Kapitel 68 - Das 1x1 der Informationsbeschaffung
Feullé war über das Ganze schrecklich verwirrt. Sie verstand es nicht; verstand nicht, wie das möglich sein konnte - war es, weil sie absolut keine Kenntnis über das andere Geschlecht besaß? Sie hatte nie über die Unterschiede zwischen Mann und Frau nachgedacht, dachte Feullé stillschweigend, als sie sich ihr hellblaues Nachtkleidchen in ihrem Zimmer anzog, nachdem ihr Ziehvater überrascht festgestellt hatte, dass sie doch schon längst ins Bett gehörte.
Doch nach diesem Kampf, bei dem ihr Ziehvater und Youma sich wortwörtlich die Köpfe eingeschlagen hatten, schien die Anspannung, die Feullé die ganze Zeit bedrohlich wahrgenommen hatte, verflogen zu sein. Die Tür zu ihrem Zimmer war natürlich geschlossen, während sie sich für die Nacht umkleidete, dennoch konnte sie deutlich vernehmen, dass die beiden normal miteinander sprachen, als wäre überhaupt nichts passiert. Wie war das nur möglich? Sie hatten sich einen Kampf ohne Erbarmen geliefert, hatten sich... jedenfalls von dem, was Feullé gesehen hatte, wirklich umbringen wollen... und jetzt? Irgendetwas musste während des Kampfes geschehen sein, irgendetwas, das die Lage gedreht, sie verändert hatte... aber was? Sie hatte den Kampf an sich nicht beobachten können; als Feullé auf sie zugerannt kam, war er schon vorbei gewesen. Nocturn hatte sie angegrinst, sich das Blut aus dem Gesicht wischend - hatte dieselbe Hand auf Feullés Kopf gelegt, um sie von ihren besorgten Gedanken abzubringen, die er wohl deutlich in ihrem Gesicht ablesen konnte.
Doch obwohl sie sich über diese Berührung freute und natürlich auch darüber, dass Nocturn wohlauf war, warf sie einen flüchtigen Blick zu Youma, der gerade das Siegel seiner Sense löste und sie aus dem Boden herausriss. Dass Nocturn gut gelaunt wirkte überraschte sie nicht, sie kannte seine heftigen Stimmungsschwankungen immerhin sehr gut, aber dass Youma anders wirkte, irgendwie... weniger angespannt, das schockierte Feullé beinahe.
Aber gut... sie kannte ihn ja nicht, vielleicht sollte sie sich nicht anmaßen, über ihn zu urteilen...
Dann hatte Nocturn sich und seine Tochter nach Paris teleportiert. Wie immer kurz vor die Appartementtür mit der Nummer 667, hatte sie bei der Hand genommen, sie, die sich kurz fragte, ob Youma sich ebenfalls nach Paris teleportiert hatte...? Hatte er? Sie hatte kurzweilig geglaubt, dass die eigenartige "Partnerschaft" der beiden nun aufgelöst sei. Aber nein, Youma war im Inneren der Wohnung dabei, seine Stiefel auszuziehen, Nocturn wies ihn mit erhobenen Augenbrauen darauf hin, dass es eine Tür gäbe - und dann diskutierten sie in einem völlig normalen, ja, fast schalkhaften Tonfall darüber, wer denn zuerst ins Badezimmer gehen solle. Ah, Youma dürfe zuerst, er sei ja schlimmer verletzt als Nocturn... wieder zwei, drei triezende Kommentare hin und zurück und immer größer wurde Feullés Verwirrung. Sie hatte geglaubt, dass der Kampf das sehr wackelige Gerüst, auf dem dieses Zusammenleben basierte, kaputt gemacht hätte, aber er hatte es... verbessert?
Jedenfalls lag in ihren Stimmen nicht länger Aggression. Feullé, immer noch an der Hand ihres Vaters, holte tief und langsam Luft. Ja, die Luft in dieser Wohnung schien leichter geworden zu sein.
Nachdem Feullé sich umgezogen und ihre Haare aus dem feinsäuberlichen Haarknoten gelöst hatte, verließ sie ihr Zimmer und war ein wenig überrascht, als sie Nocturn und Youma gelassen in der Sesselgruppe vorfand - einige Stunden zuvor hatten sie sich nur quer über das Zimmer giftig angestarrt und jetzt sprachen sie normal miteinander, während Nocturn sich die Haare trocken rieb und Youma seine kämmte? Bis jetzt hatte sie sie noch nie dort sitzen gesehen... Lacrimosa hatte vollkommen recht: Männer waren wirklich sehr eigenartige Wesen.
"Ah, ma petite! Niedlich siehst du aus. Hast du deine Zähne schon geputzt?" Jede andere 26-jährige Frau hätte sich wohl maßlos über diesen Kommentar geärgert und sich auch nicht darüber gefreut, niedlich genannt zu werden, doch Feullé lief purpurrot an und senkte umgehend den Kopf. Es würde wohl noch eine ganze Weile vergehen, ehe Nocturn begreifen würde, dass ihre Zeit nicht stehengeblieben war und sie während seines Todes gealtert war, aber das störte sie nicht. Erfreut machte ihr Herz einen Sprung, als Nocturn sich aus dem Sessel erhob, nachdem er verkündet hatte, dass er sie ins Bett bringen würde. Sie bemerkte zwar Youmas zweifelnden Blick, doch dachte sich nichts dabei, als sie sich in ihr Bett kuschelte und Nocturn sie zudeckte, wie er es schon so viele andere Male getan hatte. Daraufhin schloss er die Tür, hängte sich das Handtuch um die Schultern und setzte sich auf den kleinen Schemel neben dem Bett, um ihr wie so oft ein französisches Märchen vorzulesen aus einem dicken, alten Märchenbuch. Feullé kannte alle Märchen aus dem Buch schon auswendig, denn Nocturn hatte ihr nie aus einem anderen Buch vorgelesen, als gäbe es für ihn keine anderen Kinderbücher - oder jedenfalls keine, die er in ihr "Gute Nacht"-Ritual einflechten wollte.
Feullé hatte sich schon vor seinem Tod gefragt, wo es eigentlich herkam. Er hatte es bereits besessen, ehe Feullé bei ihm eingezogen war. Doch sie hatte ihrer Neugierde in all den Jahren nie Luft gemacht. Bei einigen Themen wusste sie genau, dass sie nicht nachfragen sollte.
So lauschte sie seinen wohlklingenden Worten schweigend, die großen roten Augen Richtung Decke geheftet, denn sie hatte die eigenartige Angewohnheit rot zu werden, wenn sie Nocturn zu lange ansah; besonders wenn er es nicht bemerkte...
"Was hältst du eigentlich von ihm?", fragte Nocturn seine Tochter, als er das Buch zusammenklappte und es zurück in das Bord über ihrem Bett stellte. Er hatte die Frage auf Französisch gestellt, womit Feullé wusste, dass sie in dieser Sprache antworten sollte; es machte sie immer noch ein wenig nervös, denn sie hatte 18 Jahre lang kaum ein Wort Französisch gesprochen und obwohl sie sich selbst gezwungen hatte, in der Zeit in der Nocturn... nicht da gewesen war, in eben dieser Sprache zu denken, war ihr das nicht so richtig gelungen - und sie wusste, dass Nocturn sehr viel Wert auf die richtige Aussprache legte. Er kritisierte sie eigentlich nicht, aber es war schon ausreichend, dass sie selbst hörte, dass sie Fehler machte. Daher zögerte sie mit dem Antworten, bis sie die richtigen Worte zusammengesucht hatte:
"... Ich... weiß nicht. Er ist so anders als Black." Nocturn deutete ein Nicken an, ein wenig belustigt wegen dem Vergleich, während Feullé sich über das Thema zu wundern begann: schon einen Monat lebten sie nun zusammen - Nocturn hätte diese Frage schon viel früher stellen können... Warum stellte ihr Vater sie jetzt?
"Ich weiß nicht... ob er zu uns gehören kann... Wie Black es getan... hat. Aber wenn Ihr entscheidet... dass Youma-san zu uns gehören soll, dann... werde ich mich an ihn gewöhnen." Eine Weile sah Nocturn sie schweigend an und Feullé würde zu gerne erfahren, an was er in diesem Moment dachte, doch er teilte seine Gedanken nicht mit ihr. Nach ein paar Sekunden des Schweigens richtete er sich auf, strich ihr über den Kopf und ging zur Tür. Dort blieb er allerdings stehen, was Feullé sehr überraschte, denn eigentlich war das über den Kopf Streichen ein stummes "Gute Nacht" und es war so gar nicht seine Art, danach noch mit ihr zu sprechen.
"Machst du mir Vorwürfe?"
"Vorwürfe?", wiederholte Feullé verwundert, was Nocturn jedoch anders deutete; nämlich so, dass Feullé das französische Wort für "Vorwürfe" nicht kannte, weshalb er die gleiche Frage noch einmal auf Dämonisch stellte. Doch Feullé hatte ihn beim ersten Mal sehr wohl verstanden und antwortete daher auf Französisch:
"W-warum sollte ich Ihnen denn einen... Vorwurf machen?" Nocturn antwortete nicht; stattdessen wünschte er ihr eine "Gute Nacht" und verließ das Zimmer.
Wieder in der Stube angekommen wurde der Flötenspieler von den hochgezogenen Augenbrauen Youmas begrüßt, die eine doch sehr deutliche Sprache sprachen, die Nocturn nicht entging, aber dennoch unkommentiert ließ. Youma formte seine Skepsis auch nicht zu Worten, sondern beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Nocturn sich ein Glas Wasser einfüllte, in welches er drei kleine weiße Tabletten hineinwarf, ehe er sich zusammen mit dem nun pulsierenden Wasser wieder zu Youma setzte, um dort fortzufahren, wo sie stehen geblieben waren. Doch Youma machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem er zuerst das Wort erhob, zusammen mit einem verwunderten Blick in Richtung des Wassers, die Bürste nun auf den Tisch legend:
"Was ist das?" Nocturn konnte ihm offensichtlich nicht folgen und antwortete zweifelnd:
"Ich würde davon ausgehen, dass es sich um Wasser handelt?"
"Ich meine das, was du hineingegeben hast."
"Kopfschmerztabletten, gegen Schmerzen im Kopf", entgegnete Nocturn feixend, ehe er das Glas an seine Lippen setzte. Youma konnte sich ein überhebliches Grinsen nicht verkneifen, als er sich zurücklehnte und ebenso feixend antwortete:
"Hat dich unser Kampf etwa so sehr angestrengt? Ich hatte dich doch gar nicht so hart am Kopf getroffen, wenn ich mich recht erinnere." Nocturn setzte das nun leere Glas betont vorsichtig auf dem Tisch ab und antwortete scheinheilig grinsend:
"Deine Treffer kann man an einer, nun ja, vielleicht zwei, wir wollen mal nicht so sein, Händen abzählen, Kronprinz. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat keiner von denen meinen Kopf getroffen - oder es war ein sehr sanfter Schlag und ich habe ihn gar nicht bemerkt, das kann natürlich auch sein!" Nocturn lehnte sich ebenfalls zurück und ahmte die gelassene Pose seines Gegenübers nach, während sie sich beide erfreut angrinsten, beide sicher, dass das nicht ihr letzter Kampf gewesen war. Die Aggression, welche die eigentliche Ursache des Kampfes gewesen war, hatte sich im Laufe dessen zu etwas anderem entwickelt - das hatten sie beide gespürt, sogar der sonst so ernste Youma, der sich auch jetzt darüber wunderte, dass er zu grinsen begonnen hatte. Deshalb hüstelte er auch und zwang sich zu seiner Ernsthaftigkeit zurück.
"Es hat dir Spaß gemacht", stellte Nocturn fest, woraufhin Youma ein leichtes Achselzucken andeutete.
"Es war jedenfalls eine neue Erfahrung."
"Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich lag richtig mit meiner Vermutung, dass du nicht ausgebildet bist, nicht?", fragte Nocturn, ohne ahnen zu können, dass er sich in ein Thema hinauswagte, welches Youma schnell verweigern würde:
"Ich habe nie gekämpft. Nicht so, nicht ernsthaft jedenfalls. Allerdings muss ich richtigstellen, dass ich schon eine Ausbildung genossen habe. Ich wurde nur nicht zum Töten ausgebildet."
"Da hat dich aber jemand ganz schön gebremst, immerhin hast du ausbaufähige Fertigkeiten; das will ich gar nicht bestreiten." Ja, das war wohl genau das richtige Wort. Man hatte ihn wirklich sehr gebremst und somit auch seine Kräfte, sein wahres Potential, unterdrückt. War das die Absicht gewesen? Durch den Kampf gegen Nocturn war Youma klar vor Augen geführt worden, dass noch weitaus größere Kräfte in ihm schlummerten, als er angenommen hatte. Stets hatte man ihn nur zu einem gewissen Grad herangedeihen lassen. Das würde nun enden. Jetzt würde Youma seine Grenzen entdecken und nichts würde ihn aufhalten können. Er war Luzifers Sohn, und auch wenn sein leiblicher Vater ihm nichts bedeutete und er ihm auch keinen Respekt zollte, so war es das Blut eines Teufels, das ihm durch die Adern floss - das Blut, das auch jetzt bereits effektiv dabei war, seine Verletzungen zu heilen. Er spürte das Pochen in seinem Körper, spürte, wie die Magie, die er von seinem Vater geerbt hatte, sich seiner Verletzungen annahm, zielsicher und präzise.
"Wenn es nicht mein Agieren war, welches deine Kopfschmerzen ausgelöst hat, was war es dann?", wechselte Youma geschickt das Thema, um von sich abzulenken, denn er hatte gewiss nicht vor, familiäre Probleme mit Nocturn zu besprechen. Obwohl Nocturn den Themenwechsel bemerkte und ihm die Hintergedanken Youmas bewusst waren, sprang er darauf an. So sehr interessierte es ihn dann doch nicht:
"Du magst es dir nicht vorstellen können, aber das Gedankenlesen ist sehr anstrengend. Ich bekomme Kopfschmerzen davon." Er zeigte mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe und fuhr fort:
"So viele Stimmen plötzlich in deinem Kopf, versuch da mal, deine eigene zu finden!"
"Ich kann mir vorstellen, dass das womöglich nicht ganz angenehm ist. Aber die Fähigkeit ist dennoch überaus praktisch."
"Ja, aber sie ist auch ein Fluch, wenn man nicht weiß, wie man sich und seine Gedanken abschirmt. Du willst nicht die Gedanken von allen hören. Wenn man sich erst einmal öffnet, strömen alle Gedanken hemmungslos auf einen ein; es ist mir jedenfalls nicht möglich, nur eine Stimme zu hören und dabei die anderen auszuschließen. Ri-Il dagegen... er kann das sicherlich."
Ein weiteres Mal erhob Nocturn sich, um sich ein Glas Wasser zu genehmigen. Youma jedoch achtete nicht weiter auf seine Bewegungen, denn die letzten Worte Nocturns hatten ihn zu Stein erstarren lassen; einen Zustand, den er jedoch schnell wieder von sich schüttelte.
"Was meinst du damit, Ri-Il könne das?" Obwohl Nocturn die Gespanntheit in den Worten seines Partners deutlich heraushören konnte, antwortete er ihm nicht sofort - wahrscheinlich genau deshalb. Er tat so, als würde er die Erwartung in den Augen seines Gegenübers nicht sehen, während er sich seelenruhig wieder setzte und erst einmal einen Schluck von seinem Wasser nahm, ehe er spaßend antwortete:
"Ja, wusstest du denn nicht, dass er auch Gedanken lesen kann? Er ist sogar weitaus talentierter darin: er braucht garantiert keine Kopfschmerztabletten." Youma sah ihn einen Moment schweigend an, ehe er seine Stirn runzelte und sich wieder in seinem Sessel zurücklehnte.
"Daher also dieser intensive Blickaustausch... Ihr habt die Gedanken des jeweils anderen gelesen?"
"Nein", erwiderte Nocturn gelassen:
"Wir können die Gedanken voneinander nicht lesen; sie prallen aufeinander und stoßen sich gegenseitig ab. Ich denke, das ist sein Grund, um mich nicht zu mögen, immerhin bin ich somit der einzige, dessen Gedanken er nicht lesen kann - und auch der einzige, der von seinen Fähigkeiten weiß. Das wird so ein Schlitzohr wie ihn sicherlich ordentlich irritieren." Wieder hüllte Youma sich in Schweigen, während er abwechselnd seine Fingerkuppen aufeinander prallen ließ.
"Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Ri-Ils Informationsnetz so umfassend ist. Aber wenn er will, dass seine Fähigkeit geheim verbleibt, bedeutet das, dass wir einen Trumpf gegen ihn in der Hand haben... Wir besitzen Informationen über einen der mächtigsten Dämonen der Dämonenwelt." Plötzlich breitete sich ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht des Halbdämons aus, im Takt mit dem Zusammenlegen seiner Handflächen.
"Das ist gut!", urteilte er:
"Gegen so einen gerissenen Dämon kann man nie genug Trümpfe in der Hand haben. Vielleicht ist das der erste Schritt, um ihn zu Fall zu bringen! Hast du noch mehr nützliche Informationen erlesen können? Diese ganze Farce soll ja nicht umsonst gewesen sein." Grinsend lehnte Nocturn sich zurück und lachte, als er ihm antwortete:
"Also ich fand diese Farce wirklich überaus amüsant! Und du solltest nicht vergessen, dass Taten bei uns Dämonen mehr wiegen als Worte. Du hättest noch so oft beteuern können, dass du den reinrassigen Dämonen in nichts nachstehst, doch im Endeffekt hättest du sie mit Worten nie davon überzeugen können." Deutlich war in Youmas Gesicht zu sehen, dass er nicht vorhatte, sich bei seinem Gegenüber zu bedanken; sein Blick war eher skeptisch, als er erwiderte, dass er daran zweifle, dass Nocturn das ernsthaft geplant habe und wieder einmal betonte er, dass Nocturn die Gedanken der Fürsten doch einfach hätte manipulieren können. Aber nein, stattdessen hatte er es nur noch schlimmer gemacht. Als ob es nicht schon schlimm genug gewesen war, dass Lerou irgendwie wusste, dass Youma ein Halbwächter war...Ah, da ging ihm ein Licht auf, wie er Nocturn auch mitteilte - ob es Karou gewesen war?
"Karou? Wieso denn Karou?"
"Weil Karou weiß, dass ich zur Hälfte ein Wächter bin und da er und Lerou Zwillinge sind... ist der Verdacht wohl naheliegend." Youmas Gesicht legte sich in dunkle Falten - da hatte Karou also versucht, ihn aus dem Weg zu räumen. Wirklich verwundern tat es ihn nicht, immerhin waren sie sich von Anfang an nicht grün gewesen. Scheinbar wollte Karou Youma nun wieder loswerden, nun, wo Youma seinen Zweck erfüllt hatte: Nocturns Wiederbelebung. Doch so schnell würde das nicht geschehen.
"Aber dass du dann auch noch alles in die Welt hinausposaunen musstest!" Nocturn brachten diese frustrierten Worte nur zu einem Grinsen, aber das hinderte Youma nicht daran fortzufahren:
"Jetzt wissen die Fürsten, was mein Endziel ist! Glaubst du etwa, dass das den Plänen dienlich ist?! Und meine Rasse! Die wollte ich eigentlich geheim halten!"
"Das weiß ich."
"Du hast es gerade deswegen getan, oder?"
"Erkannt!" Eine solche Antwort hatte Youma schon erwartet und ein erschöpftes Stöhnen entfloh ihm.
"Also alles nochmal von vorne..."
"Das ist vielleicht auch besser so. Vielleicht solltest du erst einmal bei dir anfangen." Youma, der gerade seine Hand frustriert in seinem Pony vergraben hatte, löste diese nun von seinen Haaren, um Nocturn verwirrt anzublicken.
"Bei mir?"
"Ja", begann Nocturn mit einem belehrenden Grinsen:
"Es wäre schon ein guter Anfang, wenn du deine Hochnäsigkeit ablegen würdest. Denn egal wie blau das Blut des Kronprinzen ist, so etwas ist in der Dämonenwelt absolut belanglos, solange du nicht kämpfen kannst." Diese Worte verstand Youma natürlich nicht, denn er wusste nicht, was die Metapher "blaues Blut" bedeutete. Wüsste er es, dann wäre ihm vielleicht durch den Kopf geschossen, dass sein Blut nicht nur "königlich" sondern gar "göttlich" war. Aber statt sich an der Metapher Nocturns aufzuhängen, sah er ihn weiterhin nur verwirrt an, was Nocturn zu erheitern schien.
"Hochnäsig?"
"Ja, hochnäsig. Du wirst ja wohl bemerkt haben, dass deine Worte nicht gerade beliebt waren, oder? Wer so reden will wie du muss beweisen, dass er stark genug ist, damit man ihm nicht für seine nervigen Worte in die Fresse schlägt - entschuldige meine Wortwahl, ich zitiere nur die Gedanken einiger Fürsten." Nocturn grinste breit, als er dies sagte und Youma war sich nicht so sicher, ob das nicht vielleicht seine eigenen Worte waren. Aber dann überraschte Nocturn ihn; sogar sehr überzeugend - und positiv. Nocturn hatte sich wieder vorgelehnt, stützte den Ellenbogen auf dem Glastisch ab und sah Youma aus dieser Position heraus mit einem feixenden Grinsen an:
"Und da ich nicht glaube, dass du von deiner Hochnäsigkeit ablassen kannst, bedeutet das, dass es nur eine Möglichkeit gibt, wie du vorankommen kannst - und mit der sollten wir anfangen, bevor irgendwelche tollen, neuen Pläne geschmiedet werden!" Dramatisch wie Nocturn nun einmal war pausierte er seine Ankündigung, ehe er sie beendete:
"Ich werde dich trainieren!" Es gelang Youma nicht einmal zu blinzeln, ehe Nocturn schon erfreut fort fuhr:
"Ja, zweifelst du meine Fertigkeiten etwa an? Ich glaube, unser kleiner Kampf hat deutlich gezeigt, wer der erfahrenere Kämpfer von uns beiden ist - meinst du nicht auch? Du brauchst dringend ein ordentliches Training, ansonsten wirst du nie auch nur in die Nähe der Krone kommen. Ich denke, Lerou ist mit Intelligenz schon beizukommen, obwohl er so eine enorme Stärke besitzt, aber die Fürsten werden nicht zulassen, dass ein Halbwächter, der augenscheinlich so schwach ist wie du, die Krone der Dämonenwelt trägt - also musst du schon trainiert werden. Das siehst du doch ein, oder?" Wieder gelang es Youma nicht, zu antworten:
"Und dann, wenn unser Training Früchte trägt, dann wirst du deinen Fehler wiedergutmachen." Nocturn lehnte sich zurück und endlich kam Youma dazu, zu antworten:
"Fehler? Was meinst du?"
"Na, wir waren uns doch einig, dass es ein Fehler von dir war, mich wiederzubeleben oder? Also musst du den Fehler wieder ausbügeln! Ist das nicht logisch?" Zweifelnd runzelte Youma die Stirn: verstand er den frohlockenden Dämon vor sich gerade... richtig? "Ich werde dich zu meinem Mörder formen!"
Während in Paris über Tod und Leben diskutiert wurde, verließen Saiyon und Shitaya das Büro ihres Vorgesetzten: Shitaya tief in Gedanken, dabei nicht einmal bemerkend, dass Saiyon ihn dabei neugierig ansah, denn er konnte sich keinen Reim daraus machen, warum er es abgelehnt hatte, den Posten Tinamis anzunehmen. Doch sein großer Bruder teilte seine Gedanken leider nicht mit ihm. Schweigend durchquerten sie die Gänge des Tempels und das, wo Saiyon es nun wahrlich gebraucht hätte, mit seinem großen Bruder zu sprechen - auch was... andere Gebiete anging.
"Ich werde mich hier von dir verabschieden", kündigte Shitaya plötzlich an und schreckte seinen Bruder damit förmlich aus dessen Gedanken auf. Sie waren in der großen Halle angekommen, der Halle der Engelsstatue, und Saiyon war überrascht zu sehen, dass Shitaya eine andere Richtung als die, die ihn zurück zu seiner Wohnung bringen würde, einschlagen wollte.
"Wo willst du denn hin?" Shitaya warf einen Seitenblick auf den gigantischen Globus, um sich zu vergewissern, dass momentan auch wirklich keine Kampfaktivitäten stattfanden und antwortete dann:
"Ich werde mit Tinami-dono sprechen. Ich wünsche dir eine..." Doch sofort bemerkte Shitaya, dass er seinen kleinen Bruder nun unmöglich alleine lassen konnte. Alleine bei dem Gedanken, dass sein großer Bruder ihn bereits jetzt stehen lassen würde würde und er somit in sein neues Gemach gehen musste, schien er beinahe panisch zu werden.
"Du... du kannst mich doch jetzt nicht einfach verlassen!", stammelte Saiyon immer röter werdend:
"Ich... weiß doch gar nicht... du hast mir doch noch überhaupt nichts gesagt!" Zweifelnd, aber auch irgendwie belustigt sah Shitaya seinen kleinen Bruder an und legte aufbauend eine Hand auf seine Schulter:
"Saiyon, so etwas beredet man nicht: schon gar nicht in der Öffentlichkeit! Du wirst das schon hinbekommen. Einfach nicht darüber nachdenken."
"Das sagst ausgerechnet du mir! Du als größter Stratege des Wächtertums?!"
"Hahaha, du schmeichelst mir."
"Ich meine das ernst..."
"Ich auch."
"Aber was soll ich denn machen... ich hab doch gar keine Ahnung..." Sofort schnellte Shitayas Zeigefinger hervor, welchen er tadelnd vor dem Gesicht seines Bruders platzierte:
"Nicht in der Öffentlichkeit, kleiner Bruder, nicht in der Öffentlichkeit! Wer sind wir denn, Dämonen?" Er lachte unbeschwert über diesen Kommentar und schneller als dass Saiyon noch irgendetwas sagen konnte, verließ sein Bruder ihn doch tatsächlich, ohne ihm irgendwelche nützlichen Ratschläge mit auf den Weg gegeben zu haben - er sollte den Kopf ausschalten: war das allen Ernstes ein Ratschlag!?
Obwohl Green die ganze Zeit darauf gelauert hatte, dass Saiyon auftauchen würde, erschrak sie fürchterlich, als er an der Tür klopfte. Genau wie Saiyon hatte auch Green gerade noch versucht, irgendwelche Tipps aus Silence herauszukitzeln - doch auch diese hatte nicht viel preisgeben, wenn auch aus anderen Gründen; nämlich um sie zu ärgern.
"Hast du gerade mit jemandem gesprochen?", fragte Saiyon sichtlich verwundert, als Green ihm die Tür aufmachte und er niemanden in deren neuen Gemach ausmachen konnte. Die Hikari warf einen flüchtigen Blick auf Silence, welche sich grinsend auflöste und antwortete dann:
"Nein, ich... eh... habe mit niemandem gesprochen..."
"Oh, dann sprichst du mit dir selbst?" Bei jedem anderen wäre das wahrscheinlich ein Vorwurf gewesen, doch Saiyon stellte diese Frage so aufrichtig neugierig, dass Green keinen einzigen Moment daran dachte, dass es sich wohl um einen Vorwurf handeln würde. Doch scheinbar kam er plötzlich auf den Gedanken, dass man seine Worte anders deuten konnte und beeilte sich hastig zu sagen:
"Ich... meine das nicht böse oder vorwurfsvoll! Ich tendiere selbst dazu und..." Beide sahen sich mit großen Augen an - ehe sie sich vollkommen errötet voneinander abwandten. Green hörte Silence lachen, welche ihr aber noch viel Glück wünschte, ehe sie gänzlich verschwand.
"Vielleicht solltest du... erst einmal reinkommen und dich umsehen. Es ist immerhin auch deins." Während Green die Tür hinter sich schloss, tat sie dasselbe, was Saiyon ebenfalls in Gedanken tat - über sich selbst fluchen. Was taten sie denn da? Sie waren verlobt und sollten nun langsam anfangen, sich auch so zu benehmen und nicht... so unkontrolliert zu erröten.
"Schau du dich mal um", schlug Green vor, als sie sah, wie Saiyon vor den drei Gemälden stehen geblieben war und diese nun zu studieren schien:
"Ich werde... mich dann umziehen." Kaum, dass sie die Tür zum Badezimmer hinter sich gelassen hatte, stürzte sie beinahe zum Waschbecken, als würde sie sich in eben diesem ertränken wollen. Stattdessen spritzte sie sich das Wasser ins Gesicht und befahl sich selbst, dass sie sich zusammenreißen musste. Es war ihm gegenüber nicht fair, dass sie sich so anstellte - immerhin... liebte er sie. Er liebte sie genauso wie sie immer gehofft hatte, dass...
"Okay, Green, jetzt reicht es", zischte sie ihrem Spiegelbild vorwurfsvoll entgegen; jedoch so leise, dass er es unmöglich hören konnte:
"Gary... ist nicht mehr hier. Und jetzt hörst du gefälligst auf, an ihn zu denken."
Kurz lehnte sie bei diesen Worten ihre Stirn gegen ihr kaltes Spiegelbild, ehe sie sich entschlossen befahl, dass sie sich nun zusammenreißen würde - und das tat sie auch. Sie entledigte sich ihrer Kleider und zog das Nachtkleid an, welches Grey für sie gemacht hatte.
Sie warf noch einen kurzen Blick in Richtung ihres Spiegelbildes - dann wandte sie sich ab und kehrte ins Zimmer zurück. Hastig wandte Saiyon sich herum, als er bemerkte, dass Green aus dem Badezimmer herausgekommen war und deutlich war ihm anzusehen, dass er gerade noch etwas sagen wollte, ihm dies jedoch im Halse steckenblieb, als er Green sah.
"...Das hat mein Bruder für mich gemacht", flüsterte Green leise, nachdem er zu ihr gekommen war und nun genau vor ihr stand, um sie genauer verblüfft zu betrachten. Als sie dies jedoch sagte, lächelte er sie an und sagte, ebenso leise wie sie:
"Grey-dono beherrschte wirklich sein Handwerk. Du siehst... sehr hübsch aus." Green lächelte über dieses Kompliment, doch sie traute sich nicht, ihn direkt anzusehen, als hätte sie einen natürlichen Respekt vor seinen Augen. Dennoch hob sie nun zögerlich den Kopf: eine Andeutung, die er trotz mangelnder Erfahrung richtig verstand. Sie hätte es noch länger hinauszögern können, hätte irgendein Gesprächsthema anfangen können, aber... sie wollte den Sprung in das tiefe, kalte Wasser hinter sich lassen. So schnell wie möglich.
Diese Nervosität machte sie wahnsinnig!
Es war ein weitaus flüchtigerer Kuss als ihr Verlobungskuss und deutlich spürte Green, dass sie nicht die Einzige war, die nervös war - auch er war es und irgendwie erleichterte sie das.
"Wir müssen ja nichts überstürzen", flüsterte Saiyon, als sie sich wieder voneinander lösten und einen Moment lang konnte Green nicht glauben, was sie da hörte - hatte er ihre Nervosität ebenfalls bemerkt? Und nahm er deswegen Rücksicht auf sie? Diese verständnisvollen Augen, die seine sanfte Geste unterstrichen, als er ihr über die Wange strich - womit hatte sie so einen lieben Verlobten verdient? Sie sollte sich glücklich schätzen, dass sie nicht an irgendjemand gänzlich Unsympathischen geraten war, der sie nur heiraten wollte, um an die begehrten Rechte zu gelangen und hinter ihrem Rücken fleißig Gerüchte über sie verbreitete. Ein solcher hätte sie jetzt sicherlich nicht so sanft regelrecht um Erlaubnis gebeten. Es war nun ihre Chance, das Ganze abzubrechen, aufzuschieben für einen unbekannten Zeitpunkt, ohne dass Saiyon es ihr irgendwie übel nehmen würde. Denn er... er liebte sie einfach nur. So einfach war das.
Green hörte ihre eigenen Worte kaum, doch sie war sich im Nachhinein sicher, dass sie ihm versicherte, dass es in Ordnung war... sie mussten es ja... egal wie sehr Green sich gegen den Gedanken auch sträubte. Sie wehrte sich daher nicht, als er sie galant in seine Arme hob und sie auf deren neuem Bett absetzte.
Die Hikari wusste, dass es jetzt keinen Weg mehr zurück gab und sie hoffte inständig, dass Saiyon der Überzeugung war, dass ihr innerer Widerwille nichts als Nervosität war und dass es ihm ebenfalls nicht auffiel, dass sie seinen Augen auswich, als er sie beinahe erstaunt anblickte, wie er sie vor sich liegen sah, als könnte er auf einmal nicht begreifen, was dabei war, zu geschehen. Doch anders als Green, welche bemerkte, wie ihre Fingernägel sich in der Bettdecke verkrampften, schien die Nervosität langsam von ihm zu fallen, als er sich halb über sie beugte. Green versuchte, ihre Augen sanft zu schließen, anstatt sie angstvoll zusammenzupressen. Sie wusste, was sie da tat war unfair ihm gegenüber: einem Mann, der einfach nur mit der Person zusammen sein wollte, die er liebte, aber sie konnte einfach nicht anders.
"Green..." Erschrocken, aus Angst, dass er ihren Widerwillen bemerkt hatte, schlug die Hikari ihre Augen wieder auf - und traf die seinen, allerdings nur für einen kurzen Augenblick, ehe sie ihre eigenen abwandte. Kaum, dass sie das tat, spürte sie seine warme Hand an ihrer Wange, die sie zärtlich dazu brachte, ihn wieder anzusehen:
"Ich werde schon auf dich aufpassen. Du brauchst keine Angst haben." Green war so überrascht über diese Worte, dass sie nichts erwidern konnte - auch nicht, als er ihre verkrampfte Hand von der Bettdecke löste und eben diese Handfläche liebevoll mit seinen Lippen berührte, in der Hoffnung, das würde sie von der Anspannung befreien. Es brachte leider nicht viel, doch Green versuchte, es zu verbergen, denn sie beschloss, es einfach... Die Hikari nickte leicht und spürte, wie er ihrem Gesicht näherkam, um ihr wahrscheinlich endgültig den Atem zu nehmen.
Dann piepte plötzlich das Kommunikationsgerät.
Doch nach diesem Kampf, bei dem ihr Ziehvater und Youma sich wortwörtlich die Köpfe eingeschlagen hatten, schien die Anspannung, die Feullé die ganze Zeit bedrohlich wahrgenommen hatte, verflogen zu sein. Die Tür zu ihrem Zimmer war natürlich geschlossen, während sie sich für die Nacht umkleidete, dennoch konnte sie deutlich vernehmen, dass die beiden normal miteinander sprachen, als wäre überhaupt nichts passiert. Wie war das nur möglich? Sie hatten sich einen Kampf ohne Erbarmen geliefert, hatten sich... jedenfalls von dem, was Feullé gesehen hatte, wirklich umbringen wollen... und jetzt? Irgendetwas musste während des Kampfes geschehen sein, irgendetwas, das die Lage gedreht, sie verändert hatte... aber was? Sie hatte den Kampf an sich nicht beobachten können; als Feullé auf sie zugerannt kam, war er schon vorbei gewesen. Nocturn hatte sie angegrinst, sich das Blut aus dem Gesicht wischend - hatte dieselbe Hand auf Feullés Kopf gelegt, um sie von ihren besorgten Gedanken abzubringen, die er wohl deutlich in ihrem Gesicht ablesen konnte.
Doch obwohl sie sich über diese Berührung freute und natürlich auch darüber, dass Nocturn wohlauf war, warf sie einen flüchtigen Blick zu Youma, der gerade das Siegel seiner Sense löste und sie aus dem Boden herausriss. Dass Nocturn gut gelaunt wirkte überraschte sie nicht, sie kannte seine heftigen Stimmungsschwankungen immerhin sehr gut, aber dass Youma anders wirkte, irgendwie... weniger angespannt, das schockierte Feullé beinahe.
Aber gut... sie kannte ihn ja nicht, vielleicht sollte sie sich nicht anmaßen, über ihn zu urteilen...
Dann hatte Nocturn sich und seine Tochter nach Paris teleportiert. Wie immer kurz vor die Appartementtür mit der Nummer 667, hatte sie bei der Hand genommen, sie, die sich kurz fragte, ob Youma sich ebenfalls nach Paris teleportiert hatte...? Hatte er? Sie hatte kurzweilig geglaubt, dass die eigenartige "Partnerschaft" der beiden nun aufgelöst sei. Aber nein, Youma war im Inneren der Wohnung dabei, seine Stiefel auszuziehen, Nocturn wies ihn mit erhobenen Augenbrauen darauf hin, dass es eine Tür gäbe - und dann diskutierten sie in einem völlig normalen, ja, fast schalkhaften Tonfall darüber, wer denn zuerst ins Badezimmer gehen solle. Ah, Youma dürfe zuerst, er sei ja schlimmer verletzt als Nocturn... wieder zwei, drei triezende Kommentare hin und zurück und immer größer wurde Feullés Verwirrung. Sie hatte geglaubt, dass der Kampf das sehr wackelige Gerüst, auf dem dieses Zusammenleben basierte, kaputt gemacht hätte, aber er hatte es... verbessert?
Jedenfalls lag in ihren Stimmen nicht länger Aggression. Feullé, immer noch an der Hand ihres Vaters, holte tief und langsam Luft. Ja, die Luft in dieser Wohnung schien leichter geworden zu sein.
Nachdem Feullé sich umgezogen und ihre Haare aus dem feinsäuberlichen Haarknoten gelöst hatte, verließ sie ihr Zimmer und war ein wenig überrascht, als sie Nocturn und Youma gelassen in der Sesselgruppe vorfand - einige Stunden zuvor hatten sie sich nur quer über das Zimmer giftig angestarrt und jetzt sprachen sie normal miteinander, während Nocturn sich die Haare trocken rieb und Youma seine kämmte? Bis jetzt hatte sie sie noch nie dort sitzen gesehen... Lacrimosa hatte vollkommen recht: Männer waren wirklich sehr eigenartige Wesen.
"Ah, ma petite! Niedlich siehst du aus. Hast du deine Zähne schon geputzt?" Jede andere 26-jährige Frau hätte sich wohl maßlos über diesen Kommentar geärgert und sich auch nicht darüber gefreut, niedlich genannt zu werden, doch Feullé lief purpurrot an und senkte umgehend den Kopf. Es würde wohl noch eine ganze Weile vergehen, ehe Nocturn begreifen würde, dass ihre Zeit nicht stehengeblieben war und sie während seines Todes gealtert war, aber das störte sie nicht. Erfreut machte ihr Herz einen Sprung, als Nocturn sich aus dem Sessel erhob, nachdem er verkündet hatte, dass er sie ins Bett bringen würde. Sie bemerkte zwar Youmas zweifelnden Blick, doch dachte sich nichts dabei, als sie sich in ihr Bett kuschelte und Nocturn sie zudeckte, wie er es schon so viele andere Male getan hatte. Daraufhin schloss er die Tür, hängte sich das Handtuch um die Schultern und setzte sich auf den kleinen Schemel neben dem Bett, um ihr wie so oft ein französisches Märchen vorzulesen aus einem dicken, alten Märchenbuch. Feullé kannte alle Märchen aus dem Buch schon auswendig, denn Nocturn hatte ihr nie aus einem anderen Buch vorgelesen, als gäbe es für ihn keine anderen Kinderbücher - oder jedenfalls keine, die er in ihr "Gute Nacht"-Ritual einflechten wollte.
Feullé hatte sich schon vor seinem Tod gefragt, wo es eigentlich herkam. Er hatte es bereits besessen, ehe Feullé bei ihm eingezogen war. Doch sie hatte ihrer Neugierde in all den Jahren nie Luft gemacht. Bei einigen Themen wusste sie genau, dass sie nicht nachfragen sollte.
So lauschte sie seinen wohlklingenden Worten schweigend, die großen roten Augen Richtung Decke geheftet, denn sie hatte die eigenartige Angewohnheit rot zu werden, wenn sie Nocturn zu lange ansah; besonders wenn er es nicht bemerkte...
"Was hältst du eigentlich von ihm?", fragte Nocturn seine Tochter, als er das Buch zusammenklappte und es zurück in das Bord über ihrem Bett stellte. Er hatte die Frage auf Französisch gestellt, womit Feullé wusste, dass sie in dieser Sprache antworten sollte; es machte sie immer noch ein wenig nervös, denn sie hatte 18 Jahre lang kaum ein Wort Französisch gesprochen und obwohl sie sich selbst gezwungen hatte, in der Zeit in der Nocturn... nicht da gewesen war, in eben dieser Sprache zu denken, war ihr das nicht so richtig gelungen - und sie wusste, dass Nocturn sehr viel Wert auf die richtige Aussprache legte. Er kritisierte sie eigentlich nicht, aber es war schon ausreichend, dass sie selbst hörte, dass sie Fehler machte. Daher zögerte sie mit dem Antworten, bis sie die richtigen Worte zusammengesucht hatte:
"... Ich... weiß nicht. Er ist so anders als Black." Nocturn deutete ein Nicken an, ein wenig belustigt wegen dem Vergleich, während Feullé sich über das Thema zu wundern begann: schon einen Monat lebten sie nun zusammen - Nocturn hätte diese Frage schon viel früher stellen können... Warum stellte ihr Vater sie jetzt?
"Ich weiß nicht... ob er zu uns gehören kann... Wie Black es getan... hat. Aber wenn Ihr entscheidet... dass Youma-san zu uns gehören soll, dann... werde ich mich an ihn gewöhnen." Eine Weile sah Nocturn sie schweigend an und Feullé würde zu gerne erfahren, an was er in diesem Moment dachte, doch er teilte seine Gedanken nicht mit ihr. Nach ein paar Sekunden des Schweigens richtete er sich auf, strich ihr über den Kopf und ging zur Tür. Dort blieb er allerdings stehen, was Feullé sehr überraschte, denn eigentlich war das über den Kopf Streichen ein stummes "Gute Nacht" und es war so gar nicht seine Art, danach noch mit ihr zu sprechen.
"Machst du mir Vorwürfe?"
"Vorwürfe?", wiederholte Feullé verwundert, was Nocturn jedoch anders deutete; nämlich so, dass Feullé das französische Wort für "Vorwürfe" nicht kannte, weshalb er die gleiche Frage noch einmal auf Dämonisch stellte. Doch Feullé hatte ihn beim ersten Mal sehr wohl verstanden und antwortete daher auf Französisch:
"W-warum sollte ich Ihnen denn einen... Vorwurf machen?" Nocturn antwortete nicht; stattdessen wünschte er ihr eine "Gute Nacht" und verließ das Zimmer.
Wieder in der Stube angekommen wurde der Flötenspieler von den hochgezogenen Augenbrauen Youmas begrüßt, die eine doch sehr deutliche Sprache sprachen, die Nocturn nicht entging, aber dennoch unkommentiert ließ. Youma formte seine Skepsis auch nicht zu Worten, sondern beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Nocturn sich ein Glas Wasser einfüllte, in welches er drei kleine weiße Tabletten hineinwarf, ehe er sich zusammen mit dem nun pulsierenden Wasser wieder zu Youma setzte, um dort fortzufahren, wo sie stehen geblieben waren. Doch Youma machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem er zuerst das Wort erhob, zusammen mit einem verwunderten Blick in Richtung des Wassers, die Bürste nun auf den Tisch legend:
"Was ist das?" Nocturn konnte ihm offensichtlich nicht folgen und antwortete zweifelnd:
"Ich würde davon ausgehen, dass es sich um Wasser handelt?"
"Ich meine das, was du hineingegeben hast."
"Kopfschmerztabletten, gegen Schmerzen im Kopf", entgegnete Nocturn feixend, ehe er das Glas an seine Lippen setzte. Youma konnte sich ein überhebliches Grinsen nicht verkneifen, als er sich zurücklehnte und ebenso feixend antwortete:
"Hat dich unser Kampf etwa so sehr angestrengt? Ich hatte dich doch gar nicht so hart am Kopf getroffen, wenn ich mich recht erinnere." Nocturn setzte das nun leere Glas betont vorsichtig auf dem Tisch ab und antwortete scheinheilig grinsend:
"Deine Treffer kann man an einer, nun ja, vielleicht zwei, wir wollen mal nicht so sein, Händen abzählen, Kronprinz. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat keiner von denen meinen Kopf getroffen - oder es war ein sehr sanfter Schlag und ich habe ihn gar nicht bemerkt, das kann natürlich auch sein!" Nocturn lehnte sich ebenfalls zurück und ahmte die gelassene Pose seines Gegenübers nach, während sie sich beide erfreut angrinsten, beide sicher, dass das nicht ihr letzter Kampf gewesen war. Die Aggression, welche die eigentliche Ursache des Kampfes gewesen war, hatte sich im Laufe dessen zu etwas anderem entwickelt - das hatten sie beide gespürt, sogar der sonst so ernste Youma, der sich auch jetzt darüber wunderte, dass er zu grinsen begonnen hatte. Deshalb hüstelte er auch und zwang sich zu seiner Ernsthaftigkeit zurück.
"Es hat dir Spaß gemacht", stellte Nocturn fest, woraufhin Youma ein leichtes Achselzucken andeutete.
"Es war jedenfalls eine neue Erfahrung."
"Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich lag richtig mit meiner Vermutung, dass du nicht ausgebildet bist, nicht?", fragte Nocturn, ohne ahnen zu können, dass er sich in ein Thema hinauswagte, welches Youma schnell verweigern würde:
"Ich habe nie gekämpft. Nicht so, nicht ernsthaft jedenfalls. Allerdings muss ich richtigstellen, dass ich schon eine Ausbildung genossen habe. Ich wurde nur nicht zum Töten ausgebildet."
"Da hat dich aber jemand ganz schön gebremst, immerhin hast du ausbaufähige Fertigkeiten; das will ich gar nicht bestreiten." Ja, das war wohl genau das richtige Wort. Man hatte ihn wirklich sehr gebremst und somit auch seine Kräfte, sein wahres Potential, unterdrückt. War das die Absicht gewesen? Durch den Kampf gegen Nocturn war Youma klar vor Augen geführt worden, dass noch weitaus größere Kräfte in ihm schlummerten, als er angenommen hatte. Stets hatte man ihn nur zu einem gewissen Grad herangedeihen lassen. Das würde nun enden. Jetzt würde Youma seine Grenzen entdecken und nichts würde ihn aufhalten können. Er war Luzifers Sohn, und auch wenn sein leiblicher Vater ihm nichts bedeutete und er ihm auch keinen Respekt zollte, so war es das Blut eines Teufels, das ihm durch die Adern floss - das Blut, das auch jetzt bereits effektiv dabei war, seine Verletzungen zu heilen. Er spürte das Pochen in seinem Körper, spürte, wie die Magie, die er von seinem Vater geerbt hatte, sich seiner Verletzungen annahm, zielsicher und präzise.
"Wenn es nicht mein Agieren war, welches deine Kopfschmerzen ausgelöst hat, was war es dann?", wechselte Youma geschickt das Thema, um von sich abzulenken, denn er hatte gewiss nicht vor, familiäre Probleme mit Nocturn zu besprechen. Obwohl Nocturn den Themenwechsel bemerkte und ihm die Hintergedanken Youmas bewusst waren, sprang er darauf an. So sehr interessierte es ihn dann doch nicht:
"Du magst es dir nicht vorstellen können, aber das Gedankenlesen ist sehr anstrengend. Ich bekomme Kopfschmerzen davon." Er zeigte mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe und fuhr fort:
"So viele Stimmen plötzlich in deinem Kopf, versuch da mal, deine eigene zu finden!"
"Ich kann mir vorstellen, dass das womöglich nicht ganz angenehm ist. Aber die Fähigkeit ist dennoch überaus praktisch."
"Ja, aber sie ist auch ein Fluch, wenn man nicht weiß, wie man sich und seine Gedanken abschirmt. Du willst nicht die Gedanken von allen hören. Wenn man sich erst einmal öffnet, strömen alle Gedanken hemmungslos auf einen ein; es ist mir jedenfalls nicht möglich, nur eine Stimme zu hören und dabei die anderen auszuschließen. Ri-Il dagegen... er kann das sicherlich."
Ein weiteres Mal erhob Nocturn sich, um sich ein Glas Wasser zu genehmigen. Youma jedoch achtete nicht weiter auf seine Bewegungen, denn die letzten Worte Nocturns hatten ihn zu Stein erstarren lassen; einen Zustand, den er jedoch schnell wieder von sich schüttelte.
"Was meinst du damit, Ri-Il könne das?" Obwohl Nocturn die Gespanntheit in den Worten seines Partners deutlich heraushören konnte, antwortete er ihm nicht sofort - wahrscheinlich genau deshalb. Er tat so, als würde er die Erwartung in den Augen seines Gegenübers nicht sehen, während er sich seelenruhig wieder setzte und erst einmal einen Schluck von seinem Wasser nahm, ehe er spaßend antwortete:
"Ja, wusstest du denn nicht, dass er auch Gedanken lesen kann? Er ist sogar weitaus talentierter darin: er braucht garantiert keine Kopfschmerztabletten." Youma sah ihn einen Moment schweigend an, ehe er seine Stirn runzelte und sich wieder in seinem Sessel zurücklehnte.
"Daher also dieser intensive Blickaustausch... Ihr habt die Gedanken des jeweils anderen gelesen?"
"Nein", erwiderte Nocturn gelassen:
"Wir können die Gedanken voneinander nicht lesen; sie prallen aufeinander und stoßen sich gegenseitig ab. Ich denke, das ist sein Grund, um mich nicht zu mögen, immerhin bin ich somit der einzige, dessen Gedanken er nicht lesen kann - und auch der einzige, der von seinen Fähigkeiten weiß. Das wird so ein Schlitzohr wie ihn sicherlich ordentlich irritieren." Wieder hüllte Youma sich in Schweigen, während er abwechselnd seine Fingerkuppen aufeinander prallen ließ.
"Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Ri-Ils Informationsnetz so umfassend ist. Aber wenn er will, dass seine Fähigkeit geheim verbleibt, bedeutet das, dass wir einen Trumpf gegen ihn in der Hand haben... Wir besitzen Informationen über einen der mächtigsten Dämonen der Dämonenwelt." Plötzlich breitete sich ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht des Halbdämons aus, im Takt mit dem Zusammenlegen seiner Handflächen.
"Das ist gut!", urteilte er:
"Gegen so einen gerissenen Dämon kann man nie genug Trümpfe in der Hand haben. Vielleicht ist das der erste Schritt, um ihn zu Fall zu bringen! Hast du noch mehr nützliche Informationen erlesen können? Diese ganze Farce soll ja nicht umsonst gewesen sein." Grinsend lehnte Nocturn sich zurück und lachte, als er ihm antwortete:
"Also ich fand diese Farce wirklich überaus amüsant! Und du solltest nicht vergessen, dass Taten bei uns Dämonen mehr wiegen als Worte. Du hättest noch so oft beteuern können, dass du den reinrassigen Dämonen in nichts nachstehst, doch im Endeffekt hättest du sie mit Worten nie davon überzeugen können." Deutlich war in Youmas Gesicht zu sehen, dass er nicht vorhatte, sich bei seinem Gegenüber zu bedanken; sein Blick war eher skeptisch, als er erwiderte, dass er daran zweifle, dass Nocturn das ernsthaft geplant habe und wieder einmal betonte er, dass Nocturn die Gedanken der Fürsten doch einfach hätte manipulieren können. Aber nein, stattdessen hatte er es nur noch schlimmer gemacht. Als ob es nicht schon schlimm genug gewesen war, dass Lerou irgendwie wusste, dass Youma ein Halbwächter war...Ah, da ging ihm ein Licht auf, wie er Nocturn auch mitteilte - ob es Karou gewesen war?
"Karou? Wieso denn Karou?"
"Weil Karou weiß, dass ich zur Hälfte ein Wächter bin und da er und Lerou Zwillinge sind... ist der Verdacht wohl naheliegend." Youmas Gesicht legte sich in dunkle Falten - da hatte Karou also versucht, ihn aus dem Weg zu räumen. Wirklich verwundern tat es ihn nicht, immerhin waren sie sich von Anfang an nicht grün gewesen. Scheinbar wollte Karou Youma nun wieder loswerden, nun, wo Youma seinen Zweck erfüllt hatte: Nocturns Wiederbelebung. Doch so schnell würde das nicht geschehen.
"Aber dass du dann auch noch alles in die Welt hinausposaunen musstest!" Nocturn brachten diese frustrierten Worte nur zu einem Grinsen, aber das hinderte Youma nicht daran fortzufahren:
"Jetzt wissen die Fürsten, was mein Endziel ist! Glaubst du etwa, dass das den Plänen dienlich ist?! Und meine Rasse! Die wollte ich eigentlich geheim halten!"
"Das weiß ich."
"Du hast es gerade deswegen getan, oder?"
"Erkannt!" Eine solche Antwort hatte Youma schon erwartet und ein erschöpftes Stöhnen entfloh ihm.
"Also alles nochmal von vorne..."
"Das ist vielleicht auch besser so. Vielleicht solltest du erst einmal bei dir anfangen." Youma, der gerade seine Hand frustriert in seinem Pony vergraben hatte, löste diese nun von seinen Haaren, um Nocturn verwirrt anzublicken.
"Bei mir?"
"Ja", begann Nocturn mit einem belehrenden Grinsen:
"Es wäre schon ein guter Anfang, wenn du deine Hochnäsigkeit ablegen würdest. Denn egal wie blau das Blut des Kronprinzen ist, so etwas ist in der Dämonenwelt absolut belanglos, solange du nicht kämpfen kannst." Diese Worte verstand Youma natürlich nicht, denn er wusste nicht, was die Metapher "blaues Blut" bedeutete. Wüsste er es, dann wäre ihm vielleicht durch den Kopf geschossen, dass sein Blut nicht nur "königlich" sondern gar "göttlich" war. Aber statt sich an der Metapher Nocturns aufzuhängen, sah er ihn weiterhin nur verwirrt an, was Nocturn zu erheitern schien.
"Hochnäsig?"
"Ja, hochnäsig. Du wirst ja wohl bemerkt haben, dass deine Worte nicht gerade beliebt waren, oder? Wer so reden will wie du muss beweisen, dass er stark genug ist, damit man ihm nicht für seine nervigen Worte in die Fresse schlägt - entschuldige meine Wortwahl, ich zitiere nur die Gedanken einiger Fürsten." Nocturn grinste breit, als er dies sagte und Youma war sich nicht so sicher, ob das nicht vielleicht seine eigenen Worte waren. Aber dann überraschte Nocturn ihn; sogar sehr überzeugend - und positiv. Nocturn hatte sich wieder vorgelehnt, stützte den Ellenbogen auf dem Glastisch ab und sah Youma aus dieser Position heraus mit einem feixenden Grinsen an:
"Und da ich nicht glaube, dass du von deiner Hochnäsigkeit ablassen kannst, bedeutet das, dass es nur eine Möglichkeit gibt, wie du vorankommen kannst - und mit der sollten wir anfangen, bevor irgendwelche tollen, neuen Pläne geschmiedet werden!" Dramatisch wie Nocturn nun einmal war pausierte er seine Ankündigung, ehe er sie beendete:
"Ich werde dich trainieren!" Es gelang Youma nicht einmal zu blinzeln, ehe Nocturn schon erfreut fort fuhr:
"Ja, zweifelst du meine Fertigkeiten etwa an? Ich glaube, unser kleiner Kampf hat deutlich gezeigt, wer der erfahrenere Kämpfer von uns beiden ist - meinst du nicht auch? Du brauchst dringend ein ordentliches Training, ansonsten wirst du nie auch nur in die Nähe der Krone kommen. Ich denke, Lerou ist mit Intelligenz schon beizukommen, obwohl er so eine enorme Stärke besitzt, aber die Fürsten werden nicht zulassen, dass ein Halbwächter, der augenscheinlich so schwach ist wie du, die Krone der Dämonenwelt trägt - also musst du schon trainiert werden. Das siehst du doch ein, oder?" Wieder gelang es Youma nicht, zu antworten:
"Und dann, wenn unser Training Früchte trägt, dann wirst du deinen Fehler wiedergutmachen." Nocturn lehnte sich zurück und endlich kam Youma dazu, zu antworten:
"Fehler? Was meinst du?"
"Na, wir waren uns doch einig, dass es ein Fehler von dir war, mich wiederzubeleben oder? Also musst du den Fehler wieder ausbügeln! Ist das nicht logisch?" Zweifelnd runzelte Youma die Stirn: verstand er den frohlockenden Dämon vor sich gerade... richtig? "Ich werde dich zu meinem Mörder formen!"
Während in Paris über Tod und Leben diskutiert wurde, verließen Saiyon und Shitaya das Büro ihres Vorgesetzten: Shitaya tief in Gedanken, dabei nicht einmal bemerkend, dass Saiyon ihn dabei neugierig ansah, denn er konnte sich keinen Reim daraus machen, warum er es abgelehnt hatte, den Posten Tinamis anzunehmen. Doch sein großer Bruder teilte seine Gedanken leider nicht mit ihm. Schweigend durchquerten sie die Gänge des Tempels und das, wo Saiyon es nun wahrlich gebraucht hätte, mit seinem großen Bruder zu sprechen - auch was... andere Gebiete anging.
"Ich werde mich hier von dir verabschieden", kündigte Shitaya plötzlich an und schreckte seinen Bruder damit förmlich aus dessen Gedanken auf. Sie waren in der großen Halle angekommen, der Halle der Engelsstatue, und Saiyon war überrascht zu sehen, dass Shitaya eine andere Richtung als die, die ihn zurück zu seiner Wohnung bringen würde, einschlagen wollte.
"Wo willst du denn hin?" Shitaya warf einen Seitenblick auf den gigantischen Globus, um sich zu vergewissern, dass momentan auch wirklich keine Kampfaktivitäten stattfanden und antwortete dann:
"Ich werde mit Tinami-dono sprechen. Ich wünsche dir eine..." Doch sofort bemerkte Shitaya, dass er seinen kleinen Bruder nun unmöglich alleine lassen konnte. Alleine bei dem Gedanken, dass sein großer Bruder ihn bereits jetzt stehen lassen würde würde und er somit in sein neues Gemach gehen musste, schien er beinahe panisch zu werden.
"Du... du kannst mich doch jetzt nicht einfach verlassen!", stammelte Saiyon immer röter werdend:
"Ich... weiß doch gar nicht... du hast mir doch noch überhaupt nichts gesagt!" Zweifelnd, aber auch irgendwie belustigt sah Shitaya seinen kleinen Bruder an und legte aufbauend eine Hand auf seine Schulter:
"Saiyon, so etwas beredet man nicht: schon gar nicht in der Öffentlichkeit! Du wirst das schon hinbekommen. Einfach nicht darüber nachdenken."
"Das sagst ausgerechnet du mir! Du als größter Stratege des Wächtertums?!"
"Hahaha, du schmeichelst mir."
"Ich meine das ernst..."
"Ich auch."
"Aber was soll ich denn machen... ich hab doch gar keine Ahnung..." Sofort schnellte Shitayas Zeigefinger hervor, welchen er tadelnd vor dem Gesicht seines Bruders platzierte:
"Nicht in der Öffentlichkeit, kleiner Bruder, nicht in der Öffentlichkeit! Wer sind wir denn, Dämonen?" Er lachte unbeschwert über diesen Kommentar und schneller als dass Saiyon noch irgendetwas sagen konnte, verließ sein Bruder ihn doch tatsächlich, ohne ihm irgendwelche nützlichen Ratschläge mit auf den Weg gegeben zu haben - er sollte den Kopf ausschalten: war das allen Ernstes ein Ratschlag!?
Obwohl Green die ganze Zeit darauf gelauert hatte, dass Saiyon auftauchen würde, erschrak sie fürchterlich, als er an der Tür klopfte. Genau wie Saiyon hatte auch Green gerade noch versucht, irgendwelche Tipps aus Silence herauszukitzeln - doch auch diese hatte nicht viel preisgeben, wenn auch aus anderen Gründen; nämlich um sie zu ärgern.
"Hast du gerade mit jemandem gesprochen?", fragte Saiyon sichtlich verwundert, als Green ihm die Tür aufmachte und er niemanden in deren neuen Gemach ausmachen konnte. Die Hikari warf einen flüchtigen Blick auf Silence, welche sich grinsend auflöste und antwortete dann:
"Nein, ich... eh... habe mit niemandem gesprochen..."
"Oh, dann sprichst du mit dir selbst?" Bei jedem anderen wäre das wahrscheinlich ein Vorwurf gewesen, doch Saiyon stellte diese Frage so aufrichtig neugierig, dass Green keinen einzigen Moment daran dachte, dass es sich wohl um einen Vorwurf handeln würde. Doch scheinbar kam er plötzlich auf den Gedanken, dass man seine Worte anders deuten konnte und beeilte sich hastig zu sagen:
"Ich... meine das nicht böse oder vorwurfsvoll! Ich tendiere selbst dazu und..." Beide sahen sich mit großen Augen an - ehe sie sich vollkommen errötet voneinander abwandten. Green hörte Silence lachen, welche ihr aber noch viel Glück wünschte, ehe sie gänzlich verschwand.
"Vielleicht solltest du... erst einmal reinkommen und dich umsehen. Es ist immerhin auch deins." Während Green die Tür hinter sich schloss, tat sie dasselbe, was Saiyon ebenfalls in Gedanken tat - über sich selbst fluchen. Was taten sie denn da? Sie waren verlobt und sollten nun langsam anfangen, sich auch so zu benehmen und nicht... so unkontrolliert zu erröten.
"Schau du dich mal um", schlug Green vor, als sie sah, wie Saiyon vor den drei Gemälden stehen geblieben war und diese nun zu studieren schien:
"Ich werde... mich dann umziehen." Kaum, dass sie die Tür zum Badezimmer hinter sich gelassen hatte, stürzte sie beinahe zum Waschbecken, als würde sie sich in eben diesem ertränken wollen. Stattdessen spritzte sie sich das Wasser ins Gesicht und befahl sich selbst, dass sie sich zusammenreißen musste. Es war ihm gegenüber nicht fair, dass sie sich so anstellte - immerhin... liebte er sie. Er liebte sie genauso wie sie immer gehofft hatte, dass...
"Okay, Green, jetzt reicht es", zischte sie ihrem Spiegelbild vorwurfsvoll entgegen; jedoch so leise, dass er es unmöglich hören konnte:
"Gary... ist nicht mehr hier. Und jetzt hörst du gefälligst auf, an ihn zu denken."
Kurz lehnte sie bei diesen Worten ihre Stirn gegen ihr kaltes Spiegelbild, ehe sie sich entschlossen befahl, dass sie sich nun zusammenreißen würde - und das tat sie auch. Sie entledigte sich ihrer Kleider und zog das Nachtkleid an, welches Grey für sie gemacht hatte.
Sie warf noch einen kurzen Blick in Richtung ihres Spiegelbildes - dann wandte sie sich ab und kehrte ins Zimmer zurück. Hastig wandte Saiyon sich herum, als er bemerkte, dass Green aus dem Badezimmer herausgekommen war und deutlich war ihm anzusehen, dass er gerade noch etwas sagen wollte, ihm dies jedoch im Halse steckenblieb, als er Green sah.
"...Das hat mein Bruder für mich gemacht", flüsterte Green leise, nachdem er zu ihr gekommen war und nun genau vor ihr stand, um sie genauer verblüfft zu betrachten. Als sie dies jedoch sagte, lächelte er sie an und sagte, ebenso leise wie sie:
"Grey-dono beherrschte wirklich sein Handwerk. Du siehst... sehr hübsch aus." Green lächelte über dieses Kompliment, doch sie traute sich nicht, ihn direkt anzusehen, als hätte sie einen natürlichen Respekt vor seinen Augen. Dennoch hob sie nun zögerlich den Kopf: eine Andeutung, die er trotz mangelnder Erfahrung richtig verstand. Sie hätte es noch länger hinauszögern können, hätte irgendein Gesprächsthema anfangen können, aber... sie wollte den Sprung in das tiefe, kalte Wasser hinter sich lassen. So schnell wie möglich.
Diese Nervosität machte sie wahnsinnig!
Es war ein weitaus flüchtigerer Kuss als ihr Verlobungskuss und deutlich spürte Green, dass sie nicht die Einzige war, die nervös war - auch er war es und irgendwie erleichterte sie das.
"Wir müssen ja nichts überstürzen", flüsterte Saiyon, als sie sich wieder voneinander lösten und einen Moment lang konnte Green nicht glauben, was sie da hörte - hatte er ihre Nervosität ebenfalls bemerkt? Und nahm er deswegen Rücksicht auf sie? Diese verständnisvollen Augen, die seine sanfte Geste unterstrichen, als er ihr über die Wange strich - womit hatte sie so einen lieben Verlobten verdient? Sie sollte sich glücklich schätzen, dass sie nicht an irgendjemand gänzlich Unsympathischen geraten war, der sie nur heiraten wollte, um an die begehrten Rechte zu gelangen und hinter ihrem Rücken fleißig Gerüchte über sie verbreitete. Ein solcher hätte sie jetzt sicherlich nicht so sanft regelrecht um Erlaubnis gebeten. Es war nun ihre Chance, das Ganze abzubrechen, aufzuschieben für einen unbekannten Zeitpunkt, ohne dass Saiyon es ihr irgendwie übel nehmen würde. Denn er... er liebte sie einfach nur. So einfach war das.
Green hörte ihre eigenen Worte kaum, doch sie war sich im Nachhinein sicher, dass sie ihm versicherte, dass es in Ordnung war... sie mussten es ja... egal wie sehr Green sich gegen den Gedanken auch sträubte. Sie wehrte sich daher nicht, als er sie galant in seine Arme hob und sie auf deren neuem Bett absetzte.
Die Hikari wusste, dass es jetzt keinen Weg mehr zurück gab und sie hoffte inständig, dass Saiyon der Überzeugung war, dass ihr innerer Widerwille nichts als Nervosität war und dass es ihm ebenfalls nicht auffiel, dass sie seinen Augen auswich, als er sie beinahe erstaunt anblickte, wie er sie vor sich liegen sah, als könnte er auf einmal nicht begreifen, was dabei war, zu geschehen. Doch anders als Green, welche bemerkte, wie ihre Fingernägel sich in der Bettdecke verkrampften, schien die Nervosität langsam von ihm zu fallen, als er sich halb über sie beugte. Green versuchte, ihre Augen sanft zu schließen, anstatt sie angstvoll zusammenzupressen. Sie wusste, was sie da tat war unfair ihm gegenüber: einem Mann, der einfach nur mit der Person zusammen sein wollte, die er liebte, aber sie konnte einfach nicht anders.
"Green..." Erschrocken, aus Angst, dass er ihren Widerwillen bemerkt hatte, schlug die Hikari ihre Augen wieder auf - und traf die seinen, allerdings nur für einen kurzen Augenblick, ehe sie ihre eigenen abwandte. Kaum, dass sie das tat, spürte sie seine warme Hand an ihrer Wange, die sie zärtlich dazu brachte, ihn wieder anzusehen:
"Ich werde schon auf dich aufpassen. Du brauchst keine Angst haben." Green war so überrascht über diese Worte, dass sie nichts erwidern konnte - auch nicht, als er ihre verkrampfte Hand von der Bettdecke löste und eben diese Handfläche liebevoll mit seinen Lippen berührte, in der Hoffnung, das würde sie von der Anspannung befreien. Es brachte leider nicht viel, doch Green versuchte, es zu verbergen, denn sie beschloss, es einfach... Die Hikari nickte leicht und spürte, wie er ihrem Gesicht näherkam, um ihr wahrscheinlich endgültig den Atem zu nehmen.
Dann piepte plötzlich das Kommunikationsgerät.