Kapitel 92 - Youmas Lektion über zwischendänonische Beziehungen
Youma hätte eigentlich auf den Besuch von Lacrimosa, Klariette und Cilan vorbereitet sein müssen, immerhin hatte sie ihn vorgewarnt, dass sie jetzt in Zukunft bei ihnen aufschlagen würde, anstatt dass Youma und sein Partner das eisige Gebiet der Schneekönigin besuchen würden. Aber... das war gestern gewesen. Youma hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre Worte jetzt schon umsetzen würde. Obwohl Youma Nocturn gar nichts davon erzählt hatte - genauso wenig wie davon, dass sie nicht länger in Lacrimosas Gebiet trainieren konnten - reagierte der Flötenspieler keineswegs überrascht über den Besuch der drei Dämoninnen. Dieser hatte nichts Besseres zu tun als Lacrimosa darauf hinzuweisen, das nächste Mal zu klingeln, anstatt sich einfach unhöflich hinein zu teleportieren, wofür er sich prompt böse Blicke ihrer beiden Mädchen erntete, die seinen Tonfall wohl zu schnippisch fanden. Lacrimosa achtete allerdings gar nicht auf Nocturn: ihre Aufmerksamkeit galt ganz allein Blue, den sie so finster ansah, als wäre er ihr neuernannter Erzfeind.
Statt diese Feindschaft allerdings zum Ausdruck zu bringen, breitete sich ein gekünsteltes Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie richtete sich an Youma, der zusah wie sie ihre Hand nach ihm ausstreckte und diese unter seinem Kinn platzierte, um Youmas Gesicht mit einem festen und kalten Griff anzuheben:
"Wir beide haben definitiv etwas zu besprechen, mein Lieber." Sie achtete nicht darauf, dass Youma errötete; sie achtete auch nicht auf die anderen Anwesenden im Flur oder darauf, dass Youma gänzlich erstarrt war über diese plötzliche Berührung, die ihn ein wenig überrumpelte - noch mehr wurde er aber überrumpelt, als sie sich plötzlich in seinen Arm einharkte und ihn durch den Flur und die anschließende Stube zum Balkon führte, als wäre sie in diesen vier Wänden zuhause.
"Feullé-Schatz, ich muss heute leider auf dein Essen verzichten, ein anderes Mal: und Youma hier hat keinen Hunger, nicht wahr?" Eigentlich hatte er es schon, aber der eingespannte Halbdämon wagte es nicht zu protestieren, denn er kannte die Aura, die Lacrimosa umgab nur allzu gut; sie war auf die gleiche Art wütend wie Silence es war, weshalb er wusste, dass er sich lieber zurückhalten sollte - und scheinbar hatte auch niemand anders vor, Lacrimosa aufzuhalten: Nocturn lachte sogar ein wenig amüsiert, ehe er Cilan und Klariette zum Abendessen einlud.
"Ah, Paris, die Stadt der Liebe!", hauchte Lacrimosa in die kühle Abendluft hinein und spähte zum Eiffelturm, der hinter den anderen Hochhäusern deutlich hervorstach, als dürfte und könnte keines der Häuser ihn verdecken. Nach wie vor hatte sie Youmas rechten Arm fest im Griff und schien keine Anstalten zu machen, ihn gehen zu lassen - und er versuchte es gar nicht erst. Sie lächelte zwar, aber Youma meinte immer noch Wut zu hören.
"Das ist schon wirklich eine schöne Stadt und Nocturn hat für eine tolle Aussicht gesorgt; ich wette, die Miete ist unbezahlbar." Nach wie vor wagte er es nicht, irgendetwas zu sagen - er hätte auch nicht gewusst, was - ihr Tonfall hörte sich genauso an wie Silence' und als sie sich zu ihm herumwandte, sah er hinter ihrem charmanten Lächeln die gleiche Drohung, dass wenn er etwas Falsches sagen würde, sie ihm den Hals umdrehen würde. Frauen konnten wirklich... beängstigend sein.
"So, Youma, mein Lieber... jetzt erzählst du mir, wie ihr gerade auf die Idee kommt, euch Ri-Ils Schoßhündchen anzulachen." Ah, es handelte also um den Halbdämon...? Deswegen war sie so wütend? Aber warum auf ihn?!
"Es war nicht meine Idee und ich bin auch definitiv nicht begeistert, das müssen Sie mir glauben, Lacrimosa-san..." Weiter kam Youma nicht und während Lacrimosa fortfuhr wurde ihr Lächeln breiter und gefährlicher:
"Und warum hast du es dann nicht verhindert?" Ihr Griff wurde fester, wie ein eiserner Klammergriff, ihr Lächeln noch bedrohlicher - war das kalter Schweiß in seinem Nacken?
"Also..." Seine sehr unkonkrete Antwort brachte sie zu ihrer Attacke: einem sehr gut platzierten, aufgebenden Seufzen und einem theatralischen Wegdrehen.
"Youma, Youma, Youma, ich setze so viele Karten auf euch, könntest du also bitte mehr Arsch in der Hose zeigen?"
"Bitte, was?" Lacrimosa seufzte abermals, himmelte mit den Augen und warf dann ihre Arme auf das Geländer, dann schwieg sie kurz; offensichtlich missgestimmt - und Youma war verwirrt und errötete abermals. Was hatte denn sein Gesäß mit irgendetwas zu tun...
"Nocturn wollte unbedingt, dass Blue einsteigt, oder?" Youma konnte nichts anders tun als dies zu bestätigen, immer noch verwirrt.
"Und das sicherlich nicht wegen Black... och, ich Dummchen, ich hätte ihm nichts von dem Auftrag erzählen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass das sein Interesse wecken würde." Eigentlich hatte Lacrimosa geglaubt, dass Blue nicht mehr unter den Lebenden weilte... Lycram hatte so etwas erwähnt und auch wenn er besoffen gewesen war, eigentlich waren seine Informationen, die aus Gebiet 17 stammten, immer verlässlich, ganz egal wie tief er ins Glas geschaut hatte. In der Regel ging er sehr bescheiden mit seinen Informationen über Ri-Il um, aber die Halbdämonen schienen ihm nicht so wichtig zu sein und nachdem man die beiden Halbdämonenbrüder nie zusammen auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, hatte Lacrimosa sich gewundert. Laut Lycram hatte der Ältere eine tödliche Lichtattacke abbekommen... na, tödlich schien sie nicht zu sein, dachte Lacrimosa und warf einen unauffälligen Blick durch das Fenster in die Küche, wo Feullé Blue gerade einen Teller mit dampfender Suppe reichte. Er sah etwas erschlagen aus und seine Aura war auch nicht sonderlich stark im Moment, aber er lebte definitiv. Pah, Green hätte definitiv besser treffen sollen... ah, daran hatte Nocturn also die ganze Zeit gearbeitet! Dieses verdammte Spielkind!
"Auftrag?" Lacrimosa machte eine genervte Handbewegung in die Luft hinein, als würde sie Fliegen verscheuchen und sah wieder zu Youma.
"Ja. Er und sein Bruder hatten jahrelang den Auftrag, sich bei der Hikari einzuschmeicheln, ihre Freundschaft und Zuneigung zu gewinnen, damit sie ein Band schaffen konnten, das stark genug war, um das Glöckchen der Hikari zum Brechen zu bringen. Von innen. Das war eine Theorie von Ri-Il... die sich bewahrheitet hat." Unwillkürlich und aus Reflex griff Youma an sein eigenes, das gehütet und verborgen unter seiner Uniform lag. Lacrimosa hatte es nicht bemerkt und als Youma seinen Reflex realisierte, zwang er sich sofort, sein Glöckchen wieder loszulassen. Man konnte es zerstören? Von innen? Was?! Wie!?
"Sie sollten die Hikari umbringen, aber das wiederum lief nicht ganz nach Plan, was für einiges an Aufsehen gesorgt hat. Der ganze Auftrag war eine gemeinsame Sache von uns Hohen, aber Ri-Il war der Hauptverantwortliche. Zwar haben wir den Plan zusammen geschmiedet, aber es war Ri-Il, der seine beiden Schüler vorschlug, um ihn auszuführen und der uns auch mit den nötigen Informationen versorgt hat." Sie seufzte und in diesem sowie in ihrer Stimme lag etwas sehr Bitteres, etwas sehr Unzufriedenes... nein, es war mehr: als würde das Thema selbst sie anwidern. Sie hatte ihm schon öfter zu verstehen gegeben, dass sie Ri-Il als einen großen Feind betrachtete, vor dem sie Youma schon oft gewarnt hatte. Manchmal sprach sie direkt schlecht von ihm: andere Male schwieg sie, als wäre es ein unangenehmes Thema, genau wie dieses, was sie nun besprachen.
"Eigentlich kann man mehr sagen, dass es Ri-Ils eigene Agenda war... wir haben sie nur unterstützt, finanziell, materiell und haben auch Einblick in die Berichte erhalten und im Endeffekt hätten wir natürlich auch davon profitiert, wenn es denn überhaupt wahr war, dass das Mädchen den Bannkreis brechen konnte und würde... wer weiß schon, was bei Ri-Il stimmt." Sie schüttelte den Kopf und nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch in ihrer ganzen Körpersprache machte sie deutlich, dass sie ganz gewiss nicht für diesen Auftrag, dessen gesamte Tragweite Youma nur im Ansatz verstand, gewesen war.
"Ich denke, du verstehst, warum ich dir das hier erzähle?" Sie drehte den Kopf herum und ihr abschätzender Blick lag eindeutig auf Blue, der ganz außen, rechts neben Nocturn saß.
"Es waren zwar beide Brüder, die den Auftrag ausführten, aber Nocturn hat euch den Schlimmeren der beiden ins Haus geholt. Er ist ein Spion." Sie setzte nach:
"Er ist ein von Ri-Il ausgebildeter Spion." Lacrimosa und Youma sahen sich kurz ernst in die Augen, dann glitten ihre Augen wieder zu Blue:
"Ich weiß, er sieht unscheinbar und harmlos aus, aber täusch dich nicht und lass dich auch nicht von seiner Aura in die Irre führen. Er ist definitiv mehr Dämon als Mensch und ein Meister darin, sich zu verstellen. Er hat gut von Ri-Il gelernt... Fünf Jahre lang hat er die Hikari ununterbrochen beschattet und alles verflucht akribisch festgehalten, was es festzuhalten gab. Er hat das dumme, arme Mädchen dazu gebracht, dass sie sich in ihn verliebt - und sie dann später, als wir Hohen forderten, dass er uns seine Treue beweisen sollte, mit dem Glöckchen gefoltert, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl er fünf Jahre lang ihr angeblich "Vertrauter" war. Der Junge ist genauso kaltblütig wie sein Lehrmeister."
"Gefoltert? Mit dem... Glöckchen?" Youma musste seine Stimme unter Kontrolle bringen: eigentlich brauchte er etwas zu trinken, denn seine Kehle war trocken geworden bei dieser Vorstellung. Mit dem Glöckchen gefoltert... dieser unscheinbare Halbdämon?! Das konnte Youma sich kaum vorstellen... aber Lacrimosa wandte sich ihm wieder zu und überzeugte ihn dann ziemlich schnell:
"Du bist doch ein Halbwächter; dir ist doch das Band zwischen Hikari und deren Glöckchen bekannt?" Youmas Griff um das Geländer festigte sich, als er nickte. Er musste sich entspannen... er verhielt sich viel zu auffällig für jemanden, der eigentlich kein Glöckchen trug. Er hatte Glück, dass sie seinen Impulsgriff vor ein paar Minuten nicht bemerkt hatte!
"Dann weißt du doch sicherlich auch, dass man die Hikari damit foltern kann?" Nein, das... wusste er nicht, aber es forderte nicht viel Überzeugungskraft, um es ihn vorstellen zu lassen. Yami waren nicht anders als die Hikari, wenn es um ihr Glöckchen ging. Sie waren alle Glöckchenträger und als solcher mochte auch er es nicht, wenn andere sein Glöckchen berührten; er hatte es nie gemocht, genauso wenig wie Silence es gemocht hatte. Nur manchmal, Youma erinnerte sich noch gut daran, hatten sie, um sich gegenseitig zu beruhigen und zu beschützen, das Glöckchen des jeweils anderen in der Hand gehalten... und waren so abends eingeschlafen.
Einmal hatte eines der Wächterkinder... dieser verfluchte Erdwächter... Youma mit seinem Glöckchen... ärgern wollen. Als Youmas Reflexe noch nicht so ausgebaut waren wie jetzt, weil ihm das Kämpfen und das Trainieren seiner Fähigkeiten verboten gewesen war, war es dem Erdwächter gelungen, ihm sein Glöckchen wegzunehmen. Lautstark hatte der Erdwächter verkündet, dass es ihm doch gar nicht zustände, weil er kein Hikari war und doch nur Hikari Glöckchen tragen durften. Es war so demütigend gewesen... Youma war nicht im Stande gewesen sich zu wehren, sein Glöckchen zurückzuerlangen, weshalb er ihn voller Furcht, er würde es ihm nicht wiedergeben... vielleicht sogar beschädigen... angefleht hatte, es ihm wieder zurückzugeben. Warum war sein Dämonenblut nicht damals schon revoltierend aufgewacht? Wäre es aktiv gewesen, hätte er nicht im Staub kriechen müssen, darauf hoffend und flehend, dass Light doch kommen möge, um ihn zu retten.
Das Ganze hatte nur 10 Minuten gedauert - Light war tatsächlich gekommen und sich - ha - ziemlich erschüttert gezeigt - aber es hatte ausgereicht, um Youmas Bindung mit seinem Glöckchen nachhaltig zu verändern. Natürlich war er vorher schon empfindlich gewesen, so wie es alle Glöckchenträger waren - aber seitdem hatte er es niemals mehr andere außer Silence sehen lassen. Er trug es immer unter seiner Kleidung.
"Welches Element hast du eigentlich?", hörte er Lacrimosa vorsichtig fragen. Sie hatte bemerkt, dass er in Gedanken versunken war... und Youma wusste nicht warum, aber aus der Sehnsucht nach seiner Familie, Silence, Harmonie und Geborgenheit und vielleicht dem plötzlichen Drang nach Trost, weil er in dieser unendlichen Einsamkeit, die ihn jäh umspülte unterzugehen drohte, antwortete er leise:
"Eines, welches schon längst verloren gegangen ist..."
Er wäre gerne tot. Er wäre so gerne schon tot. Er hatte jetzt definitiv keine Suizidwünsche und gewiss nicht jetzt vor zu sterben, aber wie sehr er sich wünschte, nicht in dieser Zeit zu sein. Wie sehr er sich wünschte, die Illusion, an die er so lange geglaubt hatte, wäre einfach intakt geblieben. Silence und er hätten geheiratet, sie hätten Kinder gehabt, die er vor jedem Mobbing beschützt hätte und er hätte noch... er hätte noch an Lights Liebe geglaubt. Er hätte ihm noch sein blindes Vertrauen geschenkt. Sie wären glücklich gewesen und irgendwann wären sie einfach gestorben, nach einem langen, guten Leben.
Er wäre gestorben, als die Welt noch Aeterniem hieß; so hätte es sein sollen.
Stattdessen war er nun in dieser Zeit, in die er nicht gehörte, die schon viele Kriege erlebt hatte, die Gebote und Verbote erhoben hatte, die Glöckchen zum Foltern missbrauchten, alle unterschiedliche Sprachen benutzten und....alles andere als glücklich, getrennt von Silence, die ihn zu recht mit Kälte und Wut bestrafte und keine Liebe mehr für ihn empfand - aber, ha, er kannte die Wahrheit! Er lebte nicht mehr in Illusionen!
War es das wirklich wert gewesen?
Lacrimosa legte ihre Hand auf seine Schulter; ein fester Griff, aber sanft und obwohl Youma sich sträubte, Silence als Argument vorbrachte, legte sie den Arm um ihn - so waren Frauen. In einem Moment beängstigend und im nächsten die einzigen, die Trost geben konnten.
Im gleichen Augenblick landete Silver direkt unter dem nun hell erleuchteten Eiffelturm. Er hatte in aller Eile nicht daran gedacht, sich umzuziehen, sich menschliche Kleidung anzulegen, aber die riesige Menge an Touristen hatte ohnehin nur Augen für den Turm, der zwar für Besichtigungen und Besteigungen bereits geschlossen war, aber dennoch unzählige Touristen unter sich sammeln konnte. Es wurde geknipst, Gruppenfotos gemacht und zwielichtige Gestalten versuchten, Mini-Eiffeltürme zu verkaufen. Ob diese Touristen sich auch so um den Turm in Lerenien-Sei tummeln würden? Im Prinzip waren sie beide einfach nur... Türme.
Aber Silver war nicht zum Sightseeing hier. Was hatte Ri-Il gesagt? Er musste zum Fluss schauen... okay, hinter ihm war ein Park... dann musste er also in die andere Richtung gucken und einige Schritte weiter, den Platz unter dem Eiffelturm hinter sich lassend, stand Silver auch schon an einer Kreuzung, die zu einer Brücke führte; demnach war darunter natürlich das Wasser. Also - nach links.
Nur noch fünfzehn Minuten und er war bei Blue.
Und wenn er sich beeilte, dann waren es nur zehn.
Youma verspürte größte Verlegenheit, als Lacrimosa ihren Arm wieder von ihm wegzog; er hätte sich diesen kurzen Moment der Schwäche verkneifen müssen, hätte nicht zulassen dürfen, dass er hervorbrach. Er hatte gar nicht an Aeterniem denken sollen, nicht so intensiv, nicht so sehnsüchtig... erst recht nicht, wenn Lacrimosa Zeuge davon wurde. Aber sie kommentierte das eben Geschehene nicht, belächelte die Offenbarung seiner Schwäche nicht; sie sah ihn nur kurz an, wie um sicherzugehen, dass alles wieder in Ordnung war - und dann lenkte sie das Thema zu dem eigentlichen zurück, als wäre nie etwas geschehen:
"Hat Nocturn-kun seine Entscheidung Blue aufzunehmen begründet?" Youma, dankbar über den Themenwechsel und dass Lacrimosa nicht weiter nachbohrte, schüttelte sachte den Kopf.
"Er hat keinen Grund genannt, der nachvollziehbar wäre." Lacrimosa studierte Youma scharf, welcher sich diesen strengen Blick nicht so ganz erklären konnte.
"Hast du versucht, ihn davon abzubringen? Du wirst verstehen können, dass ich kein besonders großes Interesse daran habe mit euch zu kooperieren, wenn Ri-Ils Schoßhund bei euch wohnt."
"Ja, ich habe es versucht und glauben Sie mir, ich bin auch nicht begeistert. Aber ich glaube nicht, dass er davon abzubringen ist." Lacrimosa grummelte missgestimmt.
"Nein, das befürchte ich ebenfalls. Nocturn-kun braucht sein Spielzeug." Das war... eine eigenartige, aber doch recht passende Umschreibung, dachte Youma mit Augen, die er Richtung Himmel sandte. Vielleicht war es für ihn - im Alltag - gar nicht so schlecht, dass Blue da war - im vergangenen Monat hatte Nocturn ihn immerhin beinahe gänzlich in Ruhe gelassen und diese Ruhe war definitiv angenehm gewesen.
"Spielt er eigentlich?" Youma sah sie stutzend an:
"Was meinen Sie?" Woraufhin Lacrimosa die Stirn runzelte:
"Ob er auf seiner Flöte spielt, du Dummchen. Was soll ich denn sonst meinen?"
"Ich weiß nicht, ob er spielt. Ich habe ihn noch nie darauf spielen gehört oder gesehen." Tatsächlich hatte Youma schon angefangen zu glauben, dass die Flöte, die Nocturn auch jetzt auf dem Rücken trug, ein reiner Dekorationsgegenstand war - wenn er denn überhaupt darüber nachdachte.
"Ah, ich verstehe." Wieder sah sie ihn so nachdenklich mit ihren gelben Augen an, mit denen sie ihn eindringlich studierte: kein Blick, der Youma gefiel. Irgendwie... sagte er ihm, dass er falsch geantwortet hatte oder etwas Falsches getan hatte. Jedenfalls hatte seine Antwort sie zum Nachdenken gebracht.
"Du holst dir jetzt einen Stift und Papier, mein Hübscher." Youma konnte ihr nicht folgen und da auf ihre Aufforderung hin nichts geschah, wurde sie etwas nachdrücklicher:
"Hast du mich nicht gehört? Einen Stift!"
Die Wegbeschreibung Ri-Ils hatte so einfach geklungen; wie war es da möglich, sich zu verirren?! Als Silver endlich vor dem richtigen Hochhaus stand, wusste er wieder, warum Blue immer die Orientierung übernommen hatte: das hatte definitiv länger gedauert als zehn Minuten... aber es gab hier auch so viele Hochhäuser! Und die sahen alle gleich aus! Die waren nur unterschiedlich hoch, aber eigentlich sahen die doch wirklich alle gleich aus... gut, das links von ihm war rot, aber... egal! Er war angekommen.
Aber dann folgte das nächste Problem, wo Ri-Il ihn definitiv nicht vorbereitet hatte. Die Sprachbarriere. Silvers Vokabular, was Französisch anging, streckte sich von "Amour" zu "Merci" - und wenn man es genau nahm, waren das auch die einzigen zwei Worte, die er auf Französisch beherrschte; na gut, ein "Bonjour" gehörte dann auch noch zu seinem Vokabular, welches er dann, gepaart mit seinem charmantesten Grinsen auch der jungen Frau vortrug, die hinter der Rezeption des Hochhauses saß, in welchem der verrückte Flötenspieler wohnte. Die unscheinbare Brünette war gerade in ein Werbeprospekt der Gallerie Lafayette vertieft - das teuerste Kaufhaus, was Mode anbelangte, kannte Silver natürlich - und sah nicht danach aus, als hätte sie besonders viel Lust dazu aufzusehen.
Wahrscheinlich wusste die junge Frau sofort, dass es sich bei Silver um einen Ausländer handelte, denn als sie ihre Augen von dem Prospekt erhob, war sie schon skeptisch. Bedeutete sein falsch ausgesprochenes "Bonjour" eigentlich "Guten Tag" oder "Guten Abend"? Hoffentlich letzteres... aber offensichtlich nicht:
"Bonsoir, Monsieur. " Und sein gutes Aussehen zog nicht. Sie war nicht von ihm angetan. So absolut gar nicht. Oh, das war schlecht.
Ganz schlecht.
Natürlich wagte Youma es nicht zu widersprechen und tat sofort das, was Lacrimosa von ihm verlangt hatte. Er flitzte in sein Zimmer, ohne von den Essenden besonders große Notiz zu nehmen, die aber alle - bis auf Nocturn - aufsahen und dem hastigen Yami hinterhersahen, welcher sich nun Papier und Stift von seiner bereits überfüllten Kommode nahm und dann schon die neun Stufen regelrecht herunter sprang, die das ehemalige Schlafzimmer vom Rest der Wohnung trennten.
Kaum, dass er die Balkontür geöffnet hatte und Lacrimosa sich mit einem prüfenden Blick vergewissert hatte, dass er ihrer Aufforderung nachgegangen war, begann sie auch schon ohne Umschweife, noch ehe Youma den Stift überhaupt angesetzt hatte:
"Ich denke du weißt, dass ich ein Zufluchtsort für alle Frauen der Dämonenwelt bin. Ich habe eine sehr große Verantwortung zu tragen, der ich gerecht werden will." Youma schwieg, weil... ja, das wusste er. Das war ihm durchaus bewusst.
"Ich unterstütze dein Vorhaben, Dämonenkönig zu werden, aber ich setze das Leben meiner Schwestern nicht für irgendetwas aufs Spiel! Im Moment finde ich euch beide alles andere als überzeugend, aber ich hoffe, dass sich das ändern wird, also hör mir mal gut zu, denn ich glaube, du hast einige grundlegende Dinge nicht ganz verstanden, mein Hübscher: Du bist gar nichts." Youma, der den Stift eigentlich gerade angesetzt hatte, sah auf.
"Was?"
"Es stimmt leider. Du bist ein Nichts", fuhr Lacrimosa fort, seinen unzufriedenen Blick nicht beachtend und ihn mit einer Handbewegung dazu auffordernd, wieder auf das Papier zu sehen:
"Schreib das auf und setz einen Strich unter "Nichts". Denn, tut mir Leid, aber es ist die Wahrheit. Niemand kennt dich und wenn sie dich kennen, dann bist du einfach nur "der Wächter" und - das wird in deinen Ohren sicherlich wehtun - es ist ziemlich scheiße dafür bekannt zu sein, ein Wächter zu sein. Aber das ist nun einmal so und damit müssen wir arbeiten. Du hast eine ganz tolle Aura, ja und ein gutes Aussehen - aber wenn du glaubst, das ist alles, was du in unserer Welt brauchst, dann hast du falsch gedacht."
"Ich habe meine äußere Erscheinung nie..."
"Ruhe, ich rede. Du schreibst." Youma zögerte, aber er folgte ihrer Aufforderung. Sie erinnerte ihn wirklich immer mehr an Silence...
"Doch du hast etwas, das all Nachteile ausbessert - oder eher ausbessern könnte: Du hast Nocturn an deiner Seite als deinen Partner. Aber verflucht noch mal, du nutzt das Potential nicht! Weißt du, was das beste ist, was ihr bis jetzt getan habt? Lerous Krone klauen! Und was tust du, du Idiot?! Du wolltest ihn aufhalten!"
"Woher wissen Sie das eigentlich?! Sie waren doch gar nicht anwesend zu diesem schrecklichen Diner..."
"Unterbrich mich nicht, schreib! Karou hat mich auch nicht gesehen bei seinem geheimen Treffen mit den schießwütigen Geschwistern, oder? Ich habe meine Mittel und Wege; mehr brauchst du nicht zu wissen. Außerdem hat das die Runde gemacht; eine große Runde um genau zu sein, weil es in Lerenien-Sei geschah. Beim Diner waren alle Fürsten anwesend und viele hatten ihre Kommandeure im Schlepptau... Das war unbeabsichtigt genau das richtige Timing für einen Schaukampf." So langsam hatte Youma nicht mehr das Gefühl, dass dieser Kampf ein Zufall gewesen war: Sie ließ es nicht so klingen... ob Nocturn und sie etwas abgemacht hatten...? Aber sie hatten doch nicht damit planen können, dass Youma ausrastete, oder doch?
"Viele fragen sich, ob das Rauben von Lerous Krone bedeutete, dass Nocturn endlich unseren jetzigen König vom Thron befördern wird." Sie machte einen weiteren, unwirschen Wink auf seine Notizen, als sie sah, dass er nicht schrieb:
"Ich glaube schon, dass dir bewusst ist, dass Nocturn im Volk sehr beliebt ist. Nur denkst du viel zu sehr wie ein Wächter, denn du verstehst nicht, warum er es ist und du versuchst das, was ihn beliebt macht, zu unterdrücken - so geht das nicht!" Sie holte Luft:
"Nocturn tauchte auf, als wir alle Angst hatten vor White; in einer Periode, in der die meisten von uns verfluchte Angst hatten. Wir hatten nie so viele Auswanderungen in die Menschenwelt wie in dieser Zeit! Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass Azzazello über seine Hörner geklagt hat, weil er mit diesen niemals in der Menschenwelt hätte leben können und wie bedauernswert es sei, dass alle seine Kinder immer die Hörner geerbt hätten. Als Halbwächter verstehst du diese Angst wohl nicht, aber unsere Furcht vor Lichtintus ist das einzige, was alle Dämonen vereint. Und diese Frau war wandelndes Lichtintus. Sie ist der Tod. Wo sie auftaucht, sterben wir." Ein Zittern ging durch Lacrimosa, welche bleich geworden war:
"Und jetzt ist sie wieder da. Da sind wir den Bannkreis los und dann das..."
"Ich denke nicht, dass sie über dieselben Fähigkeiten verfügt wie vor ihrem Tod. Sie besitzt keinen echten Körper; sie wird eingeschränkt sein."
"Erzähl das mal Dämonen, die Lichtintus bereits erlebt haben; erzähl das mal Dämonen, denen Familie was bedeutet und die gesehen haben, wie ihre Kinder sich in Fünkchen aufgelöst haben; erzähl das Dämonen, die wie ich ihre halbe Horde verloren haben! Ich musste tatenlos zusehen, wie meine Schwestern dahinsiechten, konnte nur eine Handvoll retten... so viel Anti-Licht haben wir gar nicht, um dagegen anzukommen." Youma schwieg, denn er sah deutlich in ihrem Gesicht, in ihren Augen und ihrer Körperhaltung, dass der Schrecken von damals noch tief in ihr steckte. Damals... so lange war das gar nicht her. Youma hatte über White gelesen, über den letzten Elementarkrieg, an welchem Lacrimosa auch teilgenommen hatte. Für Youma war es ein Geschichtsbuch gewesen, welches ihm nützliche Informationen über die Welt gegeben hatte, in welcher er sich nun befand - für Lacrimosa war es... ihr Leben und kein Buch. Keine Information, sondern eine schreckliche Erfahrung. Lichtintus als eine Krankheit, die einen langsam tötete, hatte Youma nicht erlebt: an seinem eigenen Körper hatte er sie nur als... vernichtende Feuerwalze gespürt.
"Ich war damals die einzige, die Nocturn-kun direkt um Hilfe gebeten hat. Hätte ich es nicht getan... wer weiß, wie viele ich dann verloren hätte. Als Nocturn-kun auf der Bildfläche erschien, konnten wir wieder aufatmen; die anderen Fürsten wollten es natürlich nicht zugeben, nein, niemals; das kratzte ja an ihrem polierten Ego, dass so ein dahergelaufener Dämon etwas konnte, was sie nicht konnten, ha! White und Nocturn-kun haben sich immer prima selbst beschäftigt; halte Abstand und genieß die Show, hieß es damals. Wir Hohen konnten wieder normal Krieg führen, denn Nocturn-kun schien immer zu wissen - er beteuerte, er spürte es - wenn White in die Schlacht geschickt wird und war immer zur Stelle, um sie zu begrüßen. Er hat uns damit einen großen Gefallen getan, auch wenn die anderen es nicht zugeben wollten... Natürlich weiß ich, dass ihn das Wohl unserer Welt und derer, die ihn als Retter anhimmelten, vollkommen egal war. Ich glaube, ihm war das gar nicht bewusst, wie beliebt er war und wie viele ihn gerne mindestens als Fürst sehen würden." Das Gebiet würde aber sehr schnell untergehen, dachte Youma mit einem halben Grinsen, welches Lacrimosa aber bemerkte und streng fortfuhr:
"Lach nicht, es ist realer, als du denkst - und wichtig für dich. Es gibt nämlich immer noch Dämonen, die ihn nicht vergessen haben und das musst du nutzen! Halt Nocturn hier nicht fest: Er hat hier in Paris überhaupt nichts zu suchen! Wenn White auftaucht, muss Nocturn auch sofort da sein und eine gute Figur abgeben. Er darf das, was ihm die Sympathie des Volkes gegeben hat nicht verlieren, das ist das allerwichtigste." Lacrimosa wartete kurz, damit Youma sich alles aufschreiben konnte und fuhr dann fort:
"Aber das ist noch lange nicht alles, was ich dir sagen möchte, womit wir wieder zu dir kommen. Ich erteilte dir jetzt eine Lektion, wie wir Dämonen denken, denn wir denken nicht wie Wächter, was du scheinbar tust. Das aller, allerwichtigste für uns ist Freiheit. Freiheit, das zu tun, was wir wollen, wann wir wollen und wie wir wollen. Das ist unser einziges Gesetz. Alle Dämonen bilden sich ein, dass sie auch genau das haben, aber das stimmt natürlich nicht. 70% der gesamten Bevölkerung gehört zu den Gebieten; die restlichen 30% sind Dämonen, die in der Menschenwelt leben und so tun, als wären sie Menschen - oder eben nicht - und dann solche kleinen Gemeinschaften wie die Incubi, die sich abschotten vor allem und denen man nicht zu nahe kommen sollte - das ist übrigens ein ungeschriebenes Gesetz, was du dir merken solltest; nähere dich denen niemals. Die leben im Norden, an der Grenze von Gyts Gebiet auf dem einzigen Fleckchen Erde, wo es bei uns immer regnet. Wenn es anfängt zu regnen, drehst du um."
"Warum?", warf Youma ein, obwohl der Blick seiner Gesprächspartnerin ihm sagte, dass er sie doch nicht unterbrechen durfte:
"Hör einfach auf meinen Rat! Lass sie in Ruhe, dann lassen sie uns in Ruhe; das war schon immer so. Du hast bei ihnen nichts zu suchen, niemand von uns hat das - und sie nicht bei uns. Sie sind eine sehr alte Rasse, die für sich bleibt." Sie räusperte sich und schob damit das Thema beiseite.
"Wie gesagt, 70% gehören zu uns Fürsten und zum König, das heißt, dass sie springen müssen, wenn wir sagen, dass sie es tun sollen, genauso wie wir springen müssen, wenn der König es von uns verlangt. Freiheit ist daher relativ, aber das sagen wir natürlich nicht zu laut. Aber mit dem Begriff "Freiheit" wird Politik gemacht, denn Fürsten, die ihre Macht dazu ausnutzen ihre Hordenmitglieder direkt zu unterdrücken, werden schnell die Erfahrung machen, wie es ist einen wütenden Mob gegen sich zu haben. Nocturn, als Unabhängiger, ist tatsächlich frei und das kam gut an, weil er damit gleich zwei unserer Ideale erfüllt: frei und stark. Und dann noch das mit White? Oh, das ist ein guter Cocktail, sag ich dir. Und was machst DU?! Du kommandierst ihn ÖFFENTLICH herum! Sag mal, spinnst du!?" Drohend zeigte sie mit ihrem Finger auf den perplexen Halbwächter:
"Wenn das Volk das Gefühl bekommt, dass du ihn herumkommandierst, ist ja er in ihren Augen überhaupt nicht besser dran als sie selbst - und dann bist du auch noch ein Wächter. Glaubst du allen Ernstes, das kommt gut an?! Ein Wächter, der einen Dämon herumkommandiert?! Ich denke, ich muss nicht ins Detail gehen, wie schlecht das ankommt oder?!"
"Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Ich bin nun einmal ein Halbwächter...", konterte Youma:
"... und es ist Nocturns Schuld, dass das nun jeder weiß!"
"Gib ihm nicht die Schuld." Was?! Es WAR seine Schuld!
"Alles an dir strahlt "Wächter"! Du riechst ja förmlich danach! Daran müssen wir dringend etwas ändern. Man soll dich nicht als Wächter kennen, sondern für deine Dämonenseite. Man muss vergessen, dass du ein Wächter bist. Nocturn-kun weiß das - er lässt dich nicht ohne Grund immer ohne deine Waffe trainieren, die ein Zeichen deines Wächterblutes ist." Youma, der eben noch dagegen argumentieren wollte, schwieg verblüfft. Das war der Grund, weshalb Nocturn immer so vehement darauf bestanden hatte, dass Youma ohne seine Sense kämpfen sollte? Hatte er das etwa auch schon bei ihrem Kampf in Lerenien-Sei im Hinterkopf gehabt, als er Youma dazu provoziert hatte, ihn mit bloßen Händen anzugreifen? Youma war wirklich verblüfft: das... hatte er Nocturn gar nicht zugetraut.
"Erst einmal wäre es eine gute Idee, wenn du dein Ego mal ein wenig herunterschrauben würdest. Ich glaube, das würde schon eine ganze Menge bringen. Ich meine, du sollst nicht Nocturn-kuns Schoßhund werden so wie Black es war, aber du bist nicht sein Fürst. "Partner" ist wirklich gut. Das ist zwar etwas unkonventionell, aber ich glaube schon, dass man das Volk davon überzeugen könnte, wenn ihr es richtig macht. Der Kampf, den Nocturn provoziert hat, war zum Beispiel sehr gut; ganz besonders dadurch, dass die Fürsten ziemlich dumm hingestellt wurden, weil die Bewohner von Lerenien-Sei natürlich davon ausgehen mussten, dass der Magie-Bannkeis, der alle Magieentladungen in der Stadt hemmt und von den Fürsten geschaffen ist, auf euch keine Wirkung hat. Man muss ja nicht erwähnen, dass ich ein wenig nachgeholfen habe!" Aha?!
"Sie haben nachgeholfen?! Sie haben den Kampf erst möglich gemacht?!"
"Oh, ach, was nein, Youma: eine meiner Lanzen ist einfach... ausgerutscht, sagen wir es so."
"Sie haben uns wirklich schon ganz schön unter die Arme gegriffen, Lacrimosa-san." Lacrimosa nahm Youmas Dankbarkeit mit Zufriedenheit auf und lächelte breit, doch wurde sofort wieder ernst:
"Aber das will ich nicht mehr. Ihr müsst das schon alleine hinbekommen. Solche Kämpfe mit vielen Zuschauern sind die beste Form der Propaganda, die man bekommen kann; besonders für dich, mein Hübscher! Wie gesagt bist du momentan entweder komplett unbekannt, oder "der Wächter" und das muss sich dringend ändern. Kreis das mal schön groß ein! Nehmt so oft es geht an öffentlichen Kämpfen teil, versalzt den Fürsten gehörig die Suppe - von mir aus auch mir, ich werde dann ganz empört tun! - lasst White nicht wieder zur Angst werden. Zeigt Präsenz! Es darf keine einzige Fürstenkonferenz geben, wo ich eure Namen nicht höre: Ich will, dass alle Fürsten über euch meckern! Und noch einmal: hör auf, Nocturn einzuschränken. Er ist ein Freigeist, lass ihn das auch bleiben! Kommandier ihn nicht herum und komm runter von deinem hohen Ross; du bist genauso wenig allmächtig wie wir alle! Wenn du zu uns Dämonen gehören willst, dann tu nicht so, als wärst du besser als wir." Dazu wusste Youma im ersten Moment nichts zu sagen, denn er musste ihre Worte erst verdauen. Anstatt dann allerdings direkt auf die Kritik einzugehen, entgegnete er:
"Entschuldigt, Lacrimosa-san, aber da ist leider ein Widerspruch: Sagen Sie mir nicht immer, dass ich versuchen soll, Nocturns wahnsinnige Einfälle zu begrenzen? Die Sache mit Blue ist nicht der erste wahnsinnige Einfall."
"Du musst natürlich differenzieren. Die ganz dummen Dinge solltest du versuchen, ihm subtil auszureden."
"Ich glaube nicht, dass ich das kann", antwortete Youma ehrlich.
"Dann musst du das lernen, Youma." Der Angesprochene sah zu Nocturn, der gerade so harmlos aussah, wie er Feullé dabei half, die Teller in den Geschirrspüler zu stellen.
"Lerne ihn zu verstehen."
"Bei diesem Prozess werde ich sicherlich selbst wahnsinnig."
"Aber du hast ihn zu deinem Partner gemacht."
"Und diese Tat schon viele Male bereut." Lacrimosa, die Youmas Blick gefolgt war, kicherte.
"Er ist krank, das stimmt. Aber da kann er nichts für." Diese Worte hörte Youma zum ersten Mal und er kam nicht drum herum, Lacrimosa skeptisch anzusehen.
"Eigentlich kann er ganz nett sein. Man muss nur lernen, es zu sehen." Mit einem leichten Seufzen sah Youma wieder zu Nocturn: "nett" war so ziemlich das letzte Wort, was er mit Nocturn verband, auch wenn es sicherlich gerade "nett" war, dass Nocturn seine tollpatschige Tochter vor einem Sturz bewahrte. Das aufmunternde Lächeln, welches er ihr schenkte, konnte man wohl auch... "nett" nennen...
"Sie klagen zwar oft über Nocturn, aber in der Regel sprechen Sie recht positiv über ihn. Darf ich fragen, warum sein Wohl Ihnen am Herzen zu liegen scheint?" Diese Frage überraschte Lacrimosa scheinbar - oder wollte sie ihm keine Antwort geben? Sie schwieg und ihr Lächeln war verschwunden und das Schweigen wurde etwas bedrückend. So bedrückend, dass Youma ihr gerade versichern wollte, dass er keine Antwort benötigte... als sie leise antwortete:
"Ich kenne... kannte seine Mutter."
Nocturn horchte schon auf bevor die Türklingel ertönte, womit Cilan, Klariettes und Feullés Gespräch unterbrochen wurde, die Feullé für ihr Essen lobten, obwohl es eigentlich eher mäßig gewesen war. Nocturn sprang vom Drehstuhl herunter, aus den Augenwinkeln bemerkend, dass Blue sich ebenfalls erhoben hatte, denn natürlich hatte er die Aura seines Bruders auch bemerkt, aber Nocturn war schneller an der Tür, wo nicht nur plötzlich ein etwas eingeschüchtert wirkender rothaariger Halbdämon vor dem Hausherren stand, sondern auch eine verdrießlich dreinblickende junge Franzosin, die er noch nie gesehen hatte - Schichtwechsel, wie er in ihren Gedanken las; eine junge Studentin, die sich was dazu verdienen wollte, Probleme mit ihrem Freund, Geldmangel, ausländerfeindlich, weshalb sie Silver nicht hatte ohne Weiteres hochlassen wollen - und jetzt stutzte sie natürlich über Nocturns Augen, da er seine Kontaktlinsen nicht trug. Den Gedanken, dass er irgendwie nicht menschlich aussah, vergaß sie schnell wieder, genauso wie dass sie gerade rote Augen gesehen hatte. In ihren Gedanken hatte Nocturn nun braune Augen.
"Monsieur Le Noires?" Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Türschild, eine Chance, die Silver nutzte, um an ihr und Nocturn vorbeizuhuschen, wofür Silver sich in Gedanken lobte, ohne zu bemerken, dass Nocturn ihm eigentlich bereitwillig Platz gemacht hatte.
"Bonsoir Mademoiselle. C'est vrai... quel était votre nom? "1 Der Nachteil beim Gedankenlesen war der, dass die wenigsten über ihren eigenen Namen nachdachten, weshalb das meistens eine Sache war, die Nocturn erfragen musste.
Silver allerdings interessierte sich schon gar nicht mehr für Nocturn oder diese mürrische Franzosin, die ihn irgendwie an Itzumi erinnerte, denn er hatte Blue entdeckt! Blue! Er stand aufrecht! Er schlief nicht! Er war nicht in einem Fiebertraum! Er war nicht im Sterben! Er ging sogar auf ihn zu!
"Silver!? Was... was machst du hier?"
"ANIKI!" Die mürrische Franzosin war ihm egal, Nocturn war ihm egal - und wo er sich befand war ebenfalls gleichgültig. Seitdem Green Blue tödlich verletzt hatte, hatte er die ganze Zeit unterbewusst und so manches Mal auch bewusst, mit der Angst zu tun gehabt, sein Bruder könnte die Attacke nicht überleben. Ihn jetzt vor sich stehen zu sehen, ganz normal, als wäre überhaupt nichts geschehen, gekleidet in seinem stinknormalen dunkel-türkisen Pullover und zum ersten Mal seit langem nicht im Dämonenmodus, trieb Silver die Tränen in die Augen.
"Cet étranger comiques a prétendu qu'il voulait vous... Vous-connaitez cette personne ?"2
"Évidemment, ce vrai, n'est-ce pas, mademoiselle ?"3, antwortete Nocturn dabei über die Schulter sehend, wo Silver gerade stürmisch auf seinen Bruder zu rannte.
"Évidemment..."4, lautete die skeptische Antwort der Studentin und Nocturn hörte in ihren Gedanken, wie sie sich über den "seltsamen Haufen komischer Leute" wunderte.
Die Franzosin redete weiter, während Silver sich Blue in die Arme warf und hinter ihnen die Balkontür aufgerissen wurde, für die Silver und Blue aber beide keine Aufmerksamkeit hatten. Es war so selten, dass sie sich umarmten, schoss es Blue durch den Kopf - aber Silver nicht. Er drückte sich einfach nur an ihn, so wie er es nicht mehr getan hatte seit dem Tod ihrer Mutter.
"Silver..."
"Du lebst...!" Lacrimosa blieb an der Tür stehen, wo sie einen zutiefst wütenden Blick an Youma sandte, als wäre der verwunderte Halbdämon Schuld an diesem Besuch:
"Siehst du!", zischte sie:
"Jetzt ist schon der zweite hier! An Blue ist ein Zopf dran, ich sage es dir - und ich sage dir auch, dass es nicht lange dauern wird, bis ihr Ri-Il persönlich an der Tür stehen habt!" Weder Silver noch Blue hörten Lacrimosa jedoch: Blue war immer noch zu sehr überrumpelt, um die Umarmung anständig zu erwidern, doch das schien Silver nicht zu stören, welcher sich schon freudestrahlend von Blue löste, etwas errötet über seinen Impuls seinen Bruder zu umarmen.
"Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele Sorgen ich mir um dich gemacht habe, du Arsch?!"
"Doch..." Blues Arme und Hände, die immer noch ausgestreckt waren, als hielte er seinen kleinen Rotschopf noch, der bis über beide Ohren vor Erleichterung strahlte, zuckten ein wenig, als er sich versuchte zu einem Lächeln zu bringen, obwohl ihn gerade die Schuld übermannte. Wie lange war er... weg gewesen... wie viel Angst hatte er Silver bereitet...?
"... das kann ich mir vorstellen, Silver."
"Ils ont été informés que vous devez annoncer une visite grande comme ca ? "5, bohrte die Brünette nach, denn nur weil sie sich wunderte, hieß es nicht, dass sie sich irgendwie von dem Chaos und den "komischen Leuten" abschrecken ließ. Sie nahm Nocturn wieder skeptisch in Augenschein und stemmte ihre Hände in ihre durch Diäten sehr kränklich wirkende Hüfte, bis...
"AUS DEM WEG------------!" Dieser Aufschrei stammte von Lacrimosa, der nicht nur in den Ohren des menschlichen Besuchers sehr bedrohlich klang;
"Q-Qu'est-ce que ... ce que c'était ? Était-ce ... homme ? Quelle est cette langue ?"6 Berechtigte Fragen und sie verlor noch mehr Gesichtsfarbe, als sie Lacrimosa mit wirbelnden Haaren auf Silver zustürmen sah und sie ihn mit einer klatschenden Ohrfeige gegen die Küchentheke schmetterte.
Feullé schrie spitz auf, während Klariette und Cilan Lacrimosa für ihre Tat bejubelten und sie für einen guten Schlag lobten. Ein guter Schlag war es offensichtlich; die Tür des Küchenschranks hing in ihren Angeln und fiel klappend aus eben diesen, als Silver sich schwankend und mit Blut von der Stirn tropfend aufrichtete, wobei Blue ihn eilends stützte.
"Das war für all deine widerlich oberflächlichen Kommentare meinem Geschlecht gegenüber, die ich in den Berichten alle rot markiert habe!"
"Qu'est-ce que ... ce qui se passe ici ? Je ... Je dois appeler la police, oui. Je dois faire."7
""Bericht"?", wiederholte Silver mit dröhnendem Schmerz im Hinterkopf, sich dann an seinen Bruder wendend:
"Das hast du in den Berichten geschrieben?!"
"Ahahaha, une instant !"8
"Aber natürlich; ich bin immer wahrheitsgemäß geblieben. Du hättest sie ja einfach lesen können, dann wüsstest du es."
"Ah, Blue, ich habe dich wirklich so vermisst! Sogar deine immer-alles-besser-wissende-Art!", strahlte Silver und war den Tränen nahe.
"Ich hätte dich schon viel früher geschlagen, wenn ihr nicht dauernd an Ri-Ils lächerlichen Zöpfen hängen würdet!"
"Also eigentlich habe ich großen Respekt vor Frauen, stimmt doch, oder Blue?"
"Du kannst froh sein, dass Schwester Lacrimosa dich am Leben lässt!"
"Alleine schon wie er immer diese Feuerwächterin beschimpft und wegen ihrer Rundungen beleidigt hat!"
"Entschuldigt mal, Firey kann das ab! Und was wisst ihr Furien überhaupt davon; das ist eben die Art, wie wir miteinander umspringen! Wenn ich sie nicht Flachbrett nenne, denkt sie garantiert, dass ich krank bin!"
"Wie schrecklich oberflächlich!"
"ZUUT ALORS ! EN VOILÀ ASSEZ !"9 Da nur Feullé Nocturns Ausruf verstanden hatte, fühlten sich die anderen Anwesenden von ihm nicht angesprochen - als er jedoch fluchend in die demolierte Küche zurück stampfte und Silver und Blue am Kragen packte, war es unmissverständlich, dass er mit der dämonischen Versammlung gesprochen hatte. Zum Dämonisch zurückfindend klagte er lauthals, während er die beiden Dämonenbrüder Richtung Haustür schleifte:
"Habt ihr denn eine Ahnung, was ihr hier für einen Radau macht?! Kein Wunder, dass dieses unhöfliche Gör die Polizei rufen wollte! Ihr könnt froh sein, dass ich Gedanken löschen kann! Oder wie hättet ihr es der Polizei erklärt, dass ihr wie ungehobelte Tiere klingt?! So klingt Dämonisch nämlich in den Ohren der Franzosen! Ganz zu schweigen von der Küche! Die ist maßgeschneidert, ihr verfluchten Flegel! Wie soll ich die Tür jetzt ersetzen?! HA?! Soll ich Ri-Il eine Rechnung schicken!? Merkt euch gefälligst für die Zukunft: Wenn ihr ungeklärte Dispute habt, KLÄRT DIE NICHT IN MEINEM APARTMENT!" Youma lachte ein wenig über diese absolut "nette" Seite von Nocturn, während dieser die beiden Halbdämonen im hohen Bogen hinaus in den Gang warf, wo die Brünette verschwunden war. Allerdings schickte er sie nicht fort ohne - nun nicht mehr im schreienden Tonfall - noch letzte Worte an sie zu richten:
"Hier sind fünfzig Euro; geht irgendwo hin, trinkt was, esst ein Crêpe - mir egal - aber klärt, was ihr zu klären habt!"
---
1 "Guten Abend, Mademoiselle. Das ist richtig... Wie war ihr Name?"
2 "Dieser komische Ausländer behauptete, dass er Sie kenne... Kennen Sie diese Person?"
3 "Offensichtlich ist das richtig, nicht wahr, Mademoiselle?"
4 "Offensichtlich..."
5 "Sie sind darüber informiert, dass sie solch einen großen Besuch ankündigen müssen?"
6 "W-Was... war das? War das... ein Mensch? Was ist das für eine Sprache?"
7 "Was... was ist hier hier? Ich... muss die Polizei rufen. Ja das muss ich."
8 "Ahahahaha, einen Augenblick!"
9 "Verdammt nochmal! Jetzt ist aber genug!"
Statt diese Feindschaft allerdings zum Ausdruck zu bringen, breitete sich ein gekünsteltes Lächeln auf ihrem Gesicht aus und sie richtete sich an Youma, der zusah wie sie ihre Hand nach ihm ausstreckte und diese unter seinem Kinn platzierte, um Youmas Gesicht mit einem festen und kalten Griff anzuheben:
"Wir beide haben definitiv etwas zu besprechen, mein Lieber." Sie achtete nicht darauf, dass Youma errötete; sie achtete auch nicht auf die anderen Anwesenden im Flur oder darauf, dass Youma gänzlich erstarrt war über diese plötzliche Berührung, die ihn ein wenig überrumpelte - noch mehr wurde er aber überrumpelt, als sie sich plötzlich in seinen Arm einharkte und ihn durch den Flur und die anschließende Stube zum Balkon führte, als wäre sie in diesen vier Wänden zuhause.
"Feullé-Schatz, ich muss heute leider auf dein Essen verzichten, ein anderes Mal: und Youma hier hat keinen Hunger, nicht wahr?" Eigentlich hatte er es schon, aber der eingespannte Halbdämon wagte es nicht zu protestieren, denn er kannte die Aura, die Lacrimosa umgab nur allzu gut; sie war auf die gleiche Art wütend wie Silence es war, weshalb er wusste, dass er sich lieber zurückhalten sollte - und scheinbar hatte auch niemand anders vor, Lacrimosa aufzuhalten: Nocturn lachte sogar ein wenig amüsiert, ehe er Cilan und Klariette zum Abendessen einlud.
"Ah, Paris, die Stadt der Liebe!", hauchte Lacrimosa in die kühle Abendluft hinein und spähte zum Eiffelturm, der hinter den anderen Hochhäusern deutlich hervorstach, als dürfte und könnte keines der Häuser ihn verdecken. Nach wie vor hatte sie Youmas rechten Arm fest im Griff und schien keine Anstalten zu machen, ihn gehen zu lassen - und er versuchte es gar nicht erst. Sie lächelte zwar, aber Youma meinte immer noch Wut zu hören.
"Das ist schon wirklich eine schöne Stadt und Nocturn hat für eine tolle Aussicht gesorgt; ich wette, die Miete ist unbezahlbar." Nach wie vor wagte er es nicht, irgendetwas zu sagen - er hätte auch nicht gewusst, was - ihr Tonfall hörte sich genauso an wie Silence' und als sie sich zu ihm herumwandte, sah er hinter ihrem charmanten Lächeln die gleiche Drohung, dass wenn er etwas Falsches sagen würde, sie ihm den Hals umdrehen würde. Frauen konnten wirklich... beängstigend sein.
"So, Youma, mein Lieber... jetzt erzählst du mir, wie ihr gerade auf die Idee kommt, euch Ri-Ils Schoßhündchen anzulachen." Ah, es handelte also um den Halbdämon...? Deswegen war sie so wütend? Aber warum auf ihn?!
"Es war nicht meine Idee und ich bin auch definitiv nicht begeistert, das müssen Sie mir glauben, Lacrimosa-san..." Weiter kam Youma nicht und während Lacrimosa fortfuhr wurde ihr Lächeln breiter und gefährlicher:
"Und warum hast du es dann nicht verhindert?" Ihr Griff wurde fester, wie ein eiserner Klammergriff, ihr Lächeln noch bedrohlicher - war das kalter Schweiß in seinem Nacken?
"Also..." Seine sehr unkonkrete Antwort brachte sie zu ihrer Attacke: einem sehr gut platzierten, aufgebenden Seufzen und einem theatralischen Wegdrehen.
"Youma, Youma, Youma, ich setze so viele Karten auf euch, könntest du also bitte mehr Arsch in der Hose zeigen?"
"Bitte, was?" Lacrimosa seufzte abermals, himmelte mit den Augen und warf dann ihre Arme auf das Geländer, dann schwieg sie kurz; offensichtlich missgestimmt - und Youma war verwirrt und errötete abermals. Was hatte denn sein Gesäß mit irgendetwas zu tun...
"Nocturn wollte unbedingt, dass Blue einsteigt, oder?" Youma konnte nichts anders tun als dies zu bestätigen, immer noch verwirrt.
"Und das sicherlich nicht wegen Black... och, ich Dummchen, ich hätte ihm nichts von dem Auftrag erzählen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass das sein Interesse wecken würde." Eigentlich hatte Lacrimosa geglaubt, dass Blue nicht mehr unter den Lebenden weilte... Lycram hatte so etwas erwähnt und auch wenn er besoffen gewesen war, eigentlich waren seine Informationen, die aus Gebiet 17 stammten, immer verlässlich, ganz egal wie tief er ins Glas geschaut hatte. In der Regel ging er sehr bescheiden mit seinen Informationen über Ri-Il um, aber die Halbdämonen schienen ihm nicht so wichtig zu sein und nachdem man die beiden Halbdämonenbrüder nie zusammen auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, hatte Lacrimosa sich gewundert. Laut Lycram hatte der Ältere eine tödliche Lichtattacke abbekommen... na, tödlich schien sie nicht zu sein, dachte Lacrimosa und warf einen unauffälligen Blick durch das Fenster in die Küche, wo Feullé Blue gerade einen Teller mit dampfender Suppe reichte. Er sah etwas erschlagen aus und seine Aura war auch nicht sonderlich stark im Moment, aber er lebte definitiv. Pah, Green hätte definitiv besser treffen sollen... ah, daran hatte Nocturn also die ganze Zeit gearbeitet! Dieses verdammte Spielkind!
"Auftrag?" Lacrimosa machte eine genervte Handbewegung in die Luft hinein, als würde sie Fliegen verscheuchen und sah wieder zu Youma.
"Ja. Er und sein Bruder hatten jahrelang den Auftrag, sich bei der Hikari einzuschmeicheln, ihre Freundschaft und Zuneigung zu gewinnen, damit sie ein Band schaffen konnten, das stark genug war, um das Glöckchen der Hikari zum Brechen zu bringen. Von innen. Das war eine Theorie von Ri-Il... die sich bewahrheitet hat." Unwillkürlich und aus Reflex griff Youma an sein eigenes, das gehütet und verborgen unter seiner Uniform lag. Lacrimosa hatte es nicht bemerkt und als Youma seinen Reflex realisierte, zwang er sich sofort, sein Glöckchen wieder loszulassen. Man konnte es zerstören? Von innen? Was?! Wie!?
"Sie sollten die Hikari umbringen, aber das wiederum lief nicht ganz nach Plan, was für einiges an Aufsehen gesorgt hat. Der ganze Auftrag war eine gemeinsame Sache von uns Hohen, aber Ri-Il war der Hauptverantwortliche. Zwar haben wir den Plan zusammen geschmiedet, aber es war Ri-Il, der seine beiden Schüler vorschlug, um ihn auszuführen und der uns auch mit den nötigen Informationen versorgt hat." Sie seufzte und in diesem sowie in ihrer Stimme lag etwas sehr Bitteres, etwas sehr Unzufriedenes... nein, es war mehr: als würde das Thema selbst sie anwidern. Sie hatte ihm schon öfter zu verstehen gegeben, dass sie Ri-Il als einen großen Feind betrachtete, vor dem sie Youma schon oft gewarnt hatte. Manchmal sprach sie direkt schlecht von ihm: andere Male schwieg sie, als wäre es ein unangenehmes Thema, genau wie dieses, was sie nun besprachen.
"Eigentlich kann man mehr sagen, dass es Ri-Ils eigene Agenda war... wir haben sie nur unterstützt, finanziell, materiell und haben auch Einblick in die Berichte erhalten und im Endeffekt hätten wir natürlich auch davon profitiert, wenn es denn überhaupt wahr war, dass das Mädchen den Bannkreis brechen konnte und würde... wer weiß schon, was bei Ri-Il stimmt." Sie schüttelte den Kopf und nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch in ihrer ganzen Körpersprache machte sie deutlich, dass sie ganz gewiss nicht für diesen Auftrag, dessen gesamte Tragweite Youma nur im Ansatz verstand, gewesen war.
"Ich denke, du verstehst, warum ich dir das hier erzähle?" Sie drehte den Kopf herum und ihr abschätzender Blick lag eindeutig auf Blue, der ganz außen, rechts neben Nocturn saß.
"Es waren zwar beide Brüder, die den Auftrag ausführten, aber Nocturn hat euch den Schlimmeren der beiden ins Haus geholt. Er ist ein Spion." Sie setzte nach:
"Er ist ein von Ri-Il ausgebildeter Spion." Lacrimosa und Youma sahen sich kurz ernst in die Augen, dann glitten ihre Augen wieder zu Blue:
"Ich weiß, er sieht unscheinbar und harmlos aus, aber täusch dich nicht und lass dich auch nicht von seiner Aura in die Irre führen. Er ist definitiv mehr Dämon als Mensch und ein Meister darin, sich zu verstellen. Er hat gut von Ri-Il gelernt... Fünf Jahre lang hat er die Hikari ununterbrochen beschattet und alles verflucht akribisch festgehalten, was es festzuhalten gab. Er hat das dumme, arme Mädchen dazu gebracht, dass sie sich in ihn verliebt - und sie dann später, als wir Hohen forderten, dass er uns seine Treue beweisen sollte, mit dem Glöckchen gefoltert, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl er fünf Jahre lang ihr angeblich "Vertrauter" war. Der Junge ist genauso kaltblütig wie sein Lehrmeister."
"Gefoltert? Mit dem... Glöckchen?" Youma musste seine Stimme unter Kontrolle bringen: eigentlich brauchte er etwas zu trinken, denn seine Kehle war trocken geworden bei dieser Vorstellung. Mit dem Glöckchen gefoltert... dieser unscheinbare Halbdämon?! Das konnte Youma sich kaum vorstellen... aber Lacrimosa wandte sich ihm wieder zu und überzeugte ihn dann ziemlich schnell:
"Du bist doch ein Halbwächter; dir ist doch das Band zwischen Hikari und deren Glöckchen bekannt?" Youmas Griff um das Geländer festigte sich, als er nickte. Er musste sich entspannen... er verhielt sich viel zu auffällig für jemanden, der eigentlich kein Glöckchen trug. Er hatte Glück, dass sie seinen Impulsgriff vor ein paar Minuten nicht bemerkt hatte!
"Dann weißt du doch sicherlich auch, dass man die Hikari damit foltern kann?" Nein, das... wusste er nicht, aber es forderte nicht viel Überzeugungskraft, um es ihn vorstellen zu lassen. Yami waren nicht anders als die Hikari, wenn es um ihr Glöckchen ging. Sie waren alle Glöckchenträger und als solcher mochte auch er es nicht, wenn andere sein Glöckchen berührten; er hatte es nie gemocht, genauso wenig wie Silence es gemocht hatte. Nur manchmal, Youma erinnerte sich noch gut daran, hatten sie, um sich gegenseitig zu beruhigen und zu beschützen, das Glöckchen des jeweils anderen in der Hand gehalten... und waren so abends eingeschlafen.
Einmal hatte eines der Wächterkinder... dieser verfluchte Erdwächter... Youma mit seinem Glöckchen... ärgern wollen. Als Youmas Reflexe noch nicht so ausgebaut waren wie jetzt, weil ihm das Kämpfen und das Trainieren seiner Fähigkeiten verboten gewesen war, war es dem Erdwächter gelungen, ihm sein Glöckchen wegzunehmen. Lautstark hatte der Erdwächter verkündet, dass es ihm doch gar nicht zustände, weil er kein Hikari war und doch nur Hikari Glöckchen tragen durften. Es war so demütigend gewesen... Youma war nicht im Stande gewesen sich zu wehren, sein Glöckchen zurückzuerlangen, weshalb er ihn voller Furcht, er würde es ihm nicht wiedergeben... vielleicht sogar beschädigen... angefleht hatte, es ihm wieder zurückzugeben. Warum war sein Dämonenblut nicht damals schon revoltierend aufgewacht? Wäre es aktiv gewesen, hätte er nicht im Staub kriechen müssen, darauf hoffend und flehend, dass Light doch kommen möge, um ihn zu retten.
Das Ganze hatte nur 10 Minuten gedauert - Light war tatsächlich gekommen und sich - ha - ziemlich erschüttert gezeigt - aber es hatte ausgereicht, um Youmas Bindung mit seinem Glöckchen nachhaltig zu verändern. Natürlich war er vorher schon empfindlich gewesen, so wie es alle Glöckchenträger waren - aber seitdem hatte er es niemals mehr andere außer Silence sehen lassen. Er trug es immer unter seiner Kleidung.
"Welches Element hast du eigentlich?", hörte er Lacrimosa vorsichtig fragen. Sie hatte bemerkt, dass er in Gedanken versunken war... und Youma wusste nicht warum, aber aus der Sehnsucht nach seiner Familie, Silence, Harmonie und Geborgenheit und vielleicht dem plötzlichen Drang nach Trost, weil er in dieser unendlichen Einsamkeit, die ihn jäh umspülte unterzugehen drohte, antwortete er leise:
"Eines, welches schon längst verloren gegangen ist..."
Er wäre gerne tot. Er wäre so gerne schon tot. Er hatte jetzt definitiv keine Suizidwünsche und gewiss nicht jetzt vor zu sterben, aber wie sehr er sich wünschte, nicht in dieser Zeit zu sein. Wie sehr er sich wünschte, die Illusion, an die er so lange geglaubt hatte, wäre einfach intakt geblieben. Silence und er hätten geheiratet, sie hätten Kinder gehabt, die er vor jedem Mobbing beschützt hätte und er hätte noch... er hätte noch an Lights Liebe geglaubt. Er hätte ihm noch sein blindes Vertrauen geschenkt. Sie wären glücklich gewesen und irgendwann wären sie einfach gestorben, nach einem langen, guten Leben.
Er wäre gestorben, als die Welt noch Aeterniem hieß; so hätte es sein sollen.
Stattdessen war er nun in dieser Zeit, in die er nicht gehörte, die schon viele Kriege erlebt hatte, die Gebote und Verbote erhoben hatte, die Glöckchen zum Foltern missbrauchten, alle unterschiedliche Sprachen benutzten und....alles andere als glücklich, getrennt von Silence, die ihn zu recht mit Kälte und Wut bestrafte und keine Liebe mehr für ihn empfand - aber, ha, er kannte die Wahrheit! Er lebte nicht mehr in Illusionen!
War es das wirklich wert gewesen?
Lacrimosa legte ihre Hand auf seine Schulter; ein fester Griff, aber sanft und obwohl Youma sich sträubte, Silence als Argument vorbrachte, legte sie den Arm um ihn - so waren Frauen. In einem Moment beängstigend und im nächsten die einzigen, die Trost geben konnten.
Im gleichen Augenblick landete Silver direkt unter dem nun hell erleuchteten Eiffelturm. Er hatte in aller Eile nicht daran gedacht, sich umzuziehen, sich menschliche Kleidung anzulegen, aber die riesige Menge an Touristen hatte ohnehin nur Augen für den Turm, der zwar für Besichtigungen und Besteigungen bereits geschlossen war, aber dennoch unzählige Touristen unter sich sammeln konnte. Es wurde geknipst, Gruppenfotos gemacht und zwielichtige Gestalten versuchten, Mini-Eiffeltürme zu verkaufen. Ob diese Touristen sich auch so um den Turm in Lerenien-Sei tummeln würden? Im Prinzip waren sie beide einfach nur... Türme.
Aber Silver war nicht zum Sightseeing hier. Was hatte Ri-Il gesagt? Er musste zum Fluss schauen... okay, hinter ihm war ein Park... dann musste er also in die andere Richtung gucken und einige Schritte weiter, den Platz unter dem Eiffelturm hinter sich lassend, stand Silver auch schon an einer Kreuzung, die zu einer Brücke führte; demnach war darunter natürlich das Wasser. Also - nach links.
Nur noch fünfzehn Minuten und er war bei Blue.
Und wenn er sich beeilte, dann waren es nur zehn.
Youma verspürte größte Verlegenheit, als Lacrimosa ihren Arm wieder von ihm wegzog; er hätte sich diesen kurzen Moment der Schwäche verkneifen müssen, hätte nicht zulassen dürfen, dass er hervorbrach. Er hatte gar nicht an Aeterniem denken sollen, nicht so intensiv, nicht so sehnsüchtig... erst recht nicht, wenn Lacrimosa Zeuge davon wurde. Aber sie kommentierte das eben Geschehene nicht, belächelte die Offenbarung seiner Schwäche nicht; sie sah ihn nur kurz an, wie um sicherzugehen, dass alles wieder in Ordnung war - und dann lenkte sie das Thema zu dem eigentlichen zurück, als wäre nie etwas geschehen:
"Hat Nocturn-kun seine Entscheidung Blue aufzunehmen begründet?" Youma, dankbar über den Themenwechsel und dass Lacrimosa nicht weiter nachbohrte, schüttelte sachte den Kopf.
"Er hat keinen Grund genannt, der nachvollziehbar wäre." Lacrimosa studierte Youma scharf, welcher sich diesen strengen Blick nicht so ganz erklären konnte.
"Hast du versucht, ihn davon abzubringen? Du wirst verstehen können, dass ich kein besonders großes Interesse daran habe mit euch zu kooperieren, wenn Ri-Ils Schoßhund bei euch wohnt."
"Ja, ich habe es versucht und glauben Sie mir, ich bin auch nicht begeistert. Aber ich glaube nicht, dass er davon abzubringen ist." Lacrimosa grummelte missgestimmt.
"Nein, das befürchte ich ebenfalls. Nocturn-kun braucht sein Spielzeug." Das war... eine eigenartige, aber doch recht passende Umschreibung, dachte Youma mit Augen, die er Richtung Himmel sandte. Vielleicht war es für ihn - im Alltag - gar nicht so schlecht, dass Blue da war - im vergangenen Monat hatte Nocturn ihn immerhin beinahe gänzlich in Ruhe gelassen und diese Ruhe war definitiv angenehm gewesen.
"Spielt er eigentlich?" Youma sah sie stutzend an:
"Was meinen Sie?" Woraufhin Lacrimosa die Stirn runzelte:
"Ob er auf seiner Flöte spielt, du Dummchen. Was soll ich denn sonst meinen?"
"Ich weiß nicht, ob er spielt. Ich habe ihn noch nie darauf spielen gehört oder gesehen." Tatsächlich hatte Youma schon angefangen zu glauben, dass die Flöte, die Nocturn auch jetzt auf dem Rücken trug, ein reiner Dekorationsgegenstand war - wenn er denn überhaupt darüber nachdachte.
"Ah, ich verstehe." Wieder sah sie ihn so nachdenklich mit ihren gelben Augen an, mit denen sie ihn eindringlich studierte: kein Blick, der Youma gefiel. Irgendwie... sagte er ihm, dass er falsch geantwortet hatte oder etwas Falsches getan hatte. Jedenfalls hatte seine Antwort sie zum Nachdenken gebracht.
"Du holst dir jetzt einen Stift und Papier, mein Hübscher." Youma konnte ihr nicht folgen und da auf ihre Aufforderung hin nichts geschah, wurde sie etwas nachdrücklicher:
"Hast du mich nicht gehört? Einen Stift!"
Die Wegbeschreibung Ri-Ils hatte so einfach geklungen; wie war es da möglich, sich zu verirren?! Als Silver endlich vor dem richtigen Hochhaus stand, wusste er wieder, warum Blue immer die Orientierung übernommen hatte: das hatte definitiv länger gedauert als zehn Minuten... aber es gab hier auch so viele Hochhäuser! Und die sahen alle gleich aus! Die waren nur unterschiedlich hoch, aber eigentlich sahen die doch wirklich alle gleich aus... gut, das links von ihm war rot, aber... egal! Er war angekommen.
Aber dann folgte das nächste Problem, wo Ri-Il ihn definitiv nicht vorbereitet hatte. Die Sprachbarriere. Silvers Vokabular, was Französisch anging, streckte sich von "Amour" zu "Merci" - und wenn man es genau nahm, waren das auch die einzigen zwei Worte, die er auf Französisch beherrschte; na gut, ein "Bonjour" gehörte dann auch noch zu seinem Vokabular, welches er dann, gepaart mit seinem charmantesten Grinsen auch der jungen Frau vortrug, die hinter der Rezeption des Hochhauses saß, in welchem der verrückte Flötenspieler wohnte. Die unscheinbare Brünette war gerade in ein Werbeprospekt der Gallerie Lafayette vertieft - das teuerste Kaufhaus, was Mode anbelangte, kannte Silver natürlich - und sah nicht danach aus, als hätte sie besonders viel Lust dazu aufzusehen.
Wahrscheinlich wusste die junge Frau sofort, dass es sich bei Silver um einen Ausländer handelte, denn als sie ihre Augen von dem Prospekt erhob, war sie schon skeptisch. Bedeutete sein falsch ausgesprochenes "Bonjour" eigentlich "Guten Tag" oder "Guten Abend"? Hoffentlich letzteres... aber offensichtlich nicht:
"Bonsoir, Monsieur. " Und sein gutes Aussehen zog nicht. Sie war nicht von ihm angetan. So absolut gar nicht. Oh, das war schlecht.
Ganz schlecht.
Natürlich wagte Youma es nicht zu widersprechen und tat sofort das, was Lacrimosa von ihm verlangt hatte. Er flitzte in sein Zimmer, ohne von den Essenden besonders große Notiz zu nehmen, die aber alle - bis auf Nocturn - aufsahen und dem hastigen Yami hinterhersahen, welcher sich nun Papier und Stift von seiner bereits überfüllten Kommode nahm und dann schon die neun Stufen regelrecht herunter sprang, die das ehemalige Schlafzimmer vom Rest der Wohnung trennten.
Kaum, dass er die Balkontür geöffnet hatte und Lacrimosa sich mit einem prüfenden Blick vergewissert hatte, dass er ihrer Aufforderung nachgegangen war, begann sie auch schon ohne Umschweife, noch ehe Youma den Stift überhaupt angesetzt hatte:
"Ich denke du weißt, dass ich ein Zufluchtsort für alle Frauen der Dämonenwelt bin. Ich habe eine sehr große Verantwortung zu tragen, der ich gerecht werden will." Youma schwieg, weil... ja, das wusste er. Das war ihm durchaus bewusst.
"Ich unterstütze dein Vorhaben, Dämonenkönig zu werden, aber ich setze das Leben meiner Schwestern nicht für irgendetwas aufs Spiel! Im Moment finde ich euch beide alles andere als überzeugend, aber ich hoffe, dass sich das ändern wird, also hör mir mal gut zu, denn ich glaube, du hast einige grundlegende Dinge nicht ganz verstanden, mein Hübscher: Du bist gar nichts." Youma, der den Stift eigentlich gerade angesetzt hatte, sah auf.
"Was?"
"Es stimmt leider. Du bist ein Nichts", fuhr Lacrimosa fort, seinen unzufriedenen Blick nicht beachtend und ihn mit einer Handbewegung dazu auffordernd, wieder auf das Papier zu sehen:
"Schreib das auf und setz einen Strich unter "Nichts". Denn, tut mir Leid, aber es ist die Wahrheit. Niemand kennt dich und wenn sie dich kennen, dann bist du einfach nur "der Wächter" und - das wird in deinen Ohren sicherlich wehtun - es ist ziemlich scheiße dafür bekannt zu sein, ein Wächter zu sein. Aber das ist nun einmal so und damit müssen wir arbeiten. Du hast eine ganz tolle Aura, ja und ein gutes Aussehen - aber wenn du glaubst, das ist alles, was du in unserer Welt brauchst, dann hast du falsch gedacht."
"Ich habe meine äußere Erscheinung nie..."
"Ruhe, ich rede. Du schreibst." Youma zögerte, aber er folgte ihrer Aufforderung. Sie erinnerte ihn wirklich immer mehr an Silence...
"Doch du hast etwas, das all Nachteile ausbessert - oder eher ausbessern könnte: Du hast Nocturn an deiner Seite als deinen Partner. Aber verflucht noch mal, du nutzt das Potential nicht! Weißt du, was das beste ist, was ihr bis jetzt getan habt? Lerous Krone klauen! Und was tust du, du Idiot?! Du wolltest ihn aufhalten!"
"Woher wissen Sie das eigentlich?! Sie waren doch gar nicht anwesend zu diesem schrecklichen Diner..."
"Unterbrich mich nicht, schreib! Karou hat mich auch nicht gesehen bei seinem geheimen Treffen mit den schießwütigen Geschwistern, oder? Ich habe meine Mittel und Wege; mehr brauchst du nicht zu wissen. Außerdem hat das die Runde gemacht; eine große Runde um genau zu sein, weil es in Lerenien-Sei geschah. Beim Diner waren alle Fürsten anwesend und viele hatten ihre Kommandeure im Schlepptau... Das war unbeabsichtigt genau das richtige Timing für einen Schaukampf." So langsam hatte Youma nicht mehr das Gefühl, dass dieser Kampf ein Zufall gewesen war: Sie ließ es nicht so klingen... ob Nocturn und sie etwas abgemacht hatten...? Aber sie hatten doch nicht damit planen können, dass Youma ausrastete, oder doch?
"Viele fragen sich, ob das Rauben von Lerous Krone bedeutete, dass Nocturn endlich unseren jetzigen König vom Thron befördern wird." Sie machte einen weiteren, unwirschen Wink auf seine Notizen, als sie sah, dass er nicht schrieb:
"Ich glaube schon, dass dir bewusst ist, dass Nocturn im Volk sehr beliebt ist. Nur denkst du viel zu sehr wie ein Wächter, denn du verstehst nicht, warum er es ist und du versuchst das, was ihn beliebt macht, zu unterdrücken - so geht das nicht!" Sie holte Luft:
"Nocturn tauchte auf, als wir alle Angst hatten vor White; in einer Periode, in der die meisten von uns verfluchte Angst hatten. Wir hatten nie so viele Auswanderungen in die Menschenwelt wie in dieser Zeit! Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass Azzazello über seine Hörner geklagt hat, weil er mit diesen niemals in der Menschenwelt hätte leben können und wie bedauernswert es sei, dass alle seine Kinder immer die Hörner geerbt hätten. Als Halbwächter verstehst du diese Angst wohl nicht, aber unsere Furcht vor Lichtintus ist das einzige, was alle Dämonen vereint. Und diese Frau war wandelndes Lichtintus. Sie ist der Tod. Wo sie auftaucht, sterben wir." Ein Zittern ging durch Lacrimosa, welche bleich geworden war:
"Und jetzt ist sie wieder da. Da sind wir den Bannkreis los und dann das..."
"Ich denke nicht, dass sie über dieselben Fähigkeiten verfügt wie vor ihrem Tod. Sie besitzt keinen echten Körper; sie wird eingeschränkt sein."
"Erzähl das mal Dämonen, die Lichtintus bereits erlebt haben; erzähl das mal Dämonen, denen Familie was bedeutet und die gesehen haben, wie ihre Kinder sich in Fünkchen aufgelöst haben; erzähl das Dämonen, die wie ich ihre halbe Horde verloren haben! Ich musste tatenlos zusehen, wie meine Schwestern dahinsiechten, konnte nur eine Handvoll retten... so viel Anti-Licht haben wir gar nicht, um dagegen anzukommen." Youma schwieg, denn er sah deutlich in ihrem Gesicht, in ihren Augen und ihrer Körperhaltung, dass der Schrecken von damals noch tief in ihr steckte. Damals... so lange war das gar nicht her. Youma hatte über White gelesen, über den letzten Elementarkrieg, an welchem Lacrimosa auch teilgenommen hatte. Für Youma war es ein Geschichtsbuch gewesen, welches ihm nützliche Informationen über die Welt gegeben hatte, in welcher er sich nun befand - für Lacrimosa war es... ihr Leben und kein Buch. Keine Information, sondern eine schreckliche Erfahrung. Lichtintus als eine Krankheit, die einen langsam tötete, hatte Youma nicht erlebt: an seinem eigenen Körper hatte er sie nur als... vernichtende Feuerwalze gespürt.
"Ich war damals die einzige, die Nocturn-kun direkt um Hilfe gebeten hat. Hätte ich es nicht getan... wer weiß, wie viele ich dann verloren hätte. Als Nocturn-kun auf der Bildfläche erschien, konnten wir wieder aufatmen; die anderen Fürsten wollten es natürlich nicht zugeben, nein, niemals; das kratzte ja an ihrem polierten Ego, dass so ein dahergelaufener Dämon etwas konnte, was sie nicht konnten, ha! White und Nocturn-kun haben sich immer prima selbst beschäftigt; halte Abstand und genieß die Show, hieß es damals. Wir Hohen konnten wieder normal Krieg führen, denn Nocturn-kun schien immer zu wissen - er beteuerte, er spürte es - wenn White in die Schlacht geschickt wird und war immer zur Stelle, um sie zu begrüßen. Er hat uns damit einen großen Gefallen getan, auch wenn die anderen es nicht zugeben wollten... Natürlich weiß ich, dass ihn das Wohl unserer Welt und derer, die ihn als Retter anhimmelten, vollkommen egal war. Ich glaube, ihm war das gar nicht bewusst, wie beliebt er war und wie viele ihn gerne mindestens als Fürst sehen würden." Das Gebiet würde aber sehr schnell untergehen, dachte Youma mit einem halben Grinsen, welches Lacrimosa aber bemerkte und streng fortfuhr:
"Lach nicht, es ist realer, als du denkst - und wichtig für dich. Es gibt nämlich immer noch Dämonen, die ihn nicht vergessen haben und das musst du nutzen! Halt Nocturn hier nicht fest: Er hat hier in Paris überhaupt nichts zu suchen! Wenn White auftaucht, muss Nocturn auch sofort da sein und eine gute Figur abgeben. Er darf das, was ihm die Sympathie des Volkes gegeben hat nicht verlieren, das ist das allerwichtigste." Lacrimosa wartete kurz, damit Youma sich alles aufschreiben konnte und fuhr dann fort:
"Aber das ist noch lange nicht alles, was ich dir sagen möchte, womit wir wieder zu dir kommen. Ich erteilte dir jetzt eine Lektion, wie wir Dämonen denken, denn wir denken nicht wie Wächter, was du scheinbar tust. Das aller, allerwichtigste für uns ist Freiheit. Freiheit, das zu tun, was wir wollen, wann wir wollen und wie wir wollen. Das ist unser einziges Gesetz. Alle Dämonen bilden sich ein, dass sie auch genau das haben, aber das stimmt natürlich nicht. 70% der gesamten Bevölkerung gehört zu den Gebieten; die restlichen 30% sind Dämonen, die in der Menschenwelt leben und so tun, als wären sie Menschen - oder eben nicht - und dann solche kleinen Gemeinschaften wie die Incubi, die sich abschotten vor allem und denen man nicht zu nahe kommen sollte - das ist übrigens ein ungeschriebenes Gesetz, was du dir merken solltest; nähere dich denen niemals. Die leben im Norden, an der Grenze von Gyts Gebiet auf dem einzigen Fleckchen Erde, wo es bei uns immer regnet. Wenn es anfängt zu regnen, drehst du um."
"Warum?", warf Youma ein, obwohl der Blick seiner Gesprächspartnerin ihm sagte, dass er sie doch nicht unterbrechen durfte:
"Hör einfach auf meinen Rat! Lass sie in Ruhe, dann lassen sie uns in Ruhe; das war schon immer so. Du hast bei ihnen nichts zu suchen, niemand von uns hat das - und sie nicht bei uns. Sie sind eine sehr alte Rasse, die für sich bleibt." Sie räusperte sich und schob damit das Thema beiseite.
"Wie gesagt, 70% gehören zu uns Fürsten und zum König, das heißt, dass sie springen müssen, wenn wir sagen, dass sie es tun sollen, genauso wie wir springen müssen, wenn der König es von uns verlangt. Freiheit ist daher relativ, aber das sagen wir natürlich nicht zu laut. Aber mit dem Begriff "Freiheit" wird Politik gemacht, denn Fürsten, die ihre Macht dazu ausnutzen ihre Hordenmitglieder direkt zu unterdrücken, werden schnell die Erfahrung machen, wie es ist einen wütenden Mob gegen sich zu haben. Nocturn, als Unabhängiger, ist tatsächlich frei und das kam gut an, weil er damit gleich zwei unserer Ideale erfüllt: frei und stark. Und dann noch das mit White? Oh, das ist ein guter Cocktail, sag ich dir. Und was machst DU?! Du kommandierst ihn ÖFFENTLICH herum! Sag mal, spinnst du!?" Drohend zeigte sie mit ihrem Finger auf den perplexen Halbwächter:
"Wenn das Volk das Gefühl bekommt, dass du ihn herumkommandierst, ist ja er in ihren Augen überhaupt nicht besser dran als sie selbst - und dann bist du auch noch ein Wächter. Glaubst du allen Ernstes, das kommt gut an?! Ein Wächter, der einen Dämon herumkommandiert?! Ich denke, ich muss nicht ins Detail gehen, wie schlecht das ankommt oder?!"
"Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Ich bin nun einmal ein Halbwächter...", konterte Youma:
"... und es ist Nocturns Schuld, dass das nun jeder weiß!"
"Gib ihm nicht die Schuld." Was?! Es WAR seine Schuld!
"Alles an dir strahlt "Wächter"! Du riechst ja förmlich danach! Daran müssen wir dringend etwas ändern. Man soll dich nicht als Wächter kennen, sondern für deine Dämonenseite. Man muss vergessen, dass du ein Wächter bist. Nocturn-kun weiß das - er lässt dich nicht ohne Grund immer ohne deine Waffe trainieren, die ein Zeichen deines Wächterblutes ist." Youma, der eben noch dagegen argumentieren wollte, schwieg verblüfft. Das war der Grund, weshalb Nocturn immer so vehement darauf bestanden hatte, dass Youma ohne seine Sense kämpfen sollte? Hatte er das etwa auch schon bei ihrem Kampf in Lerenien-Sei im Hinterkopf gehabt, als er Youma dazu provoziert hatte, ihn mit bloßen Händen anzugreifen? Youma war wirklich verblüfft: das... hatte er Nocturn gar nicht zugetraut.
"Erst einmal wäre es eine gute Idee, wenn du dein Ego mal ein wenig herunterschrauben würdest. Ich glaube, das würde schon eine ganze Menge bringen. Ich meine, du sollst nicht Nocturn-kuns Schoßhund werden so wie Black es war, aber du bist nicht sein Fürst. "Partner" ist wirklich gut. Das ist zwar etwas unkonventionell, aber ich glaube schon, dass man das Volk davon überzeugen könnte, wenn ihr es richtig macht. Der Kampf, den Nocturn provoziert hat, war zum Beispiel sehr gut; ganz besonders dadurch, dass die Fürsten ziemlich dumm hingestellt wurden, weil die Bewohner von Lerenien-Sei natürlich davon ausgehen mussten, dass der Magie-Bannkeis, der alle Magieentladungen in der Stadt hemmt und von den Fürsten geschaffen ist, auf euch keine Wirkung hat. Man muss ja nicht erwähnen, dass ich ein wenig nachgeholfen habe!" Aha?!
"Sie haben nachgeholfen?! Sie haben den Kampf erst möglich gemacht?!"
"Oh, ach, was nein, Youma: eine meiner Lanzen ist einfach... ausgerutscht, sagen wir es so."
"Sie haben uns wirklich schon ganz schön unter die Arme gegriffen, Lacrimosa-san." Lacrimosa nahm Youmas Dankbarkeit mit Zufriedenheit auf und lächelte breit, doch wurde sofort wieder ernst:
"Aber das will ich nicht mehr. Ihr müsst das schon alleine hinbekommen. Solche Kämpfe mit vielen Zuschauern sind die beste Form der Propaganda, die man bekommen kann; besonders für dich, mein Hübscher! Wie gesagt bist du momentan entweder komplett unbekannt, oder "der Wächter" und das muss sich dringend ändern. Kreis das mal schön groß ein! Nehmt so oft es geht an öffentlichen Kämpfen teil, versalzt den Fürsten gehörig die Suppe - von mir aus auch mir, ich werde dann ganz empört tun! - lasst White nicht wieder zur Angst werden. Zeigt Präsenz! Es darf keine einzige Fürstenkonferenz geben, wo ich eure Namen nicht höre: Ich will, dass alle Fürsten über euch meckern! Und noch einmal: hör auf, Nocturn einzuschränken. Er ist ein Freigeist, lass ihn das auch bleiben! Kommandier ihn nicht herum und komm runter von deinem hohen Ross; du bist genauso wenig allmächtig wie wir alle! Wenn du zu uns Dämonen gehören willst, dann tu nicht so, als wärst du besser als wir." Dazu wusste Youma im ersten Moment nichts zu sagen, denn er musste ihre Worte erst verdauen. Anstatt dann allerdings direkt auf die Kritik einzugehen, entgegnete er:
"Entschuldigt, Lacrimosa-san, aber da ist leider ein Widerspruch: Sagen Sie mir nicht immer, dass ich versuchen soll, Nocturns wahnsinnige Einfälle zu begrenzen? Die Sache mit Blue ist nicht der erste wahnsinnige Einfall."
"Du musst natürlich differenzieren. Die ganz dummen Dinge solltest du versuchen, ihm subtil auszureden."
"Ich glaube nicht, dass ich das kann", antwortete Youma ehrlich.
"Dann musst du das lernen, Youma." Der Angesprochene sah zu Nocturn, der gerade so harmlos aussah, wie er Feullé dabei half, die Teller in den Geschirrspüler zu stellen.
"Lerne ihn zu verstehen."
"Bei diesem Prozess werde ich sicherlich selbst wahnsinnig."
"Aber du hast ihn zu deinem Partner gemacht."
"Und diese Tat schon viele Male bereut." Lacrimosa, die Youmas Blick gefolgt war, kicherte.
"Er ist krank, das stimmt. Aber da kann er nichts für." Diese Worte hörte Youma zum ersten Mal und er kam nicht drum herum, Lacrimosa skeptisch anzusehen.
"Eigentlich kann er ganz nett sein. Man muss nur lernen, es zu sehen." Mit einem leichten Seufzen sah Youma wieder zu Nocturn: "nett" war so ziemlich das letzte Wort, was er mit Nocturn verband, auch wenn es sicherlich gerade "nett" war, dass Nocturn seine tollpatschige Tochter vor einem Sturz bewahrte. Das aufmunternde Lächeln, welches er ihr schenkte, konnte man wohl auch... "nett" nennen...
"Sie klagen zwar oft über Nocturn, aber in der Regel sprechen Sie recht positiv über ihn. Darf ich fragen, warum sein Wohl Ihnen am Herzen zu liegen scheint?" Diese Frage überraschte Lacrimosa scheinbar - oder wollte sie ihm keine Antwort geben? Sie schwieg und ihr Lächeln war verschwunden und das Schweigen wurde etwas bedrückend. So bedrückend, dass Youma ihr gerade versichern wollte, dass er keine Antwort benötigte... als sie leise antwortete:
"Ich kenne... kannte seine Mutter."
Nocturn horchte schon auf bevor die Türklingel ertönte, womit Cilan, Klariettes und Feullés Gespräch unterbrochen wurde, die Feullé für ihr Essen lobten, obwohl es eigentlich eher mäßig gewesen war. Nocturn sprang vom Drehstuhl herunter, aus den Augenwinkeln bemerkend, dass Blue sich ebenfalls erhoben hatte, denn natürlich hatte er die Aura seines Bruders auch bemerkt, aber Nocturn war schneller an der Tür, wo nicht nur plötzlich ein etwas eingeschüchtert wirkender rothaariger Halbdämon vor dem Hausherren stand, sondern auch eine verdrießlich dreinblickende junge Franzosin, die er noch nie gesehen hatte - Schichtwechsel, wie er in ihren Gedanken las; eine junge Studentin, die sich was dazu verdienen wollte, Probleme mit ihrem Freund, Geldmangel, ausländerfeindlich, weshalb sie Silver nicht hatte ohne Weiteres hochlassen wollen - und jetzt stutzte sie natürlich über Nocturns Augen, da er seine Kontaktlinsen nicht trug. Den Gedanken, dass er irgendwie nicht menschlich aussah, vergaß sie schnell wieder, genauso wie dass sie gerade rote Augen gesehen hatte. In ihren Gedanken hatte Nocturn nun braune Augen.
"Monsieur Le Noires?" Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Türschild, eine Chance, die Silver nutzte, um an ihr und Nocturn vorbeizuhuschen, wofür Silver sich in Gedanken lobte, ohne zu bemerken, dass Nocturn ihm eigentlich bereitwillig Platz gemacht hatte.
"Bonsoir Mademoiselle. C'est vrai... quel était votre nom? "1 Der Nachteil beim Gedankenlesen war der, dass die wenigsten über ihren eigenen Namen nachdachten, weshalb das meistens eine Sache war, die Nocturn erfragen musste.
Silver allerdings interessierte sich schon gar nicht mehr für Nocturn oder diese mürrische Franzosin, die ihn irgendwie an Itzumi erinnerte, denn er hatte Blue entdeckt! Blue! Er stand aufrecht! Er schlief nicht! Er war nicht in einem Fiebertraum! Er war nicht im Sterben! Er ging sogar auf ihn zu!
"Silver!? Was... was machst du hier?"
"ANIKI!" Die mürrische Franzosin war ihm egal, Nocturn war ihm egal - und wo er sich befand war ebenfalls gleichgültig. Seitdem Green Blue tödlich verletzt hatte, hatte er die ganze Zeit unterbewusst und so manches Mal auch bewusst, mit der Angst zu tun gehabt, sein Bruder könnte die Attacke nicht überleben. Ihn jetzt vor sich stehen zu sehen, ganz normal, als wäre überhaupt nichts geschehen, gekleidet in seinem stinknormalen dunkel-türkisen Pullover und zum ersten Mal seit langem nicht im Dämonenmodus, trieb Silver die Tränen in die Augen.
"Cet étranger comiques a prétendu qu'il voulait vous... Vous-connaitez cette personne ?"2
"Évidemment, ce vrai, n'est-ce pas, mademoiselle ?"3, antwortete Nocturn dabei über die Schulter sehend, wo Silver gerade stürmisch auf seinen Bruder zu rannte.
"Évidemment..."4, lautete die skeptische Antwort der Studentin und Nocturn hörte in ihren Gedanken, wie sie sich über den "seltsamen Haufen komischer Leute" wunderte.
Die Franzosin redete weiter, während Silver sich Blue in die Arme warf und hinter ihnen die Balkontür aufgerissen wurde, für die Silver und Blue aber beide keine Aufmerksamkeit hatten. Es war so selten, dass sie sich umarmten, schoss es Blue durch den Kopf - aber Silver nicht. Er drückte sich einfach nur an ihn, so wie er es nicht mehr getan hatte seit dem Tod ihrer Mutter.
"Silver..."
"Du lebst...!" Lacrimosa blieb an der Tür stehen, wo sie einen zutiefst wütenden Blick an Youma sandte, als wäre der verwunderte Halbdämon Schuld an diesem Besuch:
"Siehst du!", zischte sie:
"Jetzt ist schon der zweite hier! An Blue ist ein Zopf dran, ich sage es dir - und ich sage dir auch, dass es nicht lange dauern wird, bis ihr Ri-Il persönlich an der Tür stehen habt!" Weder Silver noch Blue hörten Lacrimosa jedoch: Blue war immer noch zu sehr überrumpelt, um die Umarmung anständig zu erwidern, doch das schien Silver nicht zu stören, welcher sich schon freudestrahlend von Blue löste, etwas errötet über seinen Impuls seinen Bruder zu umarmen.
"Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele Sorgen ich mir um dich gemacht habe, du Arsch?!"
"Doch..." Blues Arme und Hände, die immer noch ausgestreckt waren, als hielte er seinen kleinen Rotschopf noch, der bis über beide Ohren vor Erleichterung strahlte, zuckten ein wenig, als er sich versuchte zu einem Lächeln zu bringen, obwohl ihn gerade die Schuld übermannte. Wie lange war er... weg gewesen... wie viel Angst hatte er Silver bereitet...?
"... das kann ich mir vorstellen, Silver."
"Ils ont été informés que vous devez annoncer une visite grande comme ca ? "5, bohrte die Brünette nach, denn nur weil sie sich wunderte, hieß es nicht, dass sie sich irgendwie von dem Chaos und den "komischen Leuten" abschrecken ließ. Sie nahm Nocturn wieder skeptisch in Augenschein und stemmte ihre Hände in ihre durch Diäten sehr kränklich wirkende Hüfte, bis...
"AUS DEM WEG------------!" Dieser Aufschrei stammte von Lacrimosa, der nicht nur in den Ohren des menschlichen Besuchers sehr bedrohlich klang;
"Q-Qu'est-ce que ... ce que c'était ? Était-ce ... homme ? Quelle est cette langue ?"6 Berechtigte Fragen und sie verlor noch mehr Gesichtsfarbe, als sie Lacrimosa mit wirbelnden Haaren auf Silver zustürmen sah und sie ihn mit einer klatschenden Ohrfeige gegen die Küchentheke schmetterte.
Feullé schrie spitz auf, während Klariette und Cilan Lacrimosa für ihre Tat bejubelten und sie für einen guten Schlag lobten. Ein guter Schlag war es offensichtlich; die Tür des Küchenschranks hing in ihren Angeln und fiel klappend aus eben diesen, als Silver sich schwankend und mit Blut von der Stirn tropfend aufrichtete, wobei Blue ihn eilends stützte.
"Das war für all deine widerlich oberflächlichen Kommentare meinem Geschlecht gegenüber, die ich in den Berichten alle rot markiert habe!"
"Qu'est-ce que ... ce qui se passe ici ? Je ... Je dois appeler la police, oui. Je dois faire."7
""Bericht"?", wiederholte Silver mit dröhnendem Schmerz im Hinterkopf, sich dann an seinen Bruder wendend:
"Das hast du in den Berichten geschrieben?!"
"Ahahaha, une instant !"8
"Aber natürlich; ich bin immer wahrheitsgemäß geblieben. Du hättest sie ja einfach lesen können, dann wüsstest du es."
"Ah, Blue, ich habe dich wirklich so vermisst! Sogar deine immer-alles-besser-wissende-Art!", strahlte Silver und war den Tränen nahe.
"Ich hätte dich schon viel früher geschlagen, wenn ihr nicht dauernd an Ri-Ils lächerlichen Zöpfen hängen würdet!"
"Also eigentlich habe ich großen Respekt vor Frauen, stimmt doch, oder Blue?"
"Du kannst froh sein, dass Schwester Lacrimosa dich am Leben lässt!"
"Alleine schon wie er immer diese Feuerwächterin beschimpft und wegen ihrer Rundungen beleidigt hat!"
"Entschuldigt mal, Firey kann das ab! Und was wisst ihr Furien überhaupt davon; das ist eben die Art, wie wir miteinander umspringen! Wenn ich sie nicht Flachbrett nenne, denkt sie garantiert, dass ich krank bin!"
"Wie schrecklich oberflächlich!"
"ZUUT ALORS ! EN VOILÀ ASSEZ !"9 Da nur Feullé Nocturns Ausruf verstanden hatte, fühlten sich die anderen Anwesenden von ihm nicht angesprochen - als er jedoch fluchend in die demolierte Küche zurück stampfte und Silver und Blue am Kragen packte, war es unmissverständlich, dass er mit der dämonischen Versammlung gesprochen hatte. Zum Dämonisch zurückfindend klagte er lauthals, während er die beiden Dämonenbrüder Richtung Haustür schleifte:
"Habt ihr denn eine Ahnung, was ihr hier für einen Radau macht?! Kein Wunder, dass dieses unhöfliche Gör die Polizei rufen wollte! Ihr könnt froh sein, dass ich Gedanken löschen kann! Oder wie hättet ihr es der Polizei erklärt, dass ihr wie ungehobelte Tiere klingt?! So klingt Dämonisch nämlich in den Ohren der Franzosen! Ganz zu schweigen von der Küche! Die ist maßgeschneidert, ihr verfluchten Flegel! Wie soll ich die Tür jetzt ersetzen?! HA?! Soll ich Ri-Il eine Rechnung schicken!? Merkt euch gefälligst für die Zukunft: Wenn ihr ungeklärte Dispute habt, KLÄRT DIE NICHT IN MEINEM APARTMENT!" Youma lachte ein wenig über diese absolut "nette" Seite von Nocturn, während dieser die beiden Halbdämonen im hohen Bogen hinaus in den Gang warf, wo die Brünette verschwunden war. Allerdings schickte er sie nicht fort ohne - nun nicht mehr im schreienden Tonfall - noch letzte Worte an sie zu richten:
"Hier sind fünfzig Euro; geht irgendwo hin, trinkt was, esst ein Crêpe - mir egal - aber klärt, was ihr zu klären habt!"
---
1 "Guten Abend, Mademoiselle. Das ist richtig... Wie war ihr Name?"
2 "Dieser komische Ausländer behauptete, dass er Sie kenne... Kennen Sie diese Person?"
3 "Offensichtlich ist das richtig, nicht wahr, Mademoiselle?"
4 "Offensichtlich..."
5 "Sie sind darüber informiert, dass sie solch einen großen Besuch ankündigen müssen?"
6 "W-Was... war das? War das... ein Mensch? Was ist das für eine Sprache?"
7 "Was... was ist hier hier? Ich... muss die Polizei rufen. Ja das muss ich."
8 "Ahahahaha, einen Augenblick!"
9 "Verdammt nochmal! Jetzt ist aber genug!"