Kapitel 93 - Familienbande
"Was ist das denn bitte für ein Irrer?! Was bildet der sich eigentlich ein, uns wie Kindern Taschengeld zu geben! Und sowieso, was sind schon 50 Euro?!" Wütend stampfte Silver aus dem Foyer des Wohnkomplexes, seiner Umgebung keine Beachtung schenkend, weshalb ihm auch nicht auffiel, dass die Studentin am Tresen sie überhaupt nicht zu bemerken schien, obwohl Silver sich mit seiner Lautstärke nicht gerade zurückhielt. Blue bemerkte es natürlich. Offensichtlich hatte Nocturn keine Lust auf eine weitere Auseinandersetzung, weshalb er dafür sorgte, dass die Studentin ihr Magazin extrem spannend fand.
"Du weißt schon, dass 50 Euro mehr als 6000 Yen sind, oder, Silver?" Dessen war sich sein kleiner Bruder offensichtlich nicht bewusst, denn er blieb verdattert stehen, als sie gerade nach draußen gelangt waren; wahrscheinlich schoss ihm gerade durch den Kopf, dass Ri-Il ihnen weitaus weniger "Taschengeld" zur Verfügung gestellt hatte, wenn es dem Auftrag nicht gerade dienlich gewesen war - und Ri-Il hatte natürlich nie eingesehen, warum Silvers teure Haarpflegeprodukte dem Auftrag irgendwie helfen sollten.
"Hier gibt es doch sicherlich irgendwo einen Supermarkt..." Er sah sich suchend auf der langen Straße um, doch konnte nur andere Wohnkomplexe und eine grün leuchtende Apotheke sehen; scheinbar hatte er plötzlich doch kein Problem damit, Geld von Fremden anzunehmen und wollte es sofort umsetzen - nicht, dass Ri-Il es ihm noch wegnahm!
"Wir könnten ja noch mal eben ein paar Dinge kaufen, bevor wir uns wieder nach Hause teleportieren..." Silver bemerkte nicht, wie Blue bei dem Wort "nach Hause" verharrte.
"... es ist so lange her, dass ich ordentliches Shampoo hatte. Du hast doch nichts dagegen, oder, Aniki? Du willst doch hier sicherlich sowieso keine Bücher kaufen; die kannst du immerhin gar nicht lesen, du kannst ja kein Französisch." Erst jetzt bemerkte Silver, dass Blue stehen geblieben war. Sie befanden sich auf dem Bürgersteig einer langen Straße, die vom Eiffelturm wegführte, auf der in regelmäßigen Abständen Autos vorbeidüsten und ihre Gesichter für kurze Momente mit gelbem Licht aufleuchten ließen.
"Blue, worauf wartest du denn? Ich möchte hier nicht länger als nötig sein. Außerdem muss ich mich bei Sensei entschuldigen; ich habe ihn ziemlich angepampt..."
"Ich muss mich bei dir entschuldigen, Silver." Der Angesprochene runzelte die Stirn und wollte Blue, der sehr ernst und zerknirscht zur Seite blickte, schon versichern, dass er sich für nichts entschuldigen müsse - was auch immer es auch war. Er brauchte jetzt keine Entschuldigungen. Es war ja auch nicht seine Schuld, dass Green ihn angegriffen hatte... Das Ganze war doch auch jetzt absolut gleichgültig. Das einzige, was für Silver wichtig war, war Blues Gesundheit... dass es ihm wieder gut ging... dass er wieder mit ihm reden konnte, dass er bei ihm war. Das war das einzig Wichtige.
"Die letzten Tage waren sicherlich nicht..." Silver fiel ihm etwas still ins Wort:
"Es war mehr als ein Monat." Blues Augen weiteten sich erstarrt in Entsetzen und sein Gesicht wurde fahl - ein Anblick, der Silver sofort erschrak.
"Das ist doch jetzt auch völlig egal! Wirklich! Es ist alles gut. Du lebst, das ist alles was wichtig ist! Alles andere interessiert mich nicht..." Blue antwortete nicht. Er sah aus wie ein Geist.
"Es ist ja nicht deine Schuld!", fuhr Silver fort, mehrere Schritte zurückgehend, ohne zu bemerken, dass Blue etwas zusammenfuhr. Es sollte nicht seine Schuld sein...? Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment, an den genauen Tathergang... er konnte nicht mehr beurteilen, ob es "seine Schuld" war. Hatte er ausweichen können? Hatte er sich verteidigen können? Er wusste es nicht! Aber zu deutlich erinnerte er sich an den nagenden Wunsch, dass Green es sein sollte, die ihn tötete... ha... es war also gut denkbar, dass es "seine Schuld" war.
"Es ist alles... nicht deine Schuld..." Silver schien zu ahnen, was in Blues Kopf vorging: er schien es ablesen zu können in diesen erstarrten Gesichtszügen und in den dunkelgrünen Augen, die nur ab und zu vom gelben Licht der Scheinwerfer erleuchtet wurden.
"Green-chan nicht... Grey nicht..." Silver wollte Blues Arm nehmen: er hatte schon seine Finger um diesen gelegt, doch ehe er seinen Griff festigen konnte, riss Blue sich los und nahm einen Schritt rückwärts.
"Sag das nicht!" Seine etwas sehr ruppige Reaktion bemerkend und sich sofort dafür schämend, dämpfte Blue seine Stimme, die entschuldigend klang.
"Sag sowas nicht... Ich möchte nicht, dass mir die Verantwortung genommen wird. Ich weiß, du meinst es nur gut, Silver, und es tut mir leid, dass du der Leidtragende bist..."
"Wir sind alle Leidtragende", warf Silver ein, doch beendete das Thema jäh:
"Aber das ist jetzt doch auch gar nicht so wichtig. Komm, wir sollten zurück... Man wartet sicherlich auf uns."
"Silver, ich komme nicht mit zurück."
"Meine Güte, was für ein Radau", urteilte Youma, als er sich die Küche besah, nachdem sein Meeting mit Lacrimosa überstanden war und sie nun beide eine aufgewärmte Pilzsuppe aßen, die Feullé für sie beiseite gestellt hatte und nun für sie in der an der Wand angebrachten Mikrowelle erhitzt hatte - diesen Prozess hatte Youma nicht verstanden, aber er war froh über eine warme Mahlzeit, weshalb er genau wie die anderen, die die Suppe ebenfalls gekostet hatten, diese nicht kritisierte, obwohl sie ziemlich fad war... und waren die Pilze verbrannt?
"Ich entschuldige mich für mein Benehmen, aber es musste sein", antwortete Lacrimosa und erhielt sofort Zustimmung ihrer beiden Schwestern, die Youma versicherten, dass es wirklich ein "Muss" gewesen war. Lacrimosa saß nun in einem der schwarzen Sessel und bekam während des Essens ihre Frisur wieder von Feullé gerichtet, die sich dafür einen der hohen Barstühle heran geholt hatte, um die Haarhörner wieder aufzurichten, wofür sie eindeutig mehr Geschick besaß als für das Kochen, dachte Youma, als er auf einem verbrannten Champignon kaute - aber das Brot - ach nein, Baguette - war gut.
"Es war mir ein dringendes Bedürfnis, um es mit deinen Worten zu sagen. Nachdem wir beide über deren Auftrag gesprochen haben, stand mir sein frevelhaftes Verhalten wieder deutlich vor Augen und als ich ihn dann sah... tja, man muss seine Chance für einen Schlag nutzen, wenn man sie hat."
"Du hättest ihn umbringen sollen, Schwester Lacrimosa", warf Cilan ernst wie immer ein, die ihr gegenüber saß und Klariette, die auf der Lehne ihres Sessels hockte, fügte hinzu:
"Oder mit zu uns nehmen! Ich mag doch rote Haare so gerne und ich finde, uns fehlen Mädchen mit roten Haaren."
"Ich verspreche dir, Klariette, dass du den nächsten Rotschopf haben darfst", antwortete Lacrimosa und brachte ihre Schwester damit zum Strahlen:
"Darf ich ihn dann wieder ausbluten lassen?"
"Das darfst du." Was für eine nette Gesellschaft, dachte Youma, während die eigentlich recht niedlich aussehende Klariette freudig aufjubelte. So ein blutrünstiges Verhalten hatte er ihr eigentlich nicht zugetraut.
"Sag, Feullé-Schatz, kommt dein Vater eigentlich heute noch aus seinem Zimmer?"
"Oh..." Feullés Gedanken schienen kurz zum Stillstand zu kommen, bis sie plötzlich wie auf Kommando rot wurde - wahrscheinlich, weil Lacrimosa sie gefragt hatte, in dem Glauben, sie wüsste am besten über Nocturns Verhalten Bescheid. Um sich abzulenken konzentrierte Feullé sich wieder auf die Haare der Eiskönigin und antwortete leise:
"Das... D-Das weiß ich nicht." Während Youma den letzten Rest der Suppe aß, warf er einen Blick auf die entfernteste Tür, die sich mal wieder verschlossen hatte. Nachdem Nocturn Silver und Blue rausgeworfen hatte, hatte er sich erst einmal murrend den Schaden in der Küche angesehen, bis er sich dann ohne Vorwarnung oder Abschied in sein Zimmer eingeschlossen hatte.
"Na, ich denke mal, dass er nicht so schnell wiederkommen wird", antwortete Lacrimosa schnippisch, das erste aus Haaren geformte Horn in einem Handspiegel überprüfend, nachdem sie den leeren Teller auf den gläsernen Stubentisch gestellt hatte.
"Vielen Dank für das Essen, Feullé."
"Oh... nichts... zu danken, Lacrimosa."
Youma sah auf seinen Teller, während Feullé Lacrimosa antwortete: Lacrimosa hatte keinen einzigen Tropfen übriggelassen und schien auch wahrlich dankbar zu sein für diese eher spärliche Kost, bei der Youma wiederum ganz schön mit sich hatte kämpfen müssen, um alles aufzuessen...
Lacrimosa schien sich wieder Youma zuwenden zu wollen, doch etwas unterbrach ihren Gedankengang: schwere Regentropfen begannen erst leise und sachte gegen die großen Scheiben zu prasseln, bis es sich plötzlich und ohne sanften Übergang zu einem starken Regenschauer entwickelte, dessen Tropfen nun gegen die Scheiben donnerten.
Youma dachte sich nichts dabei, aber er war der einzige, der sich nichts dabei dachte: Klariette war von ihrem Sitzplatz aufgesprungen und presste sich in heller Aufregung ans Fenster. Cilan reagierte zurückhaltender, doch auch ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als hätten sie noch nie Regen gesehen - und das hatten sie auch noch nie.
"Ist das... Wasser, das vom Himmel kommt!?", rief Klariette völlig hin und weg von diesem doch eigentlich recht normalen Naturgeschehnis.
"Das nennt sich "Regen"", erklärte Cilan, den Blick ebenfalls nicht von den herunterlaufenden Tropfen abbringen könnend. Lacrimosa kommentierte es nicht, doch Youma, der ihr Profil sehen konnte, weil sie nun ebenfalls aus dem Fenster sah, bemerkte, dass sie in Gedanken weggedriftet war.
"Hat es denn in der Dämonenwelt noch nie geregnet?", fragte er, deren Teller in die Spülmaschine stellend. Lacrimosa war immer noch in ihre Gedanken vertieft, doch Cilan antwortete dem Yami, der sich wieder zu ihnen setzte.
"Nein, hat es noch nie."
"Das stimmt so nicht, Cilan." Sowohl Klariette als auch Cilan wandten sich ihrer Schwester zu, die einen merkwürdigen lethargischen Ausdruck auf dem Gesicht hatte:
"Es ist nur nicht in eurer Lebenszeit geschehen. In meiner schon. Da war ich noch eine Jungdämonin und... ja, da hat es geregnet. Einmal. Für 20 Stunden. Das war... sehr schön." Die Augen ihrer Schwestern begannen zu leuchten und zu strahlen, als Lacrimosa dies erzählte und es war deutlich, dass sie sofort mehr erfahren wollten; auch Youma war erpicht darauf, mehr von der erbarmungslosen Willkür seines namenlosen Gönners zu erfahren, doch Lacrimosa schien das Thema nicht fortsetzen zu wollen, denn sie wirbelte so heftig und entschlossen zu Youma herum, dass Feullé mit dem rechten Horn noch einmal von vorne anfangen musste, da es in sich zusammenstürzte. Überrascht pustete Lacrimosa sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und begann sofort:
"Es gibt da noch eine Sache, Youma, eine Bitte an dich- nein, eine Aufforderung." Durchdringend blickte sie ihr Gegenüber an, doch es war nicht ihre entschlossene Stimme, die ihm Aufklärung gab, denn überraschenderweise schien Feullé vor Youma zu wissen, worauf Lacrimosa hinauswollte:
"A-Aber Lacrimosa... Vater wird es nicht preisgeben. Er will nicht d-darüber reden... können wir das... nicht einfach a-akzeptieren?" Aha - also hatte Lacrimosa schon Feullé um dasselbe gebeten worum sie nun Youma bitten wollte und scheinbar war sie gescheitert oder hatte sich geweigert, auch wenn Youma sich nur schwer vorstellen konnte, dass Feullé einen Wunsch Lacrimosas nicht ausführte: immerhin waren sie befreundet und Feullé war eigentlich nicht der Typ, der einen Wunsch ausschlug.
"Nocturn-kun soll sich gefälligst nicht so zieren!", antwortete Lacrimosa mit einer bissigen Bewegung:
"Wir reden alle nicht gerne über unsere Vergangenheit, aber das hier geht nicht nur ihn etwas an." Sie sah den verwirrten Youma durchdringlich an:
"Ich möchte, dass du ihm wegen seiner Mutter auf den Zahn fühlst."
"Was? Wieso ich?" Feullé, welche immer noch hinter Lacrimosa auf dem hohen Barstuhl hockte, sah etwas verdrießlich aus - offensichtlich hatte Lacrimosa sie ebenfalls befragt und offensichtlich gefiel Feullé das Thema nicht.
"Weil du mir ja wohl keinen Wunsch ausschlagen wirst, oder, Youma?" Sie lächelte gefährlich, aber dieses Mal ließ sich Youma nicht einschüchtern, denn er wollte nicht auf eine Mission geschickt werden, die keine Hoffnung darauf hatte, mit Sieg gekrönt zu werden. Nocturn hatte ihm erst vor wenigen Stunden deutlich gemacht, dass er mit ihm nicht über seine Vergangenheit reden wollte und seine Familie gehörte sicherlich dazu.
"Ich wusste ja nicht einmal, dass er eine Mutter hat." Lacrimosas Lächeln verschwand:
"Natürlich hat er eine, du Dummchen. Du wirst seinen Worten ja wohl nicht glauben, wenn er sagt, dass er aus der Nacht geboren ist, oder?" So etwas... hatte Nocturn wirklich gesagt? Das hatte Youma noch nie gehört, aber verwundern tat es ihn nicht. Es passte zu ihm und seiner verqueren Denkweise.
"Ich war mit seiner Mutter befreundet", fuhr Lacrimosa fort, einen ernsten Blick nicht nur an Youma sendend, sondern auch an Cilan und Klariette, die beide beinahe zeitgleich nickten.
"Sie gilt als tot... und ich möchte wissen, ob das stimmt und wenn ja, wie das passiert ist."
"Und Sie glauben, dass Nocturn Ihnen bei dieser Aufklärung helfen kann?", fragte Youma sich vorlehnend, die Ellenbogen auf seine Knie abstützend.
"Ich habe nicht viele Optionen, also frage ich den Sohn."
"Aber das wissen Sie doch gar nicht... und... und... ich glaube nicht, dass Vater überhaupt ihr Sohn ist..." Youma runzelte die Stirn - sie wusste nicht einmal, ob eine Blutsverwandtschaft bestand?
"Er ist definitiv ihr Sohn." Lacrimosas Augen verfinsterten sich:
"Definitiv. Er hat keinen anderen Grund immer so überzureagieren, wenn auch nur ihr Name fällt."
"Wie lautet ihr Name?" Feullé öffnete den Mund, als wolle sie verhindern, dass er ausgesprochen wurde, aber Lacrimosa bemerkte dies nicht und sprach den Namen deutlich und mit Bedacht aus:
"Menuét."
Am anderen Ende des Appartements mit der Nummer 667 wurde ungehört und unbemerkt die Tür, die vorher nur angelehnt gewesen war, geschlossen. Die Tür wurde sogar mit einem kleinen, dünnen Schlüssel verriegelt, von spitzen, dürren Fingern, die zitterten, als dieser Name wie ein Seebeben zu ihm herübergeschwabbt war. Seine Ohren waren zu gut. Sein Gehör zu sehr geschärft. Er hatte es nicht hören wollen, aber nun war es geschehen.
Nocturn, mit der Hand noch an der Tür, wie um sich abzustützen, atmete tief ein und schloss die Augen. Er hatte aufgehört, die Gedanken von den anderen Anwesenden zu lesen: er versuchte auch ihre Aura auszuklammern, nur den Regen zu hören, dessen Klang so beruhigend war und der melancholische Reflektionen an die Wand gegenüber der großen Fenster warf.
Der Engel ihm gegenüber, dessen Anblick der Dämon nun traf, als er die Augen öffnete und das Rot seiner Augen deutlich gegen das schummrige Blau des dunkeln Raumes kontrastierte, lag im Schatten. Nocturn erkannte das Gesicht des Engels nicht, aber das Diadem Whites leuchtete auf und lenkte ihn ab - aber nur kurz, dann zeigte sich Wut auf seinem Gesicht und er stieß mit Inbrunst gegen eine nicht entzündete Kerze, als er sein Atelier durchquerte, um sich auf den breiten Fenstersims zu setzen.
Eigentlich hatte er das Drama der Brüder miterleben wollen. Aber er schottete seine Gedanken ab, anstatt seine Gedankenlesefertigkeiten zu aktiveren. Seine Wut wurde zu Melancholie, ihm entfloh ein tiefes Seufzen und er vergrub seine Wange in seinen spitzen Knien, die er an sich gezogen hatte.
"Wer interessiert sich schon für "Familie"..."
"Ich kehre nicht mit dir in Gebiet 17 zurück." Silver hatte nicht reagiert. Blue hatte es noch einmal sagen müssen, obwohl es ihm leid tat, es auszusprechen. Nein, die Worte taten ihm nicht leid. Die Worte waren es nicht, die ihn schmerzten - es war Silvers erstarrter Blick und das Zusammenzucken seines Körpers, als Blue die Worte noch einmal hatte wiederholen müssen, obwohl es doch schon beim ersten Mal wehgetan hatte.
Aber bei Silver tat es noch nicht weh. Er spürte noch gar keinen Schmerz, denn noch war er zu verwirrt. Anders als Ri-Il war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Blue in Paris bleiben wollte, dass er nicht ins Gebiet 17 zurückkehren würde, dass es... jemals etwas geben konnte, das ihn und seinen Bruder voneinander trennen könnte.
Er konnte es nicht begreifen und musste mehrere Male blinzeln, ehe er eine verwirrte Antwort geben konnte.
"Wie... du... kommst nicht zurück?" Blue blieb ernst und wiederholte es nun zum dritten Mal:
"Nein, Silver. Das tue ich nicht und ich würde dir raten, es ebenfalls nicht zu tun." Immer noch war in Silvers Gesicht nur Verwirrung zu sehen; erst als die ersten Regentropfen herunterfielen, zeigte sich Regung, aber er sprach das, was sich langsam in seinem Kopf zusammenreimte, nicht aus; plötzlich schien der Regen wichtiger zu sein.
"Meine Haare. Sie werden nass. Ich muss mich unterstellen." Blue verstand, dass er jetzt nicht widersprechen durfte und deutete auf eine Unterführung, wo sie sich dann auch schweigend hinbewegten. Doch kaum, dass der Regen sie verschonte, begann Silver:
"Du willst hierbleiben?" Seine Stimme klang betäubt. Sein Körper war starr und nur seine Lippen bewegten sich, während einige Regentropfen von seinen Haaren herunterfielen. Aber seine Finger, wie Blue bemerkte, krallten sich in die Ziegelsteine der Wand hinter ihm. Umsichtig, gar einfühlsam fuhr Blue fort, als wolle er Silver nicht erschrecken:
"Ja, ich werde hierbleiben." Nun musste er auch das wiederholen, was Silver scheinbar ausgeklammert hatte:
"Du solltest es auch in Erwägung ziehen, Silver." Blue wartete kurz auf eine Reaktion, aber er erhielt keine:
"Nocturn-sama hat es zwar nicht direkt angeboten, aber auch nicht das Gegenteil gesagt. Mit dem Einsatz der richtigen Argumente..." Jetzt sah der Rotschopf ihn bestürzt an:
""Nocturn-sama"? Ist er jetzt demnächst auch dein Sensei?!"
"Silver, das ist reine Höflichkeit..." Aber Silver wollte jetzt nicht auf Rationalität hören:
"Angesteckt von unserem Vater oder was?!" Blue wollte sich nicht mitreißen lassen von Silvers plötzlich aufschäumenden Emotionen, aber für einen Moment wollte er auch am liebsten schreien, doch er befahl sich ruhig zu bleiben, sich von diesem Vergleich nicht treffen zu lassen.
"Nein, es ist einfach nur ein Suffix." Aber Silver blieb nicht ruhig:
"Es gibt nur einen, dem ich eine solche Höflichkeit erweise und das ist Ri-Il! Wie kommst du überhaupt darauf, Ri-Il verlassen zu wollen?! Wir haben ihm doch die Treue geschworen!" Jetzt wurde es auch für Blue schwer rational und fern der überkochenden Emotionen zu bleiben, als er dies hörte - diesen Unsinn! Treue geschworen?! Niemals!
"Ja, auf Kosten unserer Leben!"
"Was redest du da eigentlich?!"
"Nein, wovon redest du?!" Blue wollte es nicht zu einem Streit eskalieren lassen; er hatte es eigentlich ganz anders geplant... er hatte es ihm eigentlich unter ganz anderen Umständen sagen wollen... aber nun spürte er, wie Dinge, die er - nein, sie schon lange unterdrückt hatten, zum Vorschein kamen, Form und Wort annahmen:
"Hast du vergessen, dass dieser Mann uns entführt hat?! Hast du vergessen, dass er wahrscheinlich unsere Eltern umgebracht hat?!" Sie hatten nie darüber gesprochen. Sie hatten es immer totgeschwiegen. Oh wie gut sie darin waren! Sie hatten diese Kunst so herrlich perfektioniert! Blue hatte geschwiegen, wenn Silver sich für Ri-Il begeistert hatte und Silver hatte es unkommentiert gelassen, dass Blue diese Begeisterung, diese Treue, dieses Loyalitätsempfinden, das im vergangenen Jahr so stark geworden war, nie hatte nachempfinden können. Oder war das schon früher der Fall gewesen und Blue hatte es nicht bemerkt?
"Das stimmt überhaupt nicht!", antwortete Silver halb schreiend mit zusammengebissenen Zähnen, während von weit her eine Sirene aufheulte:
"Du hast überhaupt keinen Beweis dafür, dass es Ri-Il war!"
"Ich werde auch höchstwahrscheinlich niemals einen bekommen, weil wir von Ri-Il sprechen!" Silver wollte sofort antworten, aber Blue war schneller:
"Wie glaubst du denn sind unsere Eltern gestorben?!"
"Ich weiß es nicht..."
"Mutter hat sich wohl kaum selbst umgebracht!", rief Blue jetzt förmlich, nicht auf die komisch dreinblickenden Passanten Rücksicht nehmend, die schnell die Straßenseite wechselten - oder darauf, dass er sich eigentlich geschworen hatte, dieses Thema niemals anzusprechen, es zu verdrängen, in sich zu vergraben, vielleicht sogar zu vergessen, obwohl diese Fragen ihn doch immer heimgesucht hatten. Was war damals in der Küche geschehen? Er wollte es vergessen, so gut vergessen, wie Silver es tun konnte, weiterleben, denn nicht alles brauchte ja eine Erklärung... es tat nicht gut das zu wissen, er sollte nicht über seine Mutter nachdenken, die in dieser großen Blutlache lag, verblutet an einer Wunde, von der Blue nie wissen würde---
"Du willst wissen wie deine Mutter gestorben ist, oder, Blue-kun?"
Blue verharrte in seinen Bewegungen, in seinen Gedanken - Silver sah es ihm an. Er sah wie starr sein Gesichtsausdruck wurde, hörte förmlich wie Blue auf einmal aufhörte zu atmen.
Das war Ri-Ils Stimme. Das war sein Kichern. Aber das war lange her. Eine Erinnerung. Aber Blue konnte sie nicht platzieren: er sah von unten zu Ri-Il empor... die Erinnerung war verschwommen, verwischt und sie schmerzte; sein ganzer Kopf zuckte beim Versuch die Erinnerung deutlicher zu visualisieren. Was war das für eine Erinnerung? Blue hatte dieses Gespräch nie geführt... er hatte dieses Thema doch nie angesprochen, er hatte sich nie getraut... Er hatte immer viel zu große Furcht vor Ri-Il gehabt. Er war immer gut darin gewesen, es zu verstecken, aber sein Herz hatte sich immer beschleunigt und er war sich sicher, dass Ri-Il das immer gewusst hatte.
Diese Erinnerung... woher...
"Blue?" Das war schon der zweite Ansprechversuch Silvers - aber dieses Mal erreichte er seinen Bruder, der sich wieder aufrichtete, nachdem er ein wenig zusammengesackt war.
"Lass uns das Thema doch bitte vergessen..." Blue, die Augen immer noch geschlossen, schüttelte den Kopf.
"Das habe ich lange versucht. Ich kann es nicht."
"Aber Ri-Il war es sicherlich nicht..." Hörte Silver sich selbst nicht sprechen? Hörte er gar nicht, wie unrealistisch seine Worte waren?
"Wenn Ri-Il uns nicht entführt hätte, dann hätten wir wie Menschen leben können." Blue wusste nicht wieso, aber er lachte hohl:
"Wir hätten nie morden müssen! Der Auftrag hätte niemals existiert! Ich hätte nie foltern müssen! Wir hätten ein normales Leben haben können, wenn Ri-Il niemals aufgetaucht wäre..." Das Lachen war weg, das falsche Lächeln ebenfalls.
"Wir wären einfach Menschen gewesen."
"Wir?! WIR, Blue?! HA!" Jetzt war es Silver, der begann zu lachen, kalt und voller Schmerz, ganz anders als Blues hohles Lachen und die Mächtigkeit dieser Kälte verschlug Blue kurz die Sprache.
"Du, als Mamas Liebling, hättest ein solches Leben sicherlich haben können! Aber ich nicht!" Und dann purzelten die Worte aus seinem Mund, ohne dass er es zurückhalten konnte:
"Ri-Il hat mich nicht entführt, Blue, Ri-Il hat mich gerettet!"
Alles verstand Blue stets schnell - doch diese Worte, die sich direkt in sein Herz gruben, diese verstand er nicht. Sie lösten zu großes Entsetzen in ihm aus, um verstanden zu werden.
"Du... du bist doch nicht etwa... froh darüber?" Auch Silvers Wut flaute ab. Er schluckte, begann mit den Haaren, die doch von seiner Mutter waren, zu spielen und antwortete dann erst zögerlich:
"Ich bin nicht froh, dass Mama tot ist, falls du das meinst. Aber ich bin froh, nicht mehr in diesem Haus in Tokyo zu sein." Blue wusste nicht, was er dazu sagen sollte; es war nicht so, dass diese Gedanken seines Bruders ihn komplett überraschten... sie sollten es jedenfalls nicht tun... aber dennoch... dennoch...
"Weißt du, Aniki..." Ein großer LKW rauschte vorbei und drohte beinahe Silvers Worte zu verschlucken, da sie sehr leise ausgesprochen gewesen waren, doch Blues Ohren waren trainiert, selbst die kleinsten Worte aufzunehmen:
"... der Auftrag hat nicht nur dich verändert, sondern auch mich und die Art... wie ich Dinge sehe. Vorher habe ich mir über viele Dinge keine Gedanken gemacht, habe viele Dinge als selbstverständlich angesehen und andere einfach komplett ignoriert oder sie mit einem Grinsen abgetan. Mir ist nie wirklich aufgefallen, wie viele Sorgen sich Mekare um uns macht. Sie hat uns richtig gern, Blue, ist dir das eigentlich klar? Rui habe ich immer nur als Nervensäge gesehen, aber auch sie macht sich Sorgen, macht sich ihre Gedanken. Sie versteht viel mehr, als man es eigentlich von ihr glaubt und ich glaube, dass auch Ri-Il uns mag und sich um uns sorgt."
"Ja, der Effektivität willen... Wir müssen funktionieren, das ist alles, was ihn interessiert. Sein Uhrwerk muss laufen..." Silver zögerte abermals, als wäre es leichter gewesen, Worte in Wut hinauszuschreien:
"Das glaube ich nicht. Also... nicht nur. Ich glaube, er hat uns ziemlich gern. Ist dir nie aufgefallen, wie viel er uns durchgehen lässt?"
"Ri-Ils Aktionen sind immer undurchsichtig." Silver tat so, als hätte er es nicht gehört:
"Im letzten Jahr ist mir das irgendwie alles bewusst geworden und ich glaube... ich glaube, das ist wegen Green-chan." Silver bemerkte, dass Blue sofort wegsah, als ihr Name fiel, doch er ließ sich davon nicht abhalten:
"... ich habe das Gefühl, dass sie mich gereinigt hat." Silver sah, dass Blue ein wenig zusammenzuckte bei diesen Worten, die für ihn sicherlich keinen Sinn ergaben, die vielleicht auch für niemand anderen Sinn machten, aber als Silver sie aussprach, da wusste er, dass er die Wahrheit sagte.
"Ohne Green-chan wäre ich immer noch derselbe Idiot wie früher... ich bin wahrscheinlich immer noch einer, sicherlich... Aber ich sehe jetzt so viel mehr, ich verstehe Dinge anders... Argh, ich kann das nicht wirklich erklären..." Blue, der die Arme abwehrend über der Brust verschränkt hatte, regte sich unruhig. Das Thema war ihm unbehaglich; er wollte Silvers Gedanken, so schemenhaft er ihr auch nur Form geben konnte, kein Gehör schenken. Aber auch wenn sie ihm nicht behagten, er antwortete nicht, unterbrach ihn nicht - als wolle er... diesen bitteren... süßen Schmerz.
"Die Hikari haben doch immer gesagt, dass Green-chan unrein war und alles um sie herum ebenfalls verunreinigt hat. Bei mir stimmt das aber nicht! Mich hat sie besser gemacht!" Ganz ohne darüber nachzudenken legte Silver die Hand auf seine Brust, sich ein wenig zu Blue vorlehnend:
"Ich würde auch alles dafür geben, wieder zusammen mit ihr in Tokyo zu sein, Blue! Aber ich habe durch Green-chan auch verstanden, dass ich noch ein Zuhause habe. Durch sie habe ich akzeptiert, wer ich bin, was ich bin... und gelernt zu sehen und zu verstehen, dass ich auch in Gebiet 17 geliebt werde; dass ich auch da Zuhause bin und dieses Zuhause..." Silvers Finger zitterten, seine Stimme ebenfalls:
"Werde ich nicht verlassen."
Blue hatte auf einen anderen Ausgang gehofft. Aber er war nicht davon ausgegangen. Vielleicht war es sogar eine halbherzige Hoffnung gewesen. Doch sie wäre schöner... viel schöner gewesen.
"Das sind sehr schöne Worte über Green..." Blue schloss die Augen und deutlich sah man ihm an, dass ihn diese Worte schmerzten - jedes einzelne von diesen:
"... und wahrscheinlich hast du recht." Silver sah ihn verwirrt und auch leicht in sich verunsichert an und er schwieg, als hätte er Angst davor, was er ihm sagen würde.
"Doch wenn sie dich gereinigt hat... dann hat sie mich verunreinigt." Die Verwirrung in Silvers Gesicht nahm zu; er wirkte sogar leicht verärgert.
"Wie kannst du so etwas über Green-chan sagen!? Ich dachte, sie sei dein..." Blue fiel ihm ins Wort:
"Licht, ja. Aber sie hat etwas... in mir geweckt, was ich vorher nicht gekannt habe."
"Das denkst du doch nur wegen diesem Spinner. Du weißt doch, dass er gut darin ist mit den Köpfen zu spielen und alles so dreht, wie er es haben will..." Blue unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln, woraufhin er den Kopf abwandte.
"Silver, das hat überhaupt nichts mit Nocturn-sama zu tun."
"Kannst du nicht aufhören mit dem "-sama"? Das ist so komisch..." Blue drehte sich wieder zu ihm herum und Silver verstummte sofort, als er den Schmerz und... die Abscheu vor sich selbst in seinem Gesicht sah:
"Es fing doch schon in Tokio an. Sobald ich sie in meiner Nähe geglaubt hatte, sobald ich glaubte, sie... und ich... eine Zukunft für uns wäre irgendwie möglich, spürte ich Dinge in mir, die ich noch nie gespürt habe." Er erinnerte sich wieder an Saiyon; an das Treffen mit ihm in Tokio, wie sein eigener Blick auf Green lag, als müsse er jede kleine Gefühlsregung an ihr überprüfen und natürlich hatte er gesehen, dass sie rot geworden war... und auch auf Silver war er eifersüchtig gewesen! Auf Silver! Nur weil Green sich Sorgen um ihn gemacht hatte! Es war so verwerflich... so hassenswert...
"...Unvernunft... Zorn.... Eifersucht.... Hass - das sind keine Gefühle, von denen ich je geglaubt hatte, dass sie in mir seien... und dass sie mich dazu bringen, Dinge zu tun, die ich nicht kontrollieren kann; dass sie mich regieren." Zitternd griff Blue sich an die Stirn und seine Finger gruben sich in seine vom Regen feucht gewordenen Haare - auch seine Augen, sah Silver mit Schock, waren...
"Ich habe schon... Grey umgebracht. Wenn es noch etwas Schlimmeres gibt, dann will ich nicht wissen, was es ist... und ich will nicht, dass es passiert. Ich will nicht... dass sie wegen mir noch mehr leidet!" Er sah auf und Silver erschrak fürchterlich, als er in sein Gesicht sah; er weinte. Sein Bruder weinte. Und er sah es, sah es und wurde immer kleiner, die Welt immer bedeutungsloser, unsicherer - Blue musste aufhören zu weinen; Silver hielt es nicht aus, ihn so zu sehen. Aber er tat nichts; er konnte nichts tun; er war komplett erstarrt und konnte nur stillschweigend mit schockierten Augen zusehen, wie eine Träne nach der anderen aus den grünen Augen seines Bruders trat.
"Ich weiß... dass ich das nicht sagen darf; dass ich von allen das geringste Recht auf diese Worte habe, aber... Silver, ich liebe sie! Ich liebe Green! Sie hat meinen klaren Verstand mit dieser Liebe verunreinigt! Ich habe versucht, es auszuschalten! Ich habe versucht, es zu unterdrücken, aber ich kann es nicht. Immer wenn ich glaube es ist weg, schlägt es mich mit noch härterer Kraft.... ich bin machtlos. Machtlos gegen all diese Gefühle, die sie in mir zu schaffen vermocht hat, anzukämpfen." Blue musste sich abstützen; erschöpft von seiner Beichte und seinen Tränen hielt er sich an der Wand fest, so wie Silver es vorher getan hatte:
"Ich kann nun nichts mehr für Green tun. Ich habe alles getan, was ich konnte... und sie ist stark geworden." Blue lächelte; ironisch und traurig, mit dem salzigen, ungewohnten Geschmack seiner eigenen Tränen. Es war so ungewohnt, sich selbst weinen zu spüren. Das hatte er so lange unterdrückt...
"Jetzt braucht sie mich nicht mehr... und alles, was ich jetzt noch für sie tun kann, ist sie ihr Leben leben zu lassen." Und gerade als Blue und Silver geglaubt hatten, dass die Tränen versiegt waren, kamen sie mit noch größerer Härte wieder. Blue biss sich die Zähne zusammen, doch war genauso wenig wie Silver in der Lage, etwas gegen die Tränen zu tun:
"Ich weiß, dass es das Beste ist, aber warum... warum tut es so weh, Silver? Warum schmerzt es mich so, warum zerreißt dieser Gedanke mich, wenn mein Kopf mir doch sagt, dass ich das logisch Richtige tue?! Ich darf nicht bei ihr sein, ich sollte es nicht wollen!" Blues Beine hielten ihn nicht länger und gerade als seine Knie einzubrechen drohten, waren Silvers Arme da, um ihn zu halten. Dieses Mal wurde Silver nicht weggeschickt. Es wurde nichts gesagt. Die Tränen fielen in Schweigen, wurden aufgefangen von dem Stoff von Silvers Uniform und von seinen roten Haaren, die von einem leichten Windstoß erfasst wurden in dem Moment, als Blue sich bebend an Silver festzuhalten begann.
Die beiden Halbdämonen wollten sich nicht trennen und da sie beide Angst vor dem Abschied hatten, begleitete Silver Blue zurück zu dem Hochhaus, dessen gläserner Eingang hell erleuchtet war. Blue ging vor, Silver ihm hinterher, auf seinen Rücken sehend. Die Wut, die sie vorhin noch dazu gebracht hatte, sich so laut anzuschreien und Dinge zu sagen, die sie eigentlich nie hatten sagen wollen, war wie aus einer anderen Welt. Silver fühlte sich wie betäubt, aber er fühlte... dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte und er versuchte nicht, Blue seine Entscheidung auszureden, obwohl er absolut davon überzeugt war, dass es die falsche war. Doch seine Zunge war genauso betäubt wie seine Seele, als hätte sie schon genug an diesem Abend gesagt, was sie eigentlich nicht hatte sagen wollen. Er trottete seinem großen Bruder hinterher, wie er es schon so oft getan hatte und wartete darauf, dass er etwas sagen würde. Als Blue es dann endlich tat, kurz bevor sie den Lichtkegel der Rezeptionsbeleuchtung betraten, war er ein wenig überrumpelt.
"Ich denke du hast recht, Silver." Der Angesprochene wollte gerade fragen, wobei er denn recht hatte, als Blue sich herumdrehte und fortfuhr:
"Green... allgemein die Zeit in Tokyo... hat dich, uns, wirklich verändert und nie können wir zu denen zurückkehren, die wir einmal waren." Silver versuchte, es positiv zu sehen und zu lächeln, obwohl Blues traurige Gesichtszüge ihm eigentlich keinen Grund dazu gaben.
"Und auch wenn ich deine Entscheidung, Ri-Il zu vertrauen und davon überzeugt zu sein, dass er uns "mag" für so ziemlich das dämlichste von dir halte, was ich jemals gehört habe..." Nun sah Blue ein bisschen weniger traurig aus... immer noch ein wenig... aber auch... stolz?
"... du bist erwachsener geworden, während ich weggeguckt habe." Silver wurde augenblicklich rot, während Blue die Augen niederschlug und ein wehmütiges Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete.
"Du und Green... ihr steht nun beide auf eigenen Füßen." Er holte Luft und fuhr dann leise fort:
"Ich bin sicher, dass du und Green..., dass ihr beide sehr gut alleine zurechtkommen werdet." Und dass er, genau wie Silver, die richtige Entscheidung getroffen hatte. Weil er nicht aufhören konnte, an Green zu denken... weil er nicht aufhören konnte es zu tun, war es besser einen anderen Weg einzuschlagen als Silver, damit er auf seinem eigenen Weg sicher sein konnte. Blue wollte Silver nicht mit runterziehen.
"Nein, das ist nicht wahr! Wir brauchen dich..." Silvers Worte vergingen im Nichts, im Schweigen, denn er wusste... er konnte nicht für Green sprechen und das wusste auch Blue.
"Es tut mir leid, dass ich das Thema überhaupt angesprochen habe. Ich wollte nicht, dass du..." Auch diesen Satz konnte er nicht zuende bringen. Auch wenn es gerade geschehen war und Silver immer noch zu spüren schien, wie Blue und er sich umarmt hatten, konnte er nicht aussprechen, dass Blue geweint hatte.
"Schon gut, Silver." Blue versuchte tatsächlich für ihn zu lächeln, aber Silver war so gar nicht nach einem Lächeln zumute, als sein Bruder einen Schritt rückwärts nahm und die automatische Glastür sich hinter ihm auseinanderschob. Er wollte Blue am liebsten festhalten...
"Das ist kein... Abschied für immer, oder? Kein Lebewohl?" Blue, immer noch mit einem gezwungenen Lächeln, schüttelte den Kopf.
"Natürlich nicht, du Idiot. Wir werden uns sehen, wann immer es möglich ist." Und dann drehte Blue sich herum, ehe noch mehr Tränen fielen.
"Ich werde von weitem auf euch aufpassen."
"Also, Youma..." Lacrimosa drehte sich noch einmal im Eingangsbereich der Wohnung herum, wohin Youma und Feullé die drei Besucher aus der Dämonenwelt gerade geführt hatten - dieses Mal würden sie sich von dort zurückteleportieren, wo es sich gehörte.
"Wenn du Menuéts Namen hörst, dann sagst du mir auf jeden Fall Bescheid."
"Warum sollte er es mir sagen, wenn er es niemand anderem sagt? Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass ich ihnen jemals etwas mitteilen könnte?" Youma bemerkte, dass Feullé, die gerade von Cilan und Klariette umarmt wurde, dem Gespräch der beiden mehr folgte, als dass sie sich in die Umarmung fallen ließ: aber sie sagte nichts.
"Vielleicht rutscht es ihm ja mal heraus." Youmas gerunzelte Stirn sah sie nicht, denn jetzt umarmte sie Feullé zum Abschied. Als ob es Nocturn "aus Versehen" rausrutschen würde!
"So-Soll ich Vater... Bescheid sagen?", fragte Feullé, als sie ihre Stimme wiederfand, denn Lacrimosa hatte sie sehr innig an sich gedrückt, welche nun in die Richtung von Nocturns Zimmer sah, woraufhin sie den Kopf schüttelte.
"Ach, nein, lass mal, Feullé-Schatz. Er ist sicherlich in irgendeine kreative Arbeit vertieft." Nun war Youma an der Reihe:
"So, mein Hübscher. Du weißt hoffentlich, was du zu tun hast; ich erwarte Ergebnisse und bin schon sehr gespannt, was du mit der Kritik anfangen wirst. Die Welt blickt auf euch! Also lass sie auch was sehen." Youma deutete ein Nicken an:
"Ich danke Ihnen vielmals für Ihr Kommen und ich verspreche Ihnen, dass ich wegen Menuét-san Ohren und Augen offenhalten werde, auch wenn ich nicht glaube, dass..."
"Das freut mich zu hören." Dann gab sie ihm überraschend einen Kuss auf jede Wange und fügte mit einem Zwinkern hinzu:
"Ich habe gehört so machen das die Menschen hier! Sollte deine Verlobte dir jemals Probleme machen, dann darfst du gerne zu mir kommen und dich ausweinen, hihi!"
Mekare wartete auf Silver am Hintereingang von Ri-Ils Anwesen, weil sie wusste, dass Silver und Blue immer diesen benutzten. Eigentlich hatte sie zu einem Kunden gemusst; eigentlich sogar zu zweien. Aber sie hatte abgelehnt und Ri-Il hatte sie nicht gezwungen, sie nur darauf hingewiesen, dass er das nur einmal durchgehen lassen würde und... dass Mekare nur auf einen der beiden warten brauchte, obwohl sie ihm gar nichts von ihrem Vorhaben erzählt hatte.
Mit einem roten japanischen Schirm stand sie am Eingang, denn an diesem Tag fegte mal wieder ein etwas ungnädiger Sandsturm über die hohen Mauern, die das Anwesen umgaben. Sie schützten zwar vor dem gröbsten, aber...
Mekares Herz schien ihr in der Brust stehenzubleiben, als sie, genau wie Ri-Il es gesagt hatte, Silver alleine sah - als sie sein Gesicht sah. Der Schirm wurde achtlos auf dem Steinboden fallen gelassen und schon schlossen sich ihre Arme um Silver, der ihre Umarmung noch nie so dankbar erwidert hatte.
Er entschuldigte sich bei ihr; entschuldigte sich ganz, ganz oft bei ihr und genauso oft sagte sie ihm "schon gut"... und während diese Worte hin und her gingen und Ri-Il Lycram unter den Tisch getrunken hatte, huschte dieser in die Gedanken seines Zöglings, ehe er dem protestierenden Fürstennachbarn auf die Beine half. Ein Gedanke war dort wirklich sehr deutlich. Er wiederholte sich immer und immer wieder und wurde stärker von Mal zu Mal.
"Ich schwöre, dass wir wieder zusammen sein werden, Aniki, Green-chan! Ich schwöre, dass ich es ungeschehen mache; ich schwöre, dass wir wieder zusammen lachen werden!"
"Du weißt schon, dass 50 Euro mehr als 6000 Yen sind, oder, Silver?" Dessen war sich sein kleiner Bruder offensichtlich nicht bewusst, denn er blieb verdattert stehen, als sie gerade nach draußen gelangt waren; wahrscheinlich schoss ihm gerade durch den Kopf, dass Ri-Il ihnen weitaus weniger "Taschengeld" zur Verfügung gestellt hatte, wenn es dem Auftrag nicht gerade dienlich gewesen war - und Ri-Il hatte natürlich nie eingesehen, warum Silvers teure Haarpflegeprodukte dem Auftrag irgendwie helfen sollten.
"Hier gibt es doch sicherlich irgendwo einen Supermarkt..." Er sah sich suchend auf der langen Straße um, doch konnte nur andere Wohnkomplexe und eine grün leuchtende Apotheke sehen; scheinbar hatte er plötzlich doch kein Problem damit, Geld von Fremden anzunehmen und wollte es sofort umsetzen - nicht, dass Ri-Il es ihm noch wegnahm!
"Wir könnten ja noch mal eben ein paar Dinge kaufen, bevor wir uns wieder nach Hause teleportieren..." Silver bemerkte nicht, wie Blue bei dem Wort "nach Hause" verharrte.
"... es ist so lange her, dass ich ordentliches Shampoo hatte. Du hast doch nichts dagegen, oder, Aniki? Du willst doch hier sicherlich sowieso keine Bücher kaufen; die kannst du immerhin gar nicht lesen, du kannst ja kein Französisch." Erst jetzt bemerkte Silver, dass Blue stehen geblieben war. Sie befanden sich auf dem Bürgersteig einer langen Straße, die vom Eiffelturm wegführte, auf der in regelmäßigen Abständen Autos vorbeidüsten und ihre Gesichter für kurze Momente mit gelbem Licht aufleuchten ließen.
"Blue, worauf wartest du denn? Ich möchte hier nicht länger als nötig sein. Außerdem muss ich mich bei Sensei entschuldigen; ich habe ihn ziemlich angepampt..."
"Ich muss mich bei dir entschuldigen, Silver." Der Angesprochene runzelte die Stirn und wollte Blue, der sehr ernst und zerknirscht zur Seite blickte, schon versichern, dass er sich für nichts entschuldigen müsse - was auch immer es auch war. Er brauchte jetzt keine Entschuldigungen. Es war ja auch nicht seine Schuld, dass Green ihn angegriffen hatte... Das Ganze war doch auch jetzt absolut gleichgültig. Das einzige, was für Silver wichtig war, war Blues Gesundheit... dass es ihm wieder gut ging... dass er wieder mit ihm reden konnte, dass er bei ihm war. Das war das einzig Wichtige.
"Die letzten Tage waren sicherlich nicht..." Silver fiel ihm etwas still ins Wort:
"Es war mehr als ein Monat." Blues Augen weiteten sich erstarrt in Entsetzen und sein Gesicht wurde fahl - ein Anblick, der Silver sofort erschrak.
"Das ist doch jetzt auch völlig egal! Wirklich! Es ist alles gut. Du lebst, das ist alles was wichtig ist! Alles andere interessiert mich nicht..." Blue antwortete nicht. Er sah aus wie ein Geist.
"Es ist ja nicht deine Schuld!", fuhr Silver fort, mehrere Schritte zurückgehend, ohne zu bemerken, dass Blue etwas zusammenfuhr. Es sollte nicht seine Schuld sein...? Er erinnerte sich nicht mehr an den Moment, an den genauen Tathergang... er konnte nicht mehr beurteilen, ob es "seine Schuld" war. Hatte er ausweichen können? Hatte er sich verteidigen können? Er wusste es nicht! Aber zu deutlich erinnerte er sich an den nagenden Wunsch, dass Green es sein sollte, die ihn tötete... ha... es war also gut denkbar, dass es "seine Schuld" war.
"Es ist alles... nicht deine Schuld..." Silver schien zu ahnen, was in Blues Kopf vorging: er schien es ablesen zu können in diesen erstarrten Gesichtszügen und in den dunkelgrünen Augen, die nur ab und zu vom gelben Licht der Scheinwerfer erleuchtet wurden.
"Green-chan nicht... Grey nicht..." Silver wollte Blues Arm nehmen: er hatte schon seine Finger um diesen gelegt, doch ehe er seinen Griff festigen konnte, riss Blue sich los und nahm einen Schritt rückwärts.
"Sag das nicht!" Seine etwas sehr ruppige Reaktion bemerkend und sich sofort dafür schämend, dämpfte Blue seine Stimme, die entschuldigend klang.
"Sag sowas nicht... Ich möchte nicht, dass mir die Verantwortung genommen wird. Ich weiß, du meinst es nur gut, Silver, und es tut mir leid, dass du der Leidtragende bist..."
"Wir sind alle Leidtragende", warf Silver ein, doch beendete das Thema jäh:
"Aber das ist jetzt doch auch gar nicht so wichtig. Komm, wir sollten zurück... Man wartet sicherlich auf uns."
"Silver, ich komme nicht mit zurück."
"Meine Güte, was für ein Radau", urteilte Youma, als er sich die Küche besah, nachdem sein Meeting mit Lacrimosa überstanden war und sie nun beide eine aufgewärmte Pilzsuppe aßen, die Feullé für sie beiseite gestellt hatte und nun für sie in der an der Wand angebrachten Mikrowelle erhitzt hatte - diesen Prozess hatte Youma nicht verstanden, aber er war froh über eine warme Mahlzeit, weshalb er genau wie die anderen, die die Suppe ebenfalls gekostet hatten, diese nicht kritisierte, obwohl sie ziemlich fad war... und waren die Pilze verbrannt?
"Ich entschuldige mich für mein Benehmen, aber es musste sein", antwortete Lacrimosa und erhielt sofort Zustimmung ihrer beiden Schwestern, die Youma versicherten, dass es wirklich ein "Muss" gewesen war. Lacrimosa saß nun in einem der schwarzen Sessel und bekam während des Essens ihre Frisur wieder von Feullé gerichtet, die sich dafür einen der hohen Barstühle heran geholt hatte, um die Haarhörner wieder aufzurichten, wofür sie eindeutig mehr Geschick besaß als für das Kochen, dachte Youma, als er auf einem verbrannten Champignon kaute - aber das Brot - ach nein, Baguette - war gut.
"Es war mir ein dringendes Bedürfnis, um es mit deinen Worten zu sagen. Nachdem wir beide über deren Auftrag gesprochen haben, stand mir sein frevelhaftes Verhalten wieder deutlich vor Augen und als ich ihn dann sah... tja, man muss seine Chance für einen Schlag nutzen, wenn man sie hat."
"Du hättest ihn umbringen sollen, Schwester Lacrimosa", warf Cilan ernst wie immer ein, die ihr gegenüber saß und Klariette, die auf der Lehne ihres Sessels hockte, fügte hinzu:
"Oder mit zu uns nehmen! Ich mag doch rote Haare so gerne und ich finde, uns fehlen Mädchen mit roten Haaren."
"Ich verspreche dir, Klariette, dass du den nächsten Rotschopf haben darfst", antwortete Lacrimosa und brachte ihre Schwester damit zum Strahlen:
"Darf ich ihn dann wieder ausbluten lassen?"
"Das darfst du." Was für eine nette Gesellschaft, dachte Youma, während die eigentlich recht niedlich aussehende Klariette freudig aufjubelte. So ein blutrünstiges Verhalten hatte er ihr eigentlich nicht zugetraut.
"Sag, Feullé-Schatz, kommt dein Vater eigentlich heute noch aus seinem Zimmer?"
"Oh..." Feullés Gedanken schienen kurz zum Stillstand zu kommen, bis sie plötzlich wie auf Kommando rot wurde - wahrscheinlich, weil Lacrimosa sie gefragt hatte, in dem Glauben, sie wüsste am besten über Nocturns Verhalten Bescheid. Um sich abzulenken konzentrierte Feullé sich wieder auf die Haare der Eiskönigin und antwortete leise:
"Das... D-Das weiß ich nicht." Während Youma den letzten Rest der Suppe aß, warf er einen Blick auf die entfernteste Tür, die sich mal wieder verschlossen hatte. Nachdem Nocturn Silver und Blue rausgeworfen hatte, hatte er sich erst einmal murrend den Schaden in der Küche angesehen, bis er sich dann ohne Vorwarnung oder Abschied in sein Zimmer eingeschlossen hatte.
"Na, ich denke mal, dass er nicht so schnell wiederkommen wird", antwortete Lacrimosa schnippisch, das erste aus Haaren geformte Horn in einem Handspiegel überprüfend, nachdem sie den leeren Teller auf den gläsernen Stubentisch gestellt hatte.
"Vielen Dank für das Essen, Feullé."
"Oh... nichts... zu danken, Lacrimosa."
Youma sah auf seinen Teller, während Feullé Lacrimosa antwortete: Lacrimosa hatte keinen einzigen Tropfen übriggelassen und schien auch wahrlich dankbar zu sein für diese eher spärliche Kost, bei der Youma wiederum ganz schön mit sich hatte kämpfen müssen, um alles aufzuessen...
Lacrimosa schien sich wieder Youma zuwenden zu wollen, doch etwas unterbrach ihren Gedankengang: schwere Regentropfen begannen erst leise und sachte gegen die großen Scheiben zu prasseln, bis es sich plötzlich und ohne sanften Übergang zu einem starken Regenschauer entwickelte, dessen Tropfen nun gegen die Scheiben donnerten.
Youma dachte sich nichts dabei, aber er war der einzige, der sich nichts dabei dachte: Klariette war von ihrem Sitzplatz aufgesprungen und presste sich in heller Aufregung ans Fenster. Cilan reagierte zurückhaltender, doch auch ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als hätten sie noch nie Regen gesehen - und das hatten sie auch noch nie.
"Ist das... Wasser, das vom Himmel kommt!?", rief Klariette völlig hin und weg von diesem doch eigentlich recht normalen Naturgeschehnis.
"Das nennt sich "Regen"", erklärte Cilan, den Blick ebenfalls nicht von den herunterlaufenden Tropfen abbringen könnend. Lacrimosa kommentierte es nicht, doch Youma, der ihr Profil sehen konnte, weil sie nun ebenfalls aus dem Fenster sah, bemerkte, dass sie in Gedanken weggedriftet war.
"Hat es denn in der Dämonenwelt noch nie geregnet?", fragte er, deren Teller in die Spülmaschine stellend. Lacrimosa war immer noch in ihre Gedanken vertieft, doch Cilan antwortete dem Yami, der sich wieder zu ihnen setzte.
"Nein, hat es noch nie."
"Das stimmt so nicht, Cilan." Sowohl Klariette als auch Cilan wandten sich ihrer Schwester zu, die einen merkwürdigen lethargischen Ausdruck auf dem Gesicht hatte:
"Es ist nur nicht in eurer Lebenszeit geschehen. In meiner schon. Da war ich noch eine Jungdämonin und... ja, da hat es geregnet. Einmal. Für 20 Stunden. Das war... sehr schön." Die Augen ihrer Schwestern begannen zu leuchten und zu strahlen, als Lacrimosa dies erzählte und es war deutlich, dass sie sofort mehr erfahren wollten; auch Youma war erpicht darauf, mehr von der erbarmungslosen Willkür seines namenlosen Gönners zu erfahren, doch Lacrimosa schien das Thema nicht fortsetzen zu wollen, denn sie wirbelte so heftig und entschlossen zu Youma herum, dass Feullé mit dem rechten Horn noch einmal von vorne anfangen musste, da es in sich zusammenstürzte. Überrascht pustete Lacrimosa sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und begann sofort:
"Es gibt da noch eine Sache, Youma, eine Bitte an dich- nein, eine Aufforderung." Durchdringend blickte sie ihr Gegenüber an, doch es war nicht ihre entschlossene Stimme, die ihm Aufklärung gab, denn überraschenderweise schien Feullé vor Youma zu wissen, worauf Lacrimosa hinauswollte:
"A-Aber Lacrimosa... Vater wird es nicht preisgeben. Er will nicht d-darüber reden... können wir das... nicht einfach a-akzeptieren?" Aha - also hatte Lacrimosa schon Feullé um dasselbe gebeten worum sie nun Youma bitten wollte und scheinbar war sie gescheitert oder hatte sich geweigert, auch wenn Youma sich nur schwer vorstellen konnte, dass Feullé einen Wunsch Lacrimosas nicht ausführte: immerhin waren sie befreundet und Feullé war eigentlich nicht der Typ, der einen Wunsch ausschlug.
"Nocturn-kun soll sich gefälligst nicht so zieren!", antwortete Lacrimosa mit einer bissigen Bewegung:
"Wir reden alle nicht gerne über unsere Vergangenheit, aber das hier geht nicht nur ihn etwas an." Sie sah den verwirrten Youma durchdringlich an:
"Ich möchte, dass du ihm wegen seiner Mutter auf den Zahn fühlst."
"Was? Wieso ich?" Feullé, welche immer noch hinter Lacrimosa auf dem hohen Barstuhl hockte, sah etwas verdrießlich aus - offensichtlich hatte Lacrimosa sie ebenfalls befragt und offensichtlich gefiel Feullé das Thema nicht.
"Weil du mir ja wohl keinen Wunsch ausschlagen wirst, oder, Youma?" Sie lächelte gefährlich, aber dieses Mal ließ sich Youma nicht einschüchtern, denn er wollte nicht auf eine Mission geschickt werden, die keine Hoffnung darauf hatte, mit Sieg gekrönt zu werden. Nocturn hatte ihm erst vor wenigen Stunden deutlich gemacht, dass er mit ihm nicht über seine Vergangenheit reden wollte und seine Familie gehörte sicherlich dazu.
"Ich wusste ja nicht einmal, dass er eine Mutter hat." Lacrimosas Lächeln verschwand:
"Natürlich hat er eine, du Dummchen. Du wirst seinen Worten ja wohl nicht glauben, wenn er sagt, dass er aus der Nacht geboren ist, oder?" So etwas... hatte Nocturn wirklich gesagt? Das hatte Youma noch nie gehört, aber verwundern tat es ihn nicht. Es passte zu ihm und seiner verqueren Denkweise.
"Ich war mit seiner Mutter befreundet", fuhr Lacrimosa fort, einen ernsten Blick nicht nur an Youma sendend, sondern auch an Cilan und Klariette, die beide beinahe zeitgleich nickten.
"Sie gilt als tot... und ich möchte wissen, ob das stimmt und wenn ja, wie das passiert ist."
"Und Sie glauben, dass Nocturn Ihnen bei dieser Aufklärung helfen kann?", fragte Youma sich vorlehnend, die Ellenbogen auf seine Knie abstützend.
"Ich habe nicht viele Optionen, also frage ich den Sohn."
"Aber das wissen Sie doch gar nicht... und... und... ich glaube nicht, dass Vater überhaupt ihr Sohn ist..." Youma runzelte die Stirn - sie wusste nicht einmal, ob eine Blutsverwandtschaft bestand?
"Er ist definitiv ihr Sohn." Lacrimosas Augen verfinsterten sich:
"Definitiv. Er hat keinen anderen Grund immer so überzureagieren, wenn auch nur ihr Name fällt."
"Wie lautet ihr Name?" Feullé öffnete den Mund, als wolle sie verhindern, dass er ausgesprochen wurde, aber Lacrimosa bemerkte dies nicht und sprach den Namen deutlich und mit Bedacht aus:
"Menuét."
Am anderen Ende des Appartements mit der Nummer 667 wurde ungehört und unbemerkt die Tür, die vorher nur angelehnt gewesen war, geschlossen. Die Tür wurde sogar mit einem kleinen, dünnen Schlüssel verriegelt, von spitzen, dürren Fingern, die zitterten, als dieser Name wie ein Seebeben zu ihm herübergeschwabbt war. Seine Ohren waren zu gut. Sein Gehör zu sehr geschärft. Er hatte es nicht hören wollen, aber nun war es geschehen.
Nocturn, mit der Hand noch an der Tür, wie um sich abzustützen, atmete tief ein und schloss die Augen. Er hatte aufgehört, die Gedanken von den anderen Anwesenden zu lesen: er versuchte auch ihre Aura auszuklammern, nur den Regen zu hören, dessen Klang so beruhigend war und der melancholische Reflektionen an die Wand gegenüber der großen Fenster warf.
Der Engel ihm gegenüber, dessen Anblick der Dämon nun traf, als er die Augen öffnete und das Rot seiner Augen deutlich gegen das schummrige Blau des dunkeln Raumes kontrastierte, lag im Schatten. Nocturn erkannte das Gesicht des Engels nicht, aber das Diadem Whites leuchtete auf und lenkte ihn ab - aber nur kurz, dann zeigte sich Wut auf seinem Gesicht und er stieß mit Inbrunst gegen eine nicht entzündete Kerze, als er sein Atelier durchquerte, um sich auf den breiten Fenstersims zu setzen.
Eigentlich hatte er das Drama der Brüder miterleben wollen. Aber er schottete seine Gedanken ab, anstatt seine Gedankenlesefertigkeiten zu aktiveren. Seine Wut wurde zu Melancholie, ihm entfloh ein tiefes Seufzen und er vergrub seine Wange in seinen spitzen Knien, die er an sich gezogen hatte.
"Wer interessiert sich schon für "Familie"..."
"Ich kehre nicht mit dir in Gebiet 17 zurück." Silver hatte nicht reagiert. Blue hatte es noch einmal sagen müssen, obwohl es ihm leid tat, es auszusprechen. Nein, die Worte taten ihm nicht leid. Die Worte waren es nicht, die ihn schmerzten - es war Silvers erstarrter Blick und das Zusammenzucken seines Körpers, als Blue die Worte noch einmal hatte wiederholen müssen, obwohl es doch schon beim ersten Mal wehgetan hatte.
Aber bei Silver tat es noch nicht weh. Er spürte noch gar keinen Schmerz, denn noch war er zu verwirrt. Anders als Ri-Il war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Blue in Paris bleiben wollte, dass er nicht ins Gebiet 17 zurückkehren würde, dass es... jemals etwas geben konnte, das ihn und seinen Bruder voneinander trennen könnte.
Er konnte es nicht begreifen und musste mehrere Male blinzeln, ehe er eine verwirrte Antwort geben konnte.
"Wie... du... kommst nicht zurück?" Blue blieb ernst und wiederholte es nun zum dritten Mal:
"Nein, Silver. Das tue ich nicht und ich würde dir raten, es ebenfalls nicht zu tun." Immer noch war in Silvers Gesicht nur Verwirrung zu sehen; erst als die ersten Regentropfen herunterfielen, zeigte sich Regung, aber er sprach das, was sich langsam in seinem Kopf zusammenreimte, nicht aus; plötzlich schien der Regen wichtiger zu sein.
"Meine Haare. Sie werden nass. Ich muss mich unterstellen." Blue verstand, dass er jetzt nicht widersprechen durfte und deutete auf eine Unterführung, wo sie sich dann auch schweigend hinbewegten. Doch kaum, dass der Regen sie verschonte, begann Silver:
"Du willst hierbleiben?" Seine Stimme klang betäubt. Sein Körper war starr und nur seine Lippen bewegten sich, während einige Regentropfen von seinen Haaren herunterfielen. Aber seine Finger, wie Blue bemerkte, krallten sich in die Ziegelsteine der Wand hinter ihm. Umsichtig, gar einfühlsam fuhr Blue fort, als wolle er Silver nicht erschrecken:
"Ja, ich werde hierbleiben." Nun musste er auch das wiederholen, was Silver scheinbar ausgeklammert hatte:
"Du solltest es auch in Erwägung ziehen, Silver." Blue wartete kurz auf eine Reaktion, aber er erhielt keine:
"Nocturn-sama hat es zwar nicht direkt angeboten, aber auch nicht das Gegenteil gesagt. Mit dem Einsatz der richtigen Argumente..." Jetzt sah der Rotschopf ihn bestürzt an:
""Nocturn-sama"? Ist er jetzt demnächst auch dein Sensei?!"
"Silver, das ist reine Höflichkeit..." Aber Silver wollte jetzt nicht auf Rationalität hören:
"Angesteckt von unserem Vater oder was?!" Blue wollte sich nicht mitreißen lassen von Silvers plötzlich aufschäumenden Emotionen, aber für einen Moment wollte er auch am liebsten schreien, doch er befahl sich ruhig zu bleiben, sich von diesem Vergleich nicht treffen zu lassen.
"Nein, es ist einfach nur ein Suffix." Aber Silver blieb nicht ruhig:
"Es gibt nur einen, dem ich eine solche Höflichkeit erweise und das ist Ri-Il! Wie kommst du überhaupt darauf, Ri-Il verlassen zu wollen?! Wir haben ihm doch die Treue geschworen!" Jetzt wurde es auch für Blue schwer rational und fern der überkochenden Emotionen zu bleiben, als er dies hörte - diesen Unsinn! Treue geschworen?! Niemals!
"Ja, auf Kosten unserer Leben!"
"Was redest du da eigentlich?!"
"Nein, wovon redest du?!" Blue wollte es nicht zu einem Streit eskalieren lassen; er hatte es eigentlich ganz anders geplant... er hatte es ihm eigentlich unter ganz anderen Umständen sagen wollen... aber nun spürte er, wie Dinge, die er - nein, sie schon lange unterdrückt hatten, zum Vorschein kamen, Form und Wort annahmen:
"Hast du vergessen, dass dieser Mann uns entführt hat?! Hast du vergessen, dass er wahrscheinlich unsere Eltern umgebracht hat?!" Sie hatten nie darüber gesprochen. Sie hatten es immer totgeschwiegen. Oh wie gut sie darin waren! Sie hatten diese Kunst so herrlich perfektioniert! Blue hatte geschwiegen, wenn Silver sich für Ri-Il begeistert hatte und Silver hatte es unkommentiert gelassen, dass Blue diese Begeisterung, diese Treue, dieses Loyalitätsempfinden, das im vergangenen Jahr so stark geworden war, nie hatte nachempfinden können. Oder war das schon früher der Fall gewesen und Blue hatte es nicht bemerkt?
"Das stimmt überhaupt nicht!", antwortete Silver halb schreiend mit zusammengebissenen Zähnen, während von weit her eine Sirene aufheulte:
"Du hast überhaupt keinen Beweis dafür, dass es Ri-Il war!"
"Ich werde auch höchstwahrscheinlich niemals einen bekommen, weil wir von Ri-Il sprechen!" Silver wollte sofort antworten, aber Blue war schneller:
"Wie glaubst du denn sind unsere Eltern gestorben?!"
"Ich weiß es nicht..."
"Mutter hat sich wohl kaum selbst umgebracht!", rief Blue jetzt förmlich, nicht auf die komisch dreinblickenden Passanten Rücksicht nehmend, die schnell die Straßenseite wechselten - oder darauf, dass er sich eigentlich geschworen hatte, dieses Thema niemals anzusprechen, es zu verdrängen, in sich zu vergraben, vielleicht sogar zu vergessen, obwohl diese Fragen ihn doch immer heimgesucht hatten. Was war damals in der Küche geschehen? Er wollte es vergessen, so gut vergessen, wie Silver es tun konnte, weiterleben, denn nicht alles brauchte ja eine Erklärung... es tat nicht gut das zu wissen, er sollte nicht über seine Mutter nachdenken, die in dieser großen Blutlache lag, verblutet an einer Wunde, von der Blue nie wissen würde---
"Du willst wissen wie deine Mutter gestorben ist, oder, Blue-kun?"
Blue verharrte in seinen Bewegungen, in seinen Gedanken - Silver sah es ihm an. Er sah wie starr sein Gesichtsausdruck wurde, hörte förmlich wie Blue auf einmal aufhörte zu atmen.
Das war Ri-Ils Stimme. Das war sein Kichern. Aber das war lange her. Eine Erinnerung. Aber Blue konnte sie nicht platzieren: er sah von unten zu Ri-Il empor... die Erinnerung war verschwommen, verwischt und sie schmerzte; sein ganzer Kopf zuckte beim Versuch die Erinnerung deutlicher zu visualisieren. Was war das für eine Erinnerung? Blue hatte dieses Gespräch nie geführt... er hatte dieses Thema doch nie angesprochen, er hatte sich nie getraut... Er hatte immer viel zu große Furcht vor Ri-Il gehabt. Er war immer gut darin gewesen, es zu verstecken, aber sein Herz hatte sich immer beschleunigt und er war sich sicher, dass Ri-Il das immer gewusst hatte.
Diese Erinnerung... woher...
"Blue?" Das war schon der zweite Ansprechversuch Silvers - aber dieses Mal erreichte er seinen Bruder, der sich wieder aufrichtete, nachdem er ein wenig zusammengesackt war.
"Lass uns das Thema doch bitte vergessen..." Blue, die Augen immer noch geschlossen, schüttelte den Kopf.
"Das habe ich lange versucht. Ich kann es nicht."
"Aber Ri-Il war es sicherlich nicht..." Hörte Silver sich selbst nicht sprechen? Hörte er gar nicht, wie unrealistisch seine Worte waren?
"Wenn Ri-Il uns nicht entführt hätte, dann hätten wir wie Menschen leben können." Blue wusste nicht wieso, aber er lachte hohl:
"Wir hätten nie morden müssen! Der Auftrag hätte niemals existiert! Ich hätte nie foltern müssen! Wir hätten ein normales Leben haben können, wenn Ri-Il niemals aufgetaucht wäre..." Das Lachen war weg, das falsche Lächeln ebenfalls.
"Wir wären einfach Menschen gewesen."
"Wir?! WIR, Blue?! HA!" Jetzt war es Silver, der begann zu lachen, kalt und voller Schmerz, ganz anders als Blues hohles Lachen und die Mächtigkeit dieser Kälte verschlug Blue kurz die Sprache.
"Du, als Mamas Liebling, hättest ein solches Leben sicherlich haben können! Aber ich nicht!" Und dann purzelten die Worte aus seinem Mund, ohne dass er es zurückhalten konnte:
"Ri-Il hat mich nicht entführt, Blue, Ri-Il hat mich gerettet!"
Alles verstand Blue stets schnell - doch diese Worte, die sich direkt in sein Herz gruben, diese verstand er nicht. Sie lösten zu großes Entsetzen in ihm aus, um verstanden zu werden.
"Du... du bist doch nicht etwa... froh darüber?" Auch Silvers Wut flaute ab. Er schluckte, begann mit den Haaren, die doch von seiner Mutter waren, zu spielen und antwortete dann erst zögerlich:
"Ich bin nicht froh, dass Mama tot ist, falls du das meinst. Aber ich bin froh, nicht mehr in diesem Haus in Tokyo zu sein." Blue wusste nicht, was er dazu sagen sollte; es war nicht so, dass diese Gedanken seines Bruders ihn komplett überraschten... sie sollten es jedenfalls nicht tun... aber dennoch... dennoch...
"Weißt du, Aniki..." Ein großer LKW rauschte vorbei und drohte beinahe Silvers Worte zu verschlucken, da sie sehr leise ausgesprochen gewesen waren, doch Blues Ohren waren trainiert, selbst die kleinsten Worte aufzunehmen:
"... der Auftrag hat nicht nur dich verändert, sondern auch mich und die Art... wie ich Dinge sehe. Vorher habe ich mir über viele Dinge keine Gedanken gemacht, habe viele Dinge als selbstverständlich angesehen und andere einfach komplett ignoriert oder sie mit einem Grinsen abgetan. Mir ist nie wirklich aufgefallen, wie viele Sorgen sich Mekare um uns macht. Sie hat uns richtig gern, Blue, ist dir das eigentlich klar? Rui habe ich immer nur als Nervensäge gesehen, aber auch sie macht sich Sorgen, macht sich ihre Gedanken. Sie versteht viel mehr, als man es eigentlich von ihr glaubt und ich glaube, dass auch Ri-Il uns mag und sich um uns sorgt."
"Ja, der Effektivität willen... Wir müssen funktionieren, das ist alles, was ihn interessiert. Sein Uhrwerk muss laufen..." Silver zögerte abermals, als wäre es leichter gewesen, Worte in Wut hinauszuschreien:
"Das glaube ich nicht. Also... nicht nur. Ich glaube, er hat uns ziemlich gern. Ist dir nie aufgefallen, wie viel er uns durchgehen lässt?"
"Ri-Ils Aktionen sind immer undurchsichtig." Silver tat so, als hätte er es nicht gehört:
"Im letzten Jahr ist mir das irgendwie alles bewusst geworden und ich glaube... ich glaube, das ist wegen Green-chan." Silver bemerkte, dass Blue sofort wegsah, als ihr Name fiel, doch er ließ sich davon nicht abhalten:
"... ich habe das Gefühl, dass sie mich gereinigt hat." Silver sah, dass Blue ein wenig zusammenzuckte bei diesen Worten, die für ihn sicherlich keinen Sinn ergaben, die vielleicht auch für niemand anderen Sinn machten, aber als Silver sie aussprach, da wusste er, dass er die Wahrheit sagte.
"Ohne Green-chan wäre ich immer noch derselbe Idiot wie früher... ich bin wahrscheinlich immer noch einer, sicherlich... Aber ich sehe jetzt so viel mehr, ich verstehe Dinge anders... Argh, ich kann das nicht wirklich erklären..." Blue, der die Arme abwehrend über der Brust verschränkt hatte, regte sich unruhig. Das Thema war ihm unbehaglich; er wollte Silvers Gedanken, so schemenhaft er ihr auch nur Form geben konnte, kein Gehör schenken. Aber auch wenn sie ihm nicht behagten, er antwortete nicht, unterbrach ihn nicht - als wolle er... diesen bitteren... süßen Schmerz.
"Die Hikari haben doch immer gesagt, dass Green-chan unrein war und alles um sie herum ebenfalls verunreinigt hat. Bei mir stimmt das aber nicht! Mich hat sie besser gemacht!" Ganz ohne darüber nachzudenken legte Silver die Hand auf seine Brust, sich ein wenig zu Blue vorlehnend:
"Ich würde auch alles dafür geben, wieder zusammen mit ihr in Tokyo zu sein, Blue! Aber ich habe durch Green-chan auch verstanden, dass ich noch ein Zuhause habe. Durch sie habe ich akzeptiert, wer ich bin, was ich bin... und gelernt zu sehen und zu verstehen, dass ich auch in Gebiet 17 geliebt werde; dass ich auch da Zuhause bin und dieses Zuhause..." Silvers Finger zitterten, seine Stimme ebenfalls:
"Werde ich nicht verlassen."
Blue hatte auf einen anderen Ausgang gehofft. Aber er war nicht davon ausgegangen. Vielleicht war es sogar eine halbherzige Hoffnung gewesen. Doch sie wäre schöner... viel schöner gewesen.
"Das sind sehr schöne Worte über Green..." Blue schloss die Augen und deutlich sah man ihm an, dass ihn diese Worte schmerzten - jedes einzelne von diesen:
"... und wahrscheinlich hast du recht." Silver sah ihn verwirrt und auch leicht in sich verunsichert an und er schwieg, als hätte er Angst davor, was er ihm sagen würde.
"Doch wenn sie dich gereinigt hat... dann hat sie mich verunreinigt." Die Verwirrung in Silvers Gesicht nahm zu; er wirkte sogar leicht verärgert.
"Wie kannst du so etwas über Green-chan sagen!? Ich dachte, sie sei dein..." Blue fiel ihm ins Wort:
"Licht, ja. Aber sie hat etwas... in mir geweckt, was ich vorher nicht gekannt habe."
"Das denkst du doch nur wegen diesem Spinner. Du weißt doch, dass er gut darin ist mit den Köpfen zu spielen und alles so dreht, wie er es haben will..." Blue unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln, woraufhin er den Kopf abwandte.
"Silver, das hat überhaupt nichts mit Nocturn-sama zu tun."
"Kannst du nicht aufhören mit dem "-sama"? Das ist so komisch..." Blue drehte sich wieder zu ihm herum und Silver verstummte sofort, als er den Schmerz und... die Abscheu vor sich selbst in seinem Gesicht sah:
"Es fing doch schon in Tokio an. Sobald ich sie in meiner Nähe geglaubt hatte, sobald ich glaubte, sie... und ich... eine Zukunft für uns wäre irgendwie möglich, spürte ich Dinge in mir, die ich noch nie gespürt habe." Er erinnerte sich wieder an Saiyon; an das Treffen mit ihm in Tokio, wie sein eigener Blick auf Green lag, als müsse er jede kleine Gefühlsregung an ihr überprüfen und natürlich hatte er gesehen, dass sie rot geworden war... und auch auf Silver war er eifersüchtig gewesen! Auf Silver! Nur weil Green sich Sorgen um ihn gemacht hatte! Es war so verwerflich... so hassenswert...
"...Unvernunft... Zorn.... Eifersucht.... Hass - das sind keine Gefühle, von denen ich je geglaubt hatte, dass sie in mir seien... und dass sie mich dazu bringen, Dinge zu tun, die ich nicht kontrollieren kann; dass sie mich regieren." Zitternd griff Blue sich an die Stirn und seine Finger gruben sich in seine vom Regen feucht gewordenen Haare - auch seine Augen, sah Silver mit Schock, waren...
"Ich habe schon... Grey umgebracht. Wenn es noch etwas Schlimmeres gibt, dann will ich nicht wissen, was es ist... und ich will nicht, dass es passiert. Ich will nicht... dass sie wegen mir noch mehr leidet!" Er sah auf und Silver erschrak fürchterlich, als er in sein Gesicht sah; er weinte. Sein Bruder weinte. Und er sah es, sah es und wurde immer kleiner, die Welt immer bedeutungsloser, unsicherer - Blue musste aufhören zu weinen; Silver hielt es nicht aus, ihn so zu sehen. Aber er tat nichts; er konnte nichts tun; er war komplett erstarrt und konnte nur stillschweigend mit schockierten Augen zusehen, wie eine Träne nach der anderen aus den grünen Augen seines Bruders trat.
"Ich weiß... dass ich das nicht sagen darf; dass ich von allen das geringste Recht auf diese Worte habe, aber... Silver, ich liebe sie! Ich liebe Green! Sie hat meinen klaren Verstand mit dieser Liebe verunreinigt! Ich habe versucht, es auszuschalten! Ich habe versucht, es zu unterdrücken, aber ich kann es nicht. Immer wenn ich glaube es ist weg, schlägt es mich mit noch härterer Kraft.... ich bin machtlos. Machtlos gegen all diese Gefühle, die sie in mir zu schaffen vermocht hat, anzukämpfen." Blue musste sich abstützen; erschöpft von seiner Beichte und seinen Tränen hielt er sich an der Wand fest, so wie Silver es vorher getan hatte:
"Ich kann nun nichts mehr für Green tun. Ich habe alles getan, was ich konnte... und sie ist stark geworden." Blue lächelte; ironisch und traurig, mit dem salzigen, ungewohnten Geschmack seiner eigenen Tränen. Es war so ungewohnt, sich selbst weinen zu spüren. Das hatte er so lange unterdrückt...
"Jetzt braucht sie mich nicht mehr... und alles, was ich jetzt noch für sie tun kann, ist sie ihr Leben leben zu lassen." Und gerade als Blue und Silver geglaubt hatten, dass die Tränen versiegt waren, kamen sie mit noch größerer Härte wieder. Blue biss sich die Zähne zusammen, doch war genauso wenig wie Silver in der Lage, etwas gegen die Tränen zu tun:
"Ich weiß, dass es das Beste ist, aber warum... warum tut es so weh, Silver? Warum schmerzt es mich so, warum zerreißt dieser Gedanke mich, wenn mein Kopf mir doch sagt, dass ich das logisch Richtige tue?! Ich darf nicht bei ihr sein, ich sollte es nicht wollen!" Blues Beine hielten ihn nicht länger und gerade als seine Knie einzubrechen drohten, waren Silvers Arme da, um ihn zu halten. Dieses Mal wurde Silver nicht weggeschickt. Es wurde nichts gesagt. Die Tränen fielen in Schweigen, wurden aufgefangen von dem Stoff von Silvers Uniform und von seinen roten Haaren, die von einem leichten Windstoß erfasst wurden in dem Moment, als Blue sich bebend an Silver festzuhalten begann.
Die beiden Halbdämonen wollten sich nicht trennen und da sie beide Angst vor dem Abschied hatten, begleitete Silver Blue zurück zu dem Hochhaus, dessen gläserner Eingang hell erleuchtet war. Blue ging vor, Silver ihm hinterher, auf seinen Rücken sehend. Die Wut, die sie vorhin noch dazu gebracht hatte, sich so laut anzuschreien und Dinge zu sagen, die sie eigentlich nie hatten sagen wollen, war wie aus einer anderen Welt. Silver fühlte sich wie betäubt, aber er fühlte... dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte und er versuchte nicht, Blue seine Entscheidung auszureden, obwohl er absolut davon überzeugt war, dass es die falsche war. Doch seine Zunge war genauso betäubt wie seine Seele, als hätte sie schon genug an diesem Abend gesagt, was sie eigentlich nicht hatte sagen wollen. Er trottete seinem großen Bruder hinterher, wie er es schon so oft getan hatte und wartete darauf, dass er etwas sagen würde. Als Blue es dann endlich tat, kurz bevor sie den Lichtkegel der Rezeptionsbeleuchtung betraten, war er ein wenig überrumpelt.
"Ich denke du hast recht, Silver." Der Angesprochene wollte gerade fragen, wobei er denn recht hatte, als Blue sich herumdrehte und fortfuhr:
"Green... allgemein die Zeit in Tokyo... hat dich, uns, wirklich verändert und nie können wir zu denen zurückkehren, die wir einmal waren." Silver versuchte, es positiv zu sehen und zu lächeln, obwohl Blues traurige Gesichtszüge ihm eigentlich keinen Grund dazu gaben.
"Und auch wenn ich deine Entscheidung, Ri-Il zu vertrauen und davon überzeugt zu sein, dass er uns "mag" für so ziemlich das dämlichste von dir halte, was ich jemals gehört habe..." Nun sah Blue ein bisschen weniger traurig aus... immer noch ein wenig... aber auch... stolz?
"... du bist erwachsener geworden, während ich weggeguckt habe." Silver wurde augenblicklich rot, während Blue die Augen niederschlug und ein wehmütiges Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete.
"Du und Green... ihr steht nun beide auf eigenen Füßen." Er holte Luft und fuhr dann leise fort:
"Ich bin sicher, dass du und Green..., dass ihr beide sehr gut alleine zurechtkommen werdet." Und dass er, genau wie Silver, die richtige Entscheidung getroffen hatte. Weil er nicht aufhören konnte, an Green zu denken... weil er nicht aufhören konnte es zu tun, war es besser einen anderen Weg einzuschlagen als Silver, damit er auf seinem eigenen Weg sicher sein konnte. Blue wollte Silver nicht mit runterziehen.
"Nein, das ist nicht wahr! Wir brauchen dich..." Silvers Worte vergingen im Nichts, im Schweigen, denn er wusste... er konnte nicht für Green sprechen und das wusste auch Blue.
"Es tut mir leid, dass ich das Thema überhaupt angesprochen habe. Ich wollte nicht, dass du..." Auch diesen Satz konnte er nicht zuende bringen. Auch wenn es gerade geschehen war und Silver immer noch zu spüren schien, wie Blue und er sich umarmt hatten, konnte er nicht aussprechen, dass Blue geweint hatte.
"Schon gut, Silver." Blue versuchte tatsächlich für ihn zu lächeln, aber Silver war so gar nicht nach einem Lächeln zumute, als sein Bruder einen Schritt rückwärts nahm und die automatische Glastür sich hinter ihm auseinanderschob. Er wollte Blue am liebsten festhalten...
"Das ist kein... Abschied für immer, oder? Kein Lebewohl?" Blue, immer noch mit einem gezwungenen Lächeln, schüttelte den Kopf.
"Natürlich nicht, du Idiot. Wir werden uns sehen, wann immer es möglich ist." Und dann drehte Blue sich herum, ehe noch mehr Tränen fielen.
"Ich werde von weitem auf euch aufpassen."
"Also, Youma..." Lacrimosa drehte sich noch einmal im Eingangsbereich der Wohnung herum, wohin Youma und Feullé die drei Besucher aus der Dämonenwelt gerade geführt hatten - dieses Mal würden sie sich von dort zurückteleportieren, wo es sich gehörte.
"Wenn du Menuéts Namen hörst, dann sagst du mir auf jeden Fall Bescheid."
"Warum sollte er es mir sagen, wenn er es niemand anderem sagt? Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass ich ihnen jemals etwas mitteilen könnte?" Youma bemerkte, dass Feullé, die gerade von Cilan und Klariette umarmt wurde, dem Gespräch der beiden mehr folgte, als dass sie sich in die Umarmung fallen ließ: aber sie sagte nichts.
"Vielleicht rutscht es ihm ja mal heraus." Youmas gerunzelte Stirn sah sie nicht, denn jetzt umarmte sie Feullé zum Abschied. Als ob es Nocturn "aus Versehen" rausrutschen würde!
"So-Soll ich Vater... Bescheid sagen?", fragte Feullé, als sie ihre Stimme wiederfand, denn Lacrimosa hatte sie sehr innig an sich gedrückt, welche nun in die Richtung von Nocturns Zimmer sah, woraufhin sie den Kopf schüttelte.
"Ach, nein, lass mal, Feullé-Schatz. Er ist sicherlich in irgendeine kreative Arbeit vertieft." Nun war Youma an der Reihe:
"So, mein Hübscher. Du weißt hoffentlich, was du zu tun hast; ich erwarte Ergebnisse und bin schon sehr gespannt, was du mit der Kritik anfangen wirst. Die Welt blickt auf euch! Also lass sie auch was sehen." Youma deutete ein Nicken an:
"Ich danke Ihnen vielmals für Ihr Kommen und ich verspreche Ihnen, dass ich wegen Menuét-san Ohren und Augen offenhalten werde, auch wenn ich nicht glaube, dass..."
"Das freut mich zu hören." Dann gab sie ihm überraschend einen Kuss auf jede Wange und fügte mit einem Zwinkern hinzu:
"Ich habe gehört so machen das die Menschen hier! Sollte deine Verlobte dir jemals Probleme machen, dann darfst du gerne zu mir kommen und dich ausweinen, hihi!"
Mekare wartete auf Silver am Hintereingang von Ri-Ils Anwesen, weil sie wusste, dass Silver und Blue immer diesen benutzten. Eigentlich hatte sie zu einem Kunden gemusst; eigentlich sogar zu zweien. Aber sie hatte abgelehnt und Ri-Il hatte sie nicht gezwungen, sie nur darauf hingewiesen, dass er das nur einmal durchgehen lassen würde und... dass Mekare nur auf einen der beiden warten brauchte, obwohl sie ihm gar nichts von ihrem Vorhaben erzählt hatte.
Mit einem roten japanischen Schirm stand sie am Eingang, denn an diesem Tag fegte mal wieder ein etwas ungnädiger Sandsturm über die hohen Mauern, die das Anwesen umgaben. Sie schützten zwar vor dem gröbsten, aber...
Mekares Herz schien ihr in der Brust stehenzubleiben, als sie, genau wie Ri-Il es gesagt hatte, Silver alleine sah - als sie sein Gesicht sah. Der Schirm wurde achtlos auf dem Steinboden fallen gelassen und schon schlossen sich ihre Arme um Silver, der ihre Umarmung noch nie so dankbar erwidert hatte.
Er entschuldigte sich bei ihr; entschuldigte sich ganz, ganz oft bei ihr und genauso oft sagte sie ihm "schon gut"... und während diese Worte hin und her gingen und Ri-Il Lycram unter den Tisch getrunken hatte, huschte dieser in die Gedanken seines Zöglings, ehe er dem protestierenden Fürstennachbarn auf die Beine half. Ein Gedanke war dort wirklich sehr deutlich. Er wiederholte sich immer und immer wieder und wurde stärker von Mal zu Mal.
"Ich schwöre, dass wir wieder zusammen sein werden, Aniki, Green-chan! Ich schwöre, dass ich es ungeschehen mache; ich schwöre, dass wir wieder zusammen lachen werden!"