Kapitel 67 - Die Wertschätzung von Leben und Tod
Anders als Nathiel hatte Youma absolut keinen Grund, gut gelaunt zu sein. Finster funkelten seine roten Augen die blutähnlichen, aber sehr spitz und scharf aussehenden Fingernägel an, die hundertfach seinen Körper eingesperrt hielten - unter anderem war einer auf seine Hauptschlagader gerichtet. Ganz ohne Zweifel tödlich. Aber eine abwehrende Haltung hatte Youma deswegen dennoch nicht eingenommen... wie auch, wenn er sich bewegte, würde er sich unweigerlich selbst erstechen.
Nocturn lachte, kicherte fast, was Youma nur noch wütender machte. Er war wirklich noch ein Kind; unvernünftig, unreif und... absolut nicht zu gebrauchen. Ja, das war es. Er war unbrauchbar, untauglich für seine Pläne, die dieses verdammte Gör alle mit einem Schlag zerstört hatte und das nur um ihn zu triezen, um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen und sich an seiner Reaktion zu erfreuen - was er eindeutig auch in diesem Augenblick tat. Jetzt fragte Youma sich, was er sich nur dabei gedacht hatte, Nocturn wieder zu beleben: Er hätte es nicht tun dürfen! Silence hatte ganz recht gehabt... diese Wiederbelebung war ein Fehler... ein schrecklicher Fehler, den Youma nicht nur wegen den hundertfachen Morddrohungen bereute. Wie hatte er sich nur auf das Wort zweier Fremder verlassen können?!
"Oh, ich habe auch nicht vor, mich einzumischen, geschweige denn mich selbst vorzuschlagen. Wir haben Ihnen nur..."
"... einen kleinen Vorschlag zu machen." Youmas Augenbrauen hoben sich skeptisch, als diese ihm ohnehin suspekt vorkommende Frau die Worte kichernd über die Lippen brachte. Ihr Kichern klang eigenartig metallisch; es tat weh in den Ohren... er wollte es nicht hören, tat aber aus Höflichkeit und Argwohn nichts, um sie davon abzuhalten.
"Mein Name ist übrigens Nathiel! Und Sie dürfen mich sehr gerne bei meinem Vornamen ansprechen, hihi!" Was für eine nette Bekanntschaft... Er würde lieber darauf verzichten, aber Youma war neugierig geworden. Aber könnte der männliche Dämon bitte das Reden übernehmen? Seine Stimme klang zwar gänzlich seelenlos, doch Youma zog das ihrer Stimme vor... Nathiel. Hmpf, er würde ihren Namen gerne wieder vergessen, leider hatte er jedoch das Gefühl, dass er es nicht tun würde.
"Was ist das für ein Vorschlag?", fragte Youma, dabei auch Nathiels Begleiter ansehend, sich seiner Unhöflichkeit bewusst, doch er konnte nicht anders - sein Instinkt warnte ihn zu deutlich vor dieser Frau. Ihr Begleiter schien sich im Gegensatz zu ihr allerdings nicht vorstellen zu wollen - er blieb beim Thema und hielt sich selbst bedeckt:
"Wir haben in Erfahrung gebracht, dass Sie sich sehr für mächtige, aber vor allen Dingen tote Dämonen zu interessieren scheinen. Woher das Interesse an toten Dämonen?" Youma gelang es nicht zu antworten, denn da schoss Nathiel schon hervor, ging zwei Schritte auf ihn zu, die Youma am liebsten sofort rückwärtsgegangen wäre, diesem Drang aber doch standhalten konnte.
"Ist es etwa, weil sie Tote wieder ins Leben zurückholen können?!"
"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht." Nathiel schien weiter nachhaken zu wollen, aber zum Glück übernahm ihr Begleiter wieder das Gespräch:
"Wenn Sie an einem Vorschlag interessiert sind, wäre es zu aller Vorteil, wenn Sie sprechen würden." Aber so schnell gab Youma nicht klein bei; er konnte sich auch selbst entscheiden, er brauchte keine Entscheidungshilfe... aber er brauchte andere Dinge: Leichen unter anderem! Ohne einen Körper würde er niemanden wiederbeleben können... und es schien zwar so, als gäbe es irgendwo - jedenfalls wenn er einem Gerücht Glauben schenken wollte, das er aufgeschnappt hatte - einen Ort, an dem die Leichen früherer Dämonen ruhten... oder eher gelagert wurden... aber Youma wusste nicht, ob an dem Gerücht etwas dran war. Eigentlich hatte er es schon abgehakt und zu den Akten gelegt, jemanden wiederzubeleben. Er hatte bereits damit begonnen umzudenken, auch wenn es ihm sehr schwer erschien, sich hier in der Dämonenwelt mit irgendjemandem zusammenzutun - das Reden, ja, einfach nur ein Gespräch zu führen, war ja schon so manches Mal unmöglich gewesen! Sein erster Eindruck von den Dämonen dieser Zeit war wirklich alles andere als positiv; wie oft war er nicht schon ausgelacht worden und wie oft hatte man nicht schon versucht, ihn umzubringen... Ein Trauerspiel war das! Eigentlich hatte diese Erfahrung seinen Entschluss, jemanden wiederzubeleben und diese Person alleine durch die Wiederbelebung an sich zu binden, nur noch verstärkt.
Für eine Wiederbelebung musste man immerhin Dankbarkeit zeigen, nicht wahr? Was gab es denn für ein größeres Geschenk als das Leben? Gut, die Dämonen schienen nicht zu wissen, was Dankbarkeit war, weshalb es Youma wichtig war, dass man dem Dämon, den er wiederbeleben wollte, nachsagte, dass er Intelligenz besessen hatte - in der Hoffnung, dass ein intelligenter Dämon wusste, was Dankbarkeit war. Sollte Dankbarkeit auch bei solchen Dämonen nicht der Fall sein, dann würde Youma eben behaupten, dass er die Wiederbelebung jederzeit wieder rückgängig machen konnte - und wer sollte ihm schon das Gegenteil beweisen? Er war das einzige Wesen, das in der Lage war, jemandem das Leben zu schenken! Und wenn der Dämon auf die Idee kommen würde, dass er Youma dann doch einfach umbringen könnte - denn irgendwie schienen die Dämonen alles mit Tod klären zu wollen - dann würde Youma feststellen, dass die Wiederbelebung dann ebenfalls null und nichtig sein würde; wer würde es schon darauf ankommen lassen? Es gab doch nichts Wichtigeres als das eigene Leben?
Ja, Youma fand diese Pläne wirklich gut und war sehr von ihnen überzeugt - wäre da nicht dieses kleine Problem, dass Dämonen sich auflösten und er irgendwie glaubte, dass er nur aus Trotz an die Existenz jenes Ortes glauben wollte, wo tote Dämonen ruhten, die er wiederleben konnte.
"Ist der Dämon, den Sie vorschlagen wollen, tot?", fragte Youma, die Arme über der Brust verschränkt, die Sense aber dennoch angriffsbereit in der Hand haltend.
"Ja."
"Dann können wir das Gespräch hier genauso gut abbrechen", begann Youma, ohne auf das laute Schniefen Nathiels zu achten:
"Außer Sie können mir eine Leiche liefern. Oder andere Überbleibsel von magischer, den Tod überdauernder Beschaffenheit..." Er dachte dabei an Silence und ihr Dasein als Geist... und spürte, wie er abdriftete, wie er an ihren finsteren Blick zurückdachte, als sie ihn in dieser Menschenstadt angeschrien hatte, dass sie sich niemals von ihm wiederbeleben lassen wollte. Warum nur nicht... verstand sie denn nicht, dass er diese Technik nur für sie gelernt hatte? Dass er sie niemals umgebracht hätte, wäre er nicht in der Lage, sie wiederzubeleben? Er wollte mit ihr zusammen sein... nicht mit irgendjemandem, den er mit Lügen an sich ketten musste... und wenn schon nicht mit ihr, dann doch viel lieber alleine, aber seine Pläne konnte er nicht im Alleingang durchziehen...
"Eine Leiche kann ich Ihnen nicht geben. Aber die Macht des besagten Dämons ist versiegelt und existiert noch in dieser Welt und in der Welt der Wächter." Youma horchte auf - was hatte er da gerade gesagt?
"Was meinen Sie damit?"
"Seine zu Magie gewordene Macht ist die Energie, die diese Welt, die der Menschen und die der Wächter voneinander getrennt und versiegelt hält. Seine Macht ist Teil des Bannkreises." Ein Stirnrunzeln war auf Youmas Gesicht zu sehen; er musste sich selbst eingestehen, dass er nicht wirklich verstand, worüber sein Gegenüber sprach - und genau das schien etwas in diesem monotonen, doch auch skeptisch aussehenden Dämon zu regen:
"Sie wissen nichts vom Bannkreis...?" Wie deutlich wurde nicht, dass Youma es eigentlich wissen sollte, aber Fakt war nun einmal, dass er nichts von irgendeinem Bannkreis wusste und daher war ihm auch absolut nicht klar, worüber dieser Dämon da sprach - und auch seine nächste Frage verwirrte Youma, steigerte aber auch seine Skepsis.
"Waren Sie in der Menschenwelt?"
"Ja...?" Darauf antwortete er nicht; schien er auch nicht mehr zu müssen, denn ohne es zu wollen schien Youma irgendwelche Fragen beantwortet zu haben, denn die Skepsis war von dem fahlen Gesicht gefallen. Wenn Youma sich nicht täuschte, hatte dieser eigenartige Dämon sich sogar selbst kurz zugenickt, ohne dabei irgendwie den Gesichtsausdruck zu verändern. Er war... auch irgendwie unheimlich. Sie beide waren unheimlich.
"Vielleicht sollten wir das Gespräch woanders fortführen!?", brachte Nathiel ein, die unruhig auf ihren Füßen hin und her wackelte, ganz aufgeregt zu sein schien, wie es Youma vorkam. Scheinbar lag ihr viel an der Person, von der sie wollten, dass er sie wiederbelebte.
"Hier draußen ist es doch... unatmosphärisch und ich könnte gut etwas zu trinken haben..." Sie begann nun ihren Zopf zu zwirbeln und warf dabei einen heimtückischen Blick an ihren Begleiter:
"Wir waren doch auch lange nicht mehr aus, Karou-san!" Ah, Karou hieß er also, dachte Youma, sich ein wenig darüber freuend, dass er so seinen Namen erfahren hatte, etwas, was Karou dagegen überhaupt nicht zu gefallen schien. Der Blick, den er Nathiel zusandte, war hart und von ihrem Grinsen her zu urteilen, war ihr sein Namen nicht nur aus Versehen herausgerutscht.
"Ich allerdings bin dagegen. Ich sehe nämlich keinen Grund dafür, das Gespräch fortzusetzen." Gut, Youma sah schon welche, aber diese Leute waren ihm einfach zu suspekt. Sein Instinkt warnte ihn davor, länger mit ihnen zusammen zu sein; sagte ihm deutlich, dass sie keine gute Bekanntschaft waren. Sie schienen ja nicht einmal sich selbst gutzutun. Der besagte Dämon klang allerdings wirklich interessant, aber...
"Nocturn ist in der Lage, Gedanken zu lesen." Skeptisch, weil es Youma so überhaupt gar nicht gefiel, ein Argument fürs Bleiben und Zuhören zu bekommen, sah er wieder zu Karou, der nun ebenfalls wieder hochsah, nachdem er kurz mit Nathiel ein, zwei Blicke ausgetauscht hatte. Sie hatte scheinbar irgendetwas aus diesen starren Augen herauslesen können, denn sie lächelte zufrieden.
"Ich nehme an, das ist der Dämon, von dem Sie wünschen, dass ich ihn wiederbelebe?"
"Sie können also Tote wieder zum Leben erwecken?" Youma antwortete nicht.
"Ja, das ist er. Er ist vor siebzehn Jahren gestorben und zählt zu den stärksten Dämonen, obwohl das nie gemessen werden konnte, da er keine Aura besaß." Noch ein Grund mehr... aber das gefiel Youma nicht; er wollte sich einfach nicht auf diese beiden Dämonen verlassen, aber wenn er jemanden durch eine Wiederbelebung an sich binden konnte... jemanden, der stark war...? Obendrein hatte Youma selbst diesen Namen schon gehört. Als er sich nach starken, verstorbenen Dämonen erkundigt hatte, war dieser Name öfter gefallen und meistens war der Tonfall positiv gewesen, als sprächen sie von einem Volkshelden und Gedankenlesen - nun, das war lohnenswert.
"Wenn er Gedanken lesen kann, dann könnte er auch meine lesen und das macht so eine Fähigkeit wiederum zu einem Nachteil." Aber auch darauf hatte dieser Karou eine passende Antwort:
"Gedankenlesen ist von der Magie und dem Willen des Anwenders sowie der Zielperson abhängig und nicht allumfassend. Nocturns Magie war weit über dem Durchschnitt..."
"Wie konnten Sie das messen, wenn er keine Aura besaß?" Es schien Karou so gar nicht zu gefallen, dass Youma ihn unterbrochen hatte, aber das störte Youma weniger, denn dafür war Karou ihm schlichtweg zu unsympathisch:
"Freigesetzte Magie ist stets messbar", erwiderte Karou säuerlich klingend:
"Und diese war, wie bereits gesagt, weit über dem Durchschnitt. Er konnte es als einziger Dämon mit White aufnehmen - falls Ihnen der Name ein Begriff ist." Ja, das war er - er war stets im selben Atemzug wie Nocturns Namen gefallen. Aber wer genau sie war, das wusste Youma nicht, weshalb er einfach nur nickte.
"Wenn die Magie der Zielperson genauso stark oder von größerem Ausmaß ist, kann der Anwender die Gedanken der Person nicht lesen. Der Wille ist ebenfalls ein Mitspieler, aber da "Willensstärke" eine schwer messbare Variabel ist, kann ich mich darüber nicht äußern. Im Allgemeinen kann ich natürlich nicht darüber urteilen, ob Ihre Magie stark genug ist, um Nocturns Gedankenlesefertigkeiten standzuhalten..." Oh, wie deutlich war nicht herauszuhören, dass Karou es nur zu gerne wüsste. War er etwa ein... Forscher? Urgh, er musste einer sein, das würde erklären, warum sämtliche Alarmglocken in Youmas Kopf schrillten. Aber was auch immer kam, das schwor er sich in Gedanken, er würde sich weder von ihm unters Messer legen lassen noch von sonst irgendeinem anderen Forscher. Nein, nie wieder würde das passieren.
"Gut, ich sehe, dass er eine... interessante Wahl für einen möglichen Partner sein könnte, aber was hätten Sie denn davon? Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, mich aufzusuchen und mir diesen Dämon als lukrativ vorzustellen?" Leider war es nicht Karou, der antwortete, sondern Nathiel:
"Seine Wiederbelebung ist vollkommen ausreichend als Grund. Hauptsache er lebt wieder." Diese Antwort gefiel Youma nicht. Sie war viel zu einfach, das schürte seinen Argwohn. Obwohl es wirklich so schien, als läge ihr etwas an diesem... Nocturn. Ihre Augen hatten komisch zu strahlen angefangen, was auch Karou bemerkte - aber er schwieg und zu Youmas Missgunst erläuterte er den angeblichen Grund auch nicht.
"Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir das mit dem Bannkreis noch weiter erläutern könnten..."
Und von dem Punkt an wussten Karou und Nathiel, dass Youma angebissen hatte - und Youma ebenfalls, auch wenn es ihm nicht so ganz gefallen wollte, einfach aus dem Grund, dass diese beiden Dämonen keinen positiven Eindruck auf ihn hinterließen und es machte das ganze nicht weniger suspekt, dass sie an sich nichts "zurück" forderten. Sie hatten ihm so viele Informationen gegeben wie er wollte, hatten ihm bei der Suche nach dem Ursprung des Bannkreises in der Dämonenwelt geholfen und sich während des Verlaufs sehr... unterstützend gezeigt. Die Skepsis verblieb tatsächlich nur wegen den beiden: Nocturn hatte sie nicht gegolten. Er war sich eigentlich sehr schnell sicher gewesen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte, denn Nocturns Name war oft gefallen, wenn Youma es nach Anstrengungen gelungen war, mit anderen Dämonen ins Gespräch zu kommen. Es war entweder Nocturns Name gewesen, der gefallen war - oder der des vorigen Dämonenherrschers, eines Königs namens Kasra. Youma war allerdings sehr schnell zu dem Schluss gekommen, dass dieser König tot bleiben konnte, denn die Dämonen hatten von ihm gesprochen, als sei er ihr Albtraum - und auch als Youma Karou auf Kasra angesprochen hatte, bekam er eine ähnliche Reaktion. Eine überraschende sogar, denn alleine die Erwähnung des Namens hatte ausgereicht, um Karou sein Glas verlieren zu lassen. Ein solches Verhalten hatte Youma natürlich skeptisch gemacht, aber Karou hatte das Thema einfach dadurch abgehakt, dass Kasra in der Tat stärker gewesen war als Nocturn, aber dass es von Kasra allerdings keine Leiche gab. Aber es gäbe doch das Gerücht, dass es einen Ort gab, wo die toten Körper der Könige...? Ein Gerücht. Und Youma war wohl intelligent genug, um zu wissen, dass es mehr Gerüchte in der Dämonenwelt gab als faktisches Wissen.
Youma hatte sich also auf Nocturn eingeschossen. Ein Dämon, dessen Wiederbelebung möglich war; ein Dämon, von dem gut gesprochen wurde, den viele sogar gerne als König gesehen hätten; ein Dämon, der über große Magie verfügte und interessante Fähigkeiten besaß. Die Gedankenlesefertigkeit unter anderem... das war doch wirklich eine interessante Fähigkeit und Youma vertraute darauf, dass seine Magie stärker war als Nocturns. Wenn nicht - dann hatte Youma immer noch seine Muttersprache, auf die er sich berufen konnte. Er dachte ohnehin in dieser Sprache.
Aber niemand, weder die namenlosen Dämonen der Dämonenwelt, noch Karou, noch Nathiel hatten ihn vor Nocturns schwierigem Charakter gewarnt. Keiner von ihnen hatte erwähnt, dass Nocturn nicht mehr alle beisammen hatte! Youma hatte geglaubt, dass er jemandem einen Gefallen tat, wenn er ihn wiederbelebte, hatte Dankbarkeit erwartet - und jetzt wollte dieser wahnsinnige Dämon ihn genau deswegen umbringen! Es war genau das Gegenteil eingetreten von dem, was er gewünscht und erwartet hatte - unglaublich!
Zu Beginn hatte Youma noch geglaubt, dass es irgendwie funktionieren müsste. Er war ja vernünftig; er konzentrierte sich einfach auf das, was relevant war - auf Nocturns Fertigkeiten, auf seine praktischen Qualitäten - und es war ja auch ein gutes Zeichen gewesen, dass Youma bei ihm wohnen "durfte" und nach langem hin und her sogar ein eigenes Zimmer erobert hatte...
Youma hatte sich geirrt. Er hatte geglaubt, dass er und seine Nerven einfach nur durchhalten mussten, dann würde es sich schon auszahlen... wenn er Nocturns nervtötenden Charakter ertragen würde und sie sich irgendwie arrangieren könnten, dann würde es sich schon irgendwie auszahlen.
Aber er hatte sich geirrt.
Keine Gedankenlesefähigkeit oder Gedankenkontrolle war vorteilhaft genug, um Nocturn auszugleichen!
"Warum habe ich dich nur wiederbelebt!", spie Youma voller bitterer Reue aus und brachte damit auch endlich Nocturns Grinsen dazu, zu versiegen; es blieb nicht einmal ein Lächeln übrig. Und dann, Youmas Augen verengten sich skeptisch, senkte sein Gegner tatsächlich seine Finger, trat selbst in den Kreis und blieb erst kurz vor Youma stehen.
"Ja, Youma. Genau das ist die Frage. Warum. Warum hast du mir das angetan?"
Youma stutzte - warum hatte Nocturn die letzten Worte in der Sprache der Wächter gesagt? Aber viel Zeit darüber nachzudenken blieb ihm nicht, denn ein heimtückisches Lächeln kehrte wieder auf Nocturns spitzes Gesicht zurück und mit diesem Lächeln auch die Fingernägel, die auch ihren Herrscher verletzten, als sie an ihm vorbeirasten und wieder kurz vor Youmas Haut innehielten. Aber Nocturn nahm von den senkrechten Schnittwunden in seinem Gesicht und an seiner Schulter keine Notiz, als hätte er sie gar nicht bemerkt - anders als Youma, denn dieser bemerkte sehr wohl, dass die roten Fingernägel nicht länger kurz vor seiner Haut innehielten, sondern direkt an seiner Haut.
"Eigentlich sollte ich dich dafür umbringen: das erscheint mir am fairsten, immerhin liegt dir ja scheinbar sehr viel am Leben."
"Wenn dir so viel am Tod liegt, dann verstehe ich gar nicht, warum du nicht auf den Turm steigst und dich herunterwirfst." Nocturn sah kurz verwundert in die Richtung, die Youma ihm mit seinen Augen gewiesen hatte und blickte in den Himmel empor, den der hohe Turm am Ende der Straße durchdrang. Dann lachte er wieder:
"Der Turm? Youma, Youma, du weißt wirklich gar nichts über diese Welt, oder? Hast du mich deshalb wiederbelebt?" Er lachte noch lauter, von seinem eigenen Lachen erheitert:
"Ist das der Grund für meine Wiederbelebung? Soll ich dein Fremdenführer sein? Niemand kann den Turm berühren, geschweige denn ihn besteigen! Außerdem gibt es wohl kaum einen billigeren und langweiligeren Tod, als sich irgendwo "herunterzuwerfen", Kunstbanause." Youma erwiderte nicht darauf, dass er, was den Turm anging, eindeutig mehr wusste als Nocturn, sondern lächelte stattdessen mit einem eigenartigen, falschen, hohlen Lächeln:
"Du bist einfach nur verrückt." Der Angesprochene erwiderte das falsche Lächeln:
"Ja, das bin ich. Aber ich werde mal nicht so sein...Partner." Mit einem Achselzucken legte er plötzlich die Hände hinter den Rücken und sofort folgten die Youma bedrohenden Fingernägel dem Beispiel ihres Herren.
"Obwohl! Ich bin ja verrückt und Verrückte sind ja dafür bekannt, unberechenbare Dinge zu tun!" Aber Nocturn handelte zu spät und die Fingernägel, die dieses Mal sicherlich ihren Weg in Youmas Fleisch gefunden hätten, stachen ins Leere - alle hundert, denn Youma war plötzlich verschwunden, nein, mehr in Auflösung gegangen, genau wie die Umgebung, die jäh in absolute Schwärze und verschlingende Dunkelheit gehüllt wurde.
Das weckte nicht nur Nocturns Erstaunen, sondern auch das der zusehenden Dämonen - auch die Fürsten beobachten überrascht die sich ausbreitende Schwärze unterhalb des Turmes.
"Ein Nox-Zauber?", fragte Lycram in den Saal hinein, immer noch Ri-Ils Kragen festhaltend, nun aber in dieselbe Richtung sehend wie die anderen, Ri-Il kurz keine Aufmerksamkeit schenkend, der diesen Moment allerdings nicht dazu nutzte, sich aus Lycrams Griff zu befreien, sondern in dieselbe Richtung sah wie Lycram - sogar mit geöffneten Augen.
"Nein, die... Substanz scheint eine andere zu sein."
Im ersten Moment hatte Nocturn dasselbe wie Lycram und der Großteil der anderen Fürsten geglaubt, aber als die Dunkelheit auch ihn verschlungen hatte, hatte er schnell herausgefunden, dass es keiner der berühmten Nox-Zauber war - wäre ja auch schön dumm von Youma gewesen, wo ein solcher Zauber keine Wirkung auf Dämonen hatte - denn er konnte nichts sehen. Diese Dunkelheit machte auch Nocturn blind. Aber das brachte Nocturns Grinsen nicht zum Verschwinden - hatte sein Partner denn vergessen, dass er Musiker war? Sein Gehörsinn war überdurchschnittlich!
"Ah, wirklich! Dein Element ist das einzige an dir, das irgendwie positiv ist! Wie gemein von dir, meine Eifersucht zu schüren! Ist dir nicht klar, dass das eigentlich sehr gefährlich ist, You-" Aber da brachte Youma ihn schon zum Schweigen, denn er hatte seinen Ellenbogen in Nocturns Gesicht geschmettert.
Aber der daraus entstandene Schmerz und das Blut, das Nocturn in seinem Gesicht spüren konnte, war nicht der Grund, weshalb ihm das Grinsen vergangen war - er hatte ihn nicht gehört.
Natürlich hatte er ihn nicht hören können; Youma hatte nämlich sehr wohl gewusst, dass Nocturn sicherlich auch blind in der Lage dazu war, sich zu verteidigen. Aber der Flötenspieler hatte keine Ahnung, wozu sein Element fähig war; denn sein geliebtes Element konnte natürlich auch alle Geräusche verschlucken, wenn es das war, was sein Gebieter sich wünschte. Früher hatten Youma und Silence damit gespielt, hatten sich ihre eigenen kleinen Welten geschaffen, in denen sie auf ihre Art Versteckspiel gespielt hatten - aber jetzt war es kein Spiel. Nein, es war alles andere als ein Spiel, denn auch wenn Nocturn ihn weder hören noch sehen konnte, war das nicht gleichbedeutend damit, dass Youma die Oberhand hatte. Wirklich, eins musste man Nocturn lassen: er war wirklich unglaublich gut ausgebildet. Was für ein Gespür er hatte! Aber das hatte Youma ja schon bei ihrer ersten kleinen Auseinandersetzung gespürt, als Nocturn zielsicher auf seine lebenswichtigen Organe gezielt hatte... er war wahrlich fürs Töten ausgebildet worden. Etwas, was man von ihm wirklich nicht behaupten konnte.
Das hier. Dieses Kämpfen. Seine Fäuste, seine Füße zu benutzen, seinen eigenen Körper und die darin wohnende Magie...als Waffe einzusetzen, das war etwas völlig Neues für ihn. Das war ihm nicht beigebracht worden - und diese Gefühle, diese Spannung, diese Aufregung, das Adrenalin in seinem Körper, das sein Blut zum Kochen brachte... all das hatte er nicht gekannt. Was ihm diese neuen Empfindungen sagen sollten, das konnte Youma in diesem Moment nicht beurteilen.
Dafür war er zu sehr in diesen Kampf vertieft.
Dafür hatten diese neuen Empfindungen ihn zu sehr im Griff.
Und was war das auf seinem Gesicht? In dem Moment, in dem Nocturns zielsicherer Tritt Youma aus seiner eigenen Magie herausbeförderte, ihn kurz durch die Luft warf, ehe er sich fing, einen Salto rückwärts machte und dann mit beiden Füßen fest den angeblich unberührbaren Turm berührte - in dem Moment, als er aufsah und Nocturns geschockten Gesichtsausdruck sah - einen Gesichtsausdruck, den alle anderen Dämonen, die das sahen, teilten - da überkam den sonst so ernsten Youma der Drang, triumphierend zu grinsen, ehe er sich abfederte und Nocturn mit einem enormen Faustschlag zu Boden warf und schlussendlich selbst elegant hinter dem eben zu Boden Geworfenen landete.
"Hab ich's dir nicht gesagt! Hab ich's nicht gesagt!", trällerte Lacrimosa, die das Opernglas gerade zurückerhalten hatte und nun Youmas Grinsen von Nahem betrachtete.
"Ah!", seufzte sie und legte ihre Hand an ihre Wange:
"Freude steht ihm wirklich gut! Aber er sollte wirklich auf seine Umgebung achten, unerfahren der Junge, wirklich... ja, da kommt schon Nocturns Gegenangriff, als ob er lange auf dem Boden liegen bleiben würde..." Sie warf ihrem Gesprächspartner einen feixenden Blick zu, das Opernglas wieder austauschend. Doch die Freude wurde offensichtlich nicht geteilt, sondern eher mit Sorge gekontert:
"Lacri, er konnte den Turm berühren. Das konnte noch niemand... Wer ist er bloß?"
"Eine wirklich gute Frage, der wir uns auch noch widmen werden. Aber erst einmal bin ich sehr zufrieden mit dem, was ich gesehen habe. Das wird Früchte tragen!" Zufrieden, als wäre das ganze tatsächlich ihr Verdienst, wandte Lacrimosa sich von dem Spektakel ab:
"Lass uns nach Hause zurückkehren. Es wird mir hier langsam zu heiß." Aber ihrer Aufforderung wurde nicht Folge geleistet; zu besorgt und ernst blickten die großen, gelben Augen immer noch auf Lerenien-Sei, doch mit gesenktem Opernglas.
"Und wenn sie sich nun doch umbringen?"
"Das werden sie schon nicht. Sie sind voneinander abhängig." Das regte Verwunderung:
"Was meinst du damit, Lacri? Okay, Youma von Nocturn... das kann ich verstehen. Aber umgekehrt?" Aber Lacrimosa antwortete nicht; sie begann ein wenig in sich hinein zu summen und brachte sie dann schon, ohne Widerrede zuzulassen, zurück in ihre eisige Heimat.
Das neue Zimmer Greens lag im Ostflügel des Tempels, in der dritten Etage, womit der Ausblick wenigstens derselbe war - Himmel, Himmel, nichts als Himmel. Das Gemach an sich war mehr als doppelt so groß wie ihr früheres und besaß nicht nur ein kleines, eigenes Badezimmer, sondern auch ein Arbeitszimmer und ein separates Schlafzimmer, welches mit einem solch enormen Himmelbett ausgerüstet war, dass dort locker fünf Leute hätten schlafen konnten. Im Schlafzimmerteil befand sich allerdings zu Greens Missvergnügen auch ein übergroßer, goldener Wandspiegel, welcher ziemlich fest an der Wand befestigt zu sein schien und keinen Zentimeter nachgab, als Green den kläglichen Versuch wagte, ihn herunternehmen zu wollen.
Nichts schien sich Green ergeben zu wollen: im eigentlichen Hauptraum hingen drei Gemälde über dem viktorianischen, blauen Sofa, welche doch tatsächlich - in ihrem zukünftigen Gemach! - Hikari-kami-sama, Light und Hikaru zeigten. Sie hatte ein Gemälde von Hikaru in ihrem Gemach! Sollte sie denn Albträume bekommen?!
Alles war Green in diesem Zimmer zuwider. Alles. Angefangen bei den Kartons, die ihre privaten Sachen beherbergten, weiter über das eigene Badezimmer, die Gemälde, den alles zeigenden Spiegel und das viel zu große Bett. Aber das Schlimmste war, dass ihr das Zimmer nicht unbekannt war. Sie hatte es schon einmal gesehen - in den Erinnerungen ihrer Mutter.
Es war das ehemalige Gemach Shaginais. Na, wenn das kein gutes Omen war!
"Ich werde es morgen früh komplett neu einmöblieren", begann Green, sich bewusst, dass Silence in der Nähe war:
"Und es ist mir komplett egal, wie sehr ich einen auf verwöhnte Hikari machen muss!" Silence antwortete vorerst nicht, doch obwohl sie sich sowohl in Schweigen als auch in Unsichtbarkeit hüllte, sah Green deutlich ihr Grinsen vor sich.
"Ich weiß nicht, was du hast. Also ich finde es sehr hübsch." Silence tauchte mit einem feixenden Grinsen auf und linste zu dem Gemälde Hikarus:
"Besonders den Heiligenschein über ihrem Kopf finde ich herzallerliebst."
"Ja, mir geht das Herz auf vor Freude." Beide grinsten sich an und begannen kurz zu lachen - ein Lachen, das Green gar nicht unterbrechen wollte, aber Silence blieb natürlich mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Tatsachen - obwohl sie wie immer ihre gemütliche Schwebepose eingenommen hatte.
"Anstatt dass wir hier Blasphemie verbreiten..." Die beiden lachten noch einmal:
",...solltest du dich lieber umziehen. Dein Verlobter wird sicherlich bald da sein." Mit diesen Worten zerstörte Silence schnell die heitere Stimmung und sofort begann Green auch schon, ziellos und rastlos im Zimmer herumzugehen, bis sie sich schlussendlich ans Fenster setzte. "Nervös?", fragte Silence, als kenne sie die Antwort nicht und Green wurde auch sofort rot, als wäre ihr erst jetzt wieder eingefallen, was im Begriff war zu geschehen.
"...Man muss ja nichts überstürzen, oder? Wir sind ja noch nicht verheiratet." Silence hob zweifelnd die Augenbraue und erwiderte:
"Du solltest lange genug Teil des Wächtertums sein, um zu wissen, dass die Verlobung der menschlichen Heirat beinahe gleichgestellt ist. Ab dem Zeitpunkt, wo die Hikari der Verlobung zugestimmt haben, ist er dein Getreuer. Die Verlobungszeremonie ist nichts anderes als die Möglichkeit für das Wächtertum, sich zusammen mit seiner Hikari zu freuen." Silence hob den Zeigefinger und fuhr fort mit ihrer Erklärung, die Green immer missmutiger werden ließ:
"Immerhin bist du nicht nur für dich selbst verlobt, sondern auch für das Wächtertum. Das darfst du nicht vergessen." Nein, das vergaß sie garantiert nicht, dachte Green säuerlich, als sie ihre Faust an die Fensterscheibe legte und sich zurückhalten musste, sie nicht gegen diese zu donnern. Schnell beruhigte sie sich allerdings wieder: Sie hatte es immerhin so gewollt, jetzt musste sie auch damit leben; leben lernen. Sie würde sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Saiyon nicht nur ihr Verlobter war, sondern vom heutigen Tag an auch, wie die Wächter es nannten, ihr Getreuer. So wurden die Partner des Lichterben genannt; es war ein Titel, der ihnen auch einige Rechte gab und, wie Green erst vor Kurzem erfahren hatte, sogar von politischer Wichtigkeit war, denn der Getreue besaß Befehlsgewalt, weshalb viele nach dem Titel trachteten und er auch schon missbraucht worden war. Die Hikari waren daher immer sehr skeptisch, was die Verlobung des Lichterben anging.
Green nahm aber nicht an, dass Saiyon ihnen in dieser Richtung Sorgen bereiten würde. Er würde dem Titel sicherlich alle Ehre machen.
Die Frage war nur... ob Green ihm Ehre machen würde.
Sie wusste natürlich, was nun von ihr erwartet wurde und sie konnte sich irgendwie schwer vorstellen, dass Shaginai oder irgendwelche anderen Hikari vor ihr so nervös davor waren, diesen Schritt zu nehmen, wie Green es nun war. Aber Green war nicht nur nervös... es war auch etwas anderes. Hatten die Hikari vor ihr es einfach als ein Teil ihrer Pflichten gesehen? Ein Teil ihrer Laufbahn als Regime-Führer, weil ein solcher selbstverständlich für Nachkommen sorgen musste? Aber musste es denn gleich am ersten gemeinsamen Abend sein?
Saiyon ging es nicht anders, wenn auch aus anderen Gründen. Im Moment jedoch beschäftigte er sich nicht mit diesen Gedanken; versuchte es jedenfalls, indem er Ukario aufmerksam zuhörte, der ihn stolz anlächelte, als die beiden Brüder sein Büro auf Sanctu Ele'saces betraten. Obwohl den gesamten Tag keine Kämpfe stattgefunden hatten, kannte Ukario keine Pausen; auf seinem Schreibtisch türmten sich die Akten der Verstorbenen, deren leere Plätze jetzt natürlich wieder besetzt werden sollten - eine von Ukarios vielen Aufgaben. Die Hikari waren dafür verantwortlich zu entscheiden, wie groß die jeweiligen Bataillone sein mussten, doch aus wem genau diese bestehen sollten, das war Ukarios Verantwortung: bis auf die Führungsspitze der jeweiligen Bataillone. Das war ein Anliegen der Hikari.
"Ach, ich bin ja so stolz auf dich, Saiyon!", begann Ukario das Gespräch, indem er beide Hände auf Saiyons Schultern legte.
"Wer hätte das vor nur zwei Jahren für möglich gehalten? Du hast wirklich eine der steilsten Karrieren aller Wächter zurückgelegt, mein Junge! Ich bin beeindruckt - und überrascht, das muss ich ehrlich zugeben." Natürlich war er das, dachte Saiyon ein wenig mürrisch, obwohl er weiterhin lächelte - alle hätten eher angenommen, dass der doch so erfolgreiche Shitaya den Titel des Getreuen erhalten würde, indem er die Hikari zur Frau nahm, wenn er denn nicht schon mit Säil verheiratet gewesen wäre.
"Auch eure Eltern wären stolz gewesen. Besonders dein Vater", lobte Ukario, ehe er Saiyons Schultern gehen ließ und zu seinem Schreibtisch herüber ging, um sich dort zu setzen.
"Aber ich habe euch nicht nur deswegen rufen lassen." Wie gewöhnlich flocht er seine Finger ineinander und vom einen Moment auf den anderen war er wieder ihr Vorgesetzter anstatt ein Freund der Familie.
"Ich denke, dass ihr euch bereits denken könnt, weshalb ich Saiyon habe rufen lassen", fuhr Ukario fort, nachdem die beiden Brüder ihren Platz vor seinem Schreibtisch eingenommen hatten. Ohne auf eine Antwort zu warten, folgte auch schon die Aufklärung:
"Da Kaze-Grey-sama unglücklicherweise von uns gegangen ist..." Alle drei schwiegen augenblicklich bedrückt für einige Sekunden, bis Ukario die Stille brach:
"... wurde beschlossen, dass du den Titel des Elementarwächters des Windes tragen wirst, Saiyon. Du wirst den Posten so lange bekleiden, bis das Kind Kaze-Grey-samas und seiner Verlobten das kriegsfähige Alter erreicht hat - sollte das ungeborene Kind denn das Element des Windes erben. Sollte das nicht der Fall sein, dann wird der Fall noch einmal aufgenommen. Unterschreib hier..." Er schob ein Dokument mit dem Wappen der Kaze quer über den Tisch und tunkte schon eine zierliche Feder in Tinte, welche er Saiyon entgegenhielt.
"... Und ab morgen wirst du bereits an den Tagungen der Elementarwächter teilnehmen." Ohne Widerspruch nahm Saiyon das Dokument entgegen und überflog es mit einem hastigen Blick; die von Routine geprägten Worte, die kurz, aber beklagend Greys plötzlichen Tod betrauerten und Saiyon mit sofortiger Wirkung den Posten und alle Rechte und Pflichten eines Elementarwächters übertrugen. "Ein vollwertiger Elementarwächter des Windes" stand dort geschrieben, bis die Erbfolge wieder angetreten werden konnte.
Natürlich war Saiyon darauf vorbereitet gewesen, denn es war üblich, dass der nächsthöchste Wächter den Posten des verstorbenen Elementarwächters übernahm - Lücken im Team der Elementarwächter wurden nicht gerne gesehen und nur in Ausnahmefällen geduldet.
Doch obwohl Saiyon es hatte kommen sehen, fiel es ihm schwer, die Feder entgegenzunehmen. Das Team der Offiziere war für ihn wie eine Familie, nicht nur weil Shitaya sein großer Bruder war: auch die anderen Mitglieder der Offiziere hatte er von Kindesbein an gekannt. Die Elementarwächter kannte er im Grunde nicht mehr als flüchtig. Die Hikari taten zwar viel, um die Bande zwischen den Offizieren und den Elementarwächtern zu stärken, aber dennoch wusste Saiyon nicht, ob er in der Lage war, mit ihnen zusammenzuarbeiten - geschweige denn eine solche Beziehung mit ihnen aufzubauen, die er mit den Offizieren teilte.
Ukario gratulierte ihm, was Saiyon mit einem höflichen Lächeln erwiderte, während sie alle beobachteten, wie Saiyons Unterschrift in einem hellen Graublau aufleuchtete. Ein Leuchten, das nun auch auf Saiyons ausgestrecktem Handrücken zu sehen war, wo das Wappen seiner Elementfamilie kurz aufleuchtete, dann aber wieder verschwand.
Saiyon und Shitaya warfen sich einen kurzen Blick zu - ein Blick, der deutlich machte, dass es ihnen beiden nicht gefiel, dass sie fortan in unterschiedlichen Teams würden tätig sein müssen; aber Ukario hatte noch eine Überraschung für sie bereit, denn er überreichte auch Shitaya ein ähnlich aussehendes Dokument: allerdings mit dem Wappen der Kikou versehen. Einen Moment lang sah Shitaya das Dokument fragend an, ehe er die offensichtliche Frage stellte:
"Ist Tinami-dono etwas zugestoßen?"
"Es ist erst heute beschlossen worden, daher wird deine Frau noch keine Kenntnis darüber besitzen..." Er sagte dies mit einem säuerlichen Unterton, denn Säil hatte sich mit ihrem Klatsch und Tratsch nicht bei allen beliebt bemacht: besonders nicht bei der Obrigkeit.
"...doch die ehemalige Elementarwächterin des Klimas wurde degradiert."
"Degradiert?!", fiel Shitaya seinem Vorgesetzten ins Wort:
"Aber Tinami-dono ist die talentierteste und intelligenteste Klimawächterin dieser Generation!"
"Offensichtlich nicht. Oder zweifelst du das Urteil der geehrten Hikari an?" Shitaya schwieg, doch Saiyon sah ihm deutlich an, dass er es nicht aus Einsicht tat, sondern aus Wut, welche er nicht herauslassen wollte. Er war nicht dumm; natürlich war ihm klar, weshalb Tinami degradiert worden war, immerhin wusste er besser als andere, wer für das Sicherheitssystem verantwortlich gewesen war und dass genau dessen Mangelhaftigkeit dafür gesorgt hatte, dass so viele Akten von verstorbenen Wächtern auf dem Schreibtisch Ukarios gelandet waren.
Dennoch.
Shitaya legte das Dokument auf den Tisch und verkündete mit entschiedener Stimme:
"Ich lehne ab."
Nocturn lachte, kicherte fast, was Youma nur noch wütender machte. Er war wirklich noch ein Kind; unvernünftig, unreif und... absolut nicht zu gebrauchen. Ja, das war es. Er war unbrauchbar, untauglich für seine Pläne, die dieses verdammte Gör alle mit einem Schlag zerstört hatte und das nur um ihn zu triezen, um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen und sich an seiner Reaktion zu erfreuen - was er eindeutig auch in diesem Augenblick tat. Jetzt fragte Youma sich, was er sich nur dabei gedacht hatte, Nocturn wieder zu beleben: Er hätte es nicht tun dürfen! Silence hatte ganz recht gehabt... diese Wiederbelebung war ein Fehler... ein schrecklicher Fehler, den Youma nicht nur wegen den hundertfachen Morddrohungen bereute. Wie hatte er sich nur auf das Wort zweier Fremder verlassen können?!
"Oh, ich habe auch nicht vor, mich einzumischen, geschweige denn mich selbst vorzuschlagen. Wir haben Ihnen nur..."
"... einen kleinen Vorschlag zu machen." Youmas Augenbrauen hoben sich skeptisch, als diese ihm ohnehin suspekt vorkommende Frau die Worte kichernd über die Lippen brachte. Ihr Kichern klang eigenartig metallisch; es tat weh in den Ohren... er wollte es nicht hören, tat aber aus Höflichkeit und Argwohn nichts, um sie davon abzuhalten.
"Mein Name ist übrigens Nathiel! Und Sie dürfen mich sehr gerne bei meinem Vornamen ansprechen, hihi!" Was für eine nette Bekanntschaft... Er würde lieber darauf verzichten, aber Youma war neugierig geworden. Aber könnte der männliche Dämon bitte das Reden übernehmen? Seine Stimme klang zwar gänzlich seelenlos, doch Youma zog das ihrer Stimme vor... Nathiel. Hmpf, er würde ihren Namen gerne wieder vergessen, leider hatte er jedoch das Gefühl, dass er es nicht tun würde.
"Was ist das für ein Vorschlag?", fragte Youma, dabei auch Nathiels Begleiter ansehend, sich seiner Unhöflichkeit bewusst, doch er konnte nicht anders - sein Instinkt warnte ihn zu deutlich vor dieser Frau. Ihr Begleiter schien sich im Gegensatz zu ihr allerdings nicht vorstellen zu wollen - er blieb beim Thema und hielt sich selbst bedeckt:
"Wir haben in Erfahrung gebracht, dass Sie sich sehr für mächtige, aber vor allen Dingen tote Dämonen zu interessieren scheinen. Woher das Interesse an toten Dämonen?" Youma gelang es nicht zu antworten, denn da schoss Nathiel schon hervor, ging zwei Schritte auf ihn zu, die Youma am liebsten sofort rückwärtsgegangen wäre, diesem Drang aber doch standhalten konnte.
"Ist es etwa, weil sie Tote wieder ins Leben zurückholen können?!"
"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht." Nathiel schien weiter nachhaken zu wollen, aber zum Glück übernahm ihr Begleiter wieder das Gespräch:
"Wenn Sie an einem Vorschlag interessiert sind, wäre es zu aller Vorteil, wenn Sie sprechen würden." Aber so schnell gab Youma nicht klein bei; er konnte sich auch selbst entscheiden, er brauchte keine Entscheidungshilfe... aber er brauchte andere Dinge: Leichen unter anderem! Ohne einen Körper würde er niemanden wiederbeleben können... und es schien zwar so, als gäbe es irgendwo - jedenfalls wenn er einem Gerücht Glauben schenken wollte, das er aufgeschnappt hatte - einen Ort, an dem die Leichen früherer Dämonen ruhten... oder eher gelagert wurden... aber Youma wusste nicht, ob an dem Gerücht etwas dran war. Eigentlich hatte er es schon abgehakt und zu den Akten gelegt, jemanden wiederzubeleben. Er hatte bereits damit begonnen umzudenken, auch wenn es ihm sehr schwer erschien, sich hier in der Dämonenwelt mit irgendjemandem zusammenzutun - das Reden, ja, einfach nur ein Gespräch zu führen, war ja schon so manches Mal unmöglich gewesen! Sein erster Eindruck von den Dämonen dieser Zeit war wirklich alles andere als positiv; wie oft war er nicht schon ausgelacht worden und wie oft hatte man nicht schon versucht, ihn umzubringen... Ein Trauerspiel war das! Eigentlich hatte diese Erfahrung seinen Entschluss, jemanden wiederzubeleben und diese Person alleine durch die Wiederbelebung an sich zu binden, nur noch verstärkt.
Für eine Wiederbelebung musste man immerhin Dankbarkeit zeigen, nicht wahr? Was gab es denn für ein größeres Geschenk als das Leben? Gut, die Dämonen schienen nicht zu wissen, was Dankbarkeit war, weshalb es Youma wichtig war, dass man dem Dämon, den er wiederbeleben wollte, nachsagte, dass er Intelligenz besessen hatte - in der Hoffnung, dass ein intelligenter Dämon wusste, was Dankbarkeit war. Sollte Dankbarkeit auch bei solchen Dämonen nicht der Fall sein, dann würde Youma eben behaupten, dass er die Wiederbelebung jederzeit wieder rückgängig machen konnte - und wer sollte ihm schon das Gegenteil beweisen? Er war das einzige Wesen, das in der Lage war, jemandem das Leben zu schenken! Und wenn der Dämon auf die Idee kommen würde, dass er Youma dann doch einfach umbringen könnte - denn irgendwie schienen die Dämonen alles mit Tod klären zu wollen - dann würde Youma feststellen, dass die Wiederbelebung dann ebenfalls null und nichtig sein würde; wer würde es schon darauf ankommen lassen? Es gab doch nichts Wichtigeres als das eigene Leben?
Ja, Youma fand diese Pläne wirklich gut und war sehr von ihnen überzeugt - wäre da nicht dieses kleine Problem, dass Dämonen sich auflösten und er irgendwie glaubte, dass er nur aus Trotz an die Existenz jenes Ortes glauben wollte, wo tote Dämonen ruhten, die er wiederleben konnte.
"Ist der Dämon, den Sie vorschlagen wollen, tot?", fragte Youma, die Arme über der Brust verschränkt, die Sense aber dennoch angriffsbereit in der Hand haltend.
"Ja."
"Dann können wir das Gespräch hier genauso gut abbrechen", begann Youma, ohne auf das laute Schniefen Nathiels zu achten:
"Außer Sie können mir eine Leiche liefern. Oder andere Überbleibsel von magischer, den Tod überdauernder Beschaffenheit..." Er dachte dabei an Silence und ihr Dasein als Geist... und spürte, wie er abdriftete, wie er an ihren finsteren Blick zurückdachte, als sie ihn in dieser Menschenstadt angeschrien hatte, dass sie sich niemals von ihm wiederbeleben lassen wollte. Warum nur nicht... verstand sie denn nicht, dass er diese Technik nur für sie gelernt hatte? Dass er sie niemals umgebracht hätte, wäre er nicht in der Lage, sie wiederzubeleben? Er wollte mit ihr zusammen sein... nicht mit irgendjemandem, den er mit Lügen an sich ketten musste... und wenn schon nicht mit ihr, dann doch viel lieber alleine, aber seine Pläne konnte er nicht im Alleingang durchziehen...
"Eine Leiche kann ich Ihnen nicht geben. Aber die Macht des besagten Dämons ist versiegelt und existiert noch in dieser Welt und in der Welt der Wächter." Youma horchte auf - was hatte er da gerade gesagt?
"Was meinen Sie damit?"
"Seine zu Magie gewordene Macht ist die Energie, die diese Welt, die der Menschen und die der Wächter voneinander getrennt und versiegelt hält. Seine Macht ist Teil des Bannkreises." Ein Stirnrunzeln war auf Youmas Gesicht zu sehen; er musste sich selbst eingestehen, dass er nicht wirklich verstand, worüber sein Gegenüber sprach - und genau das schien etwas in diesem monotonen, doch auch skeptisch aussehenden Dämon zu regen:
"Sie wissen nichts vom Bannkreis...?" Wie deutlich wurde nicht, dass Youma es eigentlich wissen sollte, aber Fakt war nun einmal, dass er nichts von irgendeinem Bannkreis wusste und daher war ihm auch absolut nicht klar, worüber dieser Dämon da sprach - und auch seine nächste Frage verwirrte Youma, steigerte aber auch seine Skepsis.
"Waren Sie in der Menschenwelt?"
"Ja...?" Darauf antwortete er nicht; schien er auch nicht mehr zu müssen, denn ohne es zu wollen schien Youma irgendwelche Fragen beantwortet zu haben, denn die Skepsis war von dem fahlen Gesicht gefallen. Wenn Youma sich nicht täuschte, hatte dieser eigenartige Dämon sich sogar selbst kurz zugenickt, ohne dabei irgendwie den Gesichtsausdruck zu verändern. Er war... auch irgendwie unheimlich. Sie beide waren unheimlich.
"Vielleicht sollten wir das Gespräch woanders fortführen!?", brachte Nathiel ein, die unruhig auf ihren Füßen hin und her wackelte, ganz aufgeregt zu sein schien, wie es Youma vorkam. Scheinbar lag ihr viel an der Person, von der sie wollten, dass er sie wiederbelebte.
"Hier draußen ist es doch... unatmosphärisch und ich könnte gut etwas zu trinken haben..." Sie begann nun ihren Zopf zu zwirbeln und warf dabei einen heimtückischen Blick an ihren Begleiter:
"Wir waren doch auch lange nicht mehr aus, Karou-san!" Ah, Karou hieß er also, dachte Youma, sich ein wenig darüber freuend, dass er so seinen Namen erfahren hatte, etwas, was Karou dagegen überhaupt nicht zu gefallen schien. Der Blick, den er Nathiel zusandte, war hart und von ihrem Grinsen her zu urteilen, war ihr sein Namen nicht nur aus Versehen herausgerutscht.
"Ich allerdings bin dagegen. Ich sehe nämlich keinen Grund dafür, das Gespräch fortzusetzen." Gut, Youma sah schon welche, aber diese Leute waren ihm einfach zu suspekt. Sein Instinkt warnte ihn davor, länger mit ihnen zusammen zu sein; sagte ihm deutlich, dass sie keine gute Bekanntschaft waren. Sie schienen ja nicht einmal sich selbst gutzutun. Der besagte Dämon klang allerdings wirklich interessant, aber...
"Nocturn ist in der Lage, Gedanken zu lesen." Skeptisch, weil es Youma so überhaupt gar nicht gefiel, ein Argument fürs Bleiben und Zuhören zu bekommen, sah er wieder zu Karou, der nun ebenfalls wieder hochsah, nachdem er kurz mit Nathiel ein, zwei Blicke ausgetauscht hatte. Sie hatte scheinbar irgendetwas aus diesen starren Augen herauslesen können, denn sie lächelte zufrieden.
"Ich nehme an, das ist der Dämon, von dem Sie wünschen, dass ich ihn wiederbelebe?"
"Sie können also Tote wieder zum Leben erwecken?" Youma antwortete nicht.
"Ja, das ist er. Er ist vor siebzehn Jahren gestorben und zählt zu den stärksten Dämonen, obwohl das nie gemessen werden konnte, da er keine Aura besaß." Noch ein Grund mehr... aber das gefiel Youma nicht; er wollte sich einfach nicht auf diese beiden Dämonen verlassen, aber wenn er jemanden durch eine Wiederbelebung an sich binden konnte... jemanden, der stark war...? Obendrein hatte Youma selbst diesen Namen schon gehört. Als er sich nach starken, verstorbenen Dämonen erkundigt hatte, war dieser Name öfter gefallen und meistens war der Tonfall positiv gewesen, als sprächen sie von einem Volkshelden und Gedankenlesen - nun, das war lohnenswert.
"Wenn er Gedanken lesen kann, dann könnte er auch meine lesen und das macht so eine Fähigkeit wiederum zu einem Nachteil." Aber auch darauf hatte dieser Karou eine passende Antwort:
"Gedankenlesen ist von der Magie und dem Willen des Anwenders sowie der Zielperson abhängig und nicht allumfassend. Nocturns Magie war weit über dem Durchschnitt..."
"Wie konnten Sie das messen, wenn er keine Aura besaß?" Es schien Karou so gar nicht zu gefallen, dass Youma ihn unterbrochen hatte, aber das störte Youma weniger, denn dafür war Karou ihm schlichtweg zu unsympathisch:
"Freigesetzte Magie ist stets messbar", erwiderte Karou säuerlich klingend:
"Und diese war, wie bereits gesagt, weit über dem Durchschnitt. Er konnte es als einziger Dämon mit White aufnehmen - falls Ihnen der Name ein Begriff ist." Ja, das war er - er war stets im selben Atemzug wie Nocturns Namen gefallen. Aber wer genau sie war, das wusste Youma nicht, weshalb er einfach nur nickte.
"Wenn die Magie der Zielperson genauso stark oder von größerem Ausmaß ist, kann der Anwender die Gedanken der Person nicht lesen. Der Wille ist ebenfalls ein Mitspieler, aber da "Willensstärke" eine schwer messbare Variabel ist, kann ich mich darüber nicht äußern. Im Allgemeinen kann ich natürlich nicht darüber urteilen, ob Ihre Magie stark genug ist, um Nocturns Gedankenlesefertigkeiten standzuhalten..." Oh, wie deutlich war nicht herauszuhören, dass Karou es nur zu gerne wüsste. War er etwa ein... Forscher? Urgh, er musste einer sein, das würde erklären, warum sämtliche Alarmglocken in Youmas Kopf schrillten. Aber was auch immer kam, das schwor er sich in Gedanken, er würde sich weder von ihm unters Messer legen lassen noch von sonst irgendeinem anderen Forscher. Nein, nie wieder würde das passieren.
"Gut, ich sehe, dass er eine... interessante Wahl für einen möglichen Partner sein könnte, aber was hätten Sie denn davon? Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, mich aufzusuchen und mir diesen Dämon als lukrativ vorzustellen?" Leider war es nicht Karou, der antwortete, sondern Nathiel:
"Seine Wiederbelebung ist vollkommen ausreichend als Grund. Hauptsache er lebt wieder." Diese Antwort gefiel Youma nicht. Sie war viel zu einfach, das schürte seinen Argwohn. Obwohl es wirklich so schien, als läge ihr etwas an diesem... Nocturn. Ihre Augen hatten komisch zu strahlen angefangen, was auch Karou bemerkte - aber er schwieg und zu Youmas Missgunst erläuterte er den angeblichen Grund auch nicht.
"Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir das mit dem Bannkreis noch weiter erläutern könnten..."
Und von dem Punkt an wussten Karou und Nathiel, dass Youma angebissen hatte - und Youma ebenfalls, auch wenn es ihm nicht so ganz gefallen wollte, einfach aus dem Grund, dass diese beiden Dämonen keinen positiven Eindruck auf ihn hinterließen und es machte das ganze nicht weniger suspekt, dass sie an sich nichts "zurück" forderten. Sie hatten ihm so viele Informationen gegeben wie er wollte, hatten ihm bei der Suche nach dem Ursprung des Bannkreises in der Dämonenwelt geholfen und sich während des Verlaufs sehr... unterstützend gezeigt. Die Skepsis verblieb tatsächlich nur wegen den beiden: Nocturn hatte sie nicht gegolten. Er war sich eigentlich sehr schnell sicher gewesen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte, denn Nocturns Name war oft gefallen, wenn Youma es nach Anstrengungen gelungen war, mit anderen Dämonen ins Gespräch zu kommen. Es war entweder Nocturns Name gewesen, der gefallen war - oder der des vorigen Dämonenherrschers, eines Königs namens Kasra. Youma war allerdings sehr schnell zu dem Schluss gekommen, dass dieser König tot bleiben konnte, denn die Dämonen hatten von ihm gesprochen, als sei er ihr Albtraum - und auch als Youma Karou auf Kasra angesprochen hatte, bekam er eine ähnliche Reaktion. Eine überraschende sogar, denn alleine die Erwähnung des Namens hatte ausgereicht, um Karou sein Glas verlieren zu lassen. Ein solches Verhalten hatte Youma natürlich skeptisch gemacht, aber Karou hatte das Thema einfach dadurch abgehakt, dass Kasra in der Tat stärker gewesen war als Nocturn, aber dass es von Kasra allerdings keine Leiche gab. Aber es gäbe doch das Gerücht, dass es einen Ort gab, wo die toten Körper der Könige...? Ein Gerücht. Und Youma war wohl intelligent genug, um zu wissen, dass es mehr Gerüchte in der Dämonenwelt gab als faktisches Wissen.
Youma hatte sich also auf Nocturn eingeschossen. Ein Dämon, dessen Wiederbelebung möglich war; ein Dämon, von dem gut gesprochen wurde, den viele sogar gerne als König gesehen hätten; ein Dämon, der über große Magie verfügte und interessante Fähigkeiten besaß. Die Gedankenlesefertigkeit unter anderem... das war doch wirklich eine interessante Fähigkeit und Youma vertraute darauf, dass seine Magie stärker war als Nocturns. Wenn nicht - dann hatte Youma immer noch seine Muttersprache, auf die er sich berufen konnte. Er dachte ohnehin in dieser Sprache.
Aber niemand, weder die namenlosen Dämonen der Dämonenwelt, noch Karou, noch Nathiel hatten ihn vor Nocturns schwierigem Charakter gewarnt. Keiner von ihnen hatte erwähnt, dass Nocturn nicht mehr alle beisammen hatte! Youma hatte geglaubt, dass er jemandem einen Gefallen tat, wenn er ihn wiederbelebte, hatte Dankbarkeit erwartet - und jetzt wollte dieser wahnsinnige Dämon ihn genau deswegen umbringen! Es war genau das Gegenteil eingetreten von dem, was er gewünscht und erwartet hatte - unglaublich!
Zu Beginn hatte Youma noch geglaubt, dass es irgendwie funktionieren müsste. Er war ja vernünftig; er konzentrierte sich einfach auf das, was relevant war - auf Nocturns Fertigkeiten, auf seine praktischen Qualitäten - und es war ja auch ein gutes Zeichen gewesen, dass Youma bei ihm wohnen "durfte" und nach langem hin und her sogar ein eigenes Zimmer erobert hatte...
Youma hatte sich geirrt. Er hatte geglaubt, dass er und seine Nerven einfach nur durchhalten mussten, dann würde es sich schon auszahlen... wenn er Nocturns nervtötenden Charakter ertragen würde und sie sich irgendwie arrangieren könnten, dann würde es sich schon irgendwie auszahlen.
Aber er hatte sich geirrt.
Keine Gedankenlesefähigkeit oder Gedankenkontrolle war vorteilhaft genug, um Nocturn auszugleichen!
"Warum habe ich dich nur wiederbelebt!", spie Youma voller bitterer Reue aus und brachte damit auch endlich Nocturns Grinsen dazu, zu versiegen; es blieb nicht einmal ein Lächeln übrig. Und dann, Youmas Augen verengten sich skeptisch, senkte sein Gegner tatsächlich seine Finger, trat selbst in den Kreis und blieb erst kurz vor Youma stehen.
"Ja, Youma. Genau das ist die Frage. Warum. Warum hast du mir das angetan?"
Youma stutzte - warum hatte Nocturn die letzten Worte in der Sprache der Wächter gesagt? Aber viel Zeit darüber nachzudenken blieb ihm nicht, denn ein heimtückisches Lächeln kehrte wieder auf Nocturns spitzes Gesicht zurück und mit diesem Lächeln auch die Fingernägel, die auch ihren Herrscher verletzten, als sie an ihm vorbeirasten und wieder kurz vor Youmas Haut innehielten. Aber Nocturn nahm von den senkrechten Schnittwunden in seinem Gesicht und an seiner Schulter keine Notiz, als hätte er sie gar nicht bemerkt - anders als Youma, denn dieser bemerkte sehr wohl, dass die roten Fingernägel nicht länger kurz vor seiner Haut innehielten, sondern direkt an seiner Haut.
"Eigentlich sollte ich dich dafür umbringen: das erscheint mir am fairsten, immerhin liegt dir ja scheinbar sehr viel am Leben."
"Wenn dir so viel am Tod liegt, dann verstehe ich gar nicht, warum du nicht auf den Turm steigst und dich herunterwirfst." Nocturn sah kurz verwundert in die Richtung, die Youma ihm mit seinen Augen gewiesen hatte und blickte in den Himmel empor, den der hohe Turm am Ende der Straße durchdrang. Dann lachte er wieder:
"Der Turm? Youma, Youma, du weißt wirklich gar nichts über diese Welt, oder? Hast du mich deshalb wiederbelebt?" Er lachte noch lauter, von seinem eigenen Lachen erheitert:
"Ist das der Grund für meine Wiederbelebung? Soll ich dein Fremdenführer sein? Niemand kann den Turm berühren, geschweige denn ihn besteigen! Außerdem gibt es wohl kaum einen billigeren und langweiligeren Tod, als sich irgendwo "herunterzuwerfen", Kunstbanause." Youma erwiderte nicht darauf, dass er, was den Turm anging, eindeutig mehr wusste als Nocturn, sondern lächelte stattdessen mit einem eigenartigen, falschen, hohlen Lächeln:
"Du bist einfach nur verrückt." Der Angesprochene erwiderte das falsche Lächeln:
"Ja, das bin ich. Aber ich werde mal nicht so sein...Partner." Mit einem Achselzucken legte er plötzlich die Hände hinter den Rücken und sofort folgten die Youma bedrohenden Fingernägel dem Beispiel ihres Herren.
"Obwohl! Ich bin ja verrückt und Verrückte sind ja dafür bekannt, unberechenbare Dinge zu tun!" Aber Nocturn handelte zu spät und die Fingernägel, die dieses Mal sicherlich ihren Weg in Youmas Fleisch gefunden hätten, stachen ins Leere - alle hundert, denn Youma war plötzlich verschwunden, nein, mehr in Auflösung gegangen, genau wie die Umgebung, die jäh in absolute Schwärze und verschlingende Dunkelheit gehüllt wurde.
Das weckte nicht nur Nocturns Erstaunen, sondern auch das der zusehenden Dämonen - auch die Fürsten beobachten überrascht die sich ausbreitende Schwärze unterhalb des Turmes.
"Ein Nox-Zauber?", fragte Lycram in den Saal hinein, immer noch Ri-Ils Kragen festhaltend, nun aber in dieselbe Richtung sehend wie die anderen, Ri-Il kurz keine Aufmerksamkeit schenkend, der diesen Moment allerdings nicht dazu nutzte, sich aus Lycrams Griff zu befreien, sondern in dieselbe Richtung sah wie Lycram - sogar mit geöffneten Augen.
"Nein, die... Substanz scheint eine andere zu sein."
Im ersten Moment hatte Nocturn dasselbe wie Lycram und der Großteil der anderen Fürsten geglaubt, aber als die Dunkelheit auch ihn verschlungen hatte, hatte er schnell herausgefunden, dass es keiner der berühmten Nox-Zauber war - wäre ja auch schön dumm von Youma gewesen, wo ein solcher Zauber keine Wirkung auf Dämonen hatte - denn er konnte nichts sehen. Diese Dunkelheit machte auch Nocturn blind. Aber das brachte Nocturns Grinsen nicht zum Verschwinden - hatte sein Partner denn vergessen, dass er Musiker war? Sein Gehörsinn war überdurchschnittlich!
"Ah, wirklich! Dein Element ist das einzige an dir, das irgendwie positiv ist! Wie gemein von dir, meine Eifersucht zu schüren! Ist dir nicht klar, dass das eigentlich sehr gefährlich ist, You-" Aber da brachte Youma ihn schon zum Schweigen, denn er hatte seinen Ellenbogen in Nocturns Gesicht geschmettert.
Aber der daraus entstandene Schmerz und das Blut, das Nocturn in seinem Gesicht spüren konnte, war nicht der Grund, weshalb ihm das Grinsen vergangen war - er hatte ihn nicht gehört.
Natürlich hatte er ihn nicht hören können; Youma hatte nämlich sehr wohl gewusst, dass Nocturn sicherlich auch blind in der Lage dazu war, sich zu verteidigen. Aber der Flötenspieler hatte keine Ahnung, wozu sein Element fähig war; denn sein geliebtes Element konnte natürlich auch alle Geräusche verschlucken, wenn es das war, was sein Gebieter sich wünschte. Früher hatten Youma und Silence damit gespielt, hatten sich ihre eigenen kleinen Welten geschaffen, in denen sie auf ihre Art Versteckspiel gespielt hatten - aber jetzt war es kein Spiel. Nein, es war alles andere als ein Spiel, denn auch wenn Nocturn ihn weder hören noch sehen konnte, war das nicht gleichbedeutend damit, dass Youma die Oberhand hatte. Wirklich, eins musste man Nocturn lassen: er war wirklich unglaublich gut ausgebildet. Was für ein Gespür er hatte! Aber das hatte Youma ja schon bei ihrer ersten kleinen Auseinandersetzung gespürt, als Nocturn zielsicher auf seine lebenswichtigen Organe gezielt hatte... er war wahrlich fürs Töten ausgebildet worden. Etwas, was man von ihm wirklich nicht behaupten konnte.
Das hier. Dieses Kämpfen. Seine Fäuste, seine Füße zu benutzen, seinen eigenen Körper und die darin wohnende Magie...als Waffe einzusetzen, das war etwas völlig Neues für ihn. Das war ihm nicht beigebracht worden - und diese Gefühle, diese Spannung, diese Aufregung, das Adrenalin in seinem Körper, das sein Blut zum Kochen brachte... all das hatte er nicht gekannt. Was ihm diese neuen Empfindungen sagen sollten, das konnte Youma in diesem Moment nicht beurteilen.
Dafür war er zu sehr in diesen Kampf vertieft.
Dafür hatten diese neuen Empfindungen ihn zu sehr im Griff.
Und was war das auf seinem Gesicht? In dem Moment, in dem Nocturns zielsicherer Tritt Youma aus seiner eigenen Magie herausbeförderte, ihn kurz durch die Luft warf, ehe er sich fing, einen Salto rückwärts machte und dann mit beiden Füßen fest den angeblich unberührbaren Turm berührte - in dem Moment, als er aufsah und Nocturns geschockten Gesichtsausdruck sah - einen Gesichtsausdruck, den alle anderen Dämonen, die das sahen, teilten - da überkam den sonst so ernsten Youma der Drang, triumphierend zu grinsen, ehe er sich abfederte und Nocturn mit einem enormen Faustschlag zu Boden warf und schlussendlich selbst elegant hinter dem eben zu Boden Geworfenen landete.
"Hab ich's dir nicht gesagt! Hab ich's nicht gesagt!", trällerte Lacrimosa, die das Opernglas gerade zurückerhalten hatte und nun Youmas Grinsen von Nahem betrachtete.
"Ah!", seufzte sie und legte ihre Hand an ihre Wange:
"Freude steht ihm wirklich gut! Aber er sollte wirklich auf seine Umgebung achten, unerfahren der Junge, wirklich... ja, da kommt schon Nocturns Gegenangriff, als ob er lange auf dem Boden liegen bleiben würde..." Sie warf ihrem Gesprächspartner einen feixenden Blick zu, das Opernglas wieder austauschend. Doch die Freude wurde offensichtlich nicht geteilt, sondern eher mit Sorge gekontert:
"Lacri, er konnte den Turm berühren. Das konnte noch niemand... Wer ist er bloß?"
"Eine wirklich gute Frage, der wir uns auch noch widmen werden. Aber erst einmal bin ich sehr zufrieden mit dem, was ich gesehen habe. Das wird Früchte tragen!" Zufrieden, als wäre das ganze tatsächlich ihr Verdienst, wandte Lacrimosa sich von dem Spektakel ab:
"Lass uns nach Hause zurückkehren. Es wird mir hier langsam zu heiß." Aber ihrer Aufforderung wurde nicht Folge geleistet; zu besorgt und ernst blickten die großen, gelben Augen immer noch auf Lerenien-Sei, doch mit gesenktem Opernglas.
"Und wenn sie sich nun doch umbringen?"
"Das werden sie schon nicht. Sie sind voneinander abhängig." Das regte Verwunderung:
"Was meinst du damit, Lacri? Okay, Youma von Nocturn... das kann ich verstehen. Aber umgekehrt?" Aber Lacrimosa antwortete nicht; sie begann ein wenig in sich hinein zu summen und brachte sie dann schon, ohne Widerrede zuzulassen, zurück in ihre eisige Heimat.
Das neue Zimmer Greens lag im Ostflügel des Tempels, in der dritten Etage, womit der Ausblick wenigstens derselbe war - Himmel, Himmel, nichts als Himmel. Das Gemach an sich war mehr als doppelt so groß wie ihr früheres und besaß nicht nur ein kleines, eigenes Badezimmer, sondern auch ein Arbeitszimmer und ein separates Schlafzimmer, welches mit einem solch enormen Himmelbett ausgerüstet war, dass dort locker fünf Leute hätten schlafen konnten. Im Schlafzimmerteil befand sich allerdings zu Greens Missvergnügen auch ein übergroßer, goldener Wandspiegel, welcher ziemlich fest an der Wand befestigt zu sein schien und keinen Zentimeter nachgab, als Green den kläglichen Versuch wagte, ihn herunternehmen zu wollen.
Nichts schien sich Green ergeben zu wollen: im eigentlichen Hauptraum hingen drei Gemälde über dem viktorianischen, blauen Sofa, welche doch tatsächlich - in ihrem zukünftigen Gemach! - Hikari-kami-sama, Light und Hikaru zeigten. Sie hatte ein Gemälde von Hikaru in ihrem Gemach! Sollte sie denn Albträume bekommen?!
Alles war Green in diesem Zimmer zuwider. Alles. Angefangen bei den Kartons, die ihre privaten Sachen beherbergten, weiter über das eigene Badezimmer, die Gemälde, den alles zeigenden Spiegel und das viel zu große Bett. Aber das Schlimmste war, dass ihr das Zimmer nicht unbekannt war. Sie hatte es schon einmal gesehen - in den Erinnerungen ihrer Mutter.
Es war das ehemalige Gemach Shaginais. Na, wenn das kein gutes Omen war!
"Ich werde es morgen früh komplett neu einmöblieren", begann Green, sich bewusst, dass Silence in der Nähe war:
"Und es ist mir komplett egal, wie sehr ich einen auf verwöhnte Hikari machen muss!" Silence antwortete vorerst nicht, doch obwohl sie sich sowohl in Schweigen als auch in Unsichtbarkeit hüllte, sah Green deutlich ihr Grinsen vor sich.
"Ich weiß nicht, was du hast. Also ich finde es sehr hübsch." Silence tauchte mit einem feixenden Grinsen auf und linste zu dem Gemälde Hikarus:
"Besonders den Heiligenschein über ihrem Kopf finde ich herzallerliebst."
"Ja, mir geht das Herz auf vor Freude." Beide grinsten sich an und begannen kurz zu lachen - ein Lachen, das Green gar nicht unterbrechen wollte, aber Silence blieb natürlich mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Tatsachen - obwohl sie wie immer ihre gemütliche Schwebepose eingenommen hatte.
"Anstatt dass wir hier Blasphemie verbreiten..." Die beiden lachten noch einmal:
",...solltest du dich lieber umziehen. Dein Verlobter wird sicherlich bald da sein." Mit diesen Worten zerstörte Silence schnell die heitere Stimmung und sofort begann Green auch schon, ziellos und rastlos im Zimmer herumzugehen, bis sie sich schlussendlich ans Fenster setzte. "Nervös?", fragte Silence, als kenne sie die Antwort nicht und Green wurde auch sofort rot, als wäre ihr erst jetzt wieder eingefallen, was im Begriff war zu geschehen.
"...Man muss ja nichts überstürzen, oder? Wir sind ja noch nicht verheiratet." Silence hob zweifelnd die Augenbraue und erwiderte:
"Du solltest lange genug Teil des Wächtertums sein, um zu wissen, dass die Verlobung der menschlichen Heirat beinahe gleichgestellt ist. Ab dem Zeitpunkt, wo die Hikari der Verlobung zugestimmt haben, ist er dein Getreuer. Die Verlobungszeremonie ist nichts anderes als die Möglichkeit für das Wächtertum, sich zusammen mit seiner Hikari zu freuen." Silence hob den Zeigefinger und fuhr fort mit ihrer Erklärung, die Green immer missmutiger werden ließ:
"Immerhin bist du nicht nur für dich selbst verlobt, sondern auch für das Wächtertum. Das darfst du nicht vergessen." Nein, das vergaß sie garantiert nicht, dachte Green säuerlich, als sie ihre Faust an die Fensterscheibe legte und sich zurückhalten musste, sie nicht gegen diese zu donnern. Schnell beruhigte sie sich allerdings wieder: Sie hatte es immerhin so gewollt, jetzt musste sie auch damit leben; leben lernen. Sie würde sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Saiyon nicht nur ihr Verlobter war, sondern vom heutigen Tag an auch, wie die Wächter es nannten, ihr Getreuer. So wurden die Partner des Lichterben genannt; es war ein Titel, der ihnen auch einige Rechte gab und, wie Green erst vor Kurzem erfahren hatte, sogar von politischer Wichtigkeit war, denn der Getreue besaß Befehlsgewalt, weshalb viele nach dem Titel trachteten und er auch schon missbraucht worden war. Die Hikari waren daher immer sehr skeptisch, was die Verlobung des Lichterben anging.
Green nahm aber nicht an, dass Saiyon ihnen in dieser Richtung Sorgen bereiten würde. Er würde dem Titel sicherlich alle Ehre machen.
Die Frage war nur... ob Green ihm Ehre machen würde.
Sie wusste natürlich, was nun von ihr erwartet wurde und sie konnte sich irgendwie schwer vorstellen, dass Shaginai oder irgendwelche anderen Hikari vor ihr so nervös davor waren, diesen Schritt zu nehmen, wie Green es nun war. Aber Green war nicht nur nervös... es war auch etwas anderes. Hatten die Hikari vor ihr es einfach als ein Teil ihrer Pflichten gesehen? Ein Teil ihrer Laufbahn als Regime-Führer, weil ein solcher selbstverständlich für Nachkommen sorgen musste? Aber musste es denn gleich am ersten gemeinsamen Abend sein?
Saiyon ging es nicht anders, wenn auch aus anderen Gründen. Im Moment jedoch beschäftigte er sich nicht mit diesen Gedanken; versuchte es jedenfalls, indem er Ukario aufmerksam zuhörte, der ihn stolz anlächelte, als die beiden Brüder sein Büro auf Sanctu Ele'saces betraten. Obwohl den gesamten Tag keine Kämpfe stattgefunden hatten, kannte Ukario keine Pausen; auf seinem Schreibtisch türmten sich die Akten der Verstorbenen, deren leere Plätze jetzt natürlich wieder besetzt werden sollten - eine von Ukarios vielen Aufgaben. Die Hikari waren dafür verantwortlich zu entscheiden, wie groß die jeweiligen Bataillone sein mussten, doch aus wem genau diese bestehen sollten, das war Ukarios Verantwortung: bis auf die Führungsspitze der jeweiligen Bataillone. Das war ein Anliegen der Hikari.
"Ach, ich bin ja so stolz auf dich, Saiyon!", begann Ukario das Gespräch, indem er beide Hände auf Saiyons Schultern legte.
"Wer hätte das vor nur zwei Jahren für möglich gehalten? Du hast wirklich eine der steilsten Karrieren aller Wächter zurückgelegt, mein Junge! Ich bin beeindruckt - und überrascht, das muss ich ehrlich zugeben." Natürlich war er das, dachte Saiyon ein wenig mürrisch, obwohl er weiterhin lächelte - alle hätten eher angenommen, dass der doch so erfolgreiche Shitaya den Titel des Getreuen erhalten würde, indem er die Hikari zur Frau nahm, wenn er denn nicht schon mit Säil verheiratet gewesen wäre.
"Auch eure Eltern wären stolz gewesen. Besonders dein Vater", lobte Ukario, ehe er Saiyons Schultern gehen ließ und zu seinem Schreibtisch herüber ging, um sich dort zu setzen.
"Aber ich habe euch nicht nur deswegen rufen lassen." Wie gewöhnlich flocht er seine Finger ineinander und vom einen Moment auf den anderen war er wieder ihr Vorgesetzter anstatt ein Freund der Familie.
"Ich denke, dass ihr euch bereits denken könnt, weshalb ich Saiyon habe rufen lassen", fuhr Ukario fort, nachdem die beiden Brüder ihren Platz vor seinem Schreibtisch eingenommen hatten. Ohne auf eine Antwort zu warten, folgte auch schon die Aufklärung:
"Da Kaze-Grey-sama unglücklicherweise von uns gegangen ist..." Alle drei schwiegen augenblicklich bedrückt für einige Sekunden, bis Ukario die Stille brach:
"... wurde beschlossen, dass du den Titel des Elementarwächters des Windes tragen wirst, Saiyon. Du wirst den Posten so lange bekleiden, bis das Kind Kaze-Grey-samas und seiner Verlobten das kriegsfähige Alter erreicht hat - sollte das ungeborene Kind denn das Element des Windes erben. Sollte das nicht der Fall sein, dann wird der Fall noch einmal aufgenommen. Unterschreib hier..." Er schob ein Dokument mit dem Wappen der Kaze quer über den Tisch und tunkte schon eine zierliche Feder in Tinte, welche er Saiyon entgegenhielt.
"... Und ab morgen wirst du bereits an den Tagungen der Elementarwächter teilnehmen." Ohne Widerspruch nahm Saiyon das Dokument entgegen und überflog es mit einem hastigen Blick; die von Routine geprägten Worte, die kurz, aber beklagend Greys plötzlichen Tod betrauerten und Saiyon mit sofortiger Wirkung den Posten und alle Rechte und Pflichten eines Elementarwächters übertrugen. "Ein vollwertiger Elementarwächter des Windes" stand dort geschrieben, bis die Erbfolge wieder angetreten werden konnte.
Natürlich war Saiyon darauf vorbereitet gewesen, denn es war üblich, dass der nächsthöchste Wächter den Posten des verstorbenen Elementarwächters übernahm - Lücken im Team der Elementarwächter wurden nicht gerne gesehen und nur in Ausnahmefällen geduldet.
Doch obwohl Saiyon es hatte kommen sehen, fiel es ihm schwer, die Feder entgegenzunehmen. Das Team der Offiziere war für ihn wie eine Familie, nicht nur weil Shitaya sein großer Bruder war: auch die anderen Mitglieder der Offiziere hatte er von Kindesbein an gekannt. Die Elementarwächter kannte er im Grunde nicht mehr als flüchtig. Die Hikari taten zwar viel, um die Bande zwischen den Offizieren und den Elementarwächtern zu stärken, aber dennoch wusste Saiyon nicht, ob er in der Lage war, mit ihnen zusammenzuarbeiten - geschweige denn eine solche Beziehung mit ihnen aufzubauen, die er mit den Offizieren teilte.
Ukario gratulierte ihm, was Saiyon mit einem höflichen Lächeln erwiderte, während sie alle beobachteten, wie Saiyons Unterschrift in einem hellen Graublau aufleuchtete. Ein Leuchten, das nun auch auf Saiyons ausgestrecktem Handrücken zu sehen war, wo das Wappen seiner Elementfamilie kurz aufleuchtete, dann aber wieder verschwand.
Saiyon und Shitaya warfen sich einen kurzen Blick zu - ein Blick, der deutlich machte, dass es ihnen beiden nicht gefiel, dass sie fortan in unterschiedlichen Teams würden tätig sein müssen; aber Ukario hatte noch eine Überraschung für sie bereit, denn er überreichte auch Shitaya ein ähnlich aussehendes Dokument: allerdings mit dem Wappen der Kikou versehen. Einen Moment lang sah Shitaya das Dokument fragend an, ehe er die offensichtliche Frage stellte:
"Ist Tinami-dono etwas zugestoßen?"
"Es ist erst heute beschlossen worden, daher wird deine Frau noch keine Kenntnis darüber besitzen..." Er sagte dies mit einem säuerlichen Unterton, denn Säil hatte sich mit ihrem Klatsch und Tratsch nicht bei allen beliebt bemacht: besonders nicht bei der Obrigkeit.
"...doch die ehemalige Elementarwächterin des Klimas wurde degradiert."
"Degradiert?!", fiel Shitaya seinem Vorgesetzten ins Wort:
"Aber Tinami-dono ist die talentierteste und intelligenteste Klimawächterin dieser Generation!"
"Offensichtlich nicht. Oder zweifelst du das Urteil der geehrten Hikari an?" Shitaya schwieg, doch Saiyon sah ihm deutlich an, dass er es nicht aus Einsicht tat, sondern aus Wut, welche er nicht herauslassen wollte. Er war nicht dumm; natürlich war ihm klar, weshalb Tinami degradiert worden war, immerhin wusste er besser als andere, wer für das Sicherheitssystem verantwortlich gewesen war und dass genau dessen Mangelhaftigkeit dafür gesorgt hatte, dass so viele Akten von verstorbenen Wächtern auf dem Schreibtisch Ukarios gelandet waren.
Dennoch.
Shitaya legte das Dokument auf den Tisch und verkündete mit entschiedener Stimme:
"Ich lehne ab."