihre Brust, als würde sie es in sich hineindrücken wollen, um es zu beschützen vor allen, vor der Welt und ganz besonders vor Blue.
„Zwei Mal! Zwei Mal hat er mein Glöckchen zerstört und mir mein Licht genommen! Er hat nicht nur Grey getötet, sondern auch mich…! Mein Herz, meine Seele – alles! Er hat sämtliche Wärme aus meinem Leben gerissen!“ Greens Augen sahen nur Schwärze, kalte, eiskalte Schwärze und nicht das hell erleuchtete Gemach, nicht die grünen Augen ihres Getreuen, nicht sein schockiertes Gesicht… um sie herum schneite es und das Eis breitete sich aus.
Bis Saiyon aufstand. Ganz, ganz langsam und sich ebenso vorsichtig vor Green stellte, die ihn immer noch nicht sah – und seine zitternde Verlobte in die Arme nahm. Überrascht von der plötzlichen Nähe schreckte Green zusammen, aber sie nahm, nein, packte die plötzliche Wärme wie ein Ertrinkender den Rettungsreifen und klammerte sich an Saiyon, erst da bemerkend, dass die Tränen von ihren Wangen herunterliefen.
„Ich… ich weiß es wirklich… wirklich… nicht…“
„Shhh… verzeih mir, Green, ich wollte diese Wunden nicht aufreißen.“ Und Green hatte nicht mehr weinen wollen. Sie hatte so sehr gehofft, dass es sie nicht mehr zum Weinen bringen konnte – dass sie nie wieder deswegen weinen würde. Einfach normal davon erzählen, einfach normal von Blue sprechen, wie von jedem anderen Dämon, von jedem anderen Feind. Warum… warum brachte er sie immer noch so zum Weinen? Warum machte er sie immer noch so schwach?
„Lass es uns bitte… bitte… einfach vergessen…“ Saiyon nahm Greens Gesicht sanft in seine Hände, nachdem er ihr über den Rücken gestrichen hatte und versuchte sie anzulächeln, während er ihre Tränen mit den Fingern wegwischte.
„Es ist nichts… gar nichts… passiert… es wurde nichts… gesagt…“ Saiyon lächelte immer noch, doch das Lächeln begann zu bröckeln, obwohl sich Green gerade so viel Mühe dabei gab, sein Lächeln zu erwidern und aufzuhören zu weinen.
Saiyon konnte Greys Worte nicht vergessen. Er konnte keines seiner Worte vergessen.
„Würdest du für Green auf dein eigenes Glück verzichten?“
„Wenn Blue wieder die Hand nach ihr ausstrecken würde, würdest du sie gehen lassen?“
„Saiyon…?“
„Wie ironisch, dass der einzige, der sich Green Getreue nennen darf, nicht gewillt ist, auf sein eigenes Glück zu verzichten, wo der Halbdämon, den du Blue nennst, es doch getan hat…“
Die blauen Rosen stürzten samt ihrer Vase zu Boden, als etwas die Kontrolle über Saiyon übernahm; etwas Größeres, etwas Stärkeres, etwas, was der gute, artige, liebe Getreue nicht kontrollieren konnte. Voller Verzweiflung und gepackt von Gefühlen, die er nicht benennen konnte, presste er seine Lippen auf Greens, deren tränende Augen weit aufrissen, denn das hatte sie nicht vorhergesehen – sie wollte es auch nicht, das spürte sie sofort. Ein starker Widerwille schoss in ihr empor, schoss in ihre Hände, mit denen sie sich gegen Saiyons Brust stemmen wollte, da sie ihr Gesicht nicht aus seinen Händen losreißen konnte.
Er spürte es. Natürlich spürte er ihren Widerwillen und er ließ sie los, ja, gleich würde er sich entschuldigen, für seine heftige Reaktion und Green würde ihm verzeihen, natürlich würde sie…
Aber Saiyon tat es nicht. Die Blumen wurden zertreten, als Saiyon, verfolgt von Greys Worten, Green an sich schlang und seine Lippen abermals Greens fanden, ehe sie etwas sagen konnte. Sie versuchte sich wegzudrehen, aber als sie seine Zunge in ihrem Mund spürte, war sie wie vor Schreck gelähmt. Nein, es war kein Schreck, es war Kälte. Es war Kälte, die sie lähmte und die sie unfähig machte zu agieren. Vor langer, langer Zeit hatte Siberu sie spaßeshalber so geküsst, so wie Gary es nie, niemals getan hatte, aber das hier, das hier… das war kein Spaß. Das war absolut kein Spaß. Es war ernst, es war kalt, es war verzweifelt und es tat weh, als Saiyon sie auf den Tisch herunterdrückte. Sie wollte es nicht! Nein, sie wollte es nicht! So durfte es einfach nicht passieren!
Von diesem Entschluss beseelt stemmte Green mit Inbrunst, als wäre Saiyon ein Dämon, der sie überwältigen wollte, ihr Knie in seinen Bauch und mit Gewalt wurde ihr Verlobter von ihr geworfen und landete auf dem Boden, völlig überrumpelt und genauso verwirrt und schockiert wie Green. Ihre entschlossenen Augen schlugen Flammen, die so stark waren, dass sie die Tränen in ihren Augen schier verdampfen ließen, aber als sie sich der Situation bewusst wurde, erlosch das Feuer der Widerwehr in ihren Augen.
Green, immer noch halb auf dem Tisch sitzend, wollte etwas sagen, genauso wie Saiyon es wollte, der auf dem Boden saß, aber keiner von ihnen bekam ein Wort hervor. Mit den blauen Blumen zwischen ihnen starrten sie sich gänzlich von sich und voneinander schockiert an. Aber es wurde kein einziges Wort gesagt und die Stille machte es noch schlimmer, noch… unerträglicher.
Mit einem völlig entsetzten Gesichtsausdruck rappelte Saiyon sich empor und er wollte gerade auf Green zugehen, als diese abwehrend, ohne ein Wort zu sagen, die Hände hob und ihm bedeutete stehen zu bleiben. Sie konnte immer noch nichts sagen, genauso wenig wie er es konnte. Ein Kopfschütteln war das einzige, was sie zustande brachte.
Saiyon stammelte etwas – etwas, was sehr nach einem „Tut mir leid“ klang und dann tat er das einzige, was er tun konnte. Er eilte aus deren Gemach und hinterließ Green mit ihren komischen Gemisch an Gefühlen zurück.