Das, was die Hikari eint
Jeder Hikari, dem ein Leben im Jenseits gewährt worden war, hatte gewisse Aufgaben, die er erfüllen musste; sie alle hatten eine Verantwortung für ein gewisses Gebiet. Manchmal arbeiteten sie zusammen, manchmal einzeln. Adir hatte seit jeher immer dieselbe Aufgabe gehabt; er diente als Vermittler zwischen dem im Diesseits lebenden und regierenden Hikari und dem Rat im Jenseits. Somit war er auch die Ansprechperson für den Regime-Führer und meistens, wenn auch nicht immer, die Person, die dem lebenden Hikari von den anderen Hikari am Nahesten stand. In seinem ewigen Leben hatte Adir somit viele Hikari kommen und gehen gesehen; er hatte sie erblühen, sterben und manchmal im Jenseits wieder gesehen. Viele schafften es nicht ins Jenseits und obwohl Adir dafür durch die vielen Erfahrungen und die vielen Jahrhunderte, die er bereits hinter sich gebracht hatte, ein Auge entwickelt hatte, wer ins Jenseits kam und wer nicht, ging er grundsätzlich immer mit einer positiven Grundeinstellung auf den jungen Hikari zu.
In den vielen Jahrhunderten hatte er auf diese Art viele Bekanntschaften gemacht, viele Namen und Gesichter waren aber auch in der Zeit und in der Menge untergegangen... aber er war sich sicher, dass er Shaginai nie vergessen würde.
Sein Gefühl und seine Erfahrung sagten ihm nicht auf Anhieb, was aus Shaginai werden würde; nein, er sah ganz gewiss nicht kommen, dass dieses von der Welt absolut verlassene Kind ein so gewaltiges Charisma entwickeln würde, welches ihn dazu bemächtigen würde, den gesamten Rat auf den Kopf zu stellen. Adir war damals sogar vorsichtig mit seiner Beurteilung, was das Jenseits betraf; Shaginai schien keine besondere Gabe zu besitzen, kein außergewöhnliches Talent und von seinen Tränen her zu urteilen... Aber Adir wollte nicht voreilig sein. Nur weil er Verbitterung statt Trauer gewählt hatte - oder dazu gezwungen worden war - bedeutete das immerhin nicht... aber woher kam dann die Unruhe in ihm, wenn er in seiner Nähe war? Und war das der Grund, weshalb sie bis jetzt kein richtiges Gespräch geführt hatten? War es die Verbitterung, die er spüren konnte und die ihn unruhig machte, weil er sie nicht nachvollziehen konnte...? Er selbst war beinahe in der Trauer um seine Familie untergangen, sie plagte ihn immer, ließ sich nicht fortwischen, schmerzte und peinigte ihn... und Shaginai war doch nur ein Kind?
"Wir trauern alle anders." Marys Stimme klang erschöpft, nein, viel eher müde, was Adir beunruhigte, weshalb er auch besorgt zu ihr herüber sah, während er ihr dabei half, ihre Dokumente zu sortieren. Sie war eigentlich eine sehr ordentliche Person; ihren zierlichen Schreibtisch so unordentlich zu sehen war eine Seltenheit, aber auch sie war beschäftigt mit ihrem Verantwortungsgebiet: den öffentlichen Auftritten der Hikari, worunter auch die Auftritte des Regimeführers fielen.
"Ich weiß, es ist nur... so eine Reaktion habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal etwas Vergleichbar-..."
"Argh! Wo ist diese verdammte Rede!" Überrascht sah Adir auf, die Hände voll mit Dokumenten; er hatte Mary noch nie fluchen gehört, aber scheinbar war sie sich ihres Regelbruches nicht einmal bewusst, denn statt sich zu entschuldigen, raufte sie sich verzweifelt wirkend die Haare, was Adir sofort von seinen eigenen Problemen ablenkte:
"Ich dachte, Iluri-san würde die Rede für Shaginai-kun schreiben?"
"Pah! Als ob auf sie Verlass wäre; meinte, sie wäre mit der Situation überfordert, könnte die Trauer nicht in Worte fassen, pah, pah, pah! Als ob es das erste Mal wäre, dass dem Wächtertum etwas Schreckliches geschieht oder dass 7000 Wächter an einem Tag..." Ruhe überfiel sie plötzlich; ihre vorher noch wütenden Gesichtszüge erschlafften, aber noch ehe Adir ihren Gemütswandel noch weiter in ihrem Gesicht ablesen konnte, ließ sie sich in ihrem Sessel nieder, das Gesicht in den Händen verborgen; sie sagte nichts, blieb kurz in ihren eigenen Gedanken, ehe sie ihre Hände wieder von ihrem Gesicht löste.
"Es ist das erste Mal..." Adir nickte betrübt, die Dokumente auf dem Schreibtisch ablegend, welche Mary nach einem kurzen Schweigen in die Hand nahm.
"Ich habe bereits einen Entwurf für die Rede fertig, aber es ist... eine Herausforderung. Ich habe noch nie eine Rede geschrieben, die ein Kind vorlesen soll. Ich meine, er ist sieben - welche Worte passen überhaupt zu einem Kind? Welche Worte soll ich ihn sagen lassen? Er war selbst dort... welche Worte kann ich mir anmaßen, ihm in den Mund zu legen?"
"Hast du ihn gefragt, ob er vielleicht selbst etwas sagen will?", fragte Adir, der die Schwierigkeit von Marys Aufgabe nur allzu gut verstehen konnte. Mary nickte:
"Ja, das habe ich, worauf er erwiderte, dass er in der Lage sein würde, zu lesen. Das war... alles, was er dazu sagte. Ein wenig beleidigt schien er mir sogar zu sein. Er ist ein komisches Kind. Sehr schweigsam. Aber... wenn ich es mir recht überlege... ist das wohl nicht seltsam."
Shaginai war der erste Hikari, der vollkommen in schwarz gekleidet zum neuen Regime-Führer ernannt wurde. Es war eine überaus spontane Idee Marys, die in hektischen Umstrukturierungen resultiert hatte, aber wenn Adir genauer darüber nachdachte, war es eine von Marys besten Ideen gewesen, Shaginais Ernennungszeremonie und die Trauerfeier für die Toten von Espiritou del Aire gleichzeitig abzuhalten.
Es war eine sehr traurige Veranstaltung, die nur in letzter Sekunde geglückt war. Aber obwohl sie von so großer Traurigkeit erfüllt gewesen war, hatte Adir das Gefühl, dass Mary sich richtig entschieden hatte - nicht nur, dass der an diesem Tag zum Regime-Führer Erklärte ebenfalls seine Familie zu betrauern hatte, sondern auch, dass dieser nur deshalb Regime-Führer wurde, weil das Massaker geschehen war, weshalb die Trauer als Bindeglied womöglich makaber, aber gut eingesetzt war. Diese beiden Ereignisse hingen untrennbar zusammen und Mary gelang es auf eine simple und treffende Art, diese Verbindung zu verdeutlichen und sie für das Volk spürbar zu machen.
Sie wählte es auch, auf eine Rede für Shaginai zu verzichten, um stattdessen eine kollektive Schweigeminute zu halten, womit Shaginais erste Aktion als Regime-Führer nicht das Halten einer Rede war, sondern das Abschiednehmen von ihren toten Mitwächtern. Einige Hikari hatten es makaber, ziemlich gewagt und auch zu unkonventionell genannt, aber Adir war davon überzeugt, dass Mary die richtige Wahl getroffen hatte - sie hatte Shaginai als einen Teil der anderen Trauernden präsentiert und auch wenn Shaginai es Adir nie gesagt hatte, so glaubte Adir zu wissen, dass Shaginai für diese unkonventionelle Feierlichkeit dankbar gewesen war.
Shaginai stand zwischen zwei hohen Säulen und sah in den lilafarbenen Abendhimmel hinaus, die eine Hand an der Säule ruhend, so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er Adirs Awesenheit nicht zu bemerken schien; zu sehr verlor er sich in seinen Gedanken und in dem Abendhimmel, in welchen vor knapp einer Stunde mehrere tausend Lichter geschickt worden waren; eins für jeden toten Wächter. Mary hatte dafür gesorgt, dass diese Lichter von allen Inseln aus in den Himmel gesandt worden waren, aber die meisten Wächter hatten ihr Licht auf Espiritou del Aire entsandt. Obwohl es ein schön anzusehendes Spektakel gewesen war, hatte es doch deutlich den Verlust an Leben gezeigt; kaum ein Wächter hatte nicht mindestens eine Person zu beklagen gehabt und für einen Moment war der Himmel beinahe gänzlich erleuchtet gewesen.
Adir wollte gerade auf sich aufmerksam machen, als er etwas sah, das ihn davon abhielt; in seiner freien Hand hielt Shaginai ein kleines, sachte pulsierendes Licht, genau wie die, die sie in den Himmel geschickt hatten. Adir erschien dies eigenartig, denn Shaginai hatte die Zeremonie eröffnet, indem er ein solches Lichtlein hatte aufsteigen lassen. Für seine Schwester, hatte Adir angenommen, weil er nicht davon ausging, dass er ein Licht für seinen Vater hatte aufsteigen lassen wollen, aber scheinbar hatte er sich geirrt.
"Das Licht ist für meine Schwester", erklärte Shaginai im gedämpften Tonfall, nachdem er Adir bemerkt hatte und dieser sich zu ihm gesellt hatte. Es war sehr ruhig im Tempel, der Säulenkorridor war verlassen, dennoch schien Shaginai nicht laut sprechen zu wollen.
"Mary-sama bestand darauf, dass ich das erste Licht meinem Vater widmen solle. Für die Öffentlichkeit..." Shaginai drehte sich samt seinem kleinen Lichtlein wieder herum und sah über den Tempel hinweg:
"... ich hätte es ansonsten nicht getan." Also hatte Adir mit seiner Vermutung doch richtig gelegen und wieder hörte er dieselbe Verbitterung in Shaginais Stimme, die auch die Ursache für seine Tränen gewesen war. Anstatt auf diese allerdings einzugehen, wollte er Shaginai gerade fragen, weshalb er das Licht für seine Schwester erst jetzt entsandte, als er es bereits verstand: Shaginai wollte sie nicht als ein Teil von etwas Großem verabschieden. Was für eine ungewöhnliche Denkweise für einen Wächter...
Aber Shaginai schien etwas aufzuhalten, denn er machte keine Anstalten, sich von der leuchtenden Kugel zu lösen, die er in seiner Hand hielt und an seinen Oberkörper presste - ob er alleine sein wollte? Störte ihn Adirs Dasein? Wahrscheinlich tat es das, weshalb Adir sich auch gerade verabschieden wollte, als Shaginai ihm zuvor kam:
"Wenn ich nicht die Ewigkeit wähle - sehe ich sie dann wieder, wenn mein Leben vorbei ist?" Wenn Adir diese Worte so hörte, fiel es ihm schwer zu glauben, dass das Kind neben ihm erst sieben Jahre alt war; er hatte eine sehr reife Art, sich auszudrücken... wer ihm das wohl beigebracht hatte? Adir hatte von Hizashi - als Shaginais Lehrer in Dämonologie - erfahren, dass Shaginai keine gleichaltrigen Freunde besaß; wieder etwas, was ungewöhnlich war für Wächter, aber Hizashi hatte dies schulterzuckend damit erklärt, dass der junge Hikari ständig an seiner Schwester hängen würde.
Wieder spürte Adir Groll gegen Hizashi aufkommen; er war ein so guter Beobachter - ein besonderes Augenmerk lag auf seinen Schülern - aber dennoch hatte er nicht gezögert, Shaginai jegliche Hoffnung auf eine Genesung seiner Schwester zu nehmen. Hizashi besaß ein so geringes Maß an Mitgefühl, dass es schon fast erschreckend war. Wie war er nur...
Adir befahl sich, diesen Gedanken abzubrechen; solche Gedanken durfte er nicht haben. Nicht einem Mithikari gegenüber, dessen Fähigkeiten und Wissen ein entscheidender Pfeiler des Wächtertums waren.
"Alle verstorbenen Wächter kehren zu ihrem Element zurück. Das ist auch bei uns Hikari nicht anders."
"Das weiß ich", antwortete Shaginai mit Nachdruck, als wolle er sichergehen, dass Adir ihn nicht für unwissend hielt.
"Aber glauben Sie nicht, dass eine Möglichkeit besteht, dass wir in unserem Tod die Grenzen unseres Elements überschreiten können?" Adir konnte seine Überraschung nicht verbergen; solche Gedankengänge kannte er sonst nur aus Büchern, die definitiv nicht für Siebenjährige geschrieben worden waren; Bücher aus der Feder von verträumten, utopisch glaubenden Illusionswächtern, die so gerne mit ihren Gedanken woanders waren.
"Ich muss zugeben, dass ich erstaunt bin. Du bist vertraut mit Imaginas Werken?", erwiderte Adir daher auch, erfreut endlich ein Gespräch mit Shaginai führen zu können, auch wenn das Thema bedrückend war.
"Shatelle hat sie mir immer vorgelesen." Vielleicht hätte sie ihm lieber die Märchen von Imagina vorlesen sollen, anstatt ihre philosophischen Werke...
"Ich muss aber zugeben, dass ich ihren Schreibstil nicht mag. Sie umschreibt zu viel. Aber Die unendliche Reise finde ich sehr interessant. Ich habe sie in den letzten Tagen noch einmal gelesen und mich ein weiteres Mal mit ihren Theorien beschäftigt." Adir wollte ihn gerade korrigieren, dass man diese Gedanken wohl kaum ernsthaft Theorien nennen konnte und dass nicht nur Hizashi ihn dafür lynchen würde, aber wieder sagte er sich selbst, dass Shaginai nur sieben war - auch wenn es ihm immer schwerer fiel, das zu glauben.
"Ich denke, ihre Theorien könnten der Wahrheit entsprechen, immerhin sind wir Wächter alle miteinander verbunden, jenseits unserer Elemente... warum sollten unsere Elemente uns Grenzen legen wollen, wenn wir doch ein großes Ganzes sind? Vielleicht können wir ja nicht alle nach dem Tod wiedersehen... vielleicht nur die, mit denen wir das festeste Bündnis besaßen. Unsere Elementarwächter, die ja an uns geschmiedet sind durch das heilige Band der Weihe, unsere..." Adir sah, wie Shaginais Finger um die weiße Kugel herum zuckten:
"...Familie. Das wäre doch nicht unmöglich, oder, Adir-sama?" Adir blinzelte zwei Mal erstaunt, immer noch verblüfft über die Gedankengänge des Kindes, welches ihn jetzt direkt ansah und antwortete dann:
"Vielleicht. Unmöglich ist es nicht, aber eine klare Antwort wird dir leider niemand auf diese Frage geben können." Shaginai wandte sich wieder ab, blickte wieder kurz über den Tempel hinweg, ehe er sich wieder Adir zuwandte:
"Bereuen Sie es, die Ewigkeit gewählt zu haben?"
"Nein. Ich schätze mich sehr glücklich, dass mir ein Fortbestehen im Jenseits vergönnt war. Natürlich vermisse ich meine Lieben und der Schmerz des Verlustes ist hart zu ertragen..." Warum erzählte er ihm das? Das war eigentlich nicht Adirs Art...
"... aber ich habe viele Leben begleiten können, ich habe viel tun können für das Wächtertum, und das Erblühen und das Beschützen unseres Reiches ist für mich überaus wertvoll. Vielleicht sogar das Wertvollste für mich... Ich denke, das ist es, was alle Hikari im Jenseits vereint, weshalb das Jenseits existiert und wir Auserwählten noch weiterhin existieren. Wir wollen alle das Beste für unser Reich. Ich bin dankbar, dass ich ein Teil davon bin und dazu beitragen kann." Während er diese Worte gesagt hatte, bereute er sofort, dass er vor wenigen Minuten noch so schlecht über Hizashi gedacht hatte - denn auch er wollte das Beste für das Wächtertum, auch wenn sie sich nicht immer einig waren, wie dieses Ziel umgesetzt werden sollte.
Das Schweigen legte sich wieder um sie und Adir überlegte, ob er vielleicht hätte andere Worte wählen sollen in Anbetracht dessen, dass Shaginai gerade sämtlichen Halt verloren hatte und er den Hikari und ihren Entscheidungen, besonders Adirs, hinsichtlich der mangelnden Kriegsvorbereitungen sicherlich grollte und die Worte Adirs daher als Hohn auffassen könnte... aber als er sah, wie Shaginai sich aus seiner Starre löste und langsam, aber keinesfalls zögernd, das weiße Licht von seiner Brust löste, da entschied er sich zu schweigen, um diesem Augenblick die Stille zu geben, die ihm gebührte.
Sachte erhob sich das kleine Licht von Shaginais ausgestreckter Hand und umkreiste diese noch ein letztes Mal, ehe sie in den dunklen Nachthimmel hinauf stieg; hinauf zu den Sternen, zu den anderen Lichtern.
Die beiden Hikari sahen dem Licht noch lange hinterher, bis es tatsächlich nur noch einen kleinen Punkt am mittlerweile dunklen Firmament ausmachte. Dann drehte Shaginai sich herum und zum ersten Mal sah Adir den felsenfesten Blick, für den Shaginai später bekannt werden würde:
"Geben Sie mir ein Schwert."
In den vielen Jahrhunderten hatte er auf diese Art viele Bekanntschaften gemacht, viele Namen und Gesichter waren aber auch in der Zeit und in der Menge untergegangen... aber er war sich sicher, dass er Shaginai nie vergessen würde.
Sein Gefühl und seine Erfahrung sagten ihm nicht auf Anhieb, was aus Shaginai werden würde; nein, er sah ganz gewiss nicht kommen, dass dieses von der Welt absolut verlassene Kind ein so gewaltiges Charisma entwickeln würde, welches ihn dazu bemächtigen würde, den gesamten Rat auf den Kopf zu stellen. Adir war damals sogar vorsichtig mit seiner Beurteilung, was das Jenseits betraf; Shaginai schien keine besondere Gabe zu besitzen, kein außergewöhnliches Talent und von seinen Tränen her zu urteilen... Aber Adir wollte nicht voreilig sein. Nur weil er Verbitterung statt Trauer gewählt hatte - oder dazu gezwungen worden war - bedeutete das immerhin nicht... aber woher kam dann die Unruhe in ihm, wenn er in seiner Nähe war? Und war das der Grund, weshalb sie bis jetzt kein richtiges Gespräch geführt hatten? War es die Verbitterung, die er spüren konnte und die ihn unruhig machte, weil er sie nicht nachvollziehen konnte...? Er selbst war beinahe in der Trauer um seine Familie untergangen, sie plagte ihn immer, ließ sich nicht fortwischen, schmerzte und peinigte ihn... und Shaginai war doch nur ein Kind?
"Wir trauern alle anders." Marys Stimme klang erschöpft, nein, viel eher müde, was Adir beunruhigte, weshalb er auch besorgt zu ihr herüber sah, während er ihr dabei half, ihre Dokumente zu sortieren. Sie war eigentlich eine sehr ordentliche Person; ihren zierlichen Schreibtisch so unordentlich zu sehen war eine Seltenheit, aber auch sie war beschäftigt mit ihrem Verantwortungsgebiet: den öffentlichen Auftritten der Hikari, worunter auch die Auftritte des Regimeführers fielen.
"Ich weiß, es ist nur... so eine Reaktion habe ich noch nie gesehen. Nicht einmal etwas Vergleichbar-..."
"Argh! Wo ist diese verdammte Rede!" Überrascht sah Adir auf, die Hände voll mit Dokumenten; er hatte Mary noch nie fluchen gehört, aber scheinbar war sie sich ihres Regelbruches nicht einmal bewusst, denn statt sich zu entschuldigen, raufte sie sich verzweifelt wirkend die Haare, was Adir sofort von seinen eigenen Problemen ablenkte:
"Ich dachte, Iluri-san würde die Rede für Shaginai-kun schreiben?"
"Pah! Als ob auf sie Verlass wäre; meinte, sie wäre mit der Situation überfordert, könnte die Trauer nicht in Worte fassen, pah, pah, pah! Als ob es das erste Mal wäre, dass dem Wächtertum etwas Schreckliches geschieht oder dass 7000 Wächter an einem Tag..." Ruhe überfiel sie plötzlich; ihre vorher noch wütenden Gesichtszüge erschlafften, aber noch ehe Adir ihren Gemütswandel noch weiter in ihrem Gesicht ablesen konnte, ließ sie sich in ihrem Sessel nieder, das Gesicht in den Händen verborgen; sie sagte nichts, blieb kurz in ihren eigenen Gedanken, ehe sie ihre Hände wieder von ihrem Gesicht löste.
"Es ist das erste Mal..." Adir nickte betrübt, die Dokumente auf dem Schreibtisch ablegend, welche Mary nach einem kurzen Schweigen in die Hand nahm.
"Ich habe bereits einen Entwurf für die Rede fertig, aber es ist... eine Herausforderung. Ich habe noch nie eine Rede geschrieben, die ein Kind vorlesen soll. Ich meine, er ist sieben - welche Worte passen überhaupt zu einem Kind? Welche Worte soll ich ihn sagen lassen? Er war selbst dort... welche Worte kann ich mir anmaßen, ihm in den Mund zu legen?"
"Hast du ihn gefragt, ob er vielleicht selbst etwas sagen will?", fragte Adir, der die Schwierigkeit von Marys Aufgabe nur allzu gut verstehen konnte. Mary nickte:
"Ja, das habe ich, worauf er erwiderte, dass er in der Lage sein würde, zu lesen. Das war... alles, was er dazu sagte. Ein wenig beleidigt schien er mir sogar zu sein. Er ist ein komisches Kind. Sehr schweigsam. Aber... wenn ich es mir recht überlege... ist das wohl nicht seltsam."
Shaginai war der erste Hikari, der vollkommen in schwarz gekleidet zum neuen Regime-Führer ernannt wurde. Es war eine überaus spontane Idee Marys, die in hektischen Umstrukturierungen resultiert hatte, aber wenn Adir genauer darüber nachdachte, war es eine von Marys besten Ideen gewesen, Shaginais Ernennungszeremonie und die Trauerfeier für die Toten von Espiritou del Aire gleichzeitig abzuhalten.
Es war eine sehr traurige Veranstaltung, die nur in letzter Sekunde geglückt war. Aber obwohl sie von so großer Traurigkeit erfüllt gewesen war, hatte Adir das Gefühl, dass Mary sich richtig entschieden hatte - nicht nur, dass der an diesem Tag zum Regime-Führer Erklärte ebenfalls seine Familie zu betrauern hatte, sondern auch, dass dieser nur deshalb Regime-Führer wurde, weil das Massaker geschehen war, weshalb die Trauer als Bindeglied womöglich makaber, aber gut eingesetzt war. Diese beiden Ereignisse hingen untrennbar zusammen und Mary gelang es auf eine simple und treffende Art, diese Verbindung zu verdeutlichen und sie für das Volk spürbar zu machen.
Sie wählte es auch, auf eine Rede für Shaginai zu verzichten, um stattdessen eine kollektive Schweigeminute zu halten, womit Shaginais erste Aktion als Regime-Führer nicht das Halten einer Rede war, sondern das Abschiednehmen von ihren toten Mitwächtern. Einige Hikari hatten es makaber, ziemlich gewagt und auch zu unkonventionell genannt, aber Adir war davon überzeugt, dass Mary die richtige Wahl getroffen hatte - sie hatte Shaginai als einen Teil der anderen Trauernden präsentiert und auch wenn Shaginai es Adir nie gesagt hatte, so glaubte Adir zu wissen, dass Shaginai für diese unkonventionelle Feierlichkeit dankbar gewesen war.
Shaginai stand zwischen zwei hohen Säulen und sah in den lilafarbenen Abendhimmel hinaus, die eine Hand an der Säule ruhend, so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er Adirs Awesenheit nicht zu bemerken schien; zu sehr verlor er sich in seinen Gedanken und in dem Abendhimmel, in welchen vor knapp einer Stunde mehrere tausend Lichter geschickt worden waren; eins für jeden toten Wächter. Mary hatte dafür gesorgt, dass diese Lichter von allen Inseln aus in den Himmel gesandt worden waren, aber die meisten Wächter hatten ihr Licht auf Espiritou del Aire entsandt. Obwohl es ein schön anzusehendes Spektakel gewesen war, hatte es doch deutlich den Verlust an Leben gezeigt; kaum ein Wächter hatte nicht mindestens eine Person zu beklagen gehabt und für einen Moment war der Himmel beinahe gänzlich erleuchtet gewesen.
Adir wollte gerade auf sich aufmerksam machen, als er etwas sah, das ihn davon abhielt; in seiner freien Hand hielt Shaginai ein kleines, sachte pulsierendes Licht, genau wie die, die sie in den Himmel geschickt hatten. Adir erschien dies eigenartig, denn Shaginai hatte die Zeremonie eröffnet, indem er ein solches Lichtlein hatte aufsteigen lassen. Für seine Schwester, hatte Adir angenommen, weil er nicht davon ausging, dass er ein Licht für seinen Vater hatte aufsteigen lassen wollen, aber scheinbar hatte er sich geirrt.
"Das Licht ist für meine Schwester", erklärte Shaginai im gedämpften Tonfall, nachdem er Adir bemerkt hatte und dieser sich zu ihm gesellt hatte. Es war sehr ruhig im Tempel, der Säulenkorridor war verlassen, dennoch schien Shaginai nicht laut sprechen zu wollen.
"Mary-sama bestand darauf, dass ich das erste Licht meinem Vater widmen solle. Für die Öffentlichkeit..." Shaginai drehte sich samt seinem kleinen Lichtlein wieder herum und sah über den Tempel hinweg:
"... ich hätte es ansonsten nicht getan." Also hatte Adir mit seiner Vermutung doch richtig gelegen und wieder hörte er dieselbe Verbitterung in Shaginais Stimme, die auch die Ursache für seine Tränen gewesen war. Anstatt auf diese allerdings einzugehen, wollte er Shaginai gerade fragen, weshalb er das Licht für seine Schwester erst jetzt entsandte, als er es bereits verstand: Shaginai wollte sie nicht als ein Teil von etwas Großem verabschieden. Was für eine ungewöhnliche Denkweise für einen Wächter...
Aber Shaginai schien etwas aufzuhalten, denn er machte keine Anstalten, sich von der leuchtenden Kugel zu lösen, die er in seiner Hand hielt und an seinen Oberkörper presste - ob er alleine sein wollte? Störte ihn Adirs Dasein? Wahrscheinlich tat es das, weshalb Adir sich auch gerade verabschieden wollte, als Shaginai ihm zuvor kam:
"Wenn ich nicht die Ewigkeit wähle - sehe ich sie dann wieder, wenn mein Leben vorbei ist?" Wenn Adir diese Worte so hörte, fiel es ihm schwer zu glauben, dass das Kind neben ihm erst sieben Jahre alt war; er hatte eine sehr reife Art, sich auszudrücken... wer ihm das wohl beigebracht hatte? Adir hatte von Hizashi - als Shaginais Lehrer in Dämonologie - erfahren, dass Shaginai keine gleichaltrigen Freunde besaß; wieder etwas, was ungewöhnlich war für Wächter, aber Hizashi hatte dies schulterzuckend damit erklärt, dass der junge Hikari ständig an seiner Schwester hängen würde.
Wieder spürte Adir Groll gegen Hizashi aufkommen; er war ein so guter Beobachter - ein besonderes Augenmerk lag auf seinen Schülern - aber dennoch hatte er nicht gezögert, Shaginai jegliche Hoffnung auf eine Genesung seiner Schwester zu nehmen. Hizashi besaß ein so geringes Maß an Mitgefühl, dass es schon fast erschreckend war. Wie war er nur...
Adir befahl sich, diesen Gedanken abzubrechen; solche Gedanken durfte er nicht haben. Nicht einem Mithikari gegenüber, dessen Fähigkeiten und Wissen ein entscheidender Pfeiler des Wächtertums waren.
"Alle verstorbenen Wächter kehren zu ihrem Element zurück. Das ist auch bei uns Hikari nicht anders."
"Das weiß ich", antwortete Shaginai mit Nachdruck, als wolle er sichergehen, dass Adir ihn nicht für unwissend hielt.
"Aber glauben Sie nicht, dass eine Möglichkeit besteht, dass wir in unserem Tod die Grenzen unseres Elements überschreiten können?" Adir konnte seine Überraschung nicht verbergen; solche Gedankengänge kannte er sonst nur aus Büchern, die definitiv nicht für Siebenjährige geschrieben worden waren; Bücher aus der Feder von verträumten, utopisch glaubenden Illusionswächtern, die so gerne mit ihren Gedanken woanders waren.
"Ich muss zugeben, dass ich erstaunt bin. Du bist vertraut mit Imaginas Werken?", erwiderte Adir daher auch, erfreut endlich ein Gespräch mit Shaginai führen zu können, auch wenn das Thema bedrückend war.
"Shatelle hat sie mir immer vorgelesen." Vielleicht hätte sie ihm lieber die Märchen von Imagina vorlesen sollen, anstatt ihre philosophischen Werke...
"Ich muss aber zugeben, dass ich ihren Schreibstil nicht mag. Sie umschreibt zu viel. Aber Die unendliche Reise finde ich sehr interessant. Ich habe sie in den letzten Tagen noch einmal gelesen und mich ein weiteres Mal mit ihren Theorien beschäftigt." Adir wollte ihn gerade korrigieren, dass man diese Gedanken wohl kaum ernsthaft Theorien nennen konnte und dass nicht nur Hizashi ihn dafür lynchen würde, aber wieder sagte er sich selbst, dass Shaginai nur sieben war - auch wenn es ihm immer schwerer fiel, das zu glauben.
"Ich denke, ihre Theorien könnten der Wahrheit entsprechen, immerhin sind wir Wächter alle miteinander verbunden, jenseits unserer Elemente... warum sollten unsere Elemente uns Grenzen legen wollen, wenn wir doch ein großes Ganzes sind? Vielleicht können wir ja nicht alle nach dem Tod wiedersehen... vielleicht nur die, mit denen wir das festeste Bündnis besaßen. Unsere Elementarwächter, die ja an uns geschmiedet sind durch das heilige Band der Weihe, unsere..." Adir sah, wie Shaginais Finger um die weiße Kugel herum zuckten:
"...Familie. Das wäre doch nicht unmöglich, oder, Adir-sama?" Adir blinzelte zwei Mal erstaunt, immer noch verblüfft über die Gedankengänge des Kindes, welches ihn jetzt direkt ansah und antwortete dann:
"Vielleicht. Unmöglich ist es nicht, aber eine klare Antwort wird dir leider niemand auf diese Frage geben können." Shaginai wandte sich wieder ab, blickte wieder kurz über den Tempel hinweg, ehe er sich wieder Adir zuwandte:
"Bereuen Sie es, die Ewigkeit gewählt zu haben?"
"Nein. Ich schätze mich sehr glücklich, dass mir ein Fortbestehen im Jenseits vergönnt war. Natürlich vermisse ich meine Lieben und der Schmerz des Verlustes ist hart zu ertragen..." Warum erzählte er ihm das? Das war eigentlich nicht Adirs Art...
"... aber ich habe viele Leben begleiten können, ich habe viel tun können für das Wächtertum, und das Erblühen und das Beschützen unseres Reiches ist für mich überaus wertvoll. Vielleicht sogar das Wertvollste für mich... Ich denke, das ist es, was alle Hikari im Jenseits vereint, weshalb das Jenseits existiert und wir Auserwählten noch weiterhin existieren. Wir wollen alle das Beste für unser Reich. Ich bin dankbar, dass ich ein Teil davon bin und dazu beitragen kann." Während er diese Worte gesagt hatte, bereute er sofort, dass er vor wenigen Minuten noch so schlecht über Hizashi gedacht hatte - denn auch er wollte das Beste für das Wächtertum, auch wenn sie sich nicht immer einig waren, wie dieses Ziel umgesetzt werden sollte.
Das Schweigen legte sich wieder um sie und Adir überlegte, ob er vielleicht hätte andere Worte wählen sollen in Anbetracht dessen, dass Shaginai gerade sämtlichen Halt verloren hatte und er den Hikari und ihren Entscheidungen, besonders Adirs, hinsichtlich der mangelnden Kriegsvorbereitungen sicherlich grollte und die Worte Adirs daher als Hohn auffassen könnte... aber als er sah, wie Shaginai sich aus seiner Starre löste und langsam, aber keinesfalls zögernd, das weiße Licht von seiner Brust löste, da entschied er sich zu schweigen, um diesem Augenblick die Stille zu geben, die ihm gebührte.
Sachte erhob sich das kleine Licht von Shaginais ausgestreckter Hand und umkreiste diese noch ein letztes Mal, ehe sie in den dunklen Nachthimmel hinauf stieg; hinauf zu den Sternen, zu den anderen Lichtern.
Die beiden Hikari sahen dem Licht noch lange hinterher, bis es tatsächlich nur noch einen kleinen Punkt am mittlerweile dunklen Firmament ausmachte. Dann drehte Shaginai sich herum und zum ersten Mal sah Adir den felsenfesten Blick, für den Shaginai später bekannt werden würde:
"Geben Sie mir ein Schwert."