Der Anfang vom Ende
Das Wasser für die zweite Kanne Tee war bereits am Kochen und Gary stand hinter der Theke, die die Küche von der Stube trennte, um die zweite Kanne Tee vorzubereiten, während Green den beiden Brüdern erzählte, dass Silence und Youma in das Zentrum von Aeterniya gebracht wurden, wo sich in Zukunft ihr Zuhause befinden würde – in den Palast der Elemente.
„Kikou hatte nicht gelogen und Silence benötigte wirklich ärztliche Hilfe. Sie musste sogar operiert werden.“ Green sah zu ihrer Geisterfreundin, aber Silence sah nur aus dem Fenster. Da sie ihr aber keinen tadelnden Blick zuwarf, musste das wohl bedeuten, dass sie alles richtig machte und Silence mit ihrer Wiedergabe der Geschehnisse zufrieden war.
„Ich hätte diesem Hikari ja nicht vertraut“, sagte Siberu und nahm sich einen großen, flachen Keks mit Schokoladenstückchen drin, der eigentlich Pink gehörte.
„Ich meine, der kommt einfach so daher und nimmt sie mit, also…“ Gary, den beiden immer noch den Rücken zugekehrt habend, sagte nichts. Doch die Wasseroberfläche des Tees verriet sein Zusammenzucken bei den Worten Siberus. Was redete er da eigentlich… ausgerechnet er…
„Er ist ja auch ein Hikari! Einem Hikari kann man doch nicht vertrauen – nichts für ungut, Green-chan…“
„Kein Problem. Ich vertraue ihnen ja auch nicht.“ Green sah kurz zu Gary, dann wieder zurück zu Siberu.
„Aber damals war das alles noch ein wenig anders. Die Hikari hatten keinen… naja, Ruf. Sie waren ja nur Light und Hikaru. Man sprach damals noch gar nicht von „den Hikari“.“ Wieder sah Green zu Silence… und dieses Mal bemerkte sie, dass Silence recht bitter aussah.
„Light ist wirklich in Ordnung. Wenn er heute noch leben würde… das wäre toll. Er war auch für die Dämonen. Also… er hat sie nicht gehasst und war dafür, dass Wächter und Dämonen zusammenleben sollten, so wie wir es nun tun.“ Gary kam mit dem Tablett zurück und wollte es gerade auf den Tisch stellen, als Green zu ihm empor sah und ihn anlächelte:
„Das ist doch wirklich ein schöner Gedanke, oder nicht?“ Gary errötete wie auf Knopfdruck und genauso schnell hoben sich auch Siberus Augenbrauen.
„Ja… ein schöner Gedanke ist es.“ Green lachte Gary an, der aufpassen musste, dass er den Tee nicht verschüttete.
„Finde ich auch!“
„Ich ebenfalls!“, warf Siberu rein mit energischem Nachdruck, der Green sofort zu einem erfreuten Kichern brachte. Aber Silence lächelte nicht wieder. Sie beobachtete die drei kurz, ehe sie wieder ernst aus dem Fenster sah.
Vertrauen… Sie wollte Light immer noch vertrauen. Sie wusste auch, dass sie das tun konnte. Aber Hikaru…
DER ANFANG VOM ENDEYouma hatte die gesamte Zeit, in der Silence das Bett in diesem für sie gänzlich fremden Palast hatte hüten müssen, an ihrer Seite verbracht. Nichts hätte ihn davon abbringen können und Light wusste das: er ließ ihn gewähren, versuchte nicht sich aufzudrängen und ließ den Zwillingen alle Zeit und allen Raum der Welt, die sie füreinander brauchten. Als Silence wieder gehen und damit das Hospital verlassen konnte, taten sie das, worauf sie schon die gesamte Zeit gewartet hatten: sie nahmen sich bei der Hand und halfen einander dabei, zu ihrem eigentlichen Zuhause zurückzufliegen. Noch konnten sie beide nicht so gut fliegen, denn sie hatten gerade erst angefangen es zu lernen, aber gemeinsam und ohne, dass jemand versuchte sie aufzuhalten, obwohl Youma gemeint hatte, Lights Blick durch ein Fenster gespürt zu haben, kamen sie in dem Garten vor ihrem Zuhause an, wo sie es liebten, den Sonnenuntergang zu sehen. Doch die Sonne war bereits untergegangen, als die beiden Kinder ankamen: es war schon dunkel und nur fern leuchteten einige kleine, schwache Sternchen. Das Haus hinter ihnen war dunkel und verschlossen. Man hatte die Habseligkeiten der Zwillinge bereits geholt: das Haus war vielleicht sogar gänzlich leergeräumt… sie trauten sich nicht hineinzusehen in ihr kleines Paradies, wo sie so viele schöne Stunden verbracht hatten. Sie hatten dem Haus den Rücken zugekehrt, sahen über das funkelnde Aeterniya hinweg und ließen sich in das sich sanft wiegende Gras fallen, das im Licht der Stadt weiß zu leuchten schien.
Sie sagten nichts, doch ihre kleinen Häupter fanden zusammen und in ihrer Trauer und der Einsamkeit, die nur von einer Mutter gefüllt werden konnte, schmiegten sie sich aneinander und trauerten in Schweigen. Sie zweifelten die Worte Lights, dass ihre Mutter tot war, nicht an – sie hatten es ja gespürt… den Untergang des schönsten Sterns, ihres Sterns.
Aber sie wollten nicht weinen! Sie waren ja tapfere Kinder. Sie waren furchtlose Kinder. Das hatte ihre Mutter ihnen immer gesagt. Sie durften nicht weinen.
„Vertraust du Light, Youma?“ Youma antwortete nicht sofort.
„Ich glaube nicht, dass er böse ist… Er hat dich ja auch gerettet.“
„Eigentlich hat mich die blaue Frau gerettet.“ Silence kuschelte sich an Youmas Schulter.
„Die war unheimlich.“
„Nicht so unheimlich wie…“
„Hikaru“, sprachen sie wie aus einem Mund – offensichtlich waren sie sich einig und sie lächelten kurz darüber.
„Das letzte Mal, dass Vater Mutter besucht hat…“ Youma versteifte sich sofort, aber Silence nahm darauf keine Rücksicht.
„… da sagten sie, dass man sich vor der Puppe in Acht nehmen soll. Ob sie Hikaru gemeint haben? Sie sieht aus wie eine Puppe.“ Youma runzelte die Stirn – warum wusste er davon nichts? Davon hatte er noch nie etwas gehört und das beschäftigte ihn gerade viel mehr als Silence‘ Worte.
„Woher weißt du das und ich nicht?“
„Weil Vater Mutter abends besucht hat und du hast schon geschlafen.“ Silence rührte sich unruhig mit leicht roten Wangen.
„Und ich wollte Vater und Mutter zusammen sehen.“ Youma wusste nicht, ob er noch mehr darüber wissen wollte, aber seine Neugierde konnte er nicht zurückhalten.
„Und…?“
„Nein.“ Silence seufzte:
„Sie haben sich nicht einmal umarmt.“ Kurz schwiegen sie, beide über die Stadt hinwegsehend und Youma ertappte sich dabei, wie er nach Lerenien-Sei sah… und dann bewegte er sich plötzlich ruppig, was Silence dazu brachte, den Kopf zu heben. Sie wollte ihn gerade fragen, was denn los sei, als Youma, den Blick immer noch auf Lerenien-Sei gerichtet, das Wort zuerst erhob:
„Glaubst du wirklich, dass Vater auch tot ist? Vielleicht ist er nur… weg… wie immer.“
„Ich weiß es nicht, Youma, aber ich denke Light hat nicht gelogen. Er sah so traurig aus, als er es gesagt hat…“ Youma sah zerknirscht in eine andere Richtung. Weg von Silence, weg von Lerenien-Sei.
„Mutter hat auch von Light gesprochen.“ Youma sah wieder zu Silence.
„Sie meinte, dass unser Vater ihm vertrauen könne.“ Ihr Zwilling antwortete nicht.
„Dann können wir das ja auch. Mutter hat doch immer recht…“ Das Wort „gehabt“ hing in der Luft, aber weder Silence noch Youma wollten es aussprechen. Die Wut und Frustration über ihren Vater war in Youma verpufft und zurück war die Trauer und der quälende Drang zu weinen. Aber er musste stark sei! Stark für sie, stark für seine Schwester, deren Hand er nahm, um ihr Trost zu geben und selbst welchen zu erhalten.
„Sie ist… weg…“ Nicht weinen, nicht weinen…
„Mutter, sie ist…“
„Nicht weg.“ Silence und Youma drehten sich sofort herum, als diese weiche Stimme hinter ihnen ertönte und sie Light erblickten, dessen Stimme sie nicht sofort erkannt hatten – zu wenig hatten sie mit ihm gesprochen, um dies tun zu können und sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft gewesen, um seine Aura zu spüren, welche auch nicht sonderlich aufdringlich war. Es war eine sanfte Aura, als würde diese von seinem Lächeln stammen und nicht von seiner Magie.
„Verzeiht bitte, dass ich euch hinterher geflogen bin, aber ich kann doch vierjährige Kinder nicht alleine lassen“, brach Light die angespannte Stille mit einem entschuldigenden Lächeln.
„Wir sind schon sehr große Vierjährige!“, rief Youma, der sich sofort versteift hatte, als er Lights strahlendes Antlitz ausmachte, welches sich so deutlich von der Dunkelheit abhob.
„Das weiß ich, Youma. Ihr seid nicht wie die meisten Kinder.“
„Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, dass Mutter nicht… weg sei?“, fragte Silence, die sich, anders als Youma, nicht verkrampfte und es auch nicht tat, als Light näher an sie herankam, um sich schlussendlich zu ihnen ins Gras zu setzen, ohne darauf zu achten, ob das saftige Gras oder der Schmutz des Bodens seine weiße Kleidung befleckte. Er setzte sich einfach zwischen sie, so natürlich, als hätten sie ihn dazu eingeladen.
„Ich habe es euch bereits gesagt…“ Silence sah Light mit großen Augen an; Youma sah weg, als wolle er ihm nicht zuhören – obwohl er natürlich jedes einzelne Wort vernahm.
„… auch meine Mutter ist… gestorben.“ Eigentlich war das nicht das Wort, was er hatte benutzen wollen, da es einfach nicht richtig war, es so zu nennen… aber er tat es verständnishalber für die Kinder, die ihm beide aufmerksam zuhörten, obwohl Youma immer noch den Kopf weggedreht hatte.
„Doch sie leben in unserem Element weiter.“ Light legte die Hand auf seine Brust, eine Geste, die Silence nachahmte und das Lächeln fiel Light sofort einfacher.
„Sie sind immer ein Teil von uns. Ein Teil unserer Seele. Wenn wir das Licht der Sonne spüren oder in eurem Falle die Sterne aufleuchten sehen, dann sind es unsere Mütter, die bei uns sind. Sie haben uns nicht verlassen.“ Light streckte die rechte Hand aus und öffnete diese Finger für Finger und kleine, strahlende Funken, wie hunderte kleiner Sonnen, entstiegen seiner Handfläche; kreisten um sie herum, lockten auch Youma dazu, sich Light und dem Lichtschauspiel zuzuwenden und den kleinen Funken mit den Augen zu folgen, die auf den blauen Blumen landeten und auf ihnen tanzten wie Glühwürmchen.
„Seht ihr? Wenn ich meine Magie so wie jetzt einsetze, dann…“ Light lächelte immer noch, aber Silence sah, dass sein erhelltes Gesicht traurig aussah.
„… habe ich das Gefühl, dass ich mit meiner Mutter spreche.“
„Bei mir geht es aber nicht.“ Youma hatte seine Hände genauso ausstreckt wie Light es getan hatte und auch Silence tat es, aber ihre Handflächen verlieben dunkel und magielos.
„Bei mir auch nicht…“ Light lachte ein wenig.
„Ihr seid auch noch Kinder.“ Youma schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein, denn er ballte seine Hände zu Fäusten und vergrub sie in seinem Rock. Silence wollte gerade sagen, dass sie doch einfach besser werden mussten, als Light ihr schon zuvorkam.
„Youma…“ Der kleine Yami schien es nicht zu wollen, dass Light ihn beim Namen nannte, aber er verzog nur ein wenig das Gesicht, ohne etwas dazu zu sagen. Die Hand, die Light ihm auf die Schulter legte, schüttelte er auch nicht ab, aber seine schwarzen Augen beobachteten ihn genau, ließen sich nicht von Lights Lächeln beirren.
„… auch wenn ihr eure Magie noch nicht einsetzen könnt, so ist eure Mutter da.“ Er sah auch zu Silence.
„Ich spüre Yamis Aura ganz deutlich an euch. Sie umgibt euch und beschützt euch. Sie ist sogar in euren Ohrringen!“ Light sah vom einen zum anderen, die beide plötzlich ihre schwarzen Prisma-Ohrringe berührten, beide etwas überrascht.
„Die hat eure Mutter für euch gemacht, nicht wahr?“ Beide sagten nichts, aber ihre Finger blieben an den schwarzen Schmuckstücken, als könnten sie so ihre Mutter spüren. Youma sah kurz weg – sah aber wieder hin, als Silence anfing zu sprechen.
„Ja, die hat… Mutter gemacht…“
„Nein, Silenci, nicht…“ Aber Silence redete weiter, mit noch größerer Verzweiflung als zuvor und die Augen der beiden Zwillinge füllten sich beinahe zeitgleich mit Tränen, die erhellt von den glitzernden Funken zu leuchten schienen.
„… sie hat gesagt, dass diese Prismen ein Teil von ihr seien und dass sie immer, immer bei uns ist! Dass sie uns immer umarmt! Und wenn sie uns umarmt, dann dürfen wir ruhig weinen! Das sagte sie, oder, Youma?!“ Youma wollte das nicht bejahen, er wollte nicht weinen, denn es war ja niemand mehr da, der sie…
Doch, es war jemand da, der sie umarmen würde, wenn sie weinen mussten – und dieser tat es auch. Zuerst legte Light seinen Arm um Silence und drückte das zutiefst verzweifelt weinende Mädchen an sich und dann, als wäre ein Damm gebrochen, begann auch Youma leise zu weinen. Zuerst wehrte er sich gegen Light, wollte seinen Arm von seinen Schultern schütteln, aber dann warf er sich mit einem erstickten Schrei an Lights Brust.
„Ihr dürft immer weinen“, flüsterte Light, das eine schwarze Haupt streichelnd, während er seine Wange auf das andere legte.
„Denn ich werde immer da sein, um euch zu umarmen und zu halten.“
Seit einer Weile schon hatte Gary nichts mehr gesagt. Er hörte zu, wie Green ihnen erzählte, dass es nicht immer friedvoll gewesen war und dass es lange gedauert hatte, bis Youma sich Light vollständig öffnete. Aber er tat es; von Tag zu Tag öffneten er und Silence sich ihm mehr, denn es war einfach unmöglich ihm nicht zu vertrauen. Sein warmes Lächeln war rein, voller Ehrlichkeit und Wärme und… Liebe.
Gary hörte all dem aufmerksam zu und Green sah ihm dies auch an, aber sie sah ihm auch an, dass ihn etwas beschäftigte; etwas wunderte ihn, störte ihn, weshalb sie ihre Erzählung abbrach.
„Was ist los, Gary?“ Auch Siberu sah ihn fragend an.
„Du wirkst so abwesend…“, fügte Green hinzu, als Gary sie beide verwundert ansah.
„Ich hör zu.“
„Das weiß ich, aber etwas beschäftigt dich, oder?“ Gary sah von Green zu Siberu – und ein wenig länger zu Siberu, wie Green bemerkte, als frage er ihn etwas, ohne den Mund aufzumachen. Aber Siberu schien diese stumme Frage nicht zu verstehen – er sah weiterhin verwundert aus.
„Ich frage mich, was die Hintergründe sind für den Tod von Yami, Luzifer und Hikari.“ Gary sah wie immer recht ernst aus, als er dies äußerte.
„Es wird doch kaum ein Zufall sein, dass sie alle zur gleichen Zeit gestorben sind. Sind die Hintergründe nicht bekannt? Du hast nichts angedeutet… aber die Zwillinge werden ja wohl mal gefragt haben.“
„Sie waren ziemlich klein, Aniki. Dass das komisch ist, wird ihnen vielleicht gar nicht aufgefallen sein“, antwortete Siberu statt Green.
„Das ist so suspekt, das muss einem ins Auge stechen. Wenn sie nicht nachgeforscht haben, als sie jünger waren, dann doch spätestens als sie älter waren.“ Green sah zu Silence.
„In einigen Dingen sollte man vielleicht nicht zu sehr herumwühlen…“ Die Antwort Siberus und auch den ernsten Blickaustausch der beiden Brüder bemerkte Green nicht, denn sie sah immer noch zu Silence, aber diese sprach nicht mit ihr. Sie sah etwas bedrückt aus, etwas, was Green noch nicht an Silence gesehen hatte.
„Es gibt eine offizielle Erklärung“, begann Green und Siberu und Gary wandten sich ihr wieder zu.
„Aber ich bin mir nicht so sicher, ob sie stimmt.“ Green lächelte und schüttelte energisch den Kopf:
„Nein, eigentlich sind Silence und ich uns ziemlich sicher, dass es nicht wahr ist, aber im Geschichtsbuch der Wächter steht geschrieben, dass Luzifer nur mit Yami eine Beziehung geführt hat, um an Hikari heranzukommen, um diese zu töten… und dass er auch Yami töten wollte. Aber das ergibt nicht so wirklich Sinn in einer Welt, wo die Wächter und die Dämonen zusammenleben, oder?“ Weder Siberu noch Gary antworteten.
„Angeblich hat Hikari ihre fleischliche Hülle geopfert, um Luzifer mit in den Tod zu nehmen; er ist immerhin einer der sieben Teufel und so. Er muss sehr stark gewesen sein. Sie wollte ihre geliebte Yami retten, die daraufhin Selbstmord begangen hat.“ Green verzog das Gesicht und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Tee.
„Das klingt alles ziemlich fischig, wenn ihr mich fragt. Das klingt…!“ Green hob entschlossen den Finger:
„Wie eine Lügengeschichte, die die Wächter erfunden haben, um Hikari in einem guten, dramatischen Märtyrerlicht stehenzulassen, jawohl!“ Siberu gab ihr Recht, aber ausgerechnet Silence, die Green mit diesen Worten erreichen wollte, stimmte ihr nicht zu.
„Das wissen wir nicht.“ Silence sah immer noch so… ungewöhnlich leidend aus.
„Was das angeht… wissen wir gar nichts. Der größere der beiden hat Recht. Youma und ich hätten das früher erfragen sollen. Aber wir wollten nicht. Wir wollten einfach glücklich sein.“ Sie schüttelte den Kopf, sah immer noch aus dem Fenster, ohne zu Green zu sehen.
„Wir waren genauso blind wie Light.“ Kurz konnte Green sich nicht entscheiden, ob sie fortfahren sollte oder nicht: ob sie Silence allein eine Antwort geben sollte, oder ob sie vielleicht einfach fortfahren sollte… aber sie entschied sich für eine andere Route und sagte laut und mit Entschlossenheit:
„Es war Hikaru. Hikaru wollte Yami und Hikari aus dem Weg haben und Luzifer war der Schlüssel dazu. Silence und ich wissen leider nichts Konkretes und es sind Spekulationen… aber ich bin mir ganz sicher. Hikaru hat Luzifer umgebracht und es so aussehen lassen, dass es Hikari war, um die beiden Schwestern gegeneinander aufzubringen. Sie war nicht mit Hikari zufrieden; sie war mit dem gesamten Wächtertum nicht zufrieden, in dem jedes Element gleich viel wert war. Sie wollte an die Macht. Hikari und Light wollten es nicht.“
„Warum hat sie dann nicht auch Light getötet?“, fragte Gary, der sich ein wenig vorgelehnt hatte.
„Wie soll sie das machen? Ihn anleuchten? Sähe doch auch komisch aus, oder, Gary? Du bist doch unser Stratege hier – es wäre doch nicht intelligent gewesen von ihr, Light auch umzubringen.“ Green lächelte etwas bitter.
„So wie die Dinge jetzt standen… waren sie und Light die Opfer und Hikari auch. Das sieht doch viel besser aus.“ Greens Lächeln verblasste und sie sah in dieselbe Richtung wie Silence.
„Und Silence und Youma wurden die Kinder eines Verräters und Mörders…“
„Kinder des Verräters“, „Mörderkinder“… es gab viele Worte, mit denen Silence und Youma hinter vorgehaltener Hand beschrieben wurden, wenn sie nicht gerade an Lights Händen hingen. Früher waren es Hikaru und Light, die als unzertrennlich gegolten hatten. Immer hatte man sie zusammen gesehen, immer sehr dicht beieinander. Meistens hatte Light Hikaru getragen oder hatte sie an der Hand gehalten, wie eine Einheit, die nicht voneinander getrennt werden durfte. Als Light Silence und Youma adoptierte, veränderte sich dieses Bild von Light. Wo man ihn früher mit der weißen Gestalt Hikarus gesehen hatte, sah man ihn nun mit den zwei in schwarz und lila gekleideten Kindern, die die Hände hielten, die Hikaru sonst immer gehalten hatte.
Sie lebten zusammen in einem der Türme des Palastes, den sie für sich beanspruchten und wo Hikaru ebenfalls mehrere Gemächer hatte, in welche sie sich nun mehr und mehr zurückzog, während die Gemächer der Zwillinge und die, die Light sein Eigen nannte, sich vermischten. Denn Light mochte es bei ihnen zu sein… und sie bei ihm.
Nachdem die erste Skepsis und das Misstrauen überwunden waren, waren die meisten Tage gefüllt mit Licht und Magie. Light war nicht nur ihr Vater, sondern auch ihr Lehrmeister und lehrte die beiden Kindern den respektvollen Umgang mit ihrem Element und das Achten der Natur, denn alle Elemente waren wichtig. Er lehrte sie, dass sie nur im Einklang den schönsten Ton, die erhabenste Musik spielen konnten…
…aber die Schattenseiten, die immer dann kamen, wenn Light nicht bei ihnen war, zeigten den jungen Yami, dass die Elemente untereinander nicht nur schöne Klänge erschufen.
„Light?“ Es war wohl wegen dem blutroten Abendhimmel, dass Youma darauf kam, seinem Ziehvater eine Frage zu stellen, die diesen und Silence beide gleichermaßen überraschte.
„Wie schmeckt eigentlich Blut?“
Sie saßen alle drei in einem Pavillon, in welchem sie stets zu lernen und zu lesen pflegten: an diesem Abend, wie auch an den Abenden zuvor, lehrte Light die achtjährigen Zwillinge die Schönschrift, in welcher Silence im Augenblick brillierte im Gegensatz zu Youma, welcher… seit geraumer Zeit mehr seinen Gedanken nachhing, als an den Lippen Lights zu hängen. Mehr als einmal ließ er seinen Blick aus dem Fenster schweißen und vertiefte sich in Tagträume, welche, so wusste Silence, unangenehmer Natur waren.
Light, der zusammen mit den beiden Kindern auf dem Boden umringt von Kissen saß und gerade etwas von seinem Wasserkrug getrunken hatte, verschluckte sich und sah Youma überrascht und etwas beunruhigt an, genau wie Silence es tat. Aber es war keine Frage, die Youma zum Spaß gestellt hatte: seine Finger, die auf den Seiten eines großen Buches lagen, waren über den Seiten verkrampft, krallten sich fast in das Pergament. Hikaru, die ebenfalls anwesend war, denn nur weil sie nicht mehr an Lights Hand ging, bedeutete das nicht, dass sie nicht in seiner Nähe war, linste etwas über ihre Dokumente und pausierte ihre Schreibfeder.
„Woher stammt dieser Gedanke?“ Youma antwortete nicht, denn er schämte sich plötzlich dafür, dass er gefragt hatte und starrte nun auf seine Buchseiten, die er gar nicht gelesen hatte. Er starrte nur auf die geschwungenen Zeichen und die farbenfrohen Ornamente.
„Es waren Tiral und Werel…“, erklärte Silence ihrem Ziehvater.
„… die meinten, dass Youma und ich zu den „Blutsaugern“ zurückkehren sollten.“ Bestürzt über diese Worte, die von den „Enkel“söhnen des Erdgottes stammten – sie waren die Söhne seiner geschaffenen weiblichen Nachkommen – sah Light nun zu Silence, offensichtlich verwirrt über diese boshaften Kommentare. Hikaru dagegen war nicht bestürzt: Sie widmete sich wieder gelangweilt ihren Dokumenten, wo sie gerade mit Inbrunst einen roten Strich setzte:
„Opfere deine Gedanken nicht diesen Kinderlappalien, Light. Es sind nur Kinder.“ Light achtete nicht auf sie, obwohl er ihre Worte in seinem Kopf sehr wohl gehört hatte. Nur Kinder. Das waren seine Kinder! Seine Kinder, die „Halbkinder“ genannt wurden, die keine Freunde hatten, weil ihr Vater ein Teufel gewesen war, der Yami und Hikari angeblich verraten und ermordet hatte. Yami und Hikari waren so beliebt gewesen im Wächtertum… ihr Tod hatte ein großes Loch in ihre Mitte gerissen, doch das war einfach kein Grund Youma und Silence dafür zu bestrafen!
Silence versuchte gegen diese Ausgrenzung und das Mobbing zu kämpfen. Sie schlug gegen die unsichtbare Mauer, die sie von den anderen Kindern trennten, die auf den Wiesen von Aeterniya spielten und sie nicht mitspielen lassen wollten, doch der Aufprall wurde jedes Mal härter… Youma dagegen wehrte sich nicht. Er versuchte nicht, sich anzupassen, versuchte nicht, irgendwelche Gründe zu finden, wofür andere ihn mögen sollten. Er versuchte nicht, gegen das Mobbing zu kämpfen oder Gefallen zu erlangen.
„Aber ich weiß doch nicht einmal wie Blut schmeckt.“ Mitleidend sah Light seinen traurigen Sohn an, der stets alles in sich hineinfraß und seinen Schmerz selten zum Ausdruck brachte. Er versuchte, die gehässigen Kommentare zu ignorieren, gar nicht auf sie zu achten, doch unter ihnen leiden tat er dennoch… sie bohrten sich in sein Herz.
„Hör nicht auf sie, Youma.“ Silence legte ihre Hand auf die ihres Zwillings:
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Diese Idioten – tut mir leid, Light – unterstellen uns doch alles, was sie finden können! Als ob Dämonen Blut trinken würden. Das ist doch eklig!“ Naja, schoss es Light durch den Kopf, einige schon… Er erinnerte sich noch gut an einen Spielabend, den er mit einigen Dämonen zusammen verbracht hatte, wo er aus Versehen nicht die Weinflasche genommen hatte, sondern eine, die mit Blut gefüllt war. Ihm war Tage danach noch schlecht, denn er hatte einen sehr kräftigen Schluck genommen.
„Silence hat Recht, Youma. Du brauchst dir da keine Gedanken zu machen. Ich denke, es ist nicht für das Allgemeinwissen notwendig zu wissen, wonach Blut schmeckt. Wenn sie das nächste Mal so etwas behaupten, dann sag ihnen einfach, dass auch ich mal Blut getrunken habe und dass das überhaupt nichts aussagt.“ Er war versucht, unbeschwert zu wirken, aber diese Worte und die Unbeschwertheit prallten an Youma ab, welcher nicht antwortete, im Gegensatz zu Silence, die sofort Details hören wollte – sie war auch ganz begierig darauf zu wissen, wie Blut schmeckte. Aber Youma sah bedrückt zur Seite, hörte gar nicht zu, fand das Thema nicht interessant so wie Silence.
Er sah erst auf, als Light ihn plötzlich unter den Armen packte und hochhob. Er protestierte überrascht – er war doch kein Kleinkind mehr! – auch noch, als Light ihn sich auf seinen Schoss setzte. Er blieb kurz steif, ehe er sich entspannte und sich an Lights warme Brust lehnte, genau wie Silence es tat, nachdem Light die Hand nach ihr ausgestreckt hatte. Abermals sah Hikaru von ihren Dokumenten auf, doch nicht lange, ehe sie entschied, dass sie dies nicht sehen musste.
„Lies uns was vor ja, Light?“, fragten sie beide und Light tat ihnen wie immer den Gefallen ihnen ihre Lieblingsgeschichte vorzulesen, die gesamte Zeit, in der die beiden Kinder ihm lauschten, in derselben Stellung verharrend. Es war nicht nur die Geschichte an sich, die sie verzauberte – es war Lights Stimme, die allem etwas Schönes, etwas Magisches verlieh, als wären seine Worte… selbst Magie.
„Manchmal…“ Silence war eingeschlafen und Youmas Augenlider flatterten ebenfalls bereits nach dem Beenden der Geschichte und dem Erlöschen der letzten Kerze:
„…wünschte ich, ich wäre so wie du, Light…“
Für gewöhnlich war Light weichherzig, ruhig und besonnen, mitfühlend und freundlich – doch er hatte auch seine störrische Art, die manch einer aufbrausend nannte und andere kindisch. Seine Mitgötter mochten ihn lieber von seiner ruhigen, freundlichen Art, aber sie meinten oft, dass es diese bockige, verbissene und aufbrausende Art war, die es für ihn möglich machte, so gut mit den Dämonen zu kommunizieren. Er konnte sich auf ihr „Niveau herablassen“, meinten einige böse Zungen hinter vorgehaltener Hand.
Aber nicht alle politischen Treffen waren mit Erfolg gekrönt und nicht mit jedem Dämon mochte Light sprechen. Einige würde er am liebsten aus dem Palast und aus Aeterniya hinauswerfen lassen – und das galt ganz besonders für den wichtigsten Dämon.
„Sag diesem eingebildeten IDIOTEN ich weigere mich, mit ihm eine Konversation zu führen, wenn er sich weiterhin weigert seinen NAMEN preiszugeben! Ich rede nicht mit jemandem, von dem ich nicht mal so was Simples wie den NAMEN weiß!“ Silence und Youma mochten es, wenn Light so wütend wurde: Sie fanden es lustig, wenn ihr Vater fluchte und andere Idioten nannte – das durften sie doch eigentlich nicht! Und weil sie es nicht durften, war es lustig, wenn er es tat und unbedingt wollten sie wissen, wer diese Person war, die von Light ein „Idiot“ genannt wurde. So wütend und genervt hatten sie ihn ja noch nicht erlebt!
„Wahrscheinlich…“, fuhr Light aufgebracht fort:
„…hat er so einen peinlichen Namen, dass er sich nicht traut, ihn auszusprechen, aus Angst es könnte seine Autorität ankratzen!“
Autorität ankratzen?
Der Wächter, der vor Light stand und ihm die Botschaft überbracht hatte, dass der namenlose Herrscher und absolutes Oberhaupt der Dämonen mit ihm sprechen wollte, sah sein Gegenüber mit einer Mischung aus Verwirrung und Belustigung an. Denn Lights weißseidene Haare wurden von Youma und Silence just in diesem Moment zu abstehenden Zöpfen zusammengebunden – die Krönung dieser in ihren Augen wunderschönen Frisur waren hellgrüne Schleifen, die man eher grell nennen konnte und die sich absolut mit seinem hellen Aussehen bissen. Und dieser Wächter sprach von Autorität?
„Das soll ich ihm überbringen?“, fragte der blauhaarige Wächter zur Sicherheit.
„Ja, das wäre nett“, antwortete Light bissig und Silence und Youma warfen sich ein verstohlenes Grinsen zu.
„Aber du hast seine Einladung die letzten vier Mal auch abgesagt.“
„Dann schadet ein fünftes Mal ja auch nicht, oder?“
„Light, ich halte das für keine gute Idee. Er ist nach wie vor das Oberhaupt der Dämonen. Wenn er so oft spezifisch nach dir fragt, dann wird das einen Grund haben.“ Light grummelte eingeschnappt, so wie Silence und Youma oder andere zehnjährige Kinder es wohl ebenfalls tun würden und zeigte ein wenig Einsicht.
„Sag er soll mit Kaze oder mit deiner Tante reden.“ Jetzt war es der andere Wächter, der seufzte.
„Das hast du das letzte Mal schon gesagt. Tante Mizu und Kaze sind ohnehin beide nicht anwesend.“ Light legte seine Stirn in Falten und schien ernsthaft über eine weitere Ausrede zu grübeln. Seine beiden Kinder waren weiter munter dabei, mit seinen Haaren zu spielen, wovon Light sich aber absolut nicht stören ließ in seinem Grübeln über eine bessere Ausrede.
„Was ist denn so schlimm an ihm?“, fragte Youma neugierig, während er nach einem Keks griff, die neben Light auf einem kleinen Tisch in einer dekorierten Schale lagen.
„Alles“, grummelte Light zerknirscht.
„Dennoch, Light, dir bleibt keine Wahl“, mischte sich nun auch der andere Wächter wieder ein. Light sah auf.
„Warum sollte mir keine Wahl gelassen werden?“
„Weil ich schon hier bin, Light-kun!“ Sofort bei dem Klang dieser schalkhaften Stimme sprang Light vom Stuhl auf und wirbelte herum, wobei die Zöpfe verdächtig wackelten, doch Silence und Youma stellten erfreut fest, dass ihre Kreationen dem Aufsprung standhielten. „Wie kommst du hier herein?!“ Anklagend zeigte der Hikari auf den Fremden, welcher lässig an einem der großen glaslosen Fenster stand und sein Gegenüber überaus belustigt angrinste: Er schien ein Lachen zurückhalten zu müssen beim Anblick Lights.
„Weiß nicht – durch die vielen offenen Fenster und Türen, die ihr hier habt, wahrscheinlich!“ Silence und Youma musterten den Fremden argwöhnisch, denn sie sahen nicht so oft Dämonen… vor allen Dingen keine Dämonen mit… so einer Aura. Er war ein hochgewachsener Mann; so hoch, dass er beinahe das gesamte Fenster ausfüllte, mit langen, schwarzen Haaren, die den Himmel verschluckten und in denen goldener Schmuck leuchtete, der am Ende der langen Haare befestigt war und an zwei zusammengebundenen Strähnen, die auf seiner Schulter lagen. Ein langes Gesicht, in denen rote Augen hervorleuchteten, die auf einer schwarzen Lederhaut ruhten, nein, vibrierten. Seine schwarze und braune Kleidung war eher simpel, denn seine Aura und sein Eindruck genügten, um seinem Gegenüber zu sagen, dass dieser Dämon Macht besaß – er musste nicht mit pompöser Kleidung angeben.
Silence fand, dass er bedrohlich wirkte und sie schloss sich Lights Meinung sofort an: Sie mochte diesen Mann nicht. Was Youma dachte, als er ihn ansah – das wusste sie bis heute nicht…
„Wir stellen gerade wunderschönes Buntglas her, Light-kun“, fuhr der namenlose Dämonenherrscher fort und deutete mit den Augen nach oben zu dem glaslosen Fensterrahmen:
„Cerille hat so schöne Farben geschaffen, die würden hier wunderbar reinpassen.“
„Ich denke nicht, dass du hier bist, um Werbung für eure neue Kreationen zu machen.“ Der Namenlose lachte ein wenig und sah Light wieder an:
„Mitnichten! Es ist mir nur aufgefallen - eine simple Beobachtung gefolgt von einer Äußerung, die Abhilfe schaffen könnte. Aber ich weiß ja, ihr Wächter seid stolz, schmückt euch lieber mit natürlicher Bescheiden und Einfachheit… und alles soll in seinem natürlichen Zustand bleiben, ja…“
„Ich habe nichts gegen eure Kreationen“, antwortete Light mit einem gezwungenen Lächeln, welches Silence und Youma gleichermaßen beunruhigte.
„Das wäre ja auch vermessen, haha! Nebenbei gesagt, Light-kun: diese Frisur steht dir wirklich ausgezeichnet.“ Als hätte Light erst in diesem Moment bemerkt, dass er auffällige Zöpfe mit großen Schleifen trug, errötete er vor Scham. Silence konnte ein Kichern nicht zurückhalten, Youma aber blieb stumm… und erst da bemerkte Light, dass der namenlose Dämonenherrscher gar nicht Light ansah. Er sah auch nicht Silence an.
Er sah Youma an.
Er sah ganz allein Youma an, mit ernsten, matt leuchtenden Augen und zusammen gekniffenen Lippen.
„Esaiyas, bring Silence und Youma bitte auf ihr Zimmer“, unterbrach Light die kurze, etwas unangenehme Stille. Silence maulte, bewegte sich allerdings, als Esaiyas Light beipflichtete und betonte, dass dieses Parkett nicht für Kinder geeignet war. Silence wollte es nicht einsehen und maulte noch lauter, aber es war Youma, der sich nicht bewegte, als friere ihn der Blick des namenlosen Dämonenherrschers fest.
„Youma, geh jetzt bitte.“ Der Angesprochene schreckte beim Klang von Lights Stimme auf und der intensive Blickkontakt war unterbrochen. Er ging dem Wunsch seines Ziehvaters nach und verließ mit seiner Schwester und Esaiyas zusammen das Zimmer – aber nicht ohne sich noch einmal herumzudrehen, ehe Light die Tür schloss.
„Biologische Wesen…“, sprach der namenlose Dämonenherrscher mit ernster… etwas melancholischer Stimme.
„… sind rätselhaft… eigenartig, faszinierend und…“ Er biss sich auf die Lippen.
„Grausam.“ Lights bleiche Finger lagen immer noch flach auf der Tür, die er eben geschlossen hatte und er sah auch nicht empor, als er antwortete:
„Ja, er hat sein Gesicht, nicht wahr?“ Ein schiefes, falsches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des namenlosen Dämonenherrschers aus.
„Wie erbarmungslos von dir das auch noch auszusprechen, Light-kun.“ Light hob das Gesicht und löste seine Hand von der Tür.
„Er wird einmal sicherlich genauso schön werden wie er.“
„Willst du mich erzürnen, Light?!“ Die beiden unterschiedlichen Wesen, die beiden Götter, sahen sich einen Augenblick lang in die unterschiedlichen Augen, ehe Light einfach nur die Augen niederschlug und tonlos anfing, die Schleifen zu lösen, ein wenig über sich selbst und die momentane Situation fluchend.
„Ich denke, du bist wegen Lateriameya hier. Aber ich stimme Hii zu, laut dem Vertrag von vor der Sonnenwende habt ihr kein Recht auf dieses Gebiet.“ Light wollte es hinter sich bringen, so schnell es ging, aber der namenlose Dämonenherrscher, welcher ebenfalls kurz die Augen geschlossen hatte, ging nicht auf das Thema ein.
„Das wievielte Lebensjahr haben sie bereits erreicht?“ Abermals sah Light von seiner Haararbeit auf. Die eine Hälfte seiner weißen Haare war bereits von den Schleifen befreit, die andere stach nach wie vor ab, doch sein albernes Aussehen hinderte ihn nicht daran, sein Gegenüber ernst anzusehen.
„Wieso sind die beiden das Thema?“
„Weil, mein lieber Light-kun, ein Stück Land heute mal nicht das Thema ist.“ Der Dämon untersuchte eine Glaskaraffe, die auf einem kleinen runden Holztischchen stand, das geformt war wie eine Blume und ohne dass einer der beiden sich rührte, erhob sich die kleine Flasche sowie wie auch ein Glas. Wie durch Zauberhand geführt, füllte die Karaffe den klaren Inhalt in eleganter Manier in das geschwungene Glas und flog dann in die Hand des Zauberers, welcher das Wasser zu seinen Lippen führte, ohne Light aus den Augen zu lassen.
„Oh ja, habe keine Scheu und bediene dich ruhig!“
„Hast du nichts anderes als Wasser?“ Auch noch beschweren! Er machte sich einen Spaß daraus, Light zu reizen, der sowieso schon an der Schwelle zur Wut stand. Ein seltenes Phänomen, doch er schaffte es immer wieder.
„Verzeih“, erwiderte Light ironisch:
„… aber ich trinke grundsätzlich Wasser.“ Der Lichterbe hatte die Haare nun vollständig erlöst und warf sie sich über den Rücken, ehe er sich an einen langen Tisch setzte und seinem Besucher mit bemühter Freundlichkeit den Platz gegenüber anbot, welchen er annahm, mit den Fingern über den verzierten Rand des Tisches gleitend. Ob ihm die geschnitzten Blumen und Ranken gefielen, sagte er nicht. Er trank sein Wasser in Schweigen.
„Also…“, fing Light, nach einem kurzen Anschweigen an.
„Warum interessierst du dich für Silence und für Youma?“ Die tiefe Nachmittagssonne schien durch die Fenster und tauchte die Hälfte des Raumes in grelles Licht, während die andere im dunklen Schatten dalag – die Trennlinie dieses Lichtspiels lag genau zwischen ihnen, wie eine Barriere.
„Du hattest nie auch nur das kleinste Interesse an ihnen… im Gegenteil eher“, fuhr Light still fort und dem Dämonenherrscher war schon aufgefallen, dass er zur Tür gesehen hatte.
„Nicht an ihrem Leiden, nicht an ihrem Leben. Du weißt ja nicht einmal, wie alt sie sind, obwohl du das wissen solltest.“
„Das Alter ist für mich so trivial, Light-kun“, stöhnte der namenlose Dämonenherrscher sein Wasserglas hin und her schwenkend.
„Für Wesen, die wachsen und gedeihen, ist es nicht trivial.“
„Das stimmt“, gab er zu:
„Das konnte ich heute erschrocken feststellen.“ Tonlos stellte er das geleerte Glas auf dem Tisch ab und fuhr fort:
„Mein Interesse an ihnen ist vielfältig. Fakt ist, dass ich Anspruch auf sie erhebe.“ Das war für Light so abstrus, dass er nur die Augenbrauen hob:
„Was tust du? Wie kommst du darauf, dass du so etwas wie Anspruch auf sie hättest? Ich bin ihr Erziehungsberechtigter und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du geeignet…“ Der namenlose Dämonenherrscher unterbrach Light:
„Wer hat dir dieses Recht übertragen?“
„Du weißt wer. Yami.“
„Ich nehme nicht an, dass Luzifer dafür sein Einverständnis gegeben hat.“
„In der Tat, das hat er nicht. Aber darauf kannst du nicht plädieren. Er war zu diesem Zeitpunkt tot.“
„Was ist, wenn er mich schon vorher dazu erklärt hat?“ Light schwieg kurz.
„Und du kommst jetzt nach neun Jahren auf die glorreiche Idee, ihre Erziehung zu übernehmen? Tut mir leid, aber das werde ich nicht gutheißen. Ihr Zuhause ist hier, außerdem…“ Der Dämon hob die Hand und unterbrach ihn:
„Light-kun, du missverstehst: Ich habe nicht vor, dir deinen niedlichen Part als Vater streitig zu machen. Das passt wirklich nicht zu mir – das war es doch, was du gerade sagen wolltest, oder?“ Dies warf den Hikari ein wenig aus dem Konzept und er kam nicht drum herum, sein Gegenüber anzustarren:
„Hast du nicht?“ Der Namenlose lächelte fast schon zu freundlich als er verneinte.
„Was möchtest du dann?“ Die Antwort schockte Light:
„Gib mir Youma und du darfst Silence behalten.“ Jetzt war es zu viel und mit einer flachen Hand schlug Light auf den Tisch, sich leicht vorbeugend:
„Du kannst sie doch nicht einfach teilen, als wären sie ein Gegenstand oder ein Stück Land!“ Noch einmal schlug Light auf den Tisch, dieses Mal jedoch mit einer zusammengeballten Faust, die der namenlose Dämonenherrscher belustigt beäugte.
„Sie gehören zusammen. Youma liebt seine Schwester über alles, du würdest ihm seinen Lebenssinn rauben, wenn du ihm Silence verwehrst!“ Dies war definitiv das falsche Argument, was Light schnell bemerkte, als der namenlose Dämon heimtückisch lächelte… und seine Augen aus dem Schatten heraus aufleuchteten.
„Wir Dämonen können und müssen manchmal ohne Liebe leben, Light-kun.“ Dem Hikari lief es bei diesen Worten kalt den Rücken runter, den genauen Grund dafür wusste er nicht.
„Er ist kein Dämon“, konterte Light, doch seine Worte klangen nicht so sicher, wie sie sein sollten.
„Was, du verleugnest sein Dämonenblut? Du brichst mir das Herz!“
„Nein, ich verleugne es nicht und wenn er sich selbst einen Dämon nennen möchte, dann werde ich ihn nicht einen Wächter nennen. Aber wie du siehst, fühlt er sich wohl damit, ein Wächter genannt zu werden.“ Youma fühlte sich nicht wohl. Das wusste Light. Ihm wurde die Lüge plötzlich bewusst, die er ausgesprochen hatte. Vielleicht würde er wirklich…
„Hast du ihm je die Wahl gelassen? Die Wahl zwischen Dämon und Wächter?“ Light antwortete nicht.
„Ich verrat dir etwas, Light-kun“, der Dämon lehnte sich ein wenig über den Tisch und fuhr fort:
„Wenn ich Youma nicht bekomme, werde ich ihn mir mit Gewalt holen.“ Light sah geschockt auf:
„Gewalt?! Was meinst du?! Doch nicht etwa…“
„Aber ich denke nicht, dass das Not tun wird…“ Der Namenlose lehnte sich wieder gelassen – als hätte er überhaupt keine Drohung ausgesprochen – in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme.
„… Youma wird schon irgendwann nach Lerenien-Sei und zu mir finden. Ich muss nur geduldig sein.“
„Wieso sollte er?“, erwiderte Light unwirsch.
„Weil das Blut seines Vaters ihn zu mir ziehen wird“, antwortete der Dämon mit einem Lächeln. Ohne dass es Light vorher gelang zu antworten stand der namenlose Dämonenherrscher auf und stand dann schon genau vor Light, als die Wolken die Sonne verschlangen und das Zimmer beinahe vollständig von Schatten umarmt wurde.
„Ihr habt euch gern, nicht wahr?“ Light antwortete dem plötzlich bedrohlich wirkenden Dämon vor sich nicht.
„Davon gehe ich jedenfalls aus. Es gibt keinen Grund, dich nicht zu mögen, dich nicht zu lieben… und dein Beschützerinstinkt ist nicht nur so hoch, weil es Kinder sind, nicht wahr, Light-kun?“ Der namenlose Dämonenherrscher neigte den Kopf ein wenig nach links, Light immer noch mit den Augen festhaltend.
„Du hast sie richtig gern.“ Light öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da beugte der namenlose Dämonenherrscher sich plötzlich vor, die Arme auf den Rücken behaltend, mit dem Gesicht aber dem Lights sehr nahekommend, während seine zusammengebundenen Haarsträhnen, von dem goldenen Schmuck beschwert, vor und zurück schwankten.
„Ich gebe dir einen Tipp, Light-kun…“, flüsterte er mit leuchtenden Augen:
„Es ist nie ratsam, Geheimnisse vor jenen zu haben, die man liebt und die diese Liebe erwidern. Irgendwann veralten Geheimnisse… und wenn sie dann doch herauskommen, dann tun sie weh.“ Light hatte die Bewegung nicht gesehen, weil er zu intensiv in das Gesicht des Dämons sah, der seinem so nah war, aber er spürte die Spitze seines Zeigefingers über seinem Herzen.
„Umso länger man wartet… um so größer wird der Schmerz im Endeffekt sein.“ Mit einem Ruck beugte er sich wieder hoch, die Hände wieder auf den Rücken legend und sich herumdrehend.
„Ein gut gemeinter Rat von mir: erlöse dich von deinen Geheimnissen, bevor sie 21 werden.“ Der namenlose Dämonenherrscher drehte sich nicht herum, als er fortfuhr:
„Es könnte ansonsten… unumkehrbare Folgen haben.“
Ehe der Herrscher der Dämonen in der Dunkelheit verschwand, ließ er das Glas fallen, welches er die ganze Zeit in der freien Hand gehalten hatte.
Es zersprang.
Genau wie Lights Utopie.
„Kikou hatte nicht gelogen und Silence benötigte wirklich ärztliche Hilfe. Sie musste sogar operiert werden.“ Green sah zu ihrer Geisterfreundin, aber Silence sah nur aus dem Fenster. Da sie ihr aber keinen tadelnden Blick zuwarf, musste das wohl bedeuten, dass sie alles richtig machte und Silence mit ihrer Wiedergabe der Geschehnisse zufrieden war.
„Ich hätte diesem Hikari ja nicht vertraut“, sagte Siberu und nahm sich einen großen, flachen Keks mit Schokoladenstückchen drin, der eigentlich Pink gehörte.
„Ich meine, der kommt einfach so daher und nimmt sie mit, also…“ Gary, den beiden immer noch den Rücken zugekehrt habend, sagte nichts. Doch die Wasseroberfläche des Tees verriet sein Zusammenzucken bei den Worten Siberus. Was redete er da eigentlich… ausgerechnet er…
„Er ist ja auch ein Hikari! Einem Hikari kann man doch nicht vertrauen – nichts für ungut, Green-chan…“
„Kein Problem. Ich vertraue ihnen ja auch nicht.“ Green sah kurz zu Gary, dann wieder zurück zu Siberu.
„Aber damals war das alles noch ein wenig anders. Die Hikari hatten keinen… naja, Ruf. Sie waren ja nur Light und Hikaru. Man sprach damals noch gar nicht von „den Hikari“.“ Wieder sah Green zu Silence… und dieses Mal bemerkte sie, dass Silence recht bitter aussah.
„Light ist wirklich in Ordnung. Wenn er heute noch leben würde… das wäre toll. Er war auch für die Dämonen. Also… er hat sie nicht gehasst und war dafür, dass Wächter und Dämonen zusammenleben sollten, so wie wir es nun tun.“ Gary kam mit dem Tablett zurück und wollte es gerade auf den Tisch stellen, als Green zu ihm empor sah und ihn anlächelte:
„Das ist doch wirklich ein schöner Gedanke, oder nicht?“ Gary errötete wie auf Knopfdruck und genauso schnell hoben sich auch Siberus Augenbrauen.
„Ja… ein schöner Gedanke ist es.“ Green lachte Gary an, der aufpassen musste, dass er den Tee nicht verschüttete.
„Finde ich auch!“
„Ich ebenfalls!“, warf Siberu rein mit energischem Nachdruck, der Green sofort zu einem erfreuten Kichern brachte. Aber Silence lächelte nicht wieder. Sie beobachtete die drei kurz, ehe sie wieder ernst aus dem Fenster sah.
Vertrauen… Sie wollte Light immer noch vertrauen. Sie wusste auch, dass sie das tun konnte. Aber Hikaru…
DER ANFANG VOM ENDEYouma hatte die gesamte Zeit, in der Silence das Bett in diesem für sie gänzlich fremden Palast hatte hüten müssen, an ihrer Seite verbracht. Nichts hätte ihn davon abbringen können und Light wusste das: er ließ ihn gewähren, versuchte nicht sich aufzudrängen und ließ den Zwillingen alle Zeit und allen Raum der Welt, die sie füreinander brauchten. Als Silence wieder gehen und damit das Hospital verlassen konnte, taten sie das, worauf sie schon die gesamte Zeit gewartet hatten: sie nahmen sich bei der Hand und halfen einander dabei, zu ihrem eigentlichen Zuhause zurückzufliegen. Noch konnten sie beide nicht so gut fliegen, denn sie hatten gerade erst angefangen es zu lernen, aber gemeinsam und ohne, dass jemand versuchte sie aufzuhalten, obwohl Youma gemeint hatte, Lights Blick durch ein Fenster gespürt zu haben, kamen sie in dem Garten vor ihrem Zuhause an, wo sie es liebten, den Sonnenuntergang zu sehen. Doch die Sonne war bereits untergegangen, als die beiden Kinder ankamen: es war schon dunkel und nur fern leuchteten einige kleine, schwache Sternchen. Das Haus hinter ihnen war dunkel und verschlossen. Man hatte die Habseligkeiten der Zwillinge bereits geholt: das Haus war vielleicht sogar gänzlich leergeräumt… sie trauten sich nicht hineinzusehen in ihr kleines Paradies, wo sie so viele schöne Stunden verbracht hatten. Sie hatten dem Haus den Rücken zugekehrt, sahen über das funkelnde Aeterniya hinweg und ließen sich in das sich sanft wiegende Gras fallen, das im Licht der Stadt weiß zu leuchten schien.
Sie sagten nichts, doch ihre kleinen Häupter fanden zusammen und in ihrer Trauer und der Einsamkeit, die nur von einer Mutter gefüllt werden konnte, schmiegten sie sich aneinander und trauerten in Schweigen. Sie zweifelten die Worte Lights, dass ihre Mutter tot war, nicht an – sie hatten es ja gespürt… den Untergang des schönsten Sterns, ihres Sterns.
Aber sie wollten nicht weinen! Sie waren ja tapfere Kinder. Sie waren furchtlose Kinder. Das hatte ihre Mutter ihnen immer gesagt. Sie durften nicht weinen.
„Vertraust du Light, Youma?“ Youma antwortete nicht sofort.
„Ich glaube nicht, dass er böse ist… Er hat dich ja auch gerettet.“
„Eigentlich hat mich die blaue Frau gerettet.“ Silence kuschelte sich an Youmas Schulter.
„Die war unheimlich.“
„Nicht so unheimlich wie…“
„Hikaru“, sprachen sie wie aus einem Mund – offensichtlich waren sie sich einig und sie lächelten kurz darüber.
„Das letzte Mal, dass Vater Mutter besucht hat…“ Youma versteifte sich sofort, aber Silence nahm darauf keine Rücksicht.
„… da sagten sie, dass man sich vor der Puppe in Acht nehmen soll. Ob sie Hikaru gemeint haben? Sie sieht aus wie eine Puppe.“ Youma runzelte die Stirn – warum wusste er davon nichts? Davon hatte er noch nie etwas gehört und das beschäftigte ihn gerade viel mehr als Silence‘ Worte.
„Woher weißt du das und ich nicht?“
„Weil Vater Mutter abends besucht hat und du hast schon geschlafen.“ Silence rührte sich unruhig mit leicht roten Wangen.
„Und ich wollte Vater und Mutter zusammen sehen.“ Youma wusste nicht, ob er noch mehr darüber wissen wollte, aber seine Neugierde konnte er nicht zurückhalten.
„Und…?“
„Nein.“ Silence seufzte:
„Sie haben sich nicht einmal umarmt.“ Kurz schwiegen sie, beide über die Stadt hinwegsehend und Youma ertappte sich dabei, wie er nach Lerenien-Sei sah… und dann bewegte er sich plötzlich ruppig, was Silence dazu brachte, den Kopf zu heben. Sie wollte ihn gerade fragen, was denn los sei, als Youma, den Blick immer noch auf Lerenien-Sei gerichtet, das Wort zuerst erhob:
„Glaubst du wirklich, dass Vater auch tot ist? Vielleicht ist er nur… weg… wie immer.“
„Ich weiß es nicht, Youma, aber ich denke Light hat nicht gelogen. Er sah so traurig aus, als er es gesagt hat…“ Youma sah zerknirscht in eine andere Richtung. Weg von Silence, weg von Lerenien-Sei.
„Mutter hat auch von Light gesprochen.“ Youma sah wieder zu Silence.
„Sie meinte, dass unser Vater ihm vertrauen könne.“ Ihr Zwilling antwortete nicht.
„Dann können wir das ja auch. Mutter hat doch immer recht…“ Das Wort „gehabt“ hing in der Luft, aber weder Silence noch Youma wollten es aussprechen. Die Wut und Frustration über ihren Vater war in Youma verpufft und zurück war die Trauer und der quälende Drang zu weinen. Aber er musste stark sei! Stark für sie, stark für seine Schwester, deren Hand er nahm, um ihr Trost zu geben und selbst welchen zu erhalten.
„Sie ist… weg…“ Nicht weinen, nicht weinen…
„Mutter, sie ist…“
„Nicht weg.“ Silence und Youma drehten sich sofort herum, als diese weiche Stimme hinter ihnen ertönte und sie Light erblickten, dessen Stimme sie nicht sofort erkannt hatten – zu wenig hatten sie mit ihm gesprochen, um dies tun zu können und sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft gewesen, um seine Aura zu spüren, welche auch nicht sonderlich aufdringlich war. Es war eine sanfte Aura, als würde diese von seinem Lächeln stammen und nicht von seiner Magie.
„Verzeiht bitte, dass ich euch hinterher geflogen bin, aber ich kann doch vierjährige Kinder nicht alleine lassen“, brach Light die angespannte Stille mit einem entschuldigenden Lächeln.
„Wir sind schon sehr große Vierjährige!“, rief Youma, der sich sofort versteift hatte, als er Lights strahlendes Antlitz ausmachte, welches sich so deutlich von der Dunkelheit abhob.
„Das weiß ich, Youma. Ihr seid nicht wie die meisten Kinder.“
„Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, dass Mutter nicht… weg sei?“, fragte Silence, die sich, anders als Youma, nicht verkrampfte und es auch nicht tat, als Light näher an sie herankam, um sich schlussendlich zu ihnen ins Gras zu setzen, ohne darauf zu achten, ob das saftige Gras oder der Schmutz des Bodens seine weiße Kleidung befleckte. Er setzte sich einfach zwischen sie, so natürlich, als hätten sie ihn dazu eingeladen.
„Ich habe es euch bereits gesagt…“ Silence sah Light mit großen Augen an; Youma sah weg, als wolle er ihm nicht zuhören – obwohl er natürlich jedes einzelne Wort vernahm.
„… auch meine Mutter ist… gestorben.“ Eigentlich war das nicht das Wort, was er hatte benutzen wollen, da es einfach nicht richtig war, es so zu nennen… aber er tat es verständnishalber für die Kinder, die ihm beide aufmerksam zuhörten, obwohl Youma immer noch den Kopf weggedreht hatte.
„Doch sie leben in unserem Element weiter.“ Light legte die Hand auf seine Brust, eine Geste, die Silence nachahmte und das Lächeln fiel Light sofort einfacher.
„Sie sind immer ein Teil von uns. Ein Teil unserer Seele. Wenn wir das Licht der Sonne spüren oder in eurem Falle die Sterne aufleuchten sehen, dann sind es unsere Mütter, die bei uns sind. Sie haben uns nicht verlassen.“ Light streckte die rechte Hand aus und öffnete diese Finger für Finger und kleine, strahlende Funken, wie hunderte kleiner Sonnen, entstiegen seiner Handfläche; kreisten um sie herum, lockten auch Youma dazu, sich Light und dem Lichtschauspiel zuzuwenden und den kleinen Funken mit den Augen zu folgen, die auf den blauen Blumen landeten und auf ihnen tanzten wie Glühwürmchen.
„Seht ihr? Wenn ich meine Magie so wie jetzt einsetze, dann…“ Light lächelte immer noch, aber Silence sah, dass sein erhelltes Gesicht traurig aussah.
„… habe ich das Gefühl, dass ich mit meiner Mutter spreche.“
„Bei mir geht es aber nicht.“ Youma hatte seine Hände genauso ausstreckt wie Light es getan hatte und auch Silence tat es, aber ihre Handflächen verlieben dunkel und magielos.
„Bei mir auch nicht…“ Light lachte ein wenig.
„Ihr seid auch noch Kinder.“ Youma schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein, denn er ballte seine Hände zu Fäusten und vergrub sie in seinem Rock. Silence wollte gerade sagen, dass sie doch einfach besser werden mussten, als Light ihr schon zuvorkam.
„Youma…“ Der kleine Yami schien es nicht zu wollen, dass Light ihn beim Namen nannte, aber er verzog nur ein wenig das Gesicht, ohne etwas dazu zu sagen. Die Hand, die Light ihm auf die Schulter legte, schüttelte er auch nicht ab, aber seine schwarzen Augen beobachteten ihn genau, ließen sich nicht von Lights Lächeln beirren.
„… auch wenn ihr eure Magie noch nicht einsetzen könnt, so ist eure Mutter da.“ Er sah auch zu Silence.
„Ich spüre Yamis Aura ganz deutlich an euch. Sie umgibt euch und beschützt euch. Sie ist sogar in euren Ohrringen!“ Light sah vom einen zum anderen, die beide plötzlich ihre schwarzen Prisma-Ohrringe berührten, beide etwas überrascht.
„Die hat eure Mutter für euch gemacht, nicht wahr?“ Beide sagten nichts, aber ihre Finger blieben an den schwarzen Schmuckstücken, als könnten sie so ihre Mutter spüren. Youma sah kurz weg – sah aber wieder hin, als Silence anfing zu sprechen.
„Ja, die hat… Mutter gemacht…“
„Nein, Silenci, nicht…“ Aber Silence redete weiter, mit noch größerer Verzweiflung als zuvor und die Augen der beiden Zwillinge füllten sich beinahe zeitgleich mit Tränen, die erhellt von den glitzernden Funken zu leuchten schienen.
„… sie hat gesagt, dass diese Prismen ein Teil von ihr seien und dass sie immer, immer bei uns ist! Dass sie uns immer umarmt! Und wenn sie uns umarmt, dann dürfen wir ruhig weinen! Das sagte sie, oder, Youma?!“ Youma wollte das nicht bejahen, er wollte nicht weinen, denn es war ja niemand mehr da, der sie…
Doch, es war jemand da, der sie umarmen würde, wenn sie weinen mussten – und dieser tat es auch. Zuerst legte Light seinen Arm um Silence und drückte das zutiefst verzweifelt weinende Mädchen an sich und dann, als wäre ein Damm gebrochen, begann auch Youma leise zu weinen. Zuerst wehrte er sich gegen Light, wollte seinen Arm von seinen Schultern schütteln, aber dann warf er sich mit einem erstickten Schrei an Lights Brust.
„Ihr dürft immer weinen“, flüsterte Light, das eine schwarze Haupt streichelnd, während er seine Wange auf das andere legte.
„Denn ich werde immer da sein, um euch zu umarmen und zu halten.“
Seit einer Weile schon hatte Gary nichts mehr gesagt. Er hörte zu, wie Green ihnen erzählte, dass es nicht immer friedvoll gewesen war und dass es lange gedauert hatte, bis Youma sich Light vollständig öffnete. Aber er tat es; von Tag zu Tag öffneten er und Silence sich ihm mehr, denn es war einfach unmöglich ihm nicht zu vertrauen. Sein warmes Lächeln war rein, voller Ehrlichkeit und Wärme und… Liebe.
Gary hörte all dem aufmerksam zu und Green sah ihm dies auch an, aber sie sah ihm auch an, dass ihn etwas beschäftigte; etwas wunderte ihn, störte ihn, weshalb sie ihre Erzählung abbrach.
„Was ist los, Gary?“ Auch Siberu sah ihn fragend an.
„Du wirkst so abwesend…“, fügte Green hinzu, als Gary sie beide verwundert ansah.
„Ich hör zu.“
„Das weiß ich, aber etwas beschäftigt dich, oder?“ Gary sah von Green zu Siberu – und ein wenig länger zu Siberu, wie Green bemerkte, als frage er ihn etwas, ohne den Mund aufzumachen. Aber Siberu schien diese stumme Frage nicht zu verstehen – er sah weiterhin verwundert aus.
„Ich frage mich, was die Hintergründe sind für den Tod von Yami, Luzifer und Hikari.“ Gary sah wie immer recht ernst aus, als er dies äußerte.
„Es wird doch kaum ein Zufall sein, dass sie alle zur gleichen Zeit gestorben sind. Sind die Hintergründe nicht bekannt? Du hast nichts angedeutet… aber die Zwillinge werden ja wohl mal gefragt haben.“
„Sie waren ziemlich klein, Aniki. Dass das komisch ist, wird ihnen vielleicht gar nicht aufgefallen sein“, antwortete Siberu statt Green.
„Das ist so suspekt, das muss einem ins Auge stechen. Wenn sie nicht nachgeforscht haben, als sie jünger waren, dann doch spätestens als sie älter waren.“ Green sah zu Silence.
„In einigen Dingen sollte man vielleicht nicht zu sehr herumwühlen…“ Die Antwort Siberus und auch den ernsten Blickaustausch der beiden Brüder bemerkte Green nicht, denn sie sah immer noch zu Silence, aber diese sprach nicht mit ihr. Sie sah etwas bedrückt aus, etwas, was Green noch nicht an Silence gesehen hatte.
„Es gibt eine offizielle Erklärung“, begann Green und Siberu und Gary wandten sich ihr wieder zu.
„Aber ich bin mir nicht so sicher, ob sie stimmt.“ Green lächelte und schüttelte energisch den Kopf:
„Nein, eigentlich sind Silence und ich uns ziemlich sicher, dass es nicht wahr ist, aber im Geschichtsbuch der Wächter steht geschrieben, dass Luzifer nur mit Yami eine Beziehung geführt hat, um an Hikari heranzukommen, um diese zu töten… und dass er auch Yami töten wollte. Aber das ergibt nicht so wirklich Sinn in einer Welt, wo die Wächter und die Dämonen zusammenleben, oder?“ Weder Siberu noch Gary antworteten.
„Angeblich hat Hikari ihre fleischliche Hülle geopfert, um Luzifer mit in den Tod zu nehmen; er ist immerhin einer der sieben Teufel und so. Er muss sehr stark gewesen sein. Sie wollte ihre geliebte Yami retten, die daraufhin Selbstmord begangen hat.“ Green verzog das Gesicht und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Tee.
„Das klingt alles ziemlich fischig, wenn ihr mich fragt. Das klingt…!“ Green hob entschlossen den Finger:
„Wie eine Lügengeschichte, die die Wächter erfunden haben, um Hikari in einem guten, dramatischen Märtyrerlicht stehenzulassen, jawohl!“ Siberu gab ihr Recht, aber ausgerechnet Silence, die Green mit diesen Worten erreichen wollte, stimmte ihr nicht zu.
„Das wissen wir nicht.“ Silence sah immer noch so… ungewöhnlich leidend aus.
„Was das angeht… wissen wir gar nichts. Der größere der beiden hat Recht. Youma und ich hätten das früher erfragen sollen. Aber wir wollten nicht. Wir wollten einfach glücklich sein.“ Sie schüttelte den Kopf, sah immer noch aus dem Fenster, ohne zu Green zu sehen.
„Wir waren genauso blind wie Light.“ Kurz konnte Green sich nicht entscheiden, ob sie fortfahren sollte oder nicht: ob sie Silence allein eine Antwort geben sollte, oder ob sie vielleicht einfach fortfahren sollte… aber sie entschied sich für eine andere Route und sagte laut und mit Entschlossenheit:
„Es war Hikaru. Hikaru wollte Yami und Hikari aus dem Weg haben und Luzifer war der Schlüssel dazu. Silence und ich wissen leider nichts Konkretes und es sind Spekulationen… aber ich bin mir ganz sicher. Hikaru hat Luzifer umgebracht und es so aussehen lassen, dass es Hikari war, um die beiden Schwestern gegeneinander aufzubringen. Sie war nicht mit Hikari zufrieden; sie war mit dem gesamten Wächtertum nicht zufrieden, in dem jedes Element gleich viel wert war. Sie wollte an die Macht. Hikari und Light wollten es nicht.“
„Warum hat sie dann nicht auch Light getötet?“, fragte Gary, der sich ein wenig vorgelehnt hatte.
„Wie soll sie das machen? Ihn anleuchten? Sähe doch auch komisch aus, oder, Gary? Du bist doch unser Stratege hier – es wäre doch nicht intelligent gewesen von ihr, Light auch umzubringen.“ Green lächelte etwas bitter.
„So wie die Dinge jetzt standen… waren sie und Light die Opfer und Hikari auch. Das sieht doch viel besser aus.“ Greens Lächeln verblasste und sie sah in dieselbe Richtung wie Silence.
„Und Silence und Youma wurden die Kinder eines Verräters und Mörders…“
„Kinder des Verräters“, „Mörderkinder“… es gab viele Worte, mit denen Silence und Youma hinter vorgehaltener Hand beschrieben wurden, wenn sie nicht gerade an Lights Händen hingen. Früher waren es Hikaru und Light, die als unzertrennlich gegolten hatten. Immer hatte man sie zusammen gesehen, immer sehr dicht beieinander. Meistens hatte Light Hikaru getragen oder hatte sie an der Hand gehalten, wie eine Einheit, die nicht voneinander getrennt werden durfte. Als Light Silence und Youma adoptierte, veränderte sich dieses Bild von Light. Wo man ihn früher mit der weißen Gestalt Hikarus gesehen hatte, sah man ihn nun mit den zwei in schwarz und lila gekleideten Kindern, die die Hände hielten, die Hikaru sonst immer gehalten hatte.
Sie lebten zusammen in einem der Türme des Palastes, den sie für sich beanspruchten und wo Hikaru ebenfalls mehrere Gemächer hatte, in welche sie sich nun mehr und mehr zurückzog, während die Gemächer der Zwillinge und die, die Light sein Eigen nannte, sich vermischten. Denn Light mochte es bei ihnen zu sein… und sie bei ihm.
Nachdem die erste Skepsis und das Misstrauen überwunden waren, waren die meisten Tage gefüllt mit Licht und Magie. Light war nicht nur ihr Vater, sondern auch ihr Lehrmeister und lehrte die beiden Kindern den respektvollen Umgang mit ihrem Element und das Achten der Natur, denn alle Elemente waren wichtig. Er lehrte sie, dass sie nur im Einklang den schönsten Ton, die erhabenste Musik spielen konnten…
…aber die Schattenseiten, die immer dann kamen, wenn Light nicht bei ihnen war, zeigten den jungen Yami, dass die Elemente untereinander nicht nur schöne Klänge erschufen.
„Light?“ Es war wohl wegen dem blutroten Abendhimmel, dass Youma darauf kam, seinem Ziehvater eine Frage zu stellen, die diesen und Silence beide gleichermaßen überraschte.
„Wie schmeckt eigentlich Blut?“
Sie saßen alle drei in einem Pavillon, in welchem sie stets zu lernen und zu lesen pflegten: an diesem Abend, wie auch an den Abenden zuvor, lehrte Light die achtjährigen Zwillinge die Schönschrift, in welcher Silence im Augenblick brillierte im Gegensatz zu Youma, welcher… seit geraumer Zeit mehr seinen Gedanken nachhing, als an den Lippen Lights zu hängen. Mehr als einmal ließ er seinen Blick aus dem Fenster schweißen und vertiefte sich in Tagträume, welche, so wusste Silence, unangenehmer Natur waren.
Light, der zusammen mit den beiden Kindern auf dem Boden umringt von Kissen saß und gerade etwas von seinem Wasserkrug getrunken hatte, verschluckte sich und sah Youma überrascht und etwas beunruhigt an, genau wie Silence es tat. Aber es war keine Frage, die Youma zum Spaß gestellt hatte: seine Finger, die auf den Seiten eines großen Buches lagen, waren über den Seiten verkrampft, krallten sich fast in das Pergament. Hikaru, die ebenfalls anwesend war, denn nur weil sie nicht mehr an Lights Hand ging, bedeutete das nicht, dass sie nicht in seiner Nähe war, linste etwas über ihre Dokumente und pausierte ihre Schreibfeder.
„Woher stammt dieser Gedanke?“ Youma antwortete nicht, denn er schämte sich plötzlich dafür, dass er gefragt hatte und starrte nun auf seine Buchseiten, die er gar nicht gelesen hatte. Er starrte nur auf die geschwungenen Zeichen und die farbenfrohen Ornamente.
„Es waren Tiral und Werel…“, erklärte Silence ihrem Ziehvater.
„… die meinten, dass Youma und ich zu den „Blutsaugern“ zurückkehren sollten.“ Bestürzt über diese Worte, die von den „Enkel“söhnen des Erdgottes stammten – sie waren die Söhne seiner geschaffenen weiblichen Nachkommen – sah Light nun zu Silence, offensichtlich verwirrt über diese boshaften Kommentare. Hikaru dagegen war nicht bestürzt: Sie widmete sich wieder gelangweilt ihren Dokumenten, wo sie gerade mit Inbrunst einen roten Strich setzte:
„Opfere deine Gedanken nicht diesen Kinderlappalien, Light. Es sind nur Kinder.“ Light achtete nicht auf sie, obwohl er ihre Worte in seinem Kopf sehr wohl gehört hatte. Nur Kinder. Das waren seine Kinder! Seine Kinder, die „Halbkinder“ genannt wurden, die keine Freunde hatten, weil ihr Vater ein Teufel gewesen war, der Yami und Hikari angeblich verraten und ermordet hatte. Yami und Hikari waren so beliebt gewesen im Wächtertum… ihr Tod hatte ein großes Loch in ihre Mitte gerissen, doch das war einfach kein Grund Youma und Silence dafür zu bestrafen!
Silence versuchte gegen diese Ausgrenzung und das Mobbing zu kämpfen. Sie schlug gegen die unsichtbare Mauer, die sie von den anderen Kindern trennten, die auf den Wiesen von Aeterniya spielten und sie nicht mitspielen lassen wollten, doch der Aufprall wurde jedes Mal härter… Youma dagegen wehrte sich nicht. Er versuchte nicht, sich anzupassen, versuchte nicht, irgendwelche Gründe zu finden, wofür andere ihn mögen sollten. Er versuchte nicht, gegen das Mobbing zu kämpfen oder Gefallen zu erlangen.
„Aber ich weiß doch nicht einmal wie Blut schmeckt.“ Mitleidend sah Light seinen traurigen Sohn an, der stets alles in sich hineinfraß und seinen Schmerz selten zum Ausdruck brachte. Er versuchte, die gehässigen Kommentare zu ignorieren, gar nicht auf sie zu achten, doch unter ihnen leiden tat er dennoch… sie bohrten sich in sein Herz.
„Hör nicht auf sie, Youma.“ Silence legte ihre Hand auf die ihres Zwillings:
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Diese Idioten – tut mir leid, Light – unterstellen uns doch alles, was sie finden können! Als ob Dämonen Blut trinken würden. Das ist doch eklig!“ Naja, schoss es Light durch den Kopf, einige schon… Er erinnerte sich noch gut an einen Spielabend, den er mit einigen Dämonen zusammen verbracht hatte, wo er aus Versehen nicht die Weinflasche genommen hatte, sondern eine, die mit Blut gefüllt war. Ihm war Tage danach noch schlecht, denn er hatte einen sehr kräftigen Schluck genommen.
„Silence hat Recht, Youma. Du brauchst dir da keine Gedanken zu machen. Ich denke, es ist nicht für das Allgemeinwissen notwendig zu wissen, wonach Blut schmeckt. Wenn sie das nächste Mal so etwas behaupten, dann sag ihnen einfach, dass auch ich mal Blut getrunken habe und dass das überhaupt nichts aussagt.“ Er war versucht, unbeschwert zu wirken, aber diese Worte und die Unbeschwertheit prallten an Youma ab, welcher nicht antwortete, im Gegensatz zu Silence, die sofort Details hören wollte – sie war auch ganz begierig darauf zu wissen, wie Blut schmeckte. Aber Youma sah bedrückt zur Seite, hörte gar nicht zu, fand das Thema nicht interessant so wie Silence.
Er sah erst auf, als Light ihn plötzlich unter den Armen packte und hochhob. Er protestierte überrascht – er war doch kein Kleinkind mehr! – auch noch, als Light ihn sich auf seinen Schoss setzte. Er blieb kurz steif, ehe er sich entspannte und sich an Lights warme Brust lehnte, genau wie Silence es tat, nachdem Light die Hand nach ihr ausgestreckt hatte. Abermals sah Hikaru von ihren Dokumenten auf, doch nicht lange, ehe sie entschied, dass sie dies nicht sehen musste.
„Lies uns was vor ja, Light?“, fragten sie beide und Light tat ihnen wie immer den Gefallen ihnen ihre Lieblingsgeschichte vorzulesen, die gesamte Zeit, in der die beiden Kinder ihm lauschten, in derselben Stellung verharrend. Es war nicht nur die Geschichte an sich, die sie verzauberte – es war Lights Stimme, die allem etwas Schönes, etwas Magisches verlieh, als wären seine Worte… selbst Magie.
„Manchmal…“ Silence war eingeschlafen und Youmas Augenlider flatterten ebenfalls bereits nach dem Beenden der Geschichte und dem Erlöschen der letzten Kerze:
„…wünschte ich, ich wäre so wie du, Light…“
Für gewöhnlich war Light weichherzig, ruhig und besonnen, mitfühlend und freundlich – doch er hatte auch seine störrische Art, die manch einer aufbrausend nannte und andere kindisch. Seine Mitgötter mochten ihn lieber von seiner ruhigen, freundlichen Art, aber sie meinten oft, dass es diese bockige, verbissene und aufbrausende Art war, die es für ihn möglich machte, so gut mit den Dämonen zu kommunizieren. Er konnte sich auf ihr „Niveau herablassen“, meinten einige böse Zungen hinter vorgehaltener Hand.
Aber nicht alle politischen Treffen waren mit Erfolg gekrönt und nicht mit jedem Dämon mochte Light sprechen. Einige würde er am liebsten aus dem Palast und aus Aeterniya hinauswerfen lassen – und das galt ganz besonders für den wichtigsten Dämon.
„Sag diesem eingebildeten IDIOTEN ich weigere mich, mit ihm eine Konversation zu führen, wenn er sich weiterhin weigert seinen NAMEN preiszugeben! Ich rede nicht mit jemandem, von dem ich nicht mal so was Simples wie den NAMEN weiß!“ Silence und Youma mochten es, wenn Light so wütend wurde: Sie fanden es lustig, wenn ihr Vater fluchte und andere Idioten nannte – das durften sie doch eigentlich nicht! Und weil sie es nicht durften, war es lustig, wenn er es tat und unbedingt wollten sie wissen, wer diese Person war, die von Light ein „Idiot“ genannt wurde. So wütend und genervt hatten sie ihn ja noch nicht erlebt!
„Wahrscheinlich…“, fuhr Light aufgebracht fort:
„…hat er so einen peinlichen Namen, dass er sich nicht traut, ihn auszusprechen, aus Angst es könnte seine Autorität ankratzen!“
Autorität ankratzen?
Der Wächter, der vor Light stand und ihm die Botschaft überbracht hatte, dass der namenlose Herrscher und absolutes Oberhaupt der Dämonen mit ihm sprechen wollte, sah sein Gegenüber mit einer Mischung aus Verwirrung und Belustigung an. Denn Lights weißseidene Haare wurden von Youma und Silence just in diesem Moment zu abstehenden Zöpfen zusammengebunden – die Krönung dieser in ihren Augen wunderschönen Frisur waren hellgrüne Schleifen, die man eher grell nennen konnte und die sich absolut mit seinem hellen Aussehen bissen. Und dieser Wächter sprach von Autorität?
„Das soll ich ihm überbringen?“, fragte der blauhaarige Wächter zur Sicherheit.
„Ja, das wäre nett“, antwortete Light bissig und Silence und Youma warfen sich ein verstohlenes Grinsen zu.
„Aber du hast seine Einladung die letzten vier Mal auch abgesagt.“
„Dann schadet ein fünftes Mal ja auch nicht, oder?“
„Light, ich halte das für keine gute Idee. Er ist nach wie vor das Oberhaupt der Dämonen. Wenn er so oft spezifisch nach dir fragt, dann wird das einen Grund haben.“ Light grummelte eingeschnappt, so wie Silence und Youma oder andere zehnjährige Kinder es wohl ebenfalls tun würden und zeigte ein wenig Einsicht.
„Sag er soll mit Kaze oder mit deiner Tante reden.“ Jetzt war es der andere Wächter, der seufzte.
„Das hast du das letzte Mal schon gesagt. Tante Mizu und Kaze sind ohnehin beide nicht anwesend.“ Light legte seine Stirn in Falten und schien ernsthaft über eine weitere Ausrede zu grübeln. Seine beiden Kinder waren weiter munter dabei, mit seinen Haaren zu spielen, wovon Light sich aber absolut nicht stören ließ in seinem Grübeln über eine bessere Ausrede.
„Was ist denn so schlimm an ihm?“, fragte Youma neugierig, während er nach einem Keks griff, die neben Light auf einem kleinen Tisch in einer dekorierten Schale lagen.
„Alles“, grummelte Light zerknirscht.
„Dennoch, Light, dir bleibt keine Wahl“, mischte sich nun auch der andere Wächter wieder ein. Light sah auf.
„Warum sollte mir keine Wahl gelassen werden?“
„Weil ich schon hier bin, Light-kun!“ Sofort bei dem Klang dieser schalkhaften Stimme sprang Light vom Stuhl auf und wirbelte herum, wobei die Zöpfe verdächtig wackelten, doch Silence und Youma stellten erfreut fest, dass ihre Kreationen dem Aufsprung standhielten. „Wie kommst du hier herein?!“ Anklagend zeigte der Hikari auf den Fremden, welcher lässig an einem der großen glaslosen Fenster stand und sein Gegenüber überaus belustigt angrinste: Er schien ein Lachen zurückhalten zu müssen beim Anblick Lights.
„Weiß nicht – durch die vielen offenen Fenster und Türen, die ihr hier habt, wahrscheinlich!“ Silence und Youma musterten den Fremden argwöhnisch, denn sie sahen nicht so oft Dämonen… vor allen Dingen keine Dämonen mit… so einer Aura. Er war ein hochgewachsener Mann; so hoch, dass er beinahe das gesamte Fenster ausfüllte, mit langen, schwarzen Haaren, die den Himmel verschluckten und in denen goldener Schmuck leuchtete, der am Ende der langen Haare befestigt war und an zwei zusammengebundenen Strähnen, die auf seiner Schulter lagen. Ein langes Gesicht, in denen rote Augen hervorleuchteten, die auf einer schwarzen Lederhaut ruhten, nein, vibrierten. Seine schwarze und braune Kleidung war eher simpel, denn seine Aura und sein Eindruck genügten, um seinem Gegenüber zu sagen, dass dieser Dämon Macht besaß – er musste nicht mit pompöser Kleidung angeben.
Silence fand, dass er bedrohlich wirkte und sie schloss sich Lights Meinung sofort an: Sie mochte diesen Mann nicht. Was Youma dachte, als er ihn ansah – das wusste sie bis heute nicht…
„Wir stellen gerade wunderschönes Buntglas her, Light-kun“, fuhr der namenlose Dämonenherrscher fort und deutete mit den Augen nach oben zu dem glaslosen Fensterrahmen:
„Cerille hat so schöne Farben geschaffen, die würden hier wunderbar reinpassen.“
„Ich denke nicht, dass du hier bist, um Werbung für eure neue Kreationen zu machen.“ Der Namenlose lachte ein wenig und sah Light wieder an:
„Mitnichten! Es ist mir nur aufgefallen - eine simple Beobachtung gefolgt von einer Äußerung, die Abhilfe schaffen könnte. Aber ich weiß ja, ihr Wächter seid stolz, schmückt euch lieber mit natürlicher Bescheiden und Einfachheit… und alles soll in seinem natürlichen Zustand bleiben, ja…“
„Ich habe nichts gegen eure Kreationen“, antwortete Light mit einem gezwungenen Lächeln, welches Silence und Youma gleichermaßen beunruhigte.
„Das wäre ja auch vermessen, haha! Nebenbei gesagt, Light-kun: diese Frisur steht dir wirklich ausgezeichnet.“ Als hätte Light erst in diesem Moment bemerkt, dass er auffällige Zöpfe mit großen Schleifen trug, errötete er vor Scham. Silence konnte ein Kichern nicht zurückhalten, Youma aber blieb stumm… und erst da bemerkte Light, dass der namenlose Dämonenherrscher gar nicht Light ansah. Er sah auch nicht Silence an.
Er sah Youma an.
Er sah ganz allein Youma an, mit ernsten, matt leuchtenden Augen und zusammen gekniffenen Lippen.
„Esaiyas, bring Silence und Youma bitte auf ihr Zimmer“, unterbrach Light die kurze, etwas unangenehme Stille. Silence maulte, bewegte sich allerdings, als Esaiyas Light beipflichtete und betonte, dass dieses Parkett nicht für Kinder geeignet war. Silence wollte es nicht einsehen und maulte noch lauter, aber es war Youma, der sich nicht bewegte, als friere ihn der Blick des namenlosen Dämonenherrschers fest.
„Youma, geh jetzt bitte.“ Der Angesprochene schreckte beim Klang von Lights Stimme auf und der intensive Blickkontakt war unterbrochen. Er ging dem Wunsch seines Ziehvaters nach und verließ mit seiner Schwester und Esaiyas zusammen das Zimmer – aber nicht ohne sich noch einmal herumzudrehen, ehe Light die Tür schloss.
„Biologische Wesen…“, sprach der namenlose Dämonenherrscher mit ernster… etwas melancholischer Stimme.
„… sind rätselhaft… eigenartig, faszinierend und…“ Er biss sich auf die Lippen.
„Grausam.“ Lights bleiche Finger lagen immer noch flach auf der Tür, die er eben geschlossen hatte und er sah auch nicht empor, als er antwortete:
„Ja, er hat sein Gesicht, nicht wahr?“ Ein schiefes, falsches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des namenlosen Dämonenherrschers aus.
„Wie erbarmungslos von dir das auch noch auszusprechen, Light-kun.“ Light hob das Gesicht und löste seine Hand von der Tür.
„Er wird einmal sicherlich genauso schön werden wie er.“
„Willst du mich erzürnen, Light?!“ Die beiden unterschiedlichen Wesen, die beiden Götter, sahen sich einen Augenblick lang in die unterschiedlichen Augen, ehe Light einfach nur die Augen niederschlug und tonlos anfing, die Schleifen zu lösen, ein wenig über sich selbst und die momentane Situation fluchend.
„Ich denke, du bist wegen Lateriameya hier. Aber ich stimme Hii zu, laut dem Vertrag von vor der Sonnenwende habt ihr kein Recht auf dieses Gebiet.“ Light wollte es hinter sich bringen, so schnell es ging, aber der namenlose Dämonenherrscher, welcher ebenfalls kurz die Augen geschlossen hatte, ging nicht auf das Thema ein.
„Das wievielte Lebensjahr haben sie bereits erreicht?“ Abermals sah Light von seiner Haararbeit auf. Die eine Hälfte seiner weißen Haare war bereits von den Schleifen befreit, die andere stach nach wie vor ab, doch sein albernes Aussehen hinderte ihn nicht daran, sein Gegenüber ernst anzusehen.
„Wieso sind die beiden das Thema?“
„Weil, mein lieber Light-kun, ein Stück Land heute mal nicht das Thema ist.“ Der Dämon untersuchte eine Glaskaraffe, die auf einem kleinen runden Holztischchen stand, das geformt war wie eine Blume und ohne dass einer der beiden sich rührte, erhob sich die kleine Flasche sowie wie auch ein Glas. Wie durch Zauberhand geführt, füllte die Karaffe den klaren Inhalt in eleganter Manier in das geschwungene Glas und flog dann in die Hand des Zauberers, welcher das Wasser zu seinen Lippen führte, ohne Light aus den Augen zu lassen.
„Oh ja, habe keine Scheu und bediene dich ruhig!“
„Hast du nichts anderes als Wasser?“ Auch noch beschweren! Er machte sich einen Spaß daraus, Light zu reizen, der sowieso schon an der Schwelle zur Wut stand. Ein seltenes Phänomen, doch er schaffte es immer wieder.
„Verzeih“, erwiderte Light ironisch:
„… aber ich trinke grundsätzlich Wasser.“ Der Lichterbe hatte die Haare nun vollständig erlöst und warf sie sich über den Rücken, ehe er sich an einen langen Tisch setzte und seinem Besucher mit bemühter Freundlichkeit den Platz gegenüber anbot, welchen er annahm, mit den Fingern über den verzierten Rand des Tisches gleitend. Ob ihm die geschnitzten Blumen und Ranken gefielen, sagte er nicht. Er trank sein Wasser in Schweigen.
„Also…“, fing Light, nach einem kurzen Anschweigen an.
„Warum interessierst du dich für Silence und für Youma?“ Die tiefe Nachmittagssonne schien durch die Fenster und tauchte die Hälfte des Raumes in grelles Licht, während die andere im dunklen Schatten dalag – die Trennlinie dieses Lichtspiels lag genau zwischen ihnen, wie eine Barriere.
„Du hattest nie auch nur das kleinste Interesse an ihnen… im Gegenteil eher“, fuhr Light still fort und dem Dämonenherrscher war schon aufgefallen, dass er zur Tür gesehen hatte.
„Nicht an ihrem Leiden, nicht an ihrem Leben. Du weißt ja nicht einmal, wie alt sie sind, obwohl du das wissen solltest.“
„Das Alter ist für mich so trivial, Light-kun“, stöhnte der namenlose Dämonenherrscher sein Wasserglas hin und her schwenkend.
„Für Wesen, die wachsen und gedeihen, ist es nicht trivial.“
„Das stimmt“, gab er zu:
„Das konnte ich heute erschrocken feststellen.“ Tonlos stellte er das geleerte Glas auf dem Tisch ab und fuhr fort:
„Mein Interesse an ihnen ist vielfältig. Fakt ist, dass ich Anspruch auf sie erhebe.“ Das war für Light so abstrus, dass er nur die Augenbrauen hob:
„Was tust du? Wie kommst du darauf, dass du so etwas wie Anspruch auf sie hättest? Ich bin ihr Erziehungsberechtigter und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du geeignet…“ Der namenlose Dämonenherrscher unterbrach Light:
„Wer hat dir dieses Recht übertragen?“
„Du weißt wer. Yami.“
„Ich nehme nicht an, dass Luzifer dafür sein Einverständnis gegeben hat.“
„In der Tat, das hat er nicht. Aber darauf kannst du nicht plädieren. Er war zu diesem Zeitpunkt tot.“
„Was ist, wenn er mich schon vorher dazu erklärt hat?“ Light schwieg kurz.
„Und du kommst jetzt nach neun Jahren auf die glorreiche Idee, ihre Erziehung zu übernehmen? Tut mir leid, aber das werde ich nicht gutheißen. Ihr Zuhause ist hier, außerdem…“ Der Dämon hob die Hand und unterbrach ihn:
„Light-kun, du missverstehst: Ich habe nicht vor, dir deinen niedlichen Part als Vater streitig zu machen. Das passt wirklich nicht zu mir – das war es doch, was du gerade sagen wolltest, oder?“ Dies warf den Hikari ein wenig aus dem Konzept und er kam nicht drum herum, sein Gegenüber anzustarren:
„Hast du nicht?“ Der Namenlose lächelte fast schon zu freundlich als er verneinte.
„Was möchtest du dann?“ Die Antwort schockte Light:
„Gib mir Youma und du darfst Silence behalten.“ Jetzt war es zu viel und mit einer flachen Hand schlug Light auf den Tisch, sich leicht vorbeugend:
„Du kannst sie doch nicht einfach teilen, als wären sie ein Gegenstand oder ein Stück Land!“ Noch einmal schlug Light auf den Tisch, dieses Mal jedoch mit einer zusammengeballten Faust, die der namenlose Dämonenherrscher belustigt beäugte.
„Sie gehören zusammen. Youma liebt seine Schwester über alles, du würdest ihm seinen Lebenssinn rauben, wenn du ihm Silence verwehrst!“ Dies war definitiv das falsche Argument, was Light schnell bemerkte, als der namenlose Dämon heimtückisch lächelte… und seine Augen aus dem Schatten heraus aufleuchteten.
„Wir Dämonen können und müssen manchmal ohne Liebe leben, Light-kun.“ Dem Hikari lief es bei diesen Worten kalt den Rücken runter, den genauen Grund dafür wusste er nicht.
„Er ist kein Dämon“, konterte Light, doch seine Worte klangen nicht so sicher, wie sie sein sollten.
„Was, du verleugnest sein Dämonenblut? Du brichst mir das Herz!“
„Nein, ich verleugne es nicht und wenn er sich selbst einen Dämon nennen möchte, dann werde ich ihn nicht einen Wächter nennen. Aber wie du siehst, fühlt er sich wohl damit, ein Wächter genannt zu werden.“ Youma fühlte sich nicht wohl. Das wusste Light. Ihm wurde die Lüge plötzlich bewusst, die er ausgesprochen hatte. Vielleicht würde er wirklich…
„Hast du ihm je die Wahl gelassen? Die Wahl zwischen Dämon und Wächter?“ Light antwortete nicht.
„Ich verrat dir etwas, Light-kun“, der Dämon lehnte sich ein wenig über den Tisch und fuhr fort:
„Wenn ich Youma nicht bekomme, werde ich ihn mir mit Gewalt holen.“ Light sah geschockt auf:
„Gewalt?! Was meinst du?! Doch nicht etwa…“
„Aber ich denke nicht, dass das Not tun wird…“ Der Namenlose lehnte sich wieder gelassen – als hätte er überhaupt keine Drohung ausgesprochen – in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme.
„… Youma wird schon irgendwann nach Lerenien-Sei und zu mir finden. Ich muss nur geduldig sein.“
„Wieso sollte er?“, erwiderte Light unwirsch.
„Weil das Blut seines Vaters ihn zu mir ziehen wird“, antwortete der Dämon mit einem Lächeln. Ohne dass es Light vorher gelang zu antworten stand der namenlose Dämonenherrscher auf und stand dann schon genau vor Light, als die Wolken die Sonne verschlangen und das Zimmer beinahe vollständig von Schatten umarmt wurde.
„Ihr habt euch gern, nicht wahr?“ Light antwortete dem plötzlich bedrohlich wirkenden Dämon vor sich nicht.
„Davon gehe ich jedenfalls aus. Es gibt keinen Grund, dich nicht zu mögen, dich nicht zu lieben… und dein Beschützerinstinkt ist nicht nur so hoch, weil es Kinder sind, nicht wahr, Light-kun?“ Der namenlose Dämonenherrscher neigte den Kopf ein wenig nach links, Light immer noch mit den Augen festhaltend.
„Du hast sie richtig gern.“ Light öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da beugte der namenlose Dämonenherrscher sich plötzlich vor, die Arme auf den Rücken behaltend, mit dem Gesicht aber dem Lights sehr nahekommend, während seine zusammengebundenen Haarsträhnen, von dem goldenen Schmuck beschwert, vor und zurück schwankten.
„Ich gebe dir einen Tipp, Light-kun…“, flüsterte er mit leuchtenden Augen:
„Es ist nie ratsam, Geheimnisse vor jenen zu haben, die man liebt und die diese Liebe erwidern. Irgendwann veralten Geheimnisse… und wenn sie dann doch herauskommen, dann tun sie weh.“ Light hatte die Bewegung nicht gesehen, weil er zu intensiv in das Gesicht des Dämons sah, der seinem so nah war, aber er spürte die Spitze seines Zeigefingers über seinem Herzen.
„Umso länger man wartet… um so größer wird der Schmerz im Endeffekt sein.“ Mit einem Ruck beugte er sich wieder hoch, die Hände wieder auf den Rücken legend und sich herumdrehend.
„Ein gut gemeinter Rat von mir: erlöse dich von deinen Geheimnissen, bevor sie 21 werden.“ Der namenlose Dämonenherrscher drehte sich nicht herum, als er fortfuhr:
„Es könnte ansonsten… unumkehrbare Folgen haben.“
Ehe der Herrscher der Dämonen in der Dunkelheit verschwand, ließ er das Glas fallen, welches er die ganze Zeit in der freien Hand gehalten hatte.
Es zersprang.
Genau wie Lights Utopie.