Kapitel 117 - Grabtanz
„Erlauben Sie mir noch eine Frage.“
Der namenlose Dämonenherrscher hatte sich und Youma eben nach Lerenien-Sei teleportiert, wo sie beide vor dem Turm standen. Sie waren eigentlich im Begriff sich zu verabschieden, aber scheinbar hatte sein hübscher Schützling es nicht so eilig damit– nicht, dass es den Namenlosen sonderlich störte. Jede Sekunde, die er mit Youma verbringen konnte, war ihm eine Wonne.
„Ja, mein Hübscher? Ich hänge an deinen entzückenden Lippen!“ Bitter verzog Youma das Gesicht, doch das änderte nichts an dem Frohgemut des Gottes – im Gegenteil.
„Du solltest mir etwas wohlgesonnener sein, immerhin habe ich es dir nur gestattet, die Frage zu stellen – nicht, dass ich dir eine Antwort gebe. Aber los! Stell sie, ich bin gespannt!“ Youma schien nicht erpicht darauf zu sein, sich irgendwie beim namenlosen Dämonenherrscher beliebt machen zu wollen, denn er verdrehte deutlich irritiert die Augen, ehe er seine Frage stellte – allerdings etwas widerwillig.
„Es geht um Ri-Il.“ Der Angesprochene hob perplex die Augenbrauen. Das war offensichtlich kein Thema, welches er erwartet hatte.
„Ist er am Leben?“ Noch einmal blinzelte der namenlose Dämonenherrscher, ehe sich ein kleines, süffisantes Grinsen auf seinem spitzen Gesicht abzeichnete und Youma sofort errötete, als hätte er eine peinliche Frage gestellt.
„Aaaach, was für eine interessante Frage! Besorgt, Youma? Um einen Feind?“
„Nocturn hat Ri-Il zum Feind erklärt, nicht ich und die Frage, ob Ri-Il lebt oder tot ist, ist überaus wichtig für die Dämonenwelt.“
„Hach, ich mag es, wenn du so sprichst…~“
„Wollen Sie mir nun eine Antwort geben oder nicht?“ Denn Youma hatte nicht vor zu betteln! Der namenlose Dämonenherrscher sah ihn ein wenig in sich hinein grinsend an, den linken Arm immer noch auf den Rücken gelegt, während er sich auf seinen Hacken ein wenig vor- und zurücklehnte. Offensichtlich wollte er Youma auf die Folter spannen und das Schlimme war – es gelang ihm auch sehr gut.
„Wenn Ri-Il tot wäre, dann würde ich mich in Trauerstimmung befinden, glaube mir. Meine Stimmung sollte Antwort genug sein.“ Youma war überrascht über das, was er da spürte – war das etwa Erleichterung? Dennoch übernahm schnell die skeptische Neugierde die Oberhand:
„Halten Sie etwa ihre schützende Hand über ihn?“ Der Angesprochene lachte auf:
„Ha! Als ob dieser Fuchs das benötigen würde! Und noch mal HA, denn als ob ich über irgendjemanden eine schützende Hand halten würde. Wer stirbt…“ Seine glühenden roten Augen leuchteten deutlich hervor auf seiner schwarzen Lederhaut:
„… der stirbt eben.“ Youma wusste nicht, ob das eine Warnung oder eine Drohung war – oder beides gleichzeitig. So oder so legte er keinen Wert darauf, von ihm „beschützt“ zu werden.
„Aber Ri-Il ist in der Tat eine meiner Lieblingsspielfiguren. Ich würde den gesamten Himmel schwarz färben, wenn er sterben würde… es wäre wirklich ein Jammer.“ Wie er einfach so zugab, dass sie alle nur Figuren für ihn waren… pure Unterhaltung und nichts anderes.
„Nicht, dass ich ein sonderlich großes Interesse an seinen Geschäften habe, aber es ist ein wahrer Schmaus für die Augen, ihn kämpfen zu sehen! Ri-Il ist ein Künstler, wenn es darum geht zu töten…“
„Das behauptet Nocturn auch immer von sich selbst.“
„Hmmm…“ Offensichtlich musste der namenlose Dämonenherrscher erstmal darüber nachdenken, wie ein Weinschmecker bei der Weinverkostung.
„Ja, Nocturn ist auch nicht schlecht, das muss ich ihm lassen…“ Einen kurzen Moment lang war Youma tatsächlich versucht zu fragen, wie es denn um ihn bestimmt war, aber diese Peinlichkeit musste er sich wohl nicht antun. Außerdem legte er ja auch keinen Wert auf… die Kunst des Tötens. Er musste sich also gar nicht mit anderen messen. Nein, das musste er nicht.
„So, Youma-kun, ich habe dir deine Frage nun beantwortet und ich genehmige dir keine weitere. Ich liebe es zwar, mit dir zu sprechen, aber du musst Lorbeeren ernten gehen.“ Der namenlose Dämonenherrscher deutete auf das kolossale Schloss Lerenien-Seis, das mit seinem schwarzen Stein die Stadt wie ein Schatten überragte. Ja, da sollte Youma hin, um sich bei der Hohenkonferenz zu beteiligen, um dort bekanntzugeben, dass die Dämonen wieder in die Menschenwelt gelangen konnten – und dass diese Tat sein Verdienst war. So hatte es jedenfalls sein Gönner gesagt. Er selbst sah das ein wenig anders…
„Sie werden mir kein Wort glauben. Ich habe keinerlei Beweise.“
„Wir sind doch nicht bei den Wächtern.“ Das war kein besonders überzeugendes Argument, wie der namenlose Dämonenherrscher wohl selbst bemerkte, denn er kam herbeigeeilt und klopfte seinem Schützling auf die Schulter.
„Komm, Youma-kun! Es wäre doch eine Verschwendung, wenn das Wunder, was wir zusammen vollbracht haben, dir nicht angerechnet wird. Es wird deinem Ruf guttun.“
„Nicht, wenn man mir nicht glaubt und es stattdessen eine pure Peinlichkeit wird. Außerdem habe ich es nicht für mich getan oder für meinen Ruf, sondern damit wir wieder in die Menschenwelt können ohne zu sterben.“ Der namenlose Dämonenherrscher klopfte Youma auf die Schulter.
„Oh, Youma-kun! Mein armer, unwissender Junge!“ Väterlich zog er Youma zu sich, indem er seinen Arm um seine Schulter legte und er achtete absolut nicht auf die Proteste seines Schützlings, der sich prompt versuchte aus seinem Griff zu befreien.
„Bescheidenheit kleidet einen Dämonenkönig nicht, also lege es lieber ab – es steht auch dir nicht, so ganz nebenbei gesagt. Ich gebe dir einen Tipp – hol Nocturn ab und lass ihn das Ganze gut verpacken. Er ist besser darin als du.“ Endlich gelang es Youma, seinen Arm abzuschütteln und er nahm auch sofort etwas Abstand, seinen Gönner vor sich irritiert ansehend:
„Ich kann ihm ja wohl kaum etwas von Ihnen erzählen!“
„Also ich habe nichts dagegen.“
„Aber ich!“ Youma schüttelte sich, als widere ihn etwas an:
„Ich habe es ganz bestimmt!“
„Ouuu schämst du dich etwa für mich?“, lachte der namenlose Dämonenherrscher laut und überaus erheitert und er gab ihm noch einen Schlag auf den Rücken, der Youma in Richtung des Schlosses schob.
„Nun tu, was ich dir aufgetragen habe – ich meine es nur gut mit dir und kenne meine Kinder besser als du.“ Tatsächlich sah Youma ein wohlwollendes Lächeln auf dem Gesicht seines Gönners, als er sich herumdrehte.
„Und sobald etwas Ruhe eingekehrt ist in Lerenien-Sei, werden wir beide uns noch einmal treffen, um Dinge auszusprechen, die schon viel zu lang unausgesprochen sind.“ Youma wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte – aber da war er schon verschwunden.
„Du bist hier, weil du meiner Einladung gefolgt bist, Fille.“
Green hatte Nocturns Stimme schon erkannt, ehe sie sich herumgedreht hatte und sie hasste sich dafür, dass das allererste Gefühl, welches sie so stark, so immens in sich aufkommen spürte, Angst war. Sie kroch nicht langsam, sondern wie eine Welle über ihren Rücken, ihre Wirbelsäule empor und lähmte sie vollends. Ihre Gesichtsfarbe entwich ihr und sie sah auch wie ihre Finger, die sich am Sarg ihres Bruders festzuhalten versuchten, weiß wurden. Warum… warum immer noch? Nocturn war einer der Dämonen, vor denen sie nach der Weihe keine Angst mehr hatte haben wollen und doch war sie so von der Angst gelähmt, dass sie sich nicht traute sich herumzudrehen. Er kontrollierte weder ihre Gedanken noch ihren Körper – es war die Angst, die sie daran hinderte, etwas zu tun; seine Fähigkeiten konnte sie nicht als Ausrede benutzen.
Green biss die Zähne zusammen und beschwor es sich noch einmal – sie hatte keine Angst mehr vor ihm oder sonst irgendeinem Dämon!
Schnell, etwas übereilig, riss Green ihr Glöckchen von ihrer goldenen Kette los und verwandelte ihren Stab noch während sie herumwirbelte. Der Stab fühlte sich immer noch schwer, fremd und heiß in ihren Händen an, aber es war immer noch besser als unbewaffnet vor Nocturn zu stehen.
Dieser blieb jedoch gänzlich unbeeindruckt von Greens neuer Waffe. Er saß mit dem einen Bein über das andere geschlagen auf einem Glassarg, in dem Greys Vorfahre ruhte, als wäre die gläserne Ruhestätte ein Sofa. Seine Erscheinung, wie er dort einfach saß, gänzlich entspannt, war grotesk und respektlos den Toten gegenüber, um die er sich nicht zu scheren schien – seine rotleuchtenden Augen lagen auf Green, nicht etwa auf dem Stab, den sie ihm entgegenhielt. Er musterte sie eindringlich mit einem bedrohlichen Schweigen, doch das war nicht das, was an ihm befremdlich wirkte…
„Wie typisch von dir, gleich zur Waffe zu greifen, Fille… oder ist das nicht länger ein passender Name für dich?“ … es war sein Gesichtsausdruck. Er grinste nicht. Er war nicht beseelt von dieser komischen, sadistischen Freude, so wie sie ihn bis jetzt selbst erlebt und auch in Whites Erinnerungen gesehen hatte. Sein Gesicht zeigte sich gänzlich ernst – und Greens Instinkt sagte ihr, dass das nichts Gutes für sie bedeutete.
„L'élu des Dieux oder Princesse de Lumière vielleicht? Ah nein, so nennt dich Ri-Il, das mag ich nicht… ah, Fille, was mache ich nur mit dir… ich mochte dich eigentlich, weißt du? Ein schwaches, verwöhntes, egoistisches Gör, aber interessant in ihrem Anders-sein. Ich wollte dich nicht töten. Aber nun ist aus der kleinen Fille… une petite peste geworden.“ Green konnte gar nicht so schnell gucken, gar nicht so schnell denken, da hatte der Arm, der ihren Stab hielt, diesen auch schon weggeworfen, ans andere Ende der Grabkammer, wo der Stab auf einen Sarg donnerte.
Entsetzt darüber was geschehen war – und dass sie gerade ein Grab geschändet hatte – wollte Green sich herumdrehen zu ihrem Stab, aber ohne, dass Nocturn sich hatte bewegen müssen, hatte er schon die gesamte Kontrolle über den nicht einmal begonnenen Kampf übernommen. Green war schon wieder in seinen Fäden gefangen; schon wieder konnte sie sich nicht bewegen – schon wieder war sie ihm ausgeliefert.
Und er saß einfach da mit seinen kalten Augen und sah auf sie herab.
„Sei brav, petite peste. Ich bin nicht hier, um mit dir zu kämpfen – oder doch? Ah, ich halte mich eigentlich an meine Versprechen…“ Die Frage, was für ein Versprechen das sein sollte, hallte in Greens Kopf nach, doch obwohl er diese Frage sicherlich hören konnte, beantwortete er sie nicht. Wie ein Vampir in einer Gruft, der erfolgreich seine Beute in die Falle gelockt hatte, sah er sie abwartend an – einen Blick, den sie nach wie vor nicht verstand. Wartete er darauf, dass sie etwas tun würde?
„Ich will dich nicht töten…aber herausfordern solltest du es nicht.“ Seine Stimme passte ebenfalls zu dem Bild eines Vampirs, denn er sprach ungewöhnlich ruhig. Seine Stimme war nichts anderes als ein sehr kaltes Flüstern, als käme sie direkt aus dem Reich des Todes. Green musste sich selbst eingestehen, dass ihr diese Erscheinung mehr Angst bereitete als vor ein paar Monaten in Litauen oder im Wald, wo Kanori gestorben war…
„Dieser Ort ist immerhin nicht fürs Kämpfen geeignet... wir wollen doch nicht, dass noch mehr Särge zersplittern. Die armen Kaze.“ Die Angst hielt Green immer noch fest im Griff, aber Wut mischte sich hinzu – dies war ihr heiliger Rückzugsort geworden, dies war die Ruhestätte ihres Bruders! Hier konnte man doch nicht kämpfen! Das war doch ein Unding!
„Meine Fingernägel…“ Eine kleine beschwingte Handbewegung genügte und schon schossen die fünf Fingernägel seiner linken Hand hervor, wie fünf Klingen, die die Dunkelheit durchschnitten.
„… sind immerhin wie gemacht dafür, Glas zu zerstören…“ Wie um seine Worte zu demonstrieren tippelte er mit den Spitzen seiner Nägel auf der Oberfläche des Glassarges, auf welchem er Platz genommen hatte – und da riss etwas in Green und sie verlor jede Vernunft.
„Was für ein Pech, dass Kanori hier aber nicht ist!“ Es war überaus dumm von ihr das zu sagen, aber sie war zu wütend, um darüber nachzudenken, was sie tat oder sich irgendwelche Gedanken darüber zu machen, was passieren würde, wenn das, was auch immer in Nocturns roten, kalten Augen lag, ausbrechen würde. Sie hatte ihn einfach nur irgendwie treffen wollen, ihn irgendwie verletzen wollen – und dieser Name hatte ihn getroffen.
Nocturn war zusammengezuckt, als Kanoris Name wie ein Geist plötzlich zwischen ihnen stand und seine Fingernägel kamen zum Stillstand – nur um dann plötzlich über das Glas zu kratzen und dabei einen so kreischenden Laut zu verursachen, dass Green sich die Hände vor die Ohren geworfen hätte, wenn ihr Körper ihr denn gehorcht hätte.
„Oh, das weiß ich! Er war ja so ein toller Menschwächter und er ist beerdigt worden!“ Seine Finger kratzten weiter über das Glas und seine hohe Stimme vermischte sich mit dem schrecklichen Kreischen des Glases zu einer abscheulichen Melodie, die Green in den Ohren schmerzte.
„Und was bin ich dankbar dafür! Die Vorstellung, dass ihn die Maden gefressen haben, ist HERR-LICH! Sie erfreut mich und mein Herz!“ Eigentlich hatte Green es kommen sehen müssen, aber es geschah so schnell und so abrupt, dass sie nichts Anderes wahrnahm als Schmerz, als ihr Kopf gegen die Glasscheibe des Sarges ihres Bruders gedrückt wurde und sie nicht nur den Riss des Glases hörte, sondern ihn an ihrer Wange spürte, zusammen mit Nocturns Krallen, die sich in ihre Kopfhaut bohrten.
„Aber du, petite peste, du erfreust mein Herz weniger“, fuhr Nocturn plötzlich wieder mit ruhiger Stimme fort, sich zu ihr herunterbeugend, damit er jedes einzelne Wort deutlich in ihr Ohr zischen konnte.
„Mich zu reizen ist eine sehr dumme Idee, Green. Denn ich bin wütend und Parbleu, ich hasse es wütend zu sein. Aber wie sollte es anders sein? Oh, ich sehe du hast keine Ahnung, wovon ich rede! Du hast ziemlich viele Dämonen getötet, das hast du bemerkt, oder? Nun, ich spiele nicht die Rolle eines Moralapostels. Du tötest, so wie es in deiner Natur liegt, es zu tun. Mein Zorn auf dich rührt nicht daher. Du hast die Menschenwelt verseucht, Green. Du hast mein Zuhause verseucht mit deinem Licht. Erlaube mir daher, ein wenig wütend auf dich zu sein.“ Blut rann von ihrem Kopf herunter und ihr Kopf schmerzte, als würden Nägel in ihn gehämmert werden… aber besser sie gruben sich in ihren Kopf als Greys Sarg weiter zu beschädigen…
„Aber nein, nein, ich bin nicht hier, um dich zu töten oder dich zu bestrafen. Das bin ich wirklich nicht! Die Schmerzen, die du jetzt spürst, hast du dir selbst zuzuschreiben… Ich bin hier, um dich etwas zu fragen.“ Nocturn lockerte seinen Griff ein wenig und Greens aufgescheuchte Augen trafen seine---
„Doch vielleicht…“ --- sie spürte deutlich auf ihrer vor Blut feucht gewordenen Kopfhaut, wie er seine Finger anders platzierte, wie eine große Spinne mit dürren, spitzen Beinen---
„… bist du gegen Schmerzen resistent und du lernst nur brav zu sein, wenn ich etwas andere Methoden benutze…“ Nocturns rote Augen sahen an Green vorbei und Green wusste sofort, was er meinte. Seine stechenden Augen sahen nicht auf die zerrissene Glasfläche des Sarges, sondern durch es hindurch. Er meinte Grey.
„Vielleicht ist das eine wirksamere Erziehungsmethode.“
Das war der Moment, wo Silence eigentlich einschreiten wollte. Sie hatte alles mitangesehen aus dem Schatten heraus, aber nichts hatte sie erweicht. Nichts hatte ihren Entschluss, alles nur mitanzusehen, ins Wanken gebracht – aber als Green die Augen aufriss und die Vorstellung, dass Nocturn den Leichnam ihres Bruders verstümmeln würde, ihr den Schrecken ins Gesicht malte, da rührte Silence sich. Konnte Hikaru wirklich so eine Maske aufsetzen? Konnte sie dieses Gefühl emulieren?
„Nicht…!“, flehte Green, ihren Stolz bei dieser Horrorvorstellung gänzlich verlierend und den Sarg ihres Bruders umarmend, im Versuch ihn mit ihremn eigenen Körper zu beschützen.
„Ou, du flehst?“, antwortete Nocturn in einem gänzlich unbeeindruckten, unbelustigten Tonfall - es war wirklich dumm von Green gewesen, ihn zu provozieren.
„Offensichtlich hat die Weihe nicht sonderlich viel bewirkt, nicht wahr, kleine Green?“ Nocturn und Silence streckten beide gleichzeitig die Hand aus – der eine mit gezückten Fingernägeln, die andere im Begriff, die verbotene Technik des Todestanzes einzuwenden, um Green zu---
„Catehitsui!“ Nocturn wirbelte herum – aber zu spät. Golden leuchteten seine Handgelenke auf und schlugen zusammen, ehe er verstand, wo diese fremdartige Magie herkam, die Green ebenfalls nicht platzieren konnte. Aber Silence konnte es, auch wenn sie kaum glauben konnte, wer sich an diesen schaurigen Kampfort wagte und wer sich obendrein auch noch traute, sich in einen Kampf mit Nocturn einzumischen, ohne eine nennenswerte Magie zu besitzen: Ryô.
„Ryô!“, rief Green, in dem Moment, als Nocturn zähnefletschend rückwärts sprang und die Hikari den Kopf heben konnte.
„Du musst fliehen, Ryô! Du darfst nicht hier sein!“ Doch anstatt das zu tun, eilte der deutlich erbleichte Tempelwächter zu Green, die immer noch ihre Arme beschützend um den Glassarg ihres Bruders geschlungen hatte.
„Geht es Euch gut, Hikari-sama?“ Anstatt diese Frage zu beantworten, sah Green mit bangem Blick auf die Oberfläche des Sarges – aber er war nur angerissen, nicht zerbrochen. Sie wollte erleichtert aufatmen, aber da zerschnitt Nocturns Wut die Luft.
„Du schon wieder!“ Ryô und Green sahen beide verwirrt aus – schon wieder?
„Ich hätte dich...” Seine Stimme klang wie das Knurren eines Tieres: es fiel ihm sogar offensichtlich schwer, die Worte zu formen.
„... schon das letzte Mal.. töten... sollen... Ein wahrer Störenfried.” Mit Müh und Not schloss er die Augen im Versuch sich zu besinnen, doch es gelang ihm nicht und Green, von banger Vorahnung erfüllt, sah hoch zu Ryô, doch dieser rührte sich nicht – wie gefesselt starrte er Nocturn an, den er doch eigentlich noch nie zuvor...
„Comme c'est irritant... mais, c’est ma faute. C’est ma seule faute!”
„Ryô, bitte...” Green packte den Arm des völlig gelähmten Tempelwächters:
„Flieh!” Doch es war zu spät - Nocturn schlug mit einem Mal seine Augen wieder auf – Augen, die vor Mordlust brannten und ein entsetzter Stoß ging durch sowohl Ryô als auch Green, als sie in diese tierischen Augen sahen. Silence fluchte – konnten die beiden sich nicht endlich mal wegbewegen?!
„Ein Tempelwächter wie du…“, knurrte Nocturn, die zusammengeketteten Hände hochhaltend und was sahen Ryô und Green da beide---?! Die Ketten, die eigentlich von niemandem zerstört werden konnten, sprühten Funken, spritzten Blut, als Nocturn mit Gewalt seine Hände auseinanderriss.
„… SOLLTE SEINEN PLATZ KENNEN!“ Ein funkelnder Goldregen ergoss sich über dem Boden und noch ehe er von der Dunkelheit verschlungen wurde, schossen Nocturns Fingernägel abermals hervor, trennten die Luft und hätten auch Ryô aufgeschlitzt, hätte Green nicht in diesem Moment die Hand ausgestreckt:
„NICHT!“
Nicht nur Greens und Nocturns Augen weiteten sich, als eine enorme Walze an Licht sich entfesselte und Nocturns Fingernägel verätzte – sondern auch Silences‘, die sofort, von einem Instinkt getrieben, erschrocken Abstand nahm. Für einen kurzen Moment war die gesamte Kammer in so helles Licht gehüllt, dass die gesamte Grabstätte aussah, als wäre sie in einen weißen Farbtopf gefallen.
Nocturn musste sich die Hand vor die Augen halten und Blut rann ihm aus den Ohren und aus dem Mund, aber obwohl sein Körper deutliche Warnsignale sendete, bewegte er sich nicht, floh nicht. Allerdings sah er deutlich verstört und entgeistert seine Fingernägel an – eben waren sie noch mehr als einen Meter lang gewesen: nun waren sie nur noch fünf Zentimeter kurze blutige Stumpfe, genau dort abgetrennt, wo das Licht sie getroffen hatte. Sie waren weggeätzt worden. Sie sahen aus wie geschmolzene Klingen aus Metall, die man in Lava gesteckt hatte.
Es war selten, dass Nocturns Fingernägel gezittert hatten. Aber das taten sie jetzt. Das tat seine gesamte Hand, als er sie sich vor die Augen hielt und sie entsetzt anstarrte.
„Mon Dieu.“
Nicht nur Nocturn war entgeistert, sondern auch Green, die erschrocken ihre bebende, kochend heiße Hand ansah, die nun, da die Dunkelheit zurückgekehrt war, deutlich hervorleuchtete. Sie traf Ryôs Blick, der genauso fassungslos aussah wie sie, doch bevor sie irgendwelche Worte austauschen konnten, durchbrach Nocturns Stimme die von Schock gelähmte Stille.
„Nicht schlecht, wirklich… nicht schlecht, Fille. Das hätte ich dir nicht zugetraut. Nicht gut gezielt, aber sehr effektiv. Effektiver als White womöglich… ja…“ Nocturn sah auf seine Fingernägel.
„… strahlender als Whites Licht… und kälter als Eis.“ Er sah zu der schockierten Green, die genauso erstarrte wie Silence bei diesem Wort – Eis?! ---- ehe seine Augen wieder langsam Ryô fixierten.
„Aber ich habe ja noch eine zweite Hand.“ Und dann wurde Ryôs Brust von zwei Fingernägeln durchbohrt.
„Und die, die ich tot sehen will, die töte ich auch.“
„Wie – Nocturn ist nicht hier?!“ Youma war wieder im Reich Lacrimosas angekommen, um, genau wie der namenlose Dämonenherrscher es ihm aufgetragen hatte, Nocturn abzuholen, damit sie an der Konferenz der Hohen teilnehmen konnten. Der namenlose Dämonenherrscher hatte ihm gesagt, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass die Hohen die Konferenz schnell beenden würden, daher braucht er sich nicht zu beeilen – offensichtlich hatte er nicht gewusst, dass Nocturn mal wieder--- argh! Einfach nicht das tat, was man ihm sagte!
„Schau mich nicht so vorwurfsvoll an“, erwiderte Lacrimosa:
„Du hast ihn auch schon verloren – mehrere Male sogar.“ Youma überhörte die Kritik und sah zu Blue, der etwas abseits stand, in der Nähe des brennenden Kaminfeuers. Feullé saß immer noch auf dem Sofa, wo sie vor ein paar Stunden noch mit Nocturn zusammengesessen hatte, aber mit ihr sprach niemand, obwohl sie eine Antwort hätte geben können.
„Wie konnte das passieren?!“ Warum sah Youma jetzt Blue an, als wäre er daran schuld – er war doch nicht Nocturns Aufpasser?
„Er saß die gesamte Zeit dort und hat sich nicht gerührt“, erklärte Lacrimosa:
„Und auf einmal war er weg.“ Während Youma wieder zu Lacrimosa sah, sah Blue zu Feullé, welche seinem Blick jedoch sofort auswich, als sie ihn bemerkte. Ah… sie wusste also ganz genau wie Nocturn verschwunden war, ohne, dass es jemand bemerkt hatte. Aber scheinbar wollte sie niemand mit der Frage behelligen, oder man vergaß, dass sie eine gewisse Informationsquelle war. Blue war sich dessen jedenfalls im Klarem – sie war ein unauffälliges, schüchternes Mädchen, aber sie sah mehr, viel, viel mehr, als man glaubte und sie war auch nicht dumm. Sie verstand auch mehr als andere glauben mochten, was auch der Grund war, weshalb sie ihren Vater jetzt nicht verriet und weiterhin ihre Rolle als unwissendes, ruhiges Mädchen spielte und nicht auf sich aufmerksam machte.
„Und wohin?! Ja wohl hoffentlich nicht in die Menschenwelt!?“ Youma schlug sich die Hand an die Stirn, als ihm klar wurde, dass niemand ihm diese Frage beantworten konnte und stöhnte:
„Argh! Sein Wahnsinn ist wahrhaftig ansteckend! Er treibt mich zur Weißglut!“ Auch Lacrimosa hatte das Gesicht verzogen, wenn auch etwas weniger genervt als Youma – mehr aus Sorge. Nocturn war immerhin nicht gerade in einer guten Verfassung gewesen… und er hatte seine Hengdi nicht bei sich getragen, ein Detail, welches Youma übersehen hatte oder welchem er keinerlei Bedeutung beimaß... dass Nocturns Hengdi in Paris war – und er sie nicht holen konnte – hatte sicherlich auch dazu beitragen, dass er so neben sich gestanden hatte. Aber davon hatte Youma - natürlich - keine Ahnung, auch wenn das beschämend war.
„Schwester Lacrimosa“, mischte sich nun Neferteri ein:
„Ich weiß, dass Nocturn dein Schutzbefohlener ist, aber wenn er sich in die Menschenwelt aufgemacht hat, dann hat er selbst schuld, wenn er stirbt. Du hast eine Konferenz, die dich ruft.“ Schutzbefohlener? Bei diesem Wort hatten sowohl Blue als auch Youma die Ohren gespitzt. Aber anstatt, dass Youma darauf einging, stimmte er Neferteri zu:
„Die Konferenz ist in der Tat wichtig und Nocturn wird auch nicht tot sein. Sie können sich unbesorgt an der Konferenz beteiligen.“ Lacrimosa, Neferteri, Blue und auch Feullé sahen Youma an.
„Die Menschenwelt ist wieder sicher für uns. Wir können dort wieder atmen.“
„Woher willst du das wissen?“ Toll und auf diese Frage Lacrimosas kannte Youma keine gut klingende Antwort.
„Ich weiß es, weil ich dafür gesorgt habe.“ Lacrimosas und Neferteris Augen weiteten sich erstaunt, ebenso wie Blues, doch seine verengten sich schnell skeptisch.
„Du hast was? Wie hast du das denn gemacht?“, bohrte die Eisfürstin nach und auch Nefeteri bohrte Youma mit Fragen:
„Bist du dir ganz sicher?“
„Das bin ich. Ich komme gerade aus der Menschenwelt und wie Sie sehen…“ Youma schob seine Haare zurück, damit man einen freien Blick auf seine mit Prismen behangenen Ohren hatte.
„… blute ich nicht aus den Ohren.“ Lacrimosa öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder und im gleichen Moment, als Youma seine Haare wieder fallen ließ und sie sich über die Schulter warf, kam Klariette aufgeregt in den Salon.
„Schwester Lacrimosa, Lycram ist endlich mal aufgetaucht – jetzt bist du die letzte, die fehlt.“ „Ja… ja, ich komme!“ Lacrimosa drehte sich schon herum – aber sie entschied sich doch noch einmal um, um Youma mit einem Blick zu durchbohren:
„Du bleibst hier. Wir sprechen uns noch, ich will eine Erklärung!“ Youma himmelte etwas aufgebend mit den Augen, als Lacrimosa sich herumgedreht hatte.
Dank Nocturn verlief mal wieder gar nichts nach Plan…
„RYÔ!“
Green hatte den Namen des teuren Tempelwächters in den letzten Tagen schon viel zu oft geschrien – schon viel zu oft war er wegen ihr in Lebensgefahr geraten. Zuerst im Kampf gegen die Götter… und nun im Kampf gegen Nocturn.
Zwei dünne Fingernägel steckten in seiner Brust, wie dünne Speere. Nur wenig Blut war auf den Boden gespritzt, doch vom Einstichloch aus breitete sich der rote Lebenssaft aus und tauchte die hellblaue Uniform des Tempelwächters in Rot. Er war zu Boden gesackt, wo Green ihn stützte und sofort die Fingernägel herausziehen wollte, als Nocturns Magie ihre Finger lähmte.
„Bei einem Einstich ist es nicht ratsam, das Einstichwerkzeug zu entfernen, da man dann das Verbluten beschleunigt. Hast du das etwa nicht gelernt?“ Nocturn beugte sich zu ihr und Ryô herunter, der stöhnend und blutend in ihren Armen lag.
„Dir liegt viel an diesem Tempelwächter, nicht wahr? Du hast den Diener deines Bruders richtig ins Herz geschlossen, hmm…? Es war deutlich in deinem Schrei zu hören… so schreit man nur, wenn man jemanden so richtig gernhat.“ Green wusste nicht, was sie antworten sollte – sie wollte gar nicht antworten. Sie konnte es auch nicht, denn alles in ihrem Kopf schrie Ryôs Namen. Sie konnte ihn nicht sterben lassen! Nicht hier, nicht vor Greys Sarg! Nein! Egal wo! Ryô durfte nicht sterben!
„Hmm…“ Und da war es – Nocturn begann plötzlich zu lächeln. Es war kein beruhigendes Lächeln – fernab davon. Es war ein heimtückisches Lächeln, welches Angst gebar, doch er sah nicht länger wütend aus.
„Das gefällt mir. Ja, das gefällt mir! Ah, du hast mich aufgeheitert, ich danke dir!“ Mit einem Schwung hob Nocturn sich empor und tänzelte rückwärts.
„Ich erlaube ihm zu leben, beziehungsweise…“ Theatralisch streckte Nocturn die Hand aus – eben jene, mit der er gerade Ryôs Brust durchbohrt hatte. Seine Fingernägel waren wieder kurz.
„… ich lege sein Leben in deine fähigen Hände. Ziehe meine Nägel heraus – du wirst dich an ihnen schneiden, aber das wirst du für ihn ertragen können, nicht? – und achte darauf, dass du sie gerade herausziehst. Wir wollen doch nicht, dass du das Innere des Armen noch weiter beschädigst, nicht? Du hast dann… hmm… ungefähr sechs Minuten, ehe er verblutet. Heile ihn in diesen sechs Minuten und er wird es überleben.“ Nocturn hopste rückwärts auf einen Sarg und sah auf die völlig fassungslose Green herab, deren zitternde Finger den blutenden Ryô fest an sich klammerten, während Nocturn es sich einfach bequem machte, als wäre er zu Gast bei seinem Lieblingstheater.
„Also, Green… fang an.“
Der namenlose Dämonenherrscher hatte sich und Youma eben nach Lerenien-Sei teleportiert, wo sie beide vor dem Turm standen. Sie waren eigentlich im Begriff sich zu verabschieden, aber scheinbar hatte sein hübscher Schützling es nicht so eilig damit– nicht, dass es den Namenlosen sonderlich störte. Jede Sekunde, die er mit Youma verbringen konnte, war ihm eine Wonne.
„Ja, mein Hübscher? Ich hänge an deinen entzückenden Lippen!“ Bitter verzog Youma das Gesicht, doch das änderte nichts an dem Frohgemut des Gottes – im Gegenteil.
„Du solltest mir etwas wohlgesonnener sein, immerhin habe ich es dir nur gestattet, die Frage zu stellen – nicht, dass ich dir eine Antwort gebe. Aber los! Stell sie, ich bin gespannt!“ Youma schien nicht erpicht darauf zu sein, sich irgendwie beim namenlosen Dämonenherrscher beliebt machen zu wollen, denn er verdrehte deutlich irritiert die Augen, ehe er seine Frage stellte – allerdings etwas widerwillig.
„Es geht um Ri-Il.“ Der Angesprochene hob perplex die Augenbrauen. Das war offensichtlich kein Thema, welches er erwartet hatte.
„Ist er am Leben?“ Noch einmal blinzelte der namenlose Dämonenherrscher, ehe sich ein kleines, süffisantes Grinsen auf seinem spitzen Gesicht abzeichnete und Youma sofort errötete, als hätte er eine peinliche Frage gestellt.
„Aaaach, was für eine interessante Frage! Besorgt, Youma? Um einen Feind?“
„Nocturn hat Ri-Il zum Feind erklärt, nicht ich und die Frage, ob Ri-Il lebt oder tot ist, ist überaus wichtig für die Dämonenwelt.“
„Hach, ich mag es, wenn du so sprichst…~“
„Wollen Sie mir nun eine Antwort geben oder nicht?“ Denn Youma hatte nicht vor zu betteln! Der namenlose Dämonenherrscher sah ihn ein wenig in sich hinein grinsend an, den linken Arm immer noch auf den Rücken gelegt, während er sich auf seinen Hacken ein wenig vor- und zurücklehnte. Offensichtlich wollte er Youma auf die Folter spannen und das Schlimme war – es gelang ihm auch sehr gut.
„Wenn Ri-Il tot wäre, dann würde ich mich in Trauerstimmung befinden, glaube mir. Meine Stimmung sollte Antwort genug sein.“ Youma war überrascht über das, was er da spürte – war das etwa Erleichterung? Dennoch übernahm schnell die skeptische Neugierde die Oberhand:
„Halten Sie etwa ihre schützende Hand über ihn?“ Der Angesprochene lachte auf:
„Ha! Als ob dieser Fuchs das benötigen würde! Und noch mal HA, denn als ob ich über irgendjemanden eine schützende Hand halten würde. Wer stirbt…“ Seine glühenden roten Augen leuchteten deutlich hervor auf seiner schwarzen Lederhaut:
„… der stirbt eben.“ Youma wusste nicht, ob das eine Warnung oder eine Drohung war – oder beides gleichzeitig. So oder so legte er keinen Wert darauf, von ihm „beschützt“ zu werden.
„Aber Ri-Il ist in der Tat eine meiner Lieblingsspielfiguren. Ich würde den gesamten Himmel schwarz färben, wenn er sterben würde… es wäre wirklich ein Jammer.“ Wie er einfach so zugab, dass sie alle nur Figuren für ihn waren… pure Unterhaltung und nichts anderes.
„Nicht, dass ich ein sonderlich großes Interesse an seinen Geschäften habe, aber es ist ein wahrer Schmaus für die Augen, ihn kämpfen zu sehen! Ri-Il ist ein Künstler, wenn es darum geht zu töten…“
„Das behauptet Nocturn auch immer von sich selbst.“
„Hmmm…“ Offensichtlich musste der namenlose Dämonenherrscher erstmal darüber nachdenken, wie ein Weinschmecker bei der Weinverkostung.
„Ja, Nocturn ist auch nicht schlecht, das muss ich ihm lassen…“ Einen kurzen Moment lang war Youma tatsächlich versucht zu fragen, wie es denn um ihn bestimmt war, aber diese Peinlichkeit musste er sich wohl nicht antun. Außerdem legte er ja auch keinen Wert auf… die Kunst des Tötens. Er musste sich also gar nicht mit anderen messen. Nein, das musste er nicht.
„So, Youma-kun, ich habe dir deine Frage nun beantwortet und ich genehmige dir keine weitere. Ich liebe es zwar, mit dir zu sprechen, aber du musst Lorbeeren ernten gehen.“ Der namenlose Dämonenherrscher deutete auf das kolossale Schloss Lerenien-Seis, das mit seinem schwarzen Stein die Stadt wie ein Schatten überragte. Ja, da sollte Youma hin, um sich bei der Hohenkonferenz zu beteiligen, um dort bekanntzugeben, dass die Dämonen wieder in die Menschenwelt gelangen konnten – und dass diese Tat sein Verdienst war. So hatte es jedenfalls sein Gönner gesagt. Er selbst sah das ein wenig anders…
„Sie werden mir kein Wort glauben. Ich habe keinerlei Beweise.“
„Wir sind doch nicht bei den Wächtern.“ Das war kein besonders überzeugendes Argument, wie der namenlose Dämonenherrscher wohl selbst bemerkte, denn er kam herbeigeeilt und klopfte seinem Schützling auf die Schulter.
„Komm, Youma-kun! Es wäre doch eine Verschwendung, wenn das Wunder, was wir zusammen vollbracht haben, dir nicht angerechnet wird. Es wird deinem Ruf guttun.“
„Nicht, wenn man mir nicht glaubt und es stattdessen eine pure Peinlichkeit wird. Außerdem habe ich es nicht für mich getan oder für meinen Ruf, sondern damit wir wieder in die Menschenwelt können ohne zu sterben.“ Der namenlose Dämonenherrscher klopfte Youma auf die Schulter.
„Oh, Youma-kun! Mein armer, unwissender Junge!“ Väterlich zog er Youma zu sich, indem er seinen Arm um seine Schulter legte und er achtete absolut nicht auf die Proteste seines Schützlings, der sich prompt versuchte aus seinem Griff zu befreien.
„Bescheidenheit kleidet einen Dämonenkönig nicht, also lege es lieber ab – es steht auch dir nicht, so ganz nebenbei gesagt. Ich gebe dir einen Tipp – hol Nocturn ab und lass ihn das Ganze gut verpacken. Er ist besser darin als du.“ Endlich gelang es Youma, seinen Arm abzuschütteln und er nahm auch sofort etwas Abstand, seinen Gönner vor sich irritiert ansehend:
„Ich kann ihm ja wohl kaum etwas von Ihnen erzählen!“
„Also ich habe nichts dagegen.“
„Aber ich!“ Youma schüttelte sich, als widere ihn etwas an:
„Ich habe es ganz bestimmt!“
„Ouuu schämst du dich etwa für mich?“, lachte der namenlose Dämonenherrscher laut und überaus erheitert und er gab ihm noch einen Schlag auf den Rücken, der Youma in Richtung des Schlosses schob.
„Nun tu, was ich dir aufgetragen habe – ich meine es nur gut mit dir und kenne meine Kinder besser als du.“ Tatsächlich sah Youma ein wohlwollendes Lächeln auf dem Gesicht seines Gönners, als er sich herumdrehte.
„Und sobald etwas Ruhe eingekehrt ist in Lerenien-Sei, werden wir beide uns noch einmal treffen, um Dinge auszusprechen, die schon viel zu lang unausgesprochen sind.“ Youma wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte – aber da war er schon verschwunden.
„Du bist hier, weil du meiner Einladung gefolgt bist, Fille.“
Green hatte Nocturns Stimme schon erkannt, ehe sie sich herumgedreht hatte und sie hasste sich dafür, dass das allererste Gefühl, welches sie so stark, so immens in sich aufkommen spürte, Angst war. Sie kroch nicht langsam, sondern wie eine Welle über ihren Rücken, ihre Wirbelsäule empor und lähmte sie vollends. Ihre Gesichtsfarbe entwich ihr und sie sah auch wie ihre Finger, die sich am Sarg ihres Bruders festzuhalten versuchten, weiß wurden. Warum… warum immer noch? Nocturn war einer der Dämonen, vor denen sie nach der Weihe keine Angst mehr hatte haben wollen und doch war sie so von der Angst gelähmt, dass sie sich nicht traute sich herumzudrehen. Er kontrollierte weder ihre Gedanken noch ihren Körper – es war die Angst, die sie daran hinderte, etwas zu tun; seine Fähigkeiten konnte sie nicht als Ausrede benutzen.
Green biss die Zähne zusammen und beschwor es sich noch einmal – sie hatte keine Angst mehr vor ihm oder sonst irgendeinem Dämon!
Schnell, etwas übereilig, riss Green ihr Glöckchen von ihrer goldenen Kette los und verwandelte ihren Stab noch während sie herumwirbelte. Der Stab fühlte sich immer noch schwer, fremd und heiß in ihren Händen an, aber es war immer noch besser als unbewaffnet vor Nocturn zu stehen.
Dieser blieb jedoch gänzlich unbeeindruckt von Greens neuer Waffe. Er saß mit dem einen Bein über das andere geschlagen auf einem Glassarg, in dem Greys Vorfahre ruhte, als wäre die gläserne Ruhestätte ein Sofa. Seine Erscheinung, wie er dort einfach saß, gänzlich entspannt, war grotesk und respektlos den Toten gegenüber, um die er sich nicht zu scheren schien – seine rotleuchtenden Augen lagen auf Green, nicht etwa auf dem Stab, den sie ihm entgegenhielt. Er musterte sie eindringlich mit einem bedrohlichen Schweigen, doch das war nicht das, was an ihm befremdlich wirkte…
„Wie typisch von dir, gleich zur Waffe zu greifen, Fille… oder ist das nicht länger ein passender Name für dich?“ … es war sein Gesichtsausdruck. Er grinste nicht. Er war nicht beseelt von dieser komischen, sadistischen Freude, so wie sie ihn bis jetzt selbst erlebt und auch in Whites Erinnerungen gesehen hatte. Sein Gesicht zeigte sich gänzlich ernst – und Greens Instinkt sagte ihr, dass das nichts Gutes für sie bedeutete.
„L'élu des Dieux oder Princesse de Lumière vielleicht? Ah nein, so nennt dich Ri-Il, das mag ich nicht… ah, Fille, was mache ich nur mit dir… ich mochte dich eigentlich, weißt du? Ein schwaches, verwöhntes, egoistisches Gör, aber interessant in ihrem Anders-sein. Ich wollte dich nicht töten. Aber nun ist aus der kleinen Fille… une petite peste geworden.“ Green konnte gar nicht so schnell gucken, gar nicht so schnell denken, da hatte der Arm, der ihren Stab hielt, diesen auch schon weggeworfen, ans andere Ende der Grabkammer, wo der Stab auf einen Sarg donnerte.
Entsetzt darüber was geschehen war – und dass sie gerade ein Grab geschändet hatte – wollte Green sich herumdrehen zu ihrem Stab, aber ohne, dass Nocturn sich hatte bewegen müssen, hatte er schon die gesamte Kontrolle über den nicht einmal begonnenen Kampf übernommen. Green war schon wieder in seinen Fäden gefangen; schon wieder konnte sie sich nicht bewegen – schon wieder war sie ihm ausgeliefert.
Und er saß einfach da mit seinen kalten Augen und sah auf sie herab.
„Sei brav, petite peste. Ich bin nicht hier, um mit dir zu kämpfen – oder doch? Ah, ich halte mich eigentlich an meine Versprechen…“ Die Frage, was für ein Versprechen das sein sollte, hallte in Greens Kopf nach, doch obwohl er diese Frage sicherlich hören konnte, beantwortete er sie nicht. Wie ein Vampir in einer Gruft, der erfolgreich seine Beute in die Falle gelockt hatte, sah er sie abwartend an – einen Blick, den sie nach wie vor nicht verstand. Wartete er darauf, dass sie etwas tun würde?
„Ich will dich nicht töten…aber herausfordern solltest du es nicht.“ Seine Stimme passte ebenfalls zu dem Bild eines Vampirs, denn er sprach ungewöhnlich ruhig. Seine Stimme war nichts anderes als ein sehr kaltes Flüstern, als käme sie direkt aus dem Reich des Todes. Green musste sich selbst eingestehen, dass ihr diese Erscheinung mehr Angst bereitete als vor ein paar Monaten in Litauen oder im Wald, wo Kanori gestorben war…
„Dieser Ort ist immerhin nicht fürs Kämpfen geeignet... wir wollen doch nicht, dass noch mehr Särge zersplittern. Die armen Kaze.“ Die Angst hielt Green immer noch fest im Griff, aber Wut mischte sich hinzu – dies war ihr heiliger Rückzugsort geworden, dies war die Ruhestätte ihres Bruders! Hier konnte man doch nicht kämpfen! Das war doch ein Unding!
„Meine Fingernägel…“ Eine kleine beschwingte Handbewegung genügte und schon schossen die fünf Fingernägel seiner linken Hand hervor, wie fünf Klingen, die die Dunkelheit durchschnitten.
„… sind immerhin wie gemacht dafür, Glas zu zerstören…“ Wie um seine Worte zu demonstrieren tippelte er mit den Spitzen seiner Nägel auf der Oberfläche des Glassarges, auf welchem er Platz genommen hatte – und da riss etwas in Green und sie verlor jede Vernunft.
„Was für ein Pech, dass Kanori hier aber nicht ist!“ Es war überaus dumm von ihr das zu sagen, aber sie war zu wütend, um darüber nachzudenken, was sie tat oder sich irgendwelche Gedanken darüber zu machen, was passieren würde, wenn das, was auch immer in Nocturns roten, kalten Augen lag, ausbrechen würde. Sie hatte ihn einfach nur irgendwie treffen wollen, ihn irgendwie verletzen wollen – und dieser Name hatte ihn getroffen.
Nocturn war zusammengezuckt, als Kanoris Name wie ein Geist plötzlich zwischen ihnen stand und seine Fingernägel kamen zum Stillstand – nur um dann plötzlich über das Glas zu kratzen und dabei einen so kreischenden Laut zu verursachen, dass Green sich die Hände vor die Ohren geworfen hätte, wenn ihr Körper ihr denn gehorcht hätte.
„Oh, das weiß ich! Er war ja so ein toller Menschwächter und er ist beerdigt worden!“ Seine Finger kratzten weiter über das Glas und seine hohe Stimme vermischte sich mit dem schrecklichen Kreischen des Glases zu einer abscheulichen Melodie, die Green in den Ohren schmerzte.
„Und was bin ich dankbar dafür! Die Vorstellung, dass ihn die Maden gefressen haben, ist HERR-LICH! Sie erfreut mich und mein Herz!“ Eigentlich hatte Green es kommen sehen müssen, aber es geschah so schnell und so abrupt, dass sie nichts Anderes wahrnahm als Schmerz, als ihr Kopf gegen die Glasscheibe des Sarges ihres Bruders gedrückt wurde und sie nicht nur den Riss des Glases hörte, sondern ihn an ihrer Wange spürte, zusammen mit Nocturns Krallen, die sich in ihre Kopfhaut bohrten.
„Aber du, petite peste, du erfreust mein Herz weniger“, fuhr Nocturn plötzlich wieder mit ruhiger Stimme fort, sich zu ihr herunterbeugend, damit er jedes einzelne Wort deutlich in ihr Ohr zischen konnte.
„Mich zu reizen ist eine sehr dumme Idee, Green. Denn ich bin wütend und Parbleu, ich hasse es wütend zu sein. Aber wie sollte es anders sein? Oh, ich sehe du hast keine Ahnung, wovon ich rede! Du hast ziemlich viele Dämonen getötet, das hast du bemerkt, oder? Nun, ich spiele nicht die Rolle eines Moralapostels. Du tötest, so wie es in deiner Natur liegt, es zu tun. Mein Zorn auf dich rührt nicht daher. Du hast die Menschenwelt verseucht, Green. Du hast mein Zuhause verseucht mit deinem Licht. Erlaube mir daher, ein wenig wütend auf dich zu sein.“ Blut rann von ihrem Kopf herunter und ihr Kopf schmerzte, als würden Nägel in ihn gehämmert werden… aber besser sie gruben sich in ihren Kopf als Greys Sarg weiter zu beschädigen…
„Aber nein, nein, ich bin nicht hier, um dich zu töten oder dich zu bestrafen. Das bin ich wirklich nicht! Die Schmerzen, die du jetzt spürst, hast du dir selbst zuzuschreiben… Ich bin hier, um dich etwas zu fragen.“ Nocturn lockerte seinen Griff ein wenig und Greens aufgescheuchte Augen trafen seine---
„Doch vielleicht…“ --- sie spürte deutlich auf ihrer vor Blut feucht gewordenen Kopfhaut, wie er seine Finger anders platzierte, wie eine große Spinne mit dürren, spitzen Beinen---
„… bist du gegen Schmerzen resistent und du lernst nur brav zu sein, wenn ich etwas andere Methoden benutze…“ Nocturns rote Augen sahen an Green vorbei und Green wusste sofort, was er meinte. Seine stechenden Augen sahen nicht auf die zerrissene Glasfläche des Sarges, sondern durch es hindurch. Er meinte Grey.
„Vielleicht ist das eine wirksamere Erziehungsmethode.“
Das war der Moment, wo Silence eigentlich einschreiten wollte. Sie hatte alles mitangesehen aus dem Schatten heraus, aber nichts hatte sie erweicht. Nichts hatte ihren Entschluss, alles nur mitanzusehen, ins Wanken gebracht – aber als Green die Augen aufriss und die Vorstellung, dass Nocturn den Leichnam ihres Bruders verstümmeln würde, ihr den Schrecken ins Gesicht malte, da rührte Silence sich. Konnte Hikaru wirklich so eine Maske aufsetzen? Konnte sie dieses Gefühl emulieren?
„Nicht…!“, flehte Green, ihren Stolz bei dieser Horrorvorstellung gänzlich verlierend und den Sarg ihres Bruders umarmend, im Versuch ihn mit ihremn eigenen Körper zu beschützen.
„Ou, du flehst?“, antwortete Nocturn in einem gänzlich unbeeindruckten, unbelustigten Tonfall - es war wirklich dumm von Green gewesen, ihn zu provozieren.
„Offensichtlich hat die Weihe nicht sonderlich viel bewirkt, nicht wahr, kleine Green?“ Nocturn und Silence streckten beide gleichzeitig die Hand aus – der eine mit gezückten Fingernägeln, die andere im Begriff, die verbotene Technik des Todestanzes einzuwenden, um Green zu---
„Catehitsui!“ Nocturn wirbelte herum – aber zu spät. Golden leuchteten seine Handgelenke auf und schlugen zusammen, ehe er verstand, wo diese fremdartige Magie herkam, die Green ebenfalls nicht platzieren konnte. Aber Silence konnte es, auch wenn sie kaum glauben konnte, wer sich an diesen schaurigen Kampfort wagte und wer sich obendrein auch noch traute, sich in einen Kampf mit Nocturn einzumischen, ohne eine nennenswerte Magie zu besitzen: Ryô.
„Ryô!“, rief Green, in dem Moment, als Nocturn zähnefletschend rückwärts sprang und die Hikari den Kopf heben konnte.
„Du musst fliehen, Ryô! Du darfst nicht hier sein!“ Doch anstatt das zu tun, eilte der deutlich erbleichte Tempelwächter zu Green, die immer noch ihre Arme beschützend um den Glassarg ihres Bruders geschlungen hatte.
„Geht es Euch gut, Hikari-sama?“ Anstatt diese Frage zu beantworten, sah Green mit bangem Blick auf die Oberfläche des Sarges – aber er war nur angerissen, nicht zerbrochen. Sie wollte erleichtert aufatmen, aber da zerschnitt Nocturns Wut die Luft.
„Du schon wieder!“ Ryô und Green sahen beide verwirrt aus – schon wieder?
„Ich hätte dich...” Seine Stimme klang wie das Knurren eines Tieres: es fiel ihm sogar offensichtlich schwer, die Worte zu formen.
„... schon das letzte Mal.. töten... sollen... Ein wahrer Störenfried.” Mit Müh und Not schloss er die Augen im Versuch sich zu besinnen, doch es gelang ihm nicht und Green, von banger Vorahnung erfüllt, sah hoch zu Ryô, doch dieser rührte sich nicht – wie gefesselt starrte er Nocturn an, den er doch eigentlich noch nie zuvor...
„Comme c'est irritant... mais, c’est ma faute. C’est ma seule faute!”
„Ryô, bitte...” Green packte den Arm des völlig gelähmten Tempelwächters:
„Flieh!” Doch es war zu spät - Nocturn schlug mit einem Mal seine Augen wieder auf – Augen, die vor Mordlust brannten und ein entsetzter Stoß ging durch sowohl Ryô als auch Green, als sie in diese tierischen Augen sahen. Silence fluchte – konnten die beiden sich nicht endlich mal wegbewegen?!
„Ein Tempelwächter wie du…“, knurrte Nocturn, die zusammengeketteten Hände hochhaltend und was sahen Ryô und Green da beide---?! Die Ketten, die eigentlich von niemandem zerstört werden konnten, sprühten Funken, spritzten Blut, als Nocturn mit Gewalt seine Hände auseinanderriss.
„… SOLLTE SEINEN PLATZ KENNEN!“ Ein funkelnder Goldregen ergoss sich über dem Boden und noch ehe er von der Dunkelheit verschlungen wurde, schossen Nocturns Fingernägel abermals hervor, trennten die Luft und hätten auch Ryô aufgeschlitzt, hätte Green nicht in diesem Moment die Hand ausgestreckt:
„NICHT!“
Nicht nur Greens und Nocturns Augen weiteten sich, als eine enorme Walze an Licht sich entfesselte und Nocturns Fingernägel verätzte – sondern auch Silences‘, die sofort, von einem Instinkt getrieben, erschrocken Abstand nahm. Für einen kurzen Moment war die gesamte Kammer in so helles Licht gehüllt, dass die gesamte Grabstätte aussah, als wäre sie in einen weißen Farbtopf gefallen.
Nocturn musste sich die Hand vor die Augen halten und Blut rann ihm aus den Ohren und aus dem Mund, aber obwohl sein Körper deutliche Warnsignale sendete, bewegte er sich nicht, floh nicht. Allerdings sah er deutlich verstört und entgeistert seine Fingernägel an – eben waren sie noch mehr als einen Meter lang gewesen: nun waren sie nur noch fünf Zentimeter kurze blutige Stumpfe, genau dort abgetrennt, wo das Licht sie getroffen hatte. Sie waren weggeätzt worden. Sie sahen aus wie geschmolzene Klingen aus Metall, die man in Lava gesteckt hatte.
Es war selten, dass Nocturns Fingernägel gezittert hatten. Aber das taten sie jetzt. Das tat seine gesamte Hand, als er sie sich vor die Augen hielt und sie entsetzt anstarrte.
„Mon Dieu.“
Nicht nur Nocturn war entgeistert, sondern auch Green, die erschrocken ihre bebende, kochend heiße Hand ansah, die nun, da die Dunkelheit zurückgekehrt war, deutlich hervorleuchtete. Sie traf Ryôs Blick, der genauso fassungslos aussah wie sie, doch bevor sie irgendwelche Worte austauschen konnten, durchbrach Nocturns Stimme die von Schock gelähmte Stille.
„Nicht schlecht, wirklich… nicht schlecht, Fille. Das hätte ich dir nicht zugetraut. Nicht gut gezielt, aber sehr effektiv. Effektiver als White womöglich… ja…“ Nocturn sah auf seine Fingernägel.
„… strahlender als Whites Licht… und kälter als Eis.“ Er sah zu der schockierten Green, die genauso erstarrte wie Silence bei diesem Wort – Eis?! ---- ehe seine Augen wieder langsam Ryô fixierten.
„Aber ich habe ja noch eine zweite Hand.“ Und dann wurde Ryôs Brust von zwei Fingernägeln durchbohrt.
„Und die, die ich tot sehen will, die töte ich auch.“
„Wie – Nocturn ist nicht hier?!“ Youma war wieder im Reich Lacrimosas angekommen, um, genau wie der namenlose Dämonenherrscher es ihm aufgetragen hatte, Nocturn abzuholen, damit sie an der Konferenz der Hohen teilnehmen konnten. Der namenlose Dämonenherrscher hatte ihm gesagt, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass die Hohen die Konferenz schnell beenden würden, daher braucht er sich nicht zu beeilen – offensichtlich hatte er nicht gewusst, dass Nocturn mal wieder--- argh! Einfach nicht das tat, was man ihm sagte!
„Schau mich nicht so vorwurfsvoll an“, erwiderte Lacrimosa:
„Du hast ihn auch schon verloren – mehrere Male sogar.“ Youma überhörte die Kritik und sah zu Blue, der etwas abseits stand, in der Nähe des brennenden Kaminfeuers. Feullé saß immer noch auf dem Sofa, wo sie vor ein paar Stunden noch mit Nocturn zusammengesessen hatte, aber mit ihr sprach niemand, obwohl sie eine Antwort hätte geben können.
„Wie konnte das passieren?!“ Warum sah Youma jetzt Blue an, als wäre er daran schuld – er war doch nicht Nocturns Aufpasser?
„Er saß die gesamte Zeit dort und hat sich nicht gerührt“, erklärte Lacrimosa:
„Und auf einmal war er weg.“ Während Youma wieder zu Lacrimosa sah, sah Blue zu Feullé, welche seinem Blick jedoch sofort auswich, als sie ihn bemerkte. Ah… sie wusste also ganz genau wie Nocturn verschwunden war, ohne, dass es jemand bemerkt hatte. Aber scheinbar wollte sie niemand mit der Frage behelligen, oder man vergaß, dass sie eine gewisse Informationsquelle war. Blue war sich dessen jedenfalls im Klarem – sie war ein unauffälliges, schüchternes Mädchen, aber sie sah mehr, viel, viel mehr, als man glaubte und sie war auch nicht dumm. Sie verstand auch mehr als andere glauben mochten, was auch der Grund war, weshalb sie ihren Vater jetzt nicht verriet und weiterhin ihre Rolle als unwissendes, ruhiges Mädchen spielte und nicht auf sich aufmerksam machte.
„Und wohin?! Ja wohl hoffentlich nicht in die Menschenwelt!?“ Youma schlug sich die Hand an die Stirn, als ihm klar wurde, dass niemand ihm diese Frage beantworten konnte und stöhnte:
„Argh! Sein Wahnsinn ist wahrhaftig ansteckend! Er treibt mich zur Weißglut!“ Auch Lacrimosa hatte das Gesicht verzogen, wenn auch etwas weniger genervt als Youma – mehr aus Sorge. Nocturn war immerhin nicht gerade in einer guten Verfassung gewesen… und er hatte seine Hengdi nicht bei sich getragen, ein Detail, welches Youma übersehen hatte oder welchem er keinerlei Bedeutung beimaß... dass Nocturns Hengdi in Paris war – und er sie nicht holen konnte – hatte sicherlich auch dazu beitragen, dass er so neben sich gestanden hatte. Aber davon hatte Youma - natürlich - keine Ahnung, auch wenn das beschämend war.
„Schwester Lacrimosa“, mischte sich nun Neferteri ein:
„Ich weiß, dass Nocturn dein Schutzbefohlener ist, aber wenn er sich in die Menschenwelt aufgemacht hat, dann hat er selbst schuld, wenn er stirbt. Du hast eine Konferenz, die dich ruft.“ Schutzbefohlener? Bei diesem Wort hatten sowohl Blue als auch Youma die Ohren gespitzt. Aber anstatt, dass Youma darauf einging, stimmte er Neferteri zu:
„Die Konferenz ist in der Tat wichtig und Nocturn wird auch nicht tot sein. Sie können sich unbesorgt an der Konferenz beteiligen.“ Lacrimosa, Neferteri, Blue und auch Feullé sahen Youma an.
„Die Menschenwelt ist wieder sicher für uns. Wir können dort wieder atmen.“
„Woher willst du das wissen?“ Toll und auf diese Frage Lacrimosas kannte Youma keine gut klingende Antwort.
„Ich weiß es, weil ich dafür gesorgt habe.“ Lacrimosas und Neferteris Augen weiteten sich erstaunt, ebenso wie Blues, doch seine verengten sich schnell skeptisch.
„Du hast was? Wie hast du das denn gemacht?“, bohrte die Eisfürstin nach und auch Nefeteri bohrte Youma mit Fragen:
„Bist du dir ganz sicher?“
„Das bin ich. Ich komme gerade aus der Menschenwelt und wie Sie sehen…“ Youma schob seine Haare zurück, damit man einen freien Blick auf seine mit Prismen behangenen Ohren hatte.
„… blute ich nicht aus den Ohren.“ Lacrimosa öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder und im gleichen Moment, als Youma seine Haare wieder fallen ließ und sie sich über die Schulter warf, kam Klariette aufgeregt in den Salon.
„Schwester Lacrimosa, Lycram ist endlich mal aufgetaucht – jetzt bist du die letzte, die fehlt.“ „Ja… ja, ich komme!“ Lacrimosa drehte sich schon herum – aber sie entschied sich doch noch einmal um, um Youma mit einem Blick zu durchbohren:
„Du bleibst hier. Wir sprechen uns noch, ich will eine Erklärung!“ Youma himmelte etwas aufgebend mit den Augen, als Lacrimosa sich herumgedreht hatte.
Dank Nocturn verlief mal wieder gar nichts nach Plan…
„RYÔ!“
Green hatte den Namen des teuren Tempelwächters in den letzten Tagen schon viel zu oft geschrien – schon viel zu oft war er wegen ihr in Lebensgefahr geraten. Zuerst im Kampf gegen die Götter… und nun im Kampf gegen Nocturn.
Zwei dünne Fingernägel steckten in seiner Brust, wie dünne Speere. Nur wenig Blut war auf den Boden gespritzt, doch vom Einstichloch aus breitete sich der rote Lebenssaft aus und tauchte die hellblaue Uniform des Tempelwächters in Rot. Er war zu Boden gesackt, wo Green ihn stützte und sofort die Fingernägel herausziehen wollte, als Nocturns Magie ihre Finger lähmte.
„Bei einem Einstich ist es nicht ratsam, das Einstichwerkzeug zu entfernen, da man dann das Verbluten beschleunigt. Hast du das etwa nicht gelernt?“ Nocturn beugte sich zu ihr und Ryô herunter, der stöhnend und blutend in ihren Armen lag.
„Dir liegt viel an diesem Tempelwächter, nicht wahr? Du hast den Diener deines Bruders richtig ins Herz geschlossen, hmm…? Es war deutlich in deinem Schrei zu hören… so schreit man nur, wenn man jemanden so richtig gernhat.“ Green wusste nicht, was sie antworten sollte – sie wollte gar nicht antworten. Sie konnte es auch nicht, denn alles in ihrem Kopf schrie Ryôs Namen. Sie konnte ihn nicht sterben lassen! Nicht hier, nicht vor Greys Sarg! Nein! Egal wo! Ryô durfte nicht sterben!
„Hmm…“ Und da war es – Nocturn begann plötzlich zu lächeln. Es war kein beruhigendes Lächeln – fernab davon. Es war ein heimtückisches Lächeln, welches Angst gebar, doch er sah nicht länger wütend aus.
„Das gefällt mir. Ja, das gefällt mir! Ah, du hast mich aufgeheitert, ich danke dir!“ Mit einem Schwung hob Nocturn sich empor und tänzelte rückwärts.
„Ich erlaube ihm zu leben, beziehungsweise…“ Theatralisch streckte Nocturn die Hand aus – eben jene, mit der er gerade Ryôs Brust durchbohrt hatte. Seine Fingernägel waren wieder kurz.
„… ich lege sein Leben in deine fähigen Hände. Ziehe meine Nägel heraus – du wirst dich an ihnen schneiden, aber das wirst du für ihn ertragen können, nicht? – und achte darauf, dass du sie gerade herausziehst. Wir wollen doch nicht, dass du das Innere des Armen noch weiter beschädigst, nicht? Du hast dann… hmm… ungefähr sechs Minuten, ehe er verblutet. Heile ihn in diesen sechs Minuten und er wird es überleben.“ Nocturn hopste rückwärts auf einen Sarg und sah auf die völlig fassungslose Green herab, deren zitternde Finger den blutenden Ryô fest an sich klammerten, während Nocturn es sich einfach bequem machte, als wäre er zu Gast bei seinem Lieblingstheater.
„Also, Green… fang an.“