Kapitel 116 - Kaltes Licht, warmes Licht
Green saß immer noch auf dem Tisch, wo sie von Saiyon zurückgelassen worden war wie ein verlorener Gegenstand. Die blauen Blütenblätter lagen auf dem Boden verstreut wie Kleckser von Blut, das auf dem goldenen Teppichboden verteilt worden war und eine Spur in die Richtung der Tür hinterlassen hatte.
Ein Zucken ihres eigenen Körpers weckte die Hikari aus ihrer Starre und sie rutschte vom Tisch herunter. Gedanken begannen wieder zu kreisen: Gedanken an ihre Haare, an ihre Frisur, die ruiniert worden war… ihre geflochtenen Haare hatten sich gelöst und hingen in wirren Locken von ihrem Kopf herunter, fielen über ihre nackten Schultern. Wie viel Zeit war noch bis zum Fest? Sie musste an das Fest denken. An die Rede, die sie gleich halten musste. Ja, sie wusste, sie musste nun daran denken und an ihre Haare und an Itzumi, die sie schnell rufen musste, um all diese Probleme anzupacken, aber dieses Mal ging es nicht. Dieses Mal konnte ihr Kopf, ihr Herz es nicht vollbringen, die Gedanken wieder auf Automatik zu stellen und wie immer alle Gedanken an Blue, an Gary und nun auch an Saiyon zurückzudrängen.
Ein Schluchzen befreite sich aus ihrer Kehle, so verzweifelt, dass es klang, als kündigte sich ein Tränenkrampf an, aber Green biss sich auf die Lippen, schlang die Arme um ihre Brust und krümmte sich, im verzweifelten Versuch die Gefühle zurückzudrängen, sie in sich zu verschließen, dort wo sie hingehörten, dort, wo sie niemand berühren konnte.
Aber es ging nicht.
Sie hatte zu viel an diesem Abend gesagt; zu vieles, was sie eigentlich verschlossen hatte und nun fühlte es sich so an, als wäre ein Damm gebrochen. Green wurde schwarz vor Augen, als sie ihr Glöckchen umklammerte und sie hielt es auch noch umklammert, als sie zu taumeln begann. Ohne es zu bemerken, fand ihre freie Hand Halt an dem Torbogen, der zu ihrem Schlafzimmer führte, doch der Halt war trügerisch und erschöpft setzte Green sich, leicht schwankend, auf die Bettkante nieder.
Lange saß Green allerdings nicht zitternd auf der Bettkante, ehe sie förmlich auf das Bett herunterfiel und mit ihr ihre Tränen, die sie einfach nicht zurückhalten konnte.
„S-Stop… nicht… ich will nicht weinen… ich will nicht…“ Doch ihr Körper – oder war es ihr Herz? – hörte nicht auf sie. Die Tränen fielen und fielen und sie verstand nicht wieso. Ein Damm war gebrochen, dessen Dasein sie versucht hatte zu verdrängen. Sie hatte Saiyons Geschmack noch auf der Zunge, spürte noch seinen festen Griff und diese schreckliche, komische Ohnmacht, die sie noch nie zuvor gespürt hatte und wünschte sich so sehr, dass das alles nicht wahr war. Dass sie nicht eben gegen ihren Willen von ihrem Verlobten geküsst worden war und dass sie nicht das Gefühl hatte, dass er sie hätte vergewaltigen wollen; dass sie gar nicht erst im Tempel war, dass sie keine Hikari mehr war und dass sie gerade erst 17 geworden war und glaubte, ihr größtes Problem sei es, einen Moment zu finden, wo sie Gary ihre Liebe gestehen konnte, ohne dass es Siberu auffiel oder ihm wehtun würde.
„N-Nein…! Nicht…!“ Alles Flehen brachte nichts. Der Schrei in ihr, die Sehnsucht in ihr war größer als jedes Flehen. Sie wollte zurück! Sie wollte zurück in ihre Traumwelt! Sie wollte in Garys und Siberus Arme fliehen und sich endlich wieder warm und zuhause fühlen… sie durfte den Gedanken nicht haben, er war so dumm, so schwach und absolut…
„Onii-chan, warum… warum hast du von Gary gesprochen…!? Ich will nicht an ihn denken, nicht an sie, nicht an uns…! Ich will nicht… ich will nicht…!“ Verzweifelt und mit immer mehr Tränen presste die verlorene Hikari sich die zusammengeballten Fäuste gegen die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, aber die Worte konnten sie nicht aufhalten.
„Ich will nicht wieder hoffen! Ich will auf nichts hoffen! Grey!? Warum!? WARUM?!“ Voller Verzweiflung und mit aufsprudelnden Gefühlen, die schier überliefen, wälzte Green sich herum im Bett und ihre Fäuste trafen das Laken, wo ihre Finger sich festkrallten, während die Hikari sich verkrampfte. Sie hatte Saiyon nicht angelogen: sie wusste nicht, warum Grey von Gary gesprochen hatte, aber die Worte hatten etwas wachsen lassen, einen kleinen Funken Hoffnung – und diesen wollte sie nicht! Er sollte nicht existieren! Warum ließ sie zu, dass er wuchs?!
„Es ist wohl, weil du einsam bist…“ Green riss die Augen auf. Sie lag mit dem Kopf in die Decke gedrückt, mit den Händen den Stoff an sich geklammert, mit Tränen, die herunter liefen, aber sie kamen zum Stillstand, als sie diese bekannte Stimme hörte, die sie… schon sehr lange nicht mehr gehört hatte. Blues Stimme.
„… und du die Kälte deines Verlobten gespürt hast, deines ach so perfekten Getreuen.“ Er war nicht da, das wusste sie. Das wusste ihr Kopf, aber ihr Herz war erstarrt und ihr wurde noch kälter, als sie sich herumdrehte und Blues rote Augen sah, die auf sie heruntersahen, denn er hatte sich über sie gebeugt, genau so wie damals… damals in Lerenien-Sei, als er ihr Glöckchen zerstört hatte. Nicht mit einer Waffe. Nur mit seinen Worten.
Aber Green wehrte sich nicht. Sie sah zu dem Dämon empor, mit versiegenden Tränen. Sie sah in seine Augen, hörte auf zu atmen und ihre Lippen bebten. Er hatte sie auch geküsst. Damals, genau als es passiert war. Gleich danach… genauso kalt und schmerzhaft war es gewesen wie Saiyons Kuss.
„Du bist schwach, Green. Deshalb weinst du…“ Sie starrte auf sich bewegende Lippen, die näherkamen.
„… deshalb hoffst du.“ Wut, Zorn und Hass packte Green jäh wie eine Welle und mit einem Schrei spie sie ein „NEIN!“ aus, packte die kleine Lampe, die neben ihrem Bett stand und schleuderte sie durch Blue hindurch, direkt auf den Spiegel vor dem großen Bett, der in tausend Scherben zersprang. In einem glitzernden Regen ergossen diese sich über den Boden des Schlafzimmers und auch über das Bett, rammten auch Green, die die Kratzer und das Blut jedoch nicht bemerkte, zu sehr brannten ihre Augen.
„Nein…“ Ihre Stimme zitterte und sie konnte die Worte kaum formen.
„… ich bin nicht schwach!“
Erst da bemerkte Green, dass Itzumi im Türbogen stand.
Sie hatte ihre Herrin schon in einigen Situationen gesehen und in vielen Gemütszuständen, aber etwas an Green – und wahrscheinlich die Tatsache, dass sie gerade gesehen hatte, wie ihre Hikari den großen Standspiegel zerstörte – brachte ihre professionelle, ernste Maske zum Bröckeln. Sie war etwas bleich geworden und in der betretenen Stille, die zwischen ihnen herrschte, schien sie zu überlegen, ob sie einfach gehen sollte.
„Das Fest…“ Die Stimme der Tempelwächterin zitterte ein wenig.
„… zu Euren Ehren… es wird gleich beginnen. Ihr… Ihr solltet…“ Fahrig und plötzlich überrascht, griff Green sich an den Hinterkopf, wo ihre Haare wüst herunterhingen und sah auch auf ihr Kleid herunter, welches absolut zerknittert und mit glänzenden Scherben gemustert war. Ein ehrliches, deutsches „verdammte Scheiße“ entfloh Green und eigenartigerweise waren es genau diese fluchenden Worte, die Itzumi aus ihrer Starre weckten.
„Beeilt Euch, Hikari-sama.“ Itzumi wandte ihrer verwirrten Hikari schon den Rücken zu:
„Ihr werdet ein anderes Kleid tragen müssen.“ Green stellte keine Fragen, sondern tat sofort, was ihre Tempelwächterin ihr aufgetragen hatte, während sie aus dem Ankleidezimmer hörte, wie die Tür des gigantischen Wandschranks geöffnet wurde. Mit einem Kleid, welches Green noch nie getragen hatte, kam Itzumi zurück, genau im richtigen Moment, um ihrer Hikari aus dem Korsett zu helfen, als hätte sie gespürt, dass Green nicht weiterkam mit dem Entkleiden. Ein paar flinke Handgriffe, dann lag das weiße Kleid auf dem Boden und Green folgte Itzumi ins Ankleidezimmer, wo ihre Tempelwächterin mit unglaublicher Hast ihre Haare öffnete, nachdem sie Green in das neue Kleid geholfen hatte, mit der Bürste in der einen Hand und den Nadeln für ihre Haare zwischen die Lippen geklemmt. Das Kleid, welches Green nun trug, war ebenfalls weiß, endete aber in einem langen, dunkelblauen Saum, der nicht für einen Tanz geeignet war. Green konnte sich nicht vorstellen, dass das in Marys Sinn war, denn sie hatte ihrer Nachfahrin immer wieder eingebläut, wie wichtig es sei, dass sie mit Saiyon tanzte, aber… Green sagte es Itzumi nicht. Sie wusste es sicherlich genauso gut wie ihre Herrin, deren Haare sie gerade hochsteckte.
„Itzumi.“ Green versuchte ihre Stimme ernst und fest klingen zu lassen, wie eine Stimme, die zu einer Herrin passte, die zu ihrer Dienerin sprach.
„Ich muss darauf bestehen, dass dieser Zwischenfall nicht dieses Gemach verlässt. Also…“ Jetzt verlor Green wieder die Härte:
„… du darfst es niemandem erzählen.“ Itzumi sah sie nur kurz durch den Spiegel an, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, dann antwortete sie, mit den Augen wieder gänzlich den nussbraunen Haaren Greens gewidmet:
„Es kursieren sehr viele Gerüchte über Euch auf unseren Inseln, Hikari-sama, aber keines davon stammt von mir.“ Misstrauisch verengten sich Greens Augen: Selbstverständlich glaubte sie ihr kein Wort, was Itzumi auch bemerkte.
„Es gibt mehr Tempelwächter als mich, die dieses Gemach betreten, Hikari-sama, und mit Verlaub… Ihr seid nicht sonderlich vorsichtig.“ Ob Green sie beleidigt hatte? Itzumi klang ein wenig so, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ und ihre Arbeit einfach fortsetzte und Green hier und dort ein Zwicken auf ihrer Kopfhaut spürte. Green beobachtete ihre Bewegungen im Spiegel: ihre flinken Hände und ihre konzentrierten Augen… und sah ab und zu das Aufflimmern der Perlen, die sie als unauffälliges Armband um ihr Handgelenk trug, das Zeichen der Tempelwächter, die ihr Leben einem Wächter gewidmet hatten. Reitzels Worte, die er ihr vor gut einem Monat nach der Eröffnung des Krieges gesagt hatte, hallten in ihren Ohren nach, als er Itzumi gesehen hatte:
„Sie ist sehr besorgt um dich.“
… war sie das wirklich? War sie für sie nicht nur eine Last… eine Schande? Nach der Weihe hatte Itzumi nichts gesagt. Gar nichts darüber, dass Green die Götter erzürnt hatte. Kein einziges, verstecktes Wort, keine einzige Spitze. Nichts.
„Ich spreche nur mit meinem Bruder über Euch, aber ich denke das ist in Eurem Sinne.“ Green fühlte sich etwas ertappt und plötzlich tat es ihr ein wenig leid, wie gerne sie Itzumi immer mit Ryô austauschen wollte.
„Wie geht es ihm? Und wie geht es Ilang?“, fragte Green und versuchte Itzumi anzusehen, aber diese war zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt.
„Ich habe ihn heute noch nicht gesehen, Hikari-sama.“ Ah… ja, natürlich hatte sie das nicht. Tempelwächter hatten wirklich ein sehr eingeschränktes Leben.
„Darf ich dich etwas fragen, Itzumi?“ Jetzt sah ihre Tempelwächterin allerdings auf, gerade als sie damit beginnen wollte, Green zu schminken. Make-up war in der Regel nicht üblich unter den Wächtern und auch Green wurde eigentlich nicht geschminkt, aber sie mussten ihre roten Wangen und die Tränen kaschieren. Obwohl sie eigentlich keine Zeit mehr hatten, war Itzumi dennoch verharrt und sah Green genauso skeptisch an, wie die selbst von ihren Worten und ihrem Tonfall verwirrt war. (wer ist wie verwirrt xD?)So sprach sie eigentlich nicht mit Itzumi und das wussten sie beide.
„Ihr müsst nicht um Erlaubnis bitten“, antwortete Itzumi und verteilte das Puder sachte auf Greens Wangen.
„Stellt Eure Frage.“
„Warum warst du so erschrocken, als du in mein Zimmer gekommen bist und mich gesehen hast?“ Das weiße Puder hing wie kleine Staubwölkchen in der Luft zwischen den beiden etwas starren Wächtern, bis Itzumi zögernd ihre Stimme wieder fand:
„Ihr habt mit einer Lampe den Spiegel zerschmettert. Ihr habt schon unter einer Vielzahl von emotionalen Ausbrüchen gelitten, doch Euren Spiegel habt ihr bis jetzt nicht zerstört.“ Das konnte Green wohl nicht verneinen…obwohl sie den Spiegel sicherlich nicht hinterher weinte. Warum hatte Shaginai eigentlich einen so großen Standspiegel vor das Bett gestellt?!
„Ich werde die Lampe ersetzt haben, ehe Ihr wieder hierhin zurückkehrt. Was den Spiegel angeht…“ Sie steckte Green ihre Ohrringe an, große, goldene Ohrringe, die wie Sonnen aussahen.
„… mit diesem eilt es nicht, nehme ich an?“ Green musste beinahe ein Grinsen unterdrücken. Woher hatte Itzumi denn das gewusst?
Als die Ohrringe endlich an ihrem Platz waren und Itzumi Green ein schlankes Diadem in die Haare steckte, war die Ankleidung der Hikari genau eine Minute vor Beginn der Festlichkeit abgeschlossen. Es war unglaublich, was Itzumi in so kurzer Zeit hervorzaubern konnte – tatsächlich gefiel Green ihr Aussehen nun sogar besser als vorher. Doch obwohl sie nur noch eine Minute hatte – aber Regime-Führerinnen durften auch mal zu spät kommen, fand sie – wurde sie doch noch einmal von Itzumi aufgehalten und das nicht, um noch eine Kleinigkeit zu richten.
„Ich war noch aus einem anderen Grund etwas… erstaunt.“ Green drehte sich mit wehendem Umhang herum und sah ihre Tempelwächterin verwundert an. Doch ihre Gesichtszüge wurden sobald starr, als Itzumi antwortete:
„Eure Augen, Hikari-sama, waren wieder weiß geworden.“
Saiyon war der letzte der Elementarwächter, der letzte aller Wächter im Saal, der den Kopf senkte, als Green, die Hauptperson des heutigen Abends, im Festsaal des Tempels erschien. Seine Verzögerung war kein Privileg als Getreuer; er hätte sich genauso schnell und elegant verbeugen müssen wie die anderen Elementarwächter es getan hatten, aber er konnte nicht – er starrte Green zu verblüfft an, wie betäubt von ihrer erhabenen Schönheit. Er empfand sie immer als hübsch – natürlich tat er das! – aber heute Abend war sie schön auf eine andere Weise. Das, was er da sah und was ihm den Atem nahm, war nicht die Schönheit seiner Verlobten, sondern die Schönheit einer Hikari, einer Person, die an diesem Tag zu einer Heiligen geworden war.
Sofort fühlte er sich miserabel; noch miserabler als zuvor und er hätte sich Green am liebsten vor die Füße geworfen, um um Vergebung zu flehen, doch er hielt stand… das Flehen um Vergebung musste warten. Doch es gelang ihm nicht, den Blick von ihr abzuwenden – sie war wie verwandelt. Keine einzige Träne war auf dem Gesicht seiner Hikari zu sehen.
Green war gekleidet in ein langes, weißes Kleid mit hell- und dunkelblauen Verzierungen an den langen Ärmeln und der Schleppe, die sie hinter sich herzog. Der Stehkragen (spezielle Bezeichnung?) ragte an ihrem Hinterkopf in die Höhe und verlieh ihrem Gesicht einen geschmückten Rahmen, auf welches jeder, dessen Rang hoch genug war, einen ungehinderten Blick erhaschen konnte, denn ihr Haar war hochgeflochten worden in eine auffällige, elegante Frisur, bei der Itzumi sich wirklich selbst übertroffen hatte… Hinter Green wehte ein weißer, seidener Umhang, der ihr etwas Kriegerisches gab, zusammen mit den blau-goldenen Schulterpolstern, die aussahen wie Flügel. Saiyon schluckte. Green… seine Green… sah aus wie eine Braut und eine Kriegerin zugleich und gänzlich… anders, als wie er sie… zurückgelassen hatte. Gott, was hatte er nur…
Als Saiyon sich nun ebenfalls verbeugte, waren sämtliche Köpfe im großen Saal Richtung Boden geneigt, von Tempelwächter, zum Offizier, zu Elementarwächter. Alle, bis auf die Elementarwächter, waren auf die Knie gegangen und sie erhoben sich auch nicht, als Green an ihnen vorbeiging, ganz langsam, so wie Mary es ihr immer gesagt hatte. Sie waren nicht bei einem Marathon, sagte sie immer: Es ging um den Eindruck, den man hinterließ und den wollten die Wächter gerne genießen. Sie mussten diesen Eindruck mit nach Hause nehmen und ihn dann immer noch spüren. Wenn sie nicht bewegt genug waren, um es ihren Kindern zu erzählen, dann hatte Green etwas nicht richtig gemacht.
Unter der goldenen Kuppel, wo die gemalten Elementargottheiten ihre Lobeslieder sangen, schritt Green langsam mit wehendem Umhang durch das Meer der geneigten Häupter hindurch, die es alle nicht wagten emporzusehen. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie am Ende, in der Mitte ihrer Elementarwächter, angekommen war, dort wo man eine Lücke für sie gelassen hatte. Saiyon stand rechts von ihr, welchen sie gänzlich ignorierte, als gäbe es ihn nicht; Kaira links und erst als Green sich herumgedreht hatte und für einen kurzen Augenblick Hunderte von Wächtern sah, die sich alle vor ihr verneigten, hoben ihre Elementarwächter den Kopf, woraufhin auch die anderen Wächter es taten, als hätten sie ein Signal dafür gespürt.
„Alle unsere Götter sind beglückt von diesem Tag“, begann Green die Worte, die Mary ihr in aller Hast eingetrichtert hatte und von denen Green kein einziges Wort glaubte, aber es interessierte sie zu wenig, um zu protestieren. Sie trug die Rede Marys einfach vor wie eine Puppe und versuchte zu lächeln, aber sie wusste nicht, ob ihr das gelang. Sie scheiterte sicherlich auch daran, jeden einzelnen Wächter anzusehen, denn ihre Augen suchten nur einen Wächter, nur eine Person… und fanden sie nicht. Während ihr Herz schwerer und schwerer wurde, erzählte sie von dem Segen der Elementgottheiten und dass sie sie auf ihren Wegen behüten würden… und versuchte dabei nicht auf Ilangs Blick zu achten, den sie nun absolut nicht gebrauchen konnte… Leider war es auch nicht nur Ilangs Blick, in dem etwas Ungesagtes lag, sondern auch Azura und natürlich Saiyon… Kaira und Shitaya sahen feierlich und ernst aus wie immer, aber womöglich waren sie auch einfach zu professionell, um sich etwas anmerken zu lassen… Green hätte wirklich lieber vor dieser Rede mit ihnen gesprochen, sie wussten immerhin wie wenig Wahrheit in diesen Worten lag. Hoffentlich waren sie sich alle in Klaren darüber, dass Green die Rede nicht selbst geschrieben hatte.
Aber nichts war so wichtig wie Silence – und nichts war so schlimm wie sie nicht zu sehen und zu spüren. Sie hatte ihr gar keine Zeit gelassen, sich zu rechtfertigen. Silence hatte ihren Richtspruch über Green herabregnen lassen wie einen giftigen Regen und war dann mit ihren kalten, verurteilenden Augen verschwunden und fast war Green dazu verleitet zu glauben, dass das gut so gewesen war, denn… wenn sie nicht gegangen wäre, hätte sie Green… ihre Feindin… womöglich irgendwie angegriffen? Es hatte in ihren Augen gelegen…
Hikaru war ihre Feindin und Green…
Dabei – Green streifte wieder Saiyons Blick – brauchte sie Silence jetzt ganz besonders. Sie brauchte ihren Rat. Sie musste sich mit ihr austauschen… sie wollte mit ihr reden. Über Saiyon, über Greys Worte, über ihre weißen Augen…
Nach der Rede und dem einstimmigen „Für den Frieden!“ war es Zeit für den ersten Gang, eine Cremesuppe mit Blaubeeren in weißen Porzellantellern mit Goldrand, gereicht von Tempelwächtern, die angenehm warm, aber nicht zu heiß war. Normalerweise hätte Saiyon sich gerne zu Green gebeugt, nun, da alle anfingen leise miteinander zu reden und hätte ihr das Kompliment zugeraunt, wie wunderschön sie heute aussah, aber das kam ihm sehr heuchlerisch vor. Es war immerhin ihm und… was auch immer… zu verdanken, dass Green sich in aller Hast hatte umkleiden müssen und sie hatte nun auch eine andere Frisur, ebenfalls wegen ihm… und vielleicht waren ihre Augen auch so dunkel wegen ihm. So von Nahem sah er auch, dass sie leicht gerötet waren und sein schlechtes Gewissen stieg in ungeahnte Höhen. Er konnte sich nicht erklären, was über ihn gekommen war…
Green ignorierte ihn und aß ihre Suppe, während Kaira auf ihrer anderen Seite proklamierte, dass sie deren ersten Einsatz in der Dämonenwelt gar nicht abwarten konnte, um deren neue Elementverbundenheit zu testen. Azuma stimmte zu, Firey versuchte mit Green einen Blick auszutauschen, doch sie sah ins Nichts, während Shitaya sie daran erinnerte, dass sie erst einmal am nächsten Tag einige Trainingsstunden vor sich hatten. Sie sollten daher den heutigen Abend genießen, ehe die Arbeit wieder begann, bei der er hoffte, dass sie alle mit erfrischtem Elan an diese herantreten würden.
Green genoss überhaupt nichts – nun, die Suppe war gut – sie wollte immer noch einfach nur weg. Sie wollte nicht neben Saiyon sitzen und sie wollte nicht so tun, als wäre sie von den Göttern geliebt, wenn sie am Vortag wortwörtlich gegen sie gekämpft hatte. Insgeheim hielt sie etwas Ausschau nach Ryô, aber er stand nicht hinter Ilang… und woanders wäre er nicht tätig, denn er war ja kein Mitglied des herkömmlichen Dienstpersonals. Aber wenn er nicht bei Ilang war, wo war er dann?
Doch Green entdeckte jemand anderen – oder eher, jemand entdeckte sie. Sie war nicht die einzige Hikari im Saal, auch wenn sie das geglaubt hatte, denn die Eciencé-Zeit aller Hikari war eigentlich verronnen… aber nicht die von Reitzel. Er stand außerhalb, unbeteiligt an der Feier, mit der Hand auf einer Säule und schien offensichtlich darauf gewartet zu haben, dass sie seinen Blick bemerkte. Sie konnte sich kein Bild davon machen, was er von ihr wollte, doch sofort entschloss sie sich, sich bei der ersten Gelegenheit zu ihm zu gesellen – die Gelegenheit bot sich ihr erst nach gut einer Stunde, aber scheinbar war das, was er von ihr wollte, so dringlich, dass er warten konnte, denn er war nicht ins Jenseits zurückgekehrt, sondern wartete in der zum Saal anschließenden Säulengalerie auf sie.
Erst als sie da draußen war und Reitzel sie grüßend anlächelte, anstatt sich zu verneigen oder zu verbeugen, bemerkte sie, dass ihr das viel lieber war – einem Wächter ins Gesicht zu sehen und mit einem Lächeln begrüßt zu werden war doch viel schöner, als von einem gesenkten Haupt… alles hatte sich also scheinbar nicht verändert. Hikaru würde doch sicherlich keinen Wert darauf legen, von einem Lächeln begrüßt zu werden…?
„Guten Abend, Green“, grüßte er sie überraschend auf Deutsch – perfektem Deutsch – aber er fuhr nicht in dieser Sprache fort:
„Ich gratuliere dir für das überaus erfolgreiche Ausführen der Weihe.“ Ah, er hatte so eine verdammt angenehme Stimme; eine so warme, sanfte Stimme und so weiche Augen, die einfach alles zu verstehen schienen. Green wusste, dass alle Hikari sich von ihm fernhielten, weil er zu gut darin war, sie alle zu durchschauen, aber sie war gerade wirklich froh, ihn zu sehen. Sie kannten sich zwar streng genommen nicht, aber seine Aura war so guttuend, dass es sie sogar zu einem Lächeln verleitete, obwohl sie überhaupt nicht mehr von der Weihe sprechen wollte.
„Danke, Reitzel.“ Sie schmunzelte wirklich.
„Aber ich denke nicht, dass das der einzige Grund ist, weshalb du hier bist – oder doch?“ Reitzel lächelte immer noch, aber er antwortete nicht, weshalb Green fortfuhr, etwas unbedacht wie sie allerdings schnell bemerkte:
„Immerhin gibt es im Jenseits im Moment so viel zu besprechen…“ Es war ihr einfach so herausgerutscht und sie wollte sofort die Worte zurücknehmen, als Reitzel ihr zuvorkam:
„Für die Hikari, die Mitglieder des großen Rates sind, ja.“ Und das war er ja nicht. Weil er es nicht durfte, weil sie ihn nicht haben wollten – und Green hatte ihn gerade erfolgreich daran erinnert, sie Idiotin!
„Entschuldige, Reitzel, ich weiß es ja, du hast es mir ja schon gesagt, aber…“ Lächelnd fiel er ihr ins Wort:
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich nehme es als Kompliment. Immerhin hältst du mich scheinbar des Rates für würdig.“ Greens Wangen wurden rot und sie fuhr hoch – natürlich tat sie das! Sie konnten dort doch gut jemanden gebrauchen, der mal ein wenig netter war und besonnener und vernünftiger… Das sagte sie ihm auch sofort, doch das etwas wehmütige Lächeln auf Reitzels Gesicht sagte ihr, dass er ihr das nicht ganz glaubte. Er schien auch nicht mehr darüber reden zu wollen, denn mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie ihm folgen sollte und die beiden Hikari begannen der dunklen Säulengalerie hinabzugehen, die einmal um den Saal herumging, wo er das Thema wechselte.
„Um deine Frage zu beantworten, Green…“ Er zögerte ein wenig, dann schmunzelte er in sich hinein, die Arme auf den Rücken legend.
„Nun, die Regeln verbieten mir das Lügen, daher werde ich dir die Wahrheit sagen, auch wenn diese dir komisch vorkommen wird. Hizashi hat von nichts anderem als von deinem Licht gesprochen, als er zurückkehrte ins Jenseits und das hat meine Neugierde geweckt. Da er aber nur über dein Licht sprach, aber nicht über dich, wollte ich selbst sehen, wie es um dein Befinden steht. Die Weihe ist immerhin auch sehr zehrend an der Seele und… zugegeben… habe ich dafür ein besseres Auge als er. Ich möchte daher einfach nur mit dir sprechen, um zu sehen, ob es dir gut geht.“ Green runzelte die Stirn.
„Als… Patientin?“ Er sah zu ihr und in dem Halbdunkel der Galerie bemerkte Green, wie anders seine Augen aussahen im Vergleich zu den der anderen Hikari. Sie waren hell, aber… sie wirkten nicht weiß, sondern rosa und blau zugleich. Wie die Oberfläche einer Perle, die sich unterschiedlich zeigte je nach dem wie der Lichteinfall war.
„Nein, von Hikari zu Hikari. Als Familienmitglied. Ich bin immerhin nicht viele Jahre von dir entfernt.“ Moment – war er? Oh je, das stimmte. Er war… zwei Generationen vor ihrem Großvater geboren? Oder eine? Argh, sie wusste es nicht mehr! Sie waren sich jedenfalls näher als sie und Seigi zum Beispiel. Oder Hizashi, der vor tausend Jahre gelebt hatte.
„Wenn du mich allerdings in meiner Profession als Psychiater benötigst, dann stehe ich dir selbstverständlich zur Verfügung.“ Das war sicherlich nett gemeint, aber das war nichts, was Green gerne hörte… aber sie wollte nicht so sein wie die anderen Hikari, die deswegen Abstand von ihm nahmen. Sie verstand sich im Augenblick selbst nicht – vielleicht war es gut, wenn jemand anderes sie verstand? Alle feierten sie und sie sollte sich selbst eigentlich auch feiern – sie hatte immerhin gegen Götter gekämpft und sie besiegt! – aber sie konnte sich einfach nicht freuen und das lag nicht nur an Silence und Saiyon. Green wusste ganz genau, weshalb Firey sie so unbedingt hatte ansehen wollen, welche Frage in ihrem Blick lag – eine Frage, die Green gar nicht beantworten konnte und die sie nicht einmal hören wollte. Freute sie sich darüber, so viele Dämonen ausgelöscht zu haben? Fand sie es gut?
Sie sollte es gut finden. Sie sollte stolz darauf sein. War es nur wegen Silence, dass sie es nicht war? Ja… Green sah in Reitzels Augen… sie verstand sich selbst wirklich nicht mehr.
„Ich wirke nicht wie eine Person, die besonders glücklich ist oder?“ Reitzel sah sie lange an, ehe er sachte den Kopf schüttelte und seine Locken dabei im sanften Mondlicht leuchteten.
„Alle freuen sich… und ich sollte es auch, oder? Ich sollte sicherlich stolz auf mich sein. Aber irgendwie bin ich es nicht.“ Was sagte sie da eigentlich? Was sagte sie da einem Hikari? Sie sagte da eigentlich nichts anderes als dass sie sich nicht darüber freute, dass sie Dämonen getötet hatte – und das zu einem Hikari. Dabei wusste sie selbst nicht einmal, ob das wirklich stimmte oder ob sie nicht einfach… überangestrengt war.
„Du hast doch auch schon ein paar Hikari getroffen“, beeilte Green sich zu sagen, um Reitzel nicht dazu zu zwingen, auf diese dummen Worte zu antworten und weil sie seinen analysierenden Blick auf sich spürte.
„Hat die Weihe schon einmal jemanden verändert?“
„Die Weihe verändert jeden von uns, deswegen war deine Mutter ja auch so besorgt um dich und wollte die Weihe verhindern, während andere Ratsmitglieder sie sehr vehement befürwortet haben in der Hoffnung, dass sie dich in eine konformere Richtung leiten würde.“ Green sah ihn etwas verblüfft an – das war sicherlich nichts, was er ihr hätte erzählen dürfen. Aber das war plötzlich gleichgültig, denn ein beklemmender Gedanke drängte sich ihr auf, der ihr das Gehen erschwerte. Ihr Großvater war derjenige gewesen, der gewollt hatte, dass sie die Weihe machte. Hatte er das gewollt, weil… er gehofft hatte, dass sie sich veränderte?
War das sein Ziel gewesen? Dass sie eine normale Hikari wurde…?
„Green…“ Sie sah ihn, der sie besorgt musterte, etwas widerstrebend an, denn ihre Gedanken kreisten zu sehr um Shaginai – doch sein Blick, ernst und besorgt, fesselte sie auf irgendeine magische Weise, als forderten seine Augen, dass sie sich nicht abwandte und an nichts Anderes dachte als an ihn.
„… Schweigen ist für gewöhnlich der Weg in größere Missverständnisse anstatt zur Klarsicht, so wie ein aufschlussreiches Gespräch es sein kann. Schweigen bietet zu viel Raum für fehlgeleitete Spekulationen.“ Hatte… hatte er sie etwa sofort durchschaut?
„Großvater ist nicht unbedingt der Typ für klärende Gespräche…“ Zu Greens Überraschung lächelte Reitzel in sich hinein.
„Nein, das stimmt, es hat ihm allerdings auch nie jemand beigebracht.“ Wenn Reitzel da gerade angedeutete, dass Green ihrem Großvater irgendetwas beibringen sollte, dann kannte er Shaginai nicht gut – als ob er irgendetwas lernen konnte. Er war absolut lernresistent! Aber der Gedanke, dass er sie womöglich deshalb dazu hatte bringen wollen, die Weihe zu vollziehen, um eine Veränderung zu erzwingen, beschäftigte sie in der Tat mehr als sie sich selbst eingestehen wollte… und er schmerzte auch mehr als sie es wollte. Eigentlich war es dumm von ihr, dass es ihr wehtat: Shaginai hatte eine Hinrichtung ihrerseits veranlasst – und selbst durchgeführt – weil sie anders war… es war doch eigentlich sehr naheliegend, dass er die Weihe dazu hatte benutzen wollen, dass sie den Hikari mehr ähnelte…? Warum tat das weh? Warum überraschte es sie?
„Ich glaube nicht, dass ich ihm irgendetwas beibringen könnte, geschweige denn, dass ich…“ Sie zögerte.
„… mit ihm über…“ Sie sollte mit überhaupt niemandem darüber reden! Das war es doch! Sie sollte diese Skrupel und diese Übelkeit gar nicht erst empfinden! Gott! Sie war eine Hikari, eine Wächterin – sie tötete Dämonen! Wenn sie sich solche Gedanken um tote Dämonen machte, dann war sie wirklich anders, viel zu anders als ihre Familienmitglieder…
Green schüttelte den Kopf.
„Das kann ich nicht.“ Es war schlimm genug, dass sie es Reitzel gesagt hatte.
„Du solltest es versuchen“, sagte Reitzel geradeheraus mit einem kleinen Lächeln:
„Ihr seid euch nämlich ähnlicher als ihr glaubt.“ Immer noch lächelte Reitzel – ein eigenartig… wissendes Lächeln, welches Green etwas perplex dastehen ließ, als er sich zum Gehen wandte. Meinte er… dass sie mit ihm auch über die anderen Dinge sprechen sollte, die sie bedrückten? Mit ihrem Großvater, einem der größten Dämonenhasser, sollte sie darüber sprechen, dass sie sich nicht darüber freute, 5.000 Dämonen getötet zu haben? Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein! Dann gab sie ihrem Großvater doch nur noch mehr Grund, sie verändern zu wollen!
Reitzel verabschiedete sich, während Greens Gedanken sich überschlugen; meinte, er müsste noch ins Sanctuarian, dort wo Green morgen auch hinmüsse, wieder ins Büro von Hizashi… urgh, sie wollte gar nicht daran denken, dachte Green und verzog das Gesicht – bis ihr etwas einfiel, als sie an das scheußlich grüne Büro Hizashis im Sanctuarian dachte. Eine Frage – eine Frage, die sie an Reitzel weiterleitete.
„Reitzel, einen Moment!“ Die seidenen Locken des Hikari schwangen hin und her als Reitzel sich etwas überrascht herumdrehte und Green auf ihn zueilte, so schnell wie die hohen Absätze ihrer Schuhe es ihr erlaubten. Mittlerweile hatte sie dank vielen Stunden des Übens mit Itzumi zwar gelernt, wie sie gut auf ihnen gehen konnte, aber Laufen war dennoch eine Herausforderung.
„Ich denke eigentlich, dass du zurück solltest zu eurer Feierlichkeit“, erwiderte Reitzel etwas verwundert wirkend, aber Green interessierte sich nicht für die Feier.
„Kalt oder warm!“ Reitzel runzelte die Stirn und sah deutlich verwirrt aus – Green konnte sich vorstellen, dass er sehr selten so aussah, aber er konnte ihr offensichtlich nicht folgen.
„Ob unser Licht kalt oder warm ist, hat das einen Effekt auf unseren Charakter? Auf unsere Persönlichkeit? Ist es das, was uns nach der Weihe verändert? Hast du das beobachten können?“ Eigentlich hatte Green erwartet, dass Reitzels verwirrter Blick sich lichten würde, und dass er verstehen würde, was sie meinte, aber er tat es scheinbar nicht, denn mit jedem weiteren Wort hatte seine Verwirrung zugenommen, anstatt dass sie nachgelassen hatte – und das schien ihn sehr zu irritieren, denn obwohl er verwirrt war, sah er sehr ernst aus.
„Unser Licht…“, tastete Green sich vor:
„… es ist doch entweder kalt oder warm…?“
„Ich sage dies nicht oft und es beschämt mich auch diese Worte formen zu müssen, doch ich kann dir nicht folgen.“ Es schien ihn wirklich überaus zu irritieren und das verwirrte Green nur noch weiter. War das nicht… normales Allgemeinwissen? Aber jetzt wenn sie so darüber nachdachte… sie hatte noch nie einen Hikari darüber sprechen gehört…
„Aber warum hat Hizashi mich denn das gefragt…“ Reitzels Augen weiteten sich überrascht, ehe sie sich skeptisch verengten und seine Körpersprache veränderte sich ebenfalls – er wurde… abwehrender?
„Hizashi? Was hat Hizashi dich gefragt, Green?“ Vielleicht war es keine gute Idee, es ihm zu sagen, aber sie hatte sich bereits hineingeritten. Es war zu spät um einfach zu sagen, dass er sich nichts dabei denken sollte und dass sie einfach nur so dahin geredet hatte.
„Er hat mir aufgetragen, dass ich nach der Weihe darauf achten soll, ob mein Licht warm oder kalt ist.“ Reitzels Stirnrunzeln nahm zu und hinter seinen nun blau wirkenden Augen konnte Green schier sehen, wie sich abertausende Gedanken überschlugen. Oh oh… sie hätte es nicht sagen dürfen…
„Ich habe nicht verstanden, was er meinte, deshalb wollte ich dich fragen“, beeilte sie sich zu sagen, aber er schien ihr gar nicht mehr zuzuhören, weshalb sie hoffte, dass er ihre Lüge auch nicht durchschaut hatte, er – er wirkte jedenfalls sehr abgelenkt plötzlich, dennoch antwortete er ihr:
„Unser Licht ist weder kalt noch warm, daher ist die Frage in der Tat… befremdlich.“ Befremdlich war gar kein Ausdruck. Wenn Reitzel nichts davon wusste – welchen Green als sehr intelligent und wissend einschätzte – dann glaubte Green auch nicht, dass die anderen Hikari sich dessen bewusst waren. Aber warum war Hizashi es…?
„Einige Wächter empfinden unser Licht als warm, wenn sie geheilt werden…“, murmelte Reitzel nachdenklich:
„Aber warum solltest du darauf achten…“ Green hatte wirklich nicht das Gefühl, dass es eine gute Idee gewesen war, dieses Thema anzusprechen, weshalb sie auch froh war, als Reitzel sich plötzlich in aller Hast von ihr verabschiedete, wie als wäre er von einer plötzlichen Idee gestochen worden.
Als er weg war, atmete Green zwar erleichtert auf, aber sie glaubte nicht, dass es damit getan war und sie bereute mehr und mehr, dass sie diese dumme Frage gestellt hatte… Wie war es ihr nur gelungen, sich daran noch zu erinnern, nein, an die gesamte Weihe, wenn es niemand sonst getan hatte? Und warum nahmen die Hikari ihr Licht als neutral wahr? Hmm… Green hatte nur Whites Magie jemals gespürt und die hatte sich warm angefühlt… Das war doch komisch. Als sollten die Hikari nicht wissen, ob sie von Light oder von Hikaru erwählt worden waren. Aber wieso? Wozu? Vergaßen deswegen alle immer den Inhalt der Weihe? Weil sie das nicht mehr wissen sollten?
Aber warum hatte Hizashi ihr denn diese Frage gestellt, dachte Green sich, während sie wieder neben Saiyon Platz nahm, wenn er es doch eigentlich gar nicht wissen sollte? Und wenn er das wusste, konnte er sich denn genau wie Green noch an die gesamte Weihe erinnern…?
Saiyon warf Green einen besorgten Blick zu. Er fragte sie nicht, mit wem sie geredet hatte, denn genau wie andere der Gäste hatte er gesehen, wie Reitzel und sie zusammen weggegangen waren und wenn zwei Hikari miteinander sprachen, war es nicht üblich Fragen zu stellen, worüber sie miteinander gesprochen hatten – aber das Gespräch hatte Green deutlich aufgerüttelt.
Saiyon haderte etwas mit sich selbst, rang sich aber dennoch zu der Frage durch, ob sie miteinander tanzen sollten. Es war wohl nicht ganz… richtig, diese Frage zu stellen, denn natürlich konnte er sich vorstellen, dass Green im Moment absolut nicht mit ihm reden und erst Recht nicht mit ihm tanzen wollte, aber… Sie mochte das Tanzen so gerne und Mary hatte ihnen aufgetragen, dass sie es auf jeden Fall tun sollten. Vielleicht würde Green das besänftigen…? So oder so durften sie nicht auffallen.
Doch Green antwortete nicht. Sie starrte mit unbeweglichen Augen ins Nichts, wie es Saiyon vorkam. Hatte sie seine Frage nicht gehört?
„Green…?“ Er legte seine Hand unbemerkt auf ihren Oberschenkel.
„Geht es dir nicht…“ Doch da schlug sie seine Hand mit einem harten, aber präzisen Schlag weg.
„Findest du nicht, dass sowohl deine Frage als auch deine Handplatzierung sehr unangebracht ist…“ Ihre Stimme klang eisig; wie ein eisiger Speer, den sie direkt durch sein Herz rammte, doch eigenartigerweise… lächelte seine Verlobte… freundlich, als sie ihren Kopf zu ihm wandte.
„… Saiyon?“
„Entschuldige, Green, ich…“ Saiyon gab sich Mühe seine Gefühle und seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Zwar war das Tanzparkett bereits mit vielen Wächtern gefüllt und die Aufmerksamkeit aller sehr verstreut, aber Green, als deren Hikari, wurde immer angesehen und somit auch Saiyon.
„Oh, du solltest dich entschuldigen.“ Sie lächelte weiter, doch in ihren Augen lag eisige Kälte.
„Doch ob ich sie annehme…“ Green legte den Kopf etwas schief; eine ungewöhnliche Bewegung, die Saiyon noch nie an ihr gesehen hatte.
„Jedenfalls sollte der Herr Getreue…“ Das Lächeln wurde dünner, als Green sich zu ihm vorlehnte, beinahe so, als wolle sie seine Wange küssen. Aber das tat sie nicht. So sah es nur für neugierige Wächter aus; sie raunte ihm etwas in einem eiskalten Flüsterton zu:
„…erst einmal in sich gehen und seine Triebe unter Kontrolle halten, ehe er mich noch einmal um einen Tanz bittet.“ Ohne, dass Saiyon die Gelegenheit bekam, sich zu verteidigen oder überhaupt irgendetwas zu sagen, richtete Green sich prompt auf.
„Ich bin sehr erschöpft von den heutigen Ereignissen und werde die Nachtluft genießen, um mich zu erfrischen.“ Immer noch lächelnd drehte sie sich herum und gefolgt von Saiyons schockiertem Blick sowie Fireys besorgten Augen verließ Green den Saal. Firey wollte aufstehen und ihr hinterhergehen, aber da wurde ihre Hand von Azuma genommen.
„Ein kleiner Tanz, Fireyskat! Den wirst du ja wohl genehmigen können, oder?“ Auf ihrer anderen Seite tauchte Yuuki auf, der ebenfalls die Hand ausstreckte, etwas feierlicher als Azuma:
„Und um den danach würde ich gerne bitten…“
Green lächelte immer noch, als sie sich vom Tempel auf die einsamste aller Inseln teleportierte: nach Serenitias, der Insel der Stille. Die Stille war ihr Willkommen, aber sie nahm sich keine Zeit, diese zu genießen oder das Licht der Sterne zu bewundern. Sie nahm ohne Umschweife den bekannten Weg zur Grabstätte der Windwächter, zum Grab ihres Bruders. Sie ging über alle Brücken hinweg, vorbei an Statuen und Inschriften, vorbei an der ewig brennenden, hellblauen Flamme im Hauptsaal der Kaze. Niemand begegnete ihr und sie spürte auch niemanden. Kein einziger lebender Wächter befand sich im Moment auf Serenitias. Weder im Turm der Kaze, noch in einem der anderen Türme… sie war allein. Endlich allein. Das war es doch gewesen, was sie gewollt hatte, richtig…?
Dennoch – als sie ihre Hände auf die blanke Oberfläche des Glassargs gelegt hatte, in welchem ihr Bruder ruhte, verstand sie sich selbst nicht so recht.
„Was tue ich hier…?“
Eine Stimme hinter ihr antwortete der Frage der Hikari:
„Du bist hier, weil du meiner Einladung gefolgt bist, Fille.“
Ein Zucken ihres eigenen Körpers weckte die Hikari aus ihrer Starre und sie rutschte vom Tisch herunter. Gedanken begannen wieder zu kreisen: Gedanken an ihre Haare, an ihre Frisur, die ruiniert worden war… ihre geflochtenen Haare hatten sich gelöst und hingen in wirren Locken von ihrem Kopf herunter, fielen über ihre nackten Schultern. Wie viel Zeit war noch bis zum Fest? Sie musste an das Fest denken. An die Rede, die sie gleich halten musste. Ja, sie wusste, sie musste nun daran denken und an ihre Haare und an Itzumi, die sie schnell rufen musste, um all diese Probleme anzupacken, aber dieses Mal ging es nicht. Dieses Mal konnte ihr Kopf, ihr Herz es nicht vollbringen, die Gedanken wieder auf Automatik zu stellen und wie immer alle Gedanken an Blue, an Gary und nun auch an Saiyon zurückzudrängen.
Ein Schluchzen befreite sich aus ihrer Kehle, so verzweifelt, dass es klang, als kündigte sich ein Tränenkrampf an, aber Green biss sich auf die Lippen, schlang die Arme um ihre Brust und krümmte sich, im verzweifelten Versuch die Gefühle zurückzudrängen, sie in sich zu verschließen, dort wo sie hingehörten, dort, wo sie niemand berühren konnte.
Aber es ging nicht.
Sie hatte zu viel an diesem Abend gesagt; zu vieles, was sie eigentlich verschlossen hatte und nun fühlte es sich so an, als wäre ein Damm gebrochen. Green wurde schwarz vor Augen, als sie ihr Glöckchen umklammerte und sie hielt es auch noch umklammert, als sie zu taumeln begann. Ohne es zu bemerken, fand ihre freie Hand Halt an dem Torbogen, der zu ihrem Schlafzimmer führte, doch der Halt war trügerisch und erschöpft setzte Green sich, leicht schwankend, auf die Bettkante nieder.
Lange saß Green allerdings nicht zitternd auf der Bettkante, ehe sie förmlich auf das Bett herunterfiel und mit ihr ihre Tränen, die sie einfach nicht zurückhalten konnte.
„S-Stop… nicht… ich will nicht weinen… ich will nicht…“ Doch ihr Körper – oder war es ihr Herz? – hörte nicht auf sie. Die Tränen fielen und fielen und sie verstand nicht wieso. Ein Damm war gebrochen, dessen Dasein sie versucht hatte zu verdrängen. Sie hatte Saiyons Geschmack noch auf der Zunge, spürte noch seinen festen Griff und diese schreckliche, komische Ohnmacht, die sie noch nie zuvor gespürt hatte und wünschte sich so sehr, dass das alles nicht wahr war. Dass sie nicht eben gegen ihren Willen von ihrem Verlobten geküsst worden war und dass sie nicht das Gefühl hatte, dass er sie hätte vergewaltigen wollen; dass sie gar nicht erst im Tempel war, dass sie keine Hikari mehr war und dass sie gerade erst 17 geworden war und glaubte, ihr größtes Problem sei es, einen Moment zu finden, wo sie Gary ihre Liebe gestehen konnte, ohne dass es Siberu auffiel oder ihm wehtun würde.
„N-Nein…! Nicht…!“ Alles Flehen brachte nichts. Der Schrei in ihr, die Sehnsucht in ihr war größer als jedes Flehen. Sie wollte zurück! Sie wollte zurück in ihre Traumwelt! Sie wollte in Garys und Siberus Arme fliehen und sich endlich wieder warm und zuhause fühlen… sie durfte den Gedanken nicht haben, er war so dumm, so schwach und absolut…
„Onii-chan, warum… warum hast du von Gary gesprochen…!? Ich will nicht an ihn denken, nicht an sie, nicht an uns…! Ich will nicht… ich will nicht…!“ Verzweifelt und mit immer mehr Tränen presste die verlorene Hikari sich die zusammengeballten Fäuste gegen die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, aber die Worte konnten sie nicht aufhalten.
„Ich will nicht wieder hoffen! Ich will auf nichts hoffen! Grey!? Warum!? WARUM?!“ Voller Verzweiflung und mit aufsprudelnden Gefühlen, die schier überliefen, wälzte Green sich herum im Bett und ihre Fäuste trafen das Laken, wo ihre Finger sich festkrallten, während die Hikari sich verkrampfte. Sie hatte Saiyon nicht angelogen: sie wusste nicht, warum Grey von Gary gesprochen hatte, aber die Worte hatten etwas wachsen lassen, einen kleinen Funken Hoffnung – und diesen wollte sie nicht! Er sollte nicht existieren! Warum ließ sie zu, dass er wuchs?!
„Es ist wohl, weil du einsam bist…“ Green riss die Augen auf. Sie lag mit dem Kopf in die Decke gedrückt, mit den Händen den Stoff an sich geklammert, mit Tränen, die herunter liefen, aber sie kamen zum Stillstand, als sie diese bekannte Stimme hörte, die sie… schon sehr lange nicht mehr gehört hatte. Blues Stimme.
„… und du die Kälte deines Verlobten gespürt hast, deines ach so perfekten Getreuen.“ Er war nicht da, das wusste sie. Das wusste ihr Kopf, aber ihr Herz war erstarrt und ihr wurde noch kälter, als sie sich herumdrehte und Blues rote Augen sah, die auf sie heruntersahen, denn er hatte sich über sie gebeugt, genau so wie damals… damals in Lerenien-Sei, als er ihr Glöckchen zerstört hatte. Nicht mit einer Waffe. Nur mit seinen Worten.
Aber Green wehrte sich nicht. Sie sah zu dem Dämon empor, mit versiegenden Tränen. Sie sah in seine Augen, hörte auf zu atmen und ihre Lippen bebten. Er hatte sie auch geküsst. Damals, genau als es passiert war. Gleich danach… genauso kalt und schmerzhaft war es gewesen wie Saiyons Kuss.
„Du bist schwach, Green. Deshalb weinst du…“ Sie starrte auf sich bewegende Lippen, die näherkamen.
„… deshalb hoffst du.“ Wut, Zorn und Hass packte Green jäh wie eine Welle und mit einem Schrei spie sie ein „NEIN!“ aus, packte die kleine Lampe, die neben ihrem Bett stand und schleuderte sie durch Blue hindurch, direkt auf den Spiegel vor dem großen Bett, der in tausend Scherben zersprang. In einem glitzernden Regen ergossen diese sich über den Boden des Schlafzimmers und auch über das Bett, rammten auch Green, die die Kratzer und das Blut jedoch nicht bemerkte, zu sehr brannten ihre Augen.
„Nein…“ Ihre Stimme zitterte und sie konnte die Worte kaum formen.
„… ich bin nicht schwach!“
Erst da bemerkte Green, dass Itzumi im Türbogen stand.
Sie hatte ihre Herrin schon in einigen Situationen gesehen und in vielen Gemütszuständen, aber etwas an Green – und wahrscheinlich die Tatsache, dass sie gerade gesehen hatte, wie ihre Hikari den großen Standspiegel zerstörte – brachte ihre professionelle, ernste Maske zum Bröckeln. Sie war etwas bleich geworden und in der betretenen Stille, die zwischen ihnen herrschte, schien sie zu überlegen, ob sie einfach gehen sollte.
„Das Fest…“ Die Stimme der Tempelwächterin zitterte ein wenig.
„… zu Euren Ehren… es wird gleich beginnen. Ihr… Ihr solltet…“ Fahrig und plötzlich überrascht, griff Green sich an den Hinterkopf, wo ihre Haare wüst herunterhingen und sah auch auf ihr Kleid herunter, welches absolut zerknittert und mit glänzenden Scherben gemustert war. Ein ehrliches, deutsches „verdammte Scheiße“ entfloh Green und eigenartigerweise waren es genau diese fluchenden Worte, die Itzumi aus ihrer Starre weckten.
„Beeilt Euch, Hikari-sama.“ Itzumi wandte ihrer verwirrten Hikari schon den Rücken zu:
„Ihr werdet ein anderes Kleid tragen müssen.“ Green stellte keine Fragen, sondern tat sofort, was ihre Tempelwächterin ihr aufgetragen hatte, während sie aus dem Ankleidezimmer hörte, wie die Tür des gigantischen Wandschranks geöffnet wurde. Mit einem Kleid, welches Green noch nie getragen hatte, kam Itzumi zurück, genau im richtigen Moment, um ihrer Hikari aus dem Korsett zu helfen, als hätte sie gespürt, dass Green nicht weiterkam mit dem Entkleiden. Ein paar flinke Handgriffe, dann lag das weiße Kleid auf dem Boden und Green folgte Itzumi ins Ankleidezimmer, wo ihre Tempelwächterin mit unglaublicher Hast ihre Haare öffnete, nachdem sie Green in das neue Kleid geholfen hatte, mit der Bürste in der einen Hand und den Nadeln für ihre Haare zwischen die Lippen geklemmt. Das Kleid, welches Green nun trug, war ebenfalls weiß, endete aber in einem langen, dunkelblauen Saum, der nicht für einen Tanz geeignet war. Green konnte sich nicht vorstellen, dass das in Marys Sinn war, denn sie hatte ihrer Nachfahrin immer wieder eingebläut, wie wichtig es sei, dass sie mit Saiyon tanzte, aber… Green sagte es Itzumi nicht. Sie wusste es sicherlich genauso gut wie ihre Herrin, deren Haare sie gerade hochsteckte.
„Itzumi.“ Green versuchte ihre Stimme ernst und fest klingen zu lassen, wie eine Stimme, die zu einer Herrin passte, die zu ihrer Dienerin sprach.
„Ich muss darauf bestehen, dass dieser Zwischenfall nicht dieses Gemach verlässt. Also…“ Jetzt verlor Green wieder die Härte:
„… du darfst es niemandem erzählen.“ Itzumi sah sie nur kurz durch den Spiegel an, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, dann antwortete sie, mit den Augen wieder gänzlich den nussbraunen Haaren Greens gewidmet:
„Es kursieren sehr viele Gerüchte über Euch auf unseren Inseln, Hikari-sama, aber keines davon stammt von mir.“ Misstrauisch verengten sich Greens Augen: Selbstverständlich glaubte sie ihr kein Wort, was Itzumi auch bemerkte.
„Es gibt mehr Tempelwächter als mich, die dieses Gemach betreten, Hikari-sama, und mit Verlaub… Ihr seid nicht sonderlich vorsichtig.“ Ob Green sie beleidigt hatte? Itzumi klang ein wenig so, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ und ihre Arbeit einfach fortsetzte und Green hier und dort ein Zwicken auf ihrer Kopfhaut spürte. Green beobachtete ihre Bewegungen im Spiegel: ihre flinken Hände und ihre konzentrierten Augen… und sah ab und zu das Aufflimmern der Perlen, die sie als unauffälliges Armband um ihr Handgelenk trug, das Zeichen der Tempelwächter, die ihr Leben einem Wächter gewidmet hatten. Reitzels Worte, die er ihr vor gut einem Monat nach der Eröffnung des Krieges gesagt hatte, hallten in ihren Ohren nach, als er Itzumi gesehen hatte:
„Sie ist sehr besorgt um dich.“
… war sie das wirklich? War sie für sie nicht nur eine Last… eine Schande? Nach der Weihe hatte Itzumi nichts gesagt. Gar nichts darüber, dass Green die Götter erzürnt hatte. Kein einziges, verstecktes Wort, keine einzige Spitze. Nichts.
„Ich spreche nur mit meinem Bruder über Euch, aber ich denke das ist in Eurem Sinne.“ Green fühlte sich etwas ertappt und plötzlich tat es ihr ein wenig leid, wie gerne sie Itzumi immer mit Ryô austauschen wollte.
„Wie geht es ihm? Und wie geht es Ilang?“, fragte Green und versuchte Itzumi anzusehen, aber diese war zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt.
„Ich habe ihn heute noch nicht gesehen, Hikari-sama.“ Ah… ja, natürlich hatte sie das nicht. Tempelwächter hatten wirklich ein sehr eingeschränktes Leben.
„Darf ich dich etwas fragen, Itzumi?“ Jetzt sah ihre Tempelwächterin allerdings auf, gerade als sie damit beginnen wollte, Green zu schminken. Make-up war in der Regel nicht üblich unter den Wächtern und auch Green wurde eigentlich nicht geschminkt, aber sie mussten ihre roten Wangen und die Tränen kaschieren. Obwohl sie eigentlich keine Zeit mehr hatten, war Itzumi dennoch verharrt und sah Green genauso skeptisch an, wie die selbst von ihren Worten und ihrem Tonfall verwirrt war. (wer ist wie verwirrt xD?)So sprach sie eigentlich nicht mit Itzumi und das wussten sie beide.
„Ihr müsst nicht um Erlaubnis bitten“, antwortete Itzumi und verteilte das Puder sachte auf Greens Wangen.
„Stellt Eure Frage.“
„Warum warst du so erschrocken, als du in mein Zimmer gekommen bist und mich gesehen hast?“ Das weiße Puder hing wie kleine Staubwölkchen in der Luft zwischen den beiden etwas starren Wächtern, bis Itzumi zögernd ihre Stimme wieder fand:
„Ihr habt mit einer Lampe den Spiegel zerschmettert. Ihr habt schon unter einer Vielzahl von emotionalen Ausbrüchen gelitten, doch Euren Spiegel habt ihr bis jetzt nicht zerstört.“ Das konnte Green wohl nicht verneinen…obwohl sie den Spiegel sicherlich nicht hinterher weinte. Warum hatte Shaginai eigentlich einen so großen Standspiegel vor das Bett gestellt?!
„Ich werde die Lampe ersetzt haben, ehe Ihr wieder hierhin zurückkehrt. Was den Spiegel angeht…“ Sie steckte Green ihre Ohrringe an, große, goldene Ohrringe, die wie Sonnen aussahen.
„… mit diesem eilt es nicht, nehme ich an?“ Green musste beinahe ein Grinsen unterdrücken. Woher hatte Itzumi denn das gewusst?
Als die Ohrringe endlich an ihrem Platz waren und Itzumi Green ein schlankes Diadem in die Haare steckte, war die Ankleidung der Hikari genau eine Minute vor Beginn der Festlichkeit abgeschlossen. Es war unglaublich, was Itzumi in so kurzer Zeit hervorzaubern konnte – tatsächlich gefiel Green ihr Aussehen nun sogar besser als vorher. Doch obwohl sie nur noch eine Minute hatte – aber Regime-Führerinnen durften auch mal zu spät kommen, fand sie – wurde sie doch noch einmal von Itzumi aufgehalten und das nicht, um noch eine Kleinigkeit zu richten.
„Ich war noch aus einem anderen Grund etwas… erstaunt.“ Green drehte sich mit wehendem Umhang herum und sah ihre Tempelwächterin verwundert an. Doch ihre Gesichtszüge wurden sobald starr, als Itzumi antwortete:
„Eure Augen, Hikari-sama, waren wieder weiß geworden.“
Saiyon war der letzte der Elementarwächter, der letzte aller Wächter im Saal, der den Kopf senkte, als Green, die Hauptperson des heutigen Abends, im Festsaal des Tempels erschien. Seine Verzögerung war kein Privileg als Getreuer; er hätte sich genauso schnell und elegant verbeugen müssen wie die anderen Elementarwächter es getan hatten, aber er konnte nicht – er starrte Green zu verblüfft an, wie betäubt von ihrer erhabenen Schönheit. Er empfand sie immer als hübsch – natürlich tat er das! – aber heute Abend war sie schön auf eine andere Weise. Das, was er da sah und was ihm den Atem nahm, war nicht die Schönheit seiner Verlobten, sondern die Schönheit einer Hikari, einer Person, die an diesem Tag zu einer Heiligen geworden war.
Sofort fühlte er sich miserabel; noch miserabler als zuvor und er hätte sich Green am liebsten vor die Füße geworfen, um um Vergebung zu flehen, doch er hielt stand… das Flehen um Vergebung musste warten. Doch es gelang ihm nicht, den Blick von ihr abzuwenden – sie war wie verwandelt. Keine einzige Träne war auf dem Gesicht seiner Hikari zu sehen.
Green war gekleidet in ein langes, weißes Kleid mit hell- und dunkelblauen Verzierungen an den langen Ärmeln und der Schleppe, die sie hinter sich herzog. Der Stehkragen (spezielle Bezeichnung?) ragte an ihrem Hinterkopf in die Höhe und verlieh ihrem Gesicht einen geschmückten Rahmen, auf welches jeder, dessen Rang hoch genug war, einen ungehinderten Blick erhaschen konnte, denn ihr Haar war hochgeflochten worden in eine auffällige, elegante Frisur, bei der Itzumi sich wirklich selbst übertroffen hatte… Hinter Green wehte ein weißer, seidener Umhang, der ihr etwas Kriegerisches gab, zusammen mit den blau-goldenen Schulterpolstern, die aussahen wie Flügel. Saiyon schluckte. Green… seine Green… sah aus wie eine Braut und eine Kriegerin zugleich und gänzlich… anders, als wie er sie… zurückgelassen hatte. Gott, was hatte er nur…
Als Saiyon sich nun ebenfalls verbeugte, waren sämtliche Köpfe im großen Saal Richtung Boden geneigt, von Tempelwächter, zum Offizier, zu Elementarwächter. Alle, bis auf die Elementarwächter, waren auf die Knie gegangen und sie erhoben sich auch nicht, als Green an ihnen vorbeiging, ganz langsam, so wie Mary es ihr immer gesagt hatte. Sie waren nicht bei einem Marathon, sagte sie immer: Es ging um den Eindruck, den man hinterließ und den wollten die Wächter gerne genießen. Sie mussten diesen Eindruck mit nach Hause nehmen und ihn dann immer noch spüren. Wenn sie nicht bewegt genug waren, um es ihren Kindern zu erzählen, dann hatte Green etwas nicht richtig gemacht.
Unter der goldenen Kuppel, wo die gemalten Elementargottheiten ihre Lobeslieder sangen, schritt Green langsam mit wehendem Umhang durch das Meer der geneigten Häupter hindurch, die es alle nicht wagten emporzusehen. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie am Ende, in der Mitte ihrer Elementarwächter, angekommen war, dort wo man eine Lücke für sie gelassen hatte. Saiyon stand rechts von ihr, welchen sie gänzlich ignorierte, als gäbe es ihn nicht; Kaira links und erst als Green sich herumgedreht hatte und für einen kurzen Augenblick Hunderte von Wächtern sah, die sich alle vor ihr verneigten, hoben ihre Elementarwächter den Kopf, woraufhin auch die anderen Wächter es taten, als hätten sie ein Signal dafür gespürt.
„Alle unsere Götter sind beglückt von diesem Tag“, begann Green die Worte, die Mary ihr in aller Hast eingetrichtert hatte und von denen Green kein einziges Wort glaubte, aber es interessierte sie zu wenig, um zu protestieren. Sie trug die Rede Marys einfach vor wie eine Puppe und versuchte zu lächeln, aber sie wusste nicht, ob ihr das gelang. Sie scheiterte sicherlich auch daran, jeden einzelnen Wächter anzusehen, denn ihre Augen suchten nur einen Wächter, nur eine Person… und fanden sie nicht. Während ihr Herz schwerer und schwerer wurde, erzählte sie von dem Segen der Elementgottheiten und dass sie sie auf ihren Wegen behüten würden… und versuchte dabei nicht auf Ilangs Blick zu achten, den sie nun absolut nicht gebrauchen konnte… Leider war es auch nicht nur Ilangs Blick, in dem etwas Ungesagtes lag, sondern auch Azura und natürlich Saiyon… Kaira und Shitaya sahen feierlich und ernst aus wie immer, aber womöglich waren sie auch einfach zu professionell, um sich etwas anmerken zu lassen… Green hätte wirklich lieber vor dieser Rede mit ihnen gesprochen, sie wussten immerhin wie wenig Wahrheit in diesen Worten lag. Hoffentlich waren sie sich alle in Klaren darüber, dass Green die Rede nicht selbst geschrieben hatte.
Aber nichts war so wichtig wie Silence – und nichts war so schlimm wie sie nicht zu sehen und zu spüren. Sie hatte ihr gar keine Zeit gelassen, sich zu rechtfertigen. Silence hatte ihren Richtspruch über Green herabregnen lassen wie einen giftigen Regen und war dann mit ihren kalten, verurteilenden Augen verschwunden und fast war Green dazu verleitet zu glauben, dass das gut so gewesen war, denn… wenn sie nicht gegangen wäre, hätte sie Green… ihre Feindin… womöglich irgendwie angegriffen? Es hatte in ihren Augen gelegen…
Hikaru war ihre Feindin und Green…
Dabei – Green streifte wieder Saiyons Blick – brauchte sie Silence jetzt ganz besonders. Sie brauchte ihren Rat. Sie musste sich mit ihr austauschen… sie wollte mit ihr reden. Über Saiyon, über Greys Worte, über ihre weißen Augen…
Nach der Rede und dem einstimmigen „Für den Frieden!“ war es Zeit für den ersten Gang, eine Cremesuppe mit Blaubeeren in weißen Porzellantellern mit Goldrand, gereicht von Tempelwächtern, die angenehm warm, aber nicht zu heiß war. Normalerweise hätte Saiyon sich gerne zu Green gebeugt, nun, da alle anfingen leise miteinander zu reden und hätte ihr das Kompliment zugeraunt, wie wunderschön sie heute aussah, aber das kam ihm sehr heuchlerisch vor. Es war immerhin ihm und… was auch immer… zu verdanken, dass Green sich in aller Hast hatte umkleiden müssen und sie hatte nun auch eine andere Frisur, ebenfalls wegen ihm… und vielleicht waren ihre Augen auch so dunkel wegen ihm. So von Nahem sah er auch, dass sie leicht gerötet waren und sein schlechtes Gewissen stieg in ungeahnte Höhen. Er konnte sich nicht erklären, was über ihn gekommen war…
Green ignorierte ihn und aß ihre Suppe, während Kaira auf ihrer anderen Seite proklamierte, dass sie deren ersten Einsatz in der Dämonenwelt gar nicht abwarten konnte, um deren neue Elementverbundenheit zu testen. Azuma stimmte zu, Firey versuchte mit Green einen Blick auszutauschen, doch sie sah ins Nichts, während Shitaya sie daran erinnerte, dass sie erst einmal am nächsten Tag einige Trainingsstunden vor sich hatten. Sie sollten daher den heutigen Abend genießen, ehe die Arbeit wieder begann, bei der er hoffte, dass sie alle mit erfrischtem Elan an diese herantreten würden.
Green genoss überhaupt nichts – nun, die Suppe war gut – sie wollte immer noch einfach nur weg. Sie wollte nicht neben Saiyon sitzen und sie wollte nicht so tun, als wäre sie von den Göttern geliebt, wenn sie am Vortag wortwörtlich gegen sie gekämpft hatte. Insgeheim hielt sie etwas Ausschau nach Ryô, aber er stand nicht hinter Ilang… und woanders wäre er nicht tätig, denn er war ja kein Mitglied des herkömmlichen Dienstpersonals. Aber wenn er nicht bei Ilang war, wo war er dann?
Doch Green entdeckte jemand anderen – oder eher, jemand entdeckte sie. Sie war nicht die einzige Hikari im Saal, auch wenn sie das geglaubt hatte, denn die Eciencé-Zeit aller Hikari war eigentlich verronnen… aber nicht die von Reitzel. Er stand außerhalb, unbeteiligt an der Feier, mit der Hand auf einer Säule und schien offensichtlich darauf gewartet zu haben, dass sie seinen Blick bemerkte. Sie konnte sich kein Bild davon machen, was er von ihr wollte, doch sofort entschloss sie sich, sich bei der ersten Gelegenheit zu ihm zu gesellen – die Gelegenheit bot sich ihr erst nach gut einer Stunde, aber scheinbar war das, was er von ihr wollte, so dringlich, dass er warten konnte, denn er war nicht ins Jenseits zurückgekehrt, sondern wartete in der zum Saal anschließenden Säulengalerie auf sie.
Erst als sie da draußen war und Reitzel sie grüßend anlächelte, anstatt sich zu verneigen oder zu verbeugen, bemerkte sie, dass ihr das viel lieber war – einem Wächter ins Gesicht zu sehen und mit einem Lächeln begrüßt zu werden war doch viel schöner, als von einem gesenkten Haupt… alles hatte sich also scheinbar nicht verändert. Hikaru würde doch sicherlich keinen Wert darauf legen, von einem Lächeln begrüßt zu werden…?
„Guten Abend, Green“, grüßte er sie überraschend auf Deutsch – perfektem Deutsch – aber er fuhr nicht in dieser Sprache fort:
„Ich gratuliere dir für das überaus erfolgreiche Ausführen der Weihe.“ Ah, er hatte so eine verdammt angenehme Stimme; eine so warme, sanfte Stimme und so weiche Augen, die einfach alles zu verstehen schienen. Green wusste, dass alle Hikari sich von ihm fernhielten, weil er zu gut darin war, sie alle zu durchschauen, aber sie war gerade wirklich froh, ihn zu sehen. Sie kannten sich zwar streng genommen nicht, aber seine Aura war so guttuend, dass es sie sogar zu einem Lächeln verleitete, obwohl sie überhaupt nicht mehr von der Weihe sprechen wollte.
„Danke, Reitzel.“ Sie schmunzelte wirklich.
„Aber ich denke nicht, dass das der einzige Grund ist, weshalb du hier bist – oder doch?“ Reitzel lächelte immer noch, aber er antwortete nicht, weshalb Green fortfuhr, etwas unbedacht wie sie allerdings schnell bemerkte:
„Immerhin gibt es im Jenseits im Moment so viel zu besprechen…“ Es war ihr einfach so herausgerutscht und sie wollte sofort die Worte zurücknehmen, als Reitzel ihr zuvorkam:
„Für die Hikari, die Mitglieder des großen Rates sind, ja.“ Und das war er ja nicht. Weil er es nicht durfte, weil sie ihn nicht haben wollten – und Green hatte ihn gerade erfolgreich daran erinnert, sie Idiotin!
„Entschuldige, Reitzel, ich weiß es ja, du hast es mir ja schon gesagt, aber…“ Lächelnd fiel er ihr ins Wort:
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich nehme es als Kompliment. Immerhin hältst du mich scheinbar des Rates für würdig.“ Greens Wangen wurden rot und sie fuhr hoch – natürlich tat sie das! Sie konnten dort doch gut jemanden gebrauchen, der mal ein wenig netter war und besonnener und vernünftiger… Das sagte sie ihm auch sofort, doch das etwas wehmütige Lächeln auf Reitzels Gesicht sagte ihr, dass er ihr das nicht ganz glaubte. Er schien auch nicht mehr darüber reden zu wollen, denn mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie ihm folgen sollte und die beiden Hikari begannen der dunklen Säulengalerie hinabzugehen, die einmal um den Saal herumging, wo er das Thema wechselte.
„Um deine Frage zu beantworten, Green…“ Er zögerte ein wenig, dann schmunzelte er in sich hinein, die Arme auf den Rücken legend.
„Nun, die Regeln verbieten mir das Lügen, daher werde ich dir die Wahrheit sagen, auch wenn diese dir komisch vorkommen wird. Hizashi hat von nichts anderem als von deinem Licht gesprochen, als er zurückkehrte ins Jenseits und das hat meine Neugierde geweckt. Da er aber nur über dein Licht sprach, aber nicht über dich, wollte ich selbst sehen, wie es um dein Befinden steht. Die Weihe ist immerhin auch sehr zehrend an der Seele und… zugegeben… habe ich dafür ein besseres Auge als er. Ich möchte daher einfach nur mit dir sprechen, um zu sehen, ob es dir gut geht.“ Green runzelte die Stirn.
„Als… Patientin?“ Er sah zu ihr und in dem Halbdunkel der Galerie bemerkte Green, wie anders seine Augen aussahen im Vergleich zu den der anderen Hikari. Sie waren hell, aber… sie wirkten nicht weiß, sondern rosa und blau zugleich. Wie die Oberfläche einer Perle, die sich unterschiedlich zeigte je nach dem wie der Lichteinfall war.
„Nein, von Hikari zu Hikari. Als Familienmitglied. Ich bin immerhin nicht viele Jahre von dir entfernt.“ Moment – war er? Oh je, das stimmte. Er war… zwei Generationen vor ihrem Großvater geboren? Oder eine? Argh, sie wusste es nicht mehr! Sie waren sich jedenfalls näher als sie und Seigi zum Beispiel. Oder Hizashi, der vor tausend Jahre gelebt hatte.
„Wenn du mich allerdings in meiner Profession als Psychiater benötigst, dann stehe ich dir selbstverständlich zur Verfügung.“ Das war sicherlich nett gemeint, aber das war nichts, was Green gerne hörte… aber sie wollte nicht so sein wie die anderen Hikari, die deswegen Abstand von ihm nahmen. Sie verstand sich im Augenblick selbst nicht – vielleicht war es gut, wenn jemand anderes sie verstand? Alle feierten sie und sie sollte sich selbst eigentlich auch feiern – sie hatte immerhin gegen Götter gekämpft und sie besiegt! – aber sie konnte sich einfach nicht freuen und das lag nicht nur an Silence und Saiyon. Green wusste ganz genau, weshalb Firey sie so unbedingt hatte ansehen wollen, welche Frage in ihrem Blick lag – eine Frage, die Green gar nicht beantworten konnte und die sie nicht einmal hören wollte. Freute sie sich darüber, so viele Dämonen ausgelöscht zu haben? Fand sie es gut?
Sie sollte es gut finden. Sie sollte stolz darauf sein. War es nur wegen Silence, dass sie es nicht war? Ja… Green sah in Reitzels Augen… sie verstand sich selbst wirklich nicht mehr.
„Ich wirke nicht wie eine Person, die besonders glücklich ist oder?“ Reitzel sah sie lange an, ehe er sachte den Kopf schüttelte und seine Locken dabei im sanften Mondlicht leuchteten.
„Alle freuen sich… und ich sollte es auch, oder? Ich sollte sicherlich stolz auf mich sein. Aber irgendwie bin ich es nicht.“ Was sagte sie da eigentlich? Was sagte sie da einem Hikari? Sie sagte da eigentlich nichts anderes als dass sie sich nicht darüber freute, dass sie Dämonen getötet hatte – und das zu einem Hikari. Dabei wusste sie selbst nicht einmal, ob das wirklich stimmte oder ob sie nicht einfach… überangestrengt war.
„Du hast doch auch schon ein paar Hikari getroffen“, beeilte Green sich zu sagen, um Reitzel nicht dazu zu zwingen, auf diese dummen Worte zu antworten und weil sie seinen analysierenden Blick auf sich spürte.
„Hat die Weihe schon einmal jemanden verändert?“
„Die Weihe verändert jeden von uns, deswegen war deine Mutter ja auch so besorgt um dich und wollte die Weihe verhindern, während andere Ratsmitglieder sie sehr vehement befürwortet haben in der Hoffnung, dass sie dich in eine konformere Richtung leiten würde.“ Green sah ihn etwas verblüfft an – das war sicherlich nichts, was er ihr hätte erzählen dürfen. Aber das war plötzlich gleichgültig, denn ein beklemmender Gedanke drängte sich ihr auf, der ihr das Gehen erschwerte. Ihr Großvater war derjenige gewesen, der gewollt hatte, dass sie die Weihe machte. Hatte er das gewollt, weil… er gehofft hatte, dass sie sich veränderte?
War das sein Ziel gewesen? Dass sie eine normale Hikari wurde…?
„Green…“ Sie sah ihn, der sie besorgt musterte, etwas widerstrebend an, denn ihre Gedanken kreisten zu sehr um Shaginai – doch sein Blick, ernst und besorgt, fesselte sie auf irgendeine magische Weise, als forderten seine Augen, dass sie sich nicht abwandte und an nichts Anderes dachte als an ihn.
„… Schweigen ist für gewöhnlich der Weg in größere Missverständnisse anstatt zur Klarsicht, so wie ein aufschlussreiches Gespräch es sein kann. Schweigen bietet zu viel Raum für fehlgeleitete Spekulationen.“ Hatte… hatte er sie etwa sofort durchschaut?
„Großvater ist nicht unbedingt der Typ für klärende Gespräche…“ Zu Greens Überraschung lächelte Reitzel in sich hinein.
„Nein, das stimmt, es hat ihm allerdings auch nie jemand beigebracht.“ Wenn Reitzel da gerade angedeutete, dass Green ihrem Großvater irgendetwas beibringen sollte, dann kannte er Shaginai nicht gut – als ob er irgendetwas lernen konnte. Er war absolut lernresistent! Aber der Gedanke, dass er sie womöglich deshalb dazu hatte bringen wollen, die Weihe zu vollziehen, um eine Veränderung zu erzwingen, beschäftigte sie in der Tat mehr als sie sich selbst eingestehen wollte… und er schmerzte auch mehr als sie es wollte. Eigentlich war es dumm von ihr, dass es ihr wehtat: Shaginai hatte eine Hinrichtung ihrerseits veranlasst – und selbst durchgeführt – weil sie anders war… es war doch eigentlich sehr naheliegend, dass er die Weihe dazu hatte benutzen wollen, dass sie den Hikari mehr ähnelte…? Warum tat das weh? Warum überraschte es sie?
„Ich glaube nicht, dass ich ihm irgendetwas beibringen könnte, geschweige denn, dass ich…“ Sie zögerte.
„… mit ihm über…“ Sie sollte mit überhaupt niemandem darüber reden! Das war es doch! Sie sollte diese Skrupel und diese Übelkeit gar nicht erst empfinden! Gott! Sie war eine Hikari, eine Wächterin – sie tötete Dämonen! Wenn sie sich solche Gedanken um tote Dämonen machte, dann war sie wirklich anders, viel zu anders als ihre Familienmitglieder…
Green schüttelte den Kopf.
„Das kann ich nicht.“ Es war schlimm genug, dass sie es Reitzel gesagt hatte.
„Du solltest es versuchen“, sagte Reitzel geradeheraus mit einem kleinen Lächeln:
„Ihr seid euch nämlich ähnlicher als ihr glaubt.“ Immer noch lächelte Reitzel – ein eigenartig… wissendes Lächeln, welches Green etwas perplex dastehen ließ, als er sich zum Gehen wandte. Meinte er… dass sie mit ihm auch über die anderen Dinge sprechen sollte, die sie bedrückten? Mit ihrem Großvater, einem der größten Dämonenhasser, sollte sie darüber sprechen, dass sie sich nicht darüber freute, 5.000 Dämonen getötet zu haben? Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein! Dann gab sie ihrem Großvater doch nur noch mehr Grund, sie verändern zu wollen!
Reitzel verabschiedete sich, während Greens Gedanken sich überschlugen; meinte, er müsste noch ins Sanctuarian, dort wo Green morgen auch hinmüsse, wieder ins Büro von Hizashi… urgh, sie wollte gar nicht daran denken, dachte Green und verzog das Gesicht – bis ihr etwas einfiel, als sie an das scheußlich grüne Büro Hizashis im Sanctuarian dachte. Eine Frage – eine Frage, die sie an Reitzel weiterleitete.
„Reitzel, einen Moment!“ Die seidenen Locken des Hikari schwangen hin und her als Reitzel sich etwas überrascht herumdrehte und Green auf ihn zueilte, so schnell wie die hohen Absätze ihrer Schuhe es ihr erlaubten. Mittlerweile hatte sie dank vielen Stunden des Übens mit Itzumi zwar gelernt, wie sie gut auf ihnen gehen konnte, aber Laufen war dennoch eine Herausforderung.
„Ich denke eigentlich, dass du zurück solltest zu eurer Feierlichkeit“, erwiderte Reitzel etwas verwundert wirkend, aber Green interessierte sich nicht für die Feier.
„Kalt oder warm!“ Reitzel runzelte die Stirn und sah deutlich verwirrt aus – Green konnte sich vorstellen, dass er sehr selten so aussah, aber er konnte ihr offensichtlich nicht folgen.
„Ob unser Licht kalt oder warm ist, hat das einen Effekt auf unseren Charakter? Auf unsere Persönlichkeit? Ist es das, was uns nach der Weihe verändert? Hast du das beobachten können?“ Eigentlich hatte Green erwartet, dass Reitzels verwirrter Blick sich lichten würde, und dass er verstehen würde, was sie meinte, aber er tat es scheinbar nicht, denn mit jedem weiteren Wort hatte seine Verwirrung zugenommen, anstatt dass sie nachgelassen hatte – und das schien ihn sehr zu irritieren, denn obwohl er verwirrt war, sah er sehr ernst aus.
„Unser Licht…“, tastete Green sich vor:
„… es ist doch entweder kalt oder warm…?“
„Ich sage dies nicht oft und es beschämt mich auch diese Worte formen zu müssen, doch ich kann dir nicht folgen.“ Es schien ihn wirklich überaus zu irritieren und das verwirrte Green nur noch weiter. War das nicht… normales Allgemeinwissen? Aber jetzt wenn sie so darüber nachdachte… sie hatte noch nie einen Hikari darüber sprechen gehört…
„Aber warum hat Hizashi mich denn das gefragt…“ Reitzels Augen weiteten sich überrascht, ehe sie sich skeptisch verengten und seine Körpersprache veränderte sich ebenfalls – er wurde… abwehrender?
„Hizashi? Was hat Hizashi dich gefragt, Green?“ Vielleicht war es keine gute Idee, es ihm zu sagen, aber sie hatte sich bereits hineingeritten. Es war zu spät um einfach zu sagen, dass er sich nichts dabei denken sollte und dass sie einfach nur so dahin geredet hatte.
„Er hat mir aufgetragen, dass ich nach der Weihe darauf achten soll, ob mein Licht warm oder kalt ist.“ Reitzels Stirnrunzeln nahm zu und hinter seinen nun blau wirkenden Augen konnte Green schier sehen, wie sich abertausende Gedanken überschlugen. Oh oh… sie hätte es nicht sagen dürfen…
„Ich habe nicht verstanden, was er meinte, deshalb wollte ich dich fragen“, beeilte sie sich zu sagen, aber er schien ihr gar nicht mehr zuzuhören, weshalb sie hoffte, dass er ihre Lüge auch nicht durchschaut hatte, er – er wirkte jedenfalls sehr abgelenkt plötzlich, dennoch antwortete er ihr:
„Unser Licht ist weder kalt noch warm, daher ist die Frage in der Tat… befremdlich.“ Befremdlich war gar kein Ausdruck. Wenn Reitzel nichts davon wusste – welchen Green als sehr intelligent und wissend einschätzte – dann glaubte Green auch nicht, dass die anderen Hikari sich dessen bewusst waren. Aber warum war Hizashi es…?
„Einige Wächter empfinden unser Licht als warm, wenn sie geheilt werden…“, murmelte Reitzel nachdenklich:
„Aber warum solltest du darauf achten…“ Green hatte wirklich nicht das Gefühl, dass es eine gute Idee gewesen war, dieses Thema anzusprechen, weshalb sie auch froh war, als Reitzel sich plötzlich in aller Hast von ihr verabschiedete, wie als wäre er von einer plötzlichen Idee gestochen worden.
Als er weg war, atmete Green zwar erleichtert auf, aber sie glaubte nicht, dass es damit getan war und sie bereute mehr und mehr, dass sie diese dumme Frage gestellt hatte… Wie war es ihr nur gelungen, sich daran noch zu erinnern, nein, an die gesamte Weihe, wenn es niemand sonst getan hatte? Und warum nahmen die Hikari ihr Licht als neutral wahr? Hmm… Green hatte nur Whites Magie jemals gespürt und die hatte sich warm angefühlt… Das war doch komisch. Als sollten die Hikari nicht wissen, ob sie von Light oder von Hikaru erwählt worden waren. Aber wieso? Wozu? Vergaßen deswegen alle immer den Inhalt der Weihe? Weil sie das nicht mehr wissen sollten?
Aber warum hatte Hizashi ihr denn diese Frage gestellt, dachte Green sich, während sie wieder neben Saiyon Platz nahm, wenn er es doch eigentlich gar nicht wissen sollte? Und wenn er das wusste, konnte er sich denn genau wie Green noch an die gesamte Weihe erinnern…?
Saiyon warf Green einen besorgten Blick zu. Er fragte sie nicht, mit wem sie geredet hatte, denn genau wie andere der Gäste hatte er gesehen, wie Reitzel und sie zusammen weggegangen waren und wenn zwei Hikari miteinander sprachen, war es nicht üblich Fragen zu stellen, worüber sie miteinander gesprochen hatten – aber das Gespräch hatte Green deutlich aufgerüttelt.
Saiyon haderte etwas mit sich selbst, rang sich aber dennoch zu der Frage durch, ob sie miteinander tanzen sollten. Es war wohl nicht ganz… richtig, diese Frage zu stellen, denn natürlich konnte er sich vorstellen, dass Green im Moment absolut nicht mit ihm reden und erst Recht nicht mit ihm tanzen wollte, aber… Sie mochte das Tanzen so gerne und Mary hatte ihnen aufgetragen, dass sie es auf jeden Fall tun sollten. Vielleicht würde Green das besänftigen…? So oder so durften sie nicht auffallen.
Doch Green antwortete nicht. Sie starrte mit unbeweglichen Augen ins Nichts, wie es Saiyon vorkam. Hatte sie seine Frage nicht gehört?
„Green…?“ Er legte seine Hand unbemerkt auf ihren Oberschenkel.
„Geht es dir nicht…“ Doch da schlug sie seine Hand mit einem harten, aber präzisen Schlag weg.
„Findest du nicht, dass sowohl deine Frage als auch deine Handplatzierung sehr unangebracht ist…“ Ihre Stimme klang eisig; wie ein eisiger Speer, den sie direkt durch sein Herz rammte, doch eigenartigerweise… lächelte seine Verlobte… freundlich, als sie ihren Kopf zu ihm wandte.
„… Saiyon?“
„Entschuldige, Green, ich…“ Saiyon gab sich Mühe seine Gefühle und seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Zwar war das Tanzparkett bereits mit vielen Wächtern gefüllt und die Aufmerksamkeit aller sehr verstreut, aber Green, als deren Hikari, wurde immer angesehen und somit auch Saiyon.
„Oh, du solltest dich entschuldigen.“ Sie lächelte weiter, doch in ihren Augen lag eisige Kälte.
„Doch ob ich sie annehme…“ Green legte den Kopf etwas schief; eine ungewöhnliche Bewegung, die Saiyon noch nie an ihr gesehen hatte.
„Jedenfalls sollte der Herr Getreue…“ Das Lächeln wurde dünner, als Green sich zu ihm vorlehnte, beinahe so, als wolle sie seine Wange küssen. Aber das tat sie nicht. So sah es nur für neugierige Wächter aus; sie raunte ihm etwas in einem eiskalten Flüsterton zu:
„…erst einmal in sich gehen und seine Triebe unter Kontrolle halten, ehe er mich noch einmal um einen Tanz bittet.“ Ohne, dass Saiyon die Gelegenheit bekam, sich zu verteidigen oder überhaupt irgendetwas zu sagen, richtete Green sich prompt auf.
„Ich bin sehr erschöpft von den heutigen Ereignissen und werde die Nachtluft genießen, um mich zu erfrischen.“ Immer noch lächelnd drehte sie sich herum und gefolgt von Saiyons schockiertem Blick sowie Fireys besorgten Augen verließ Green den Saal. Firey wollte aufstehen und ihr hinterhergehen, aber da wurde ihre Hand von Azuma genommen.
„Ein kleiner Tanz, Fireyskat! Den wirst du ja wohl genehmigen können, oder?“ Auf ihrer anderen Seite tauchte Yuuki auf, der ebenfalls die Hand ausstreckte, etwas feierlicher als Azuma:
„Und um den danach würde ich gerne bitten…“
Green lächelte immer noch, als sie sich vom Tempel auf die einsamste aller Inseln teleportierte: nach Serenitias, der Insel der Stille. Die Stille war ihr Willkommen, aber sie nahm sich keine Zeit, diese zu genießen oder das Licht der Sterne zu bewundern. Sie nahm ohne Umschweife den bekannten Weg zur Grabstätte der Windwächter, zum Grab ihres Bruders. Sie ging über alle Brücken hinweg, vorbei an Statuen und Inschriften, vorbei an der ewig brennenden, hellblauen Flamme im Hauptsaal der Kaze. Niemand begegnete ihr und sie spürte auch niemanden. Kein einziger lebender Wächter befand sich im Moment auf Serenitias. Weder im Turm der Kaze, noch in einem der anderen Türme… sie war allein. Endlich allein. Das war es doch gewesen, was sie gewollt hatte, richtig…?
Dennoch – als sie ihre Hände auf die blanke Oberfläche des Glassargs gelegt hatte, in welchem ihr Bruder ruhte, verstand sie sich selbst nicht so recht.
„Was tue ich hier…?“
Eine Stimme hinter ihr antwortete der Frage der Hikari:
„Du bist hier, weil du meiner Einladung gefolgt bist, Fille.“