Das, was die Trauer vergrub
Es war das erste Mal, dass Lycram sich in dem abgedunkelten Saal befand, in dem er viele Jahre später so oft ein und aus gehen würde und welcher auf ihn sicherlich keine Furcht ausübte - doch jetzt tat er es, auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte und alles tat, damit es den Anwesenden nicht auffiel. Ob es ihm gelang wusste er nicht, denn die Auren, die in diesem Raum versammelt waren, waren die mächtigsten, die er jemals gespürt hatte, besonders die seines Königs Kasra - den "zum König Geborenen" - dessen lange, schwarze Haare halb zusammen geflochten hinter ihm her flatterten, als er durch den halbdunklen Saal stolzierte und eher einen gelangweilten Eindruck machte. Er wurde dicht gefolgt von einer scheinbar schwangeren Dämonin, die er barsch dazu aufgefordert hatte, seine Haare zusammenzuflechten, ohne dass sie ihn dabei in seinen Bewegungen stören durfte - was ihr schwerfiel, denn ihr Herrscher machte große Schritte, denen sie mit ihren kleinen Beinchen kaum folgen geschweige denn nebenbei auch noch seine Haare meistern konnte.
"Du sagst also, Junge, dass du einen Hikari umgebracht hast...", wiederholte er Lycrams Worte mit desinteressierter Stimme, weiterhin umher stolzierend, die schwangere Frau nicht beachtend:
"Wie kommt es dann, dass ich gerade gehört habe, dass der momentane Regime-Führer - wie auch immer der heißt ... - sich selbst umgebracht hat?" Einstimmiges Kichern ertönte aus den dunklen Schatten, allerdings unterbrochen davon, dass sich plötzlich die Tür hinter Lycram öffnete - ein langer, roter Lichtstrahl fand seinen Weg in den Saal, ehe die schwere Tür mit einem Krachen ins Schloss zurückfiel. Nicht nur das Kichern war verstummt, es kam Lycram sogar so vor, als würden alle gleichzeitig den Atem anhalten, er einbegriffen - auch der Dämonenherrscher war stehen geblieben und folgte dem Neuankömmling mit aufmerksamen roten Augen, wie dieser mit langsamen Schritten den Saal durchquerte.
Es war die Erscheinung einer jungen Frau, die ihnen den Atem raubte, deren langes, lockiges Haar durch den Saal rauschte, deren Gesicht Lycram aber nicht sehen konnte - dennoch wusste er, wer diese Frau war; ob sie wirklich so unbeschreiblich schön war, wie man behauptete?
"Ah, Menuét! Meine Juwelendame ist aber schnell zurück..." Doch Menuét ignorierte ihren Herrscher - oder tauschten sie Blicke aus, Lycram konnte es nicht sehen - um stattdessen der auf dem Boden kauernden Dämonin auf die Füße zu helfen, da Kasra sie grob zu Boden geworfen hatte, nachdem sie gegen ihn gestolpert war.
Ein genervtes Räuspern verlangte nach Aufmerksamkeit und sichtlich überrascht fuhr Lycram zusammen, als er bemerkte, dass ein Dämon genau neben ihm stand - war er zusammen mit Menuét gekommen?
"Mein König", versuchte der Dämon noch einmal, die Aufmerksamkeit Kasras zu erlangen, der Menuét hinterher gesehen hatte, sich jetzt aber seinem Berater zuwandte und wieder gelangweilt wirkte:
"Karou. Du bist auch schon wieder da." Karou deutete ein Nicken an und schien Lycrams neugierigen Blick, der auf dessen große, geschwungene Hörner gerichtet war, nicht zu bemerken - oder zu ignorieren. Er würdigte ihn auch keines Blickes sondern steuerte auf Kasra zu, um ihm etwas mitzuteilen, was offensichtlich nicht für alle Ohren gedacht war. Diese Chance nutzte die Dämonin, um endlich Kasras Zopf zu flechten, da dieser stehen geblieben war, und schien froh zu sein, von seiner Seite weichen zu können, als seine Haare wieder so saßen, wie sie sollten.
"Soso, du behauptest also, dass du einen Hikari umgebracht hast?", begann Kasra, nachdem Karou sich von ihm entfernt hatte und wieder an Lycram vorbeiging. Lycram wollte gerade antworten, da kam Kasra ihm zuvor:
"Ich glaube ..." Er hielt es nicht einmal für nötig, Lycram dabei anzusehen, sondern inspizierte gelangweilt seinen Zopf, ob er auch ja richtig geflochten war:
"... dass wir keinen Fürsten gebrauchen können, der Lichtmagie mit Feuermagie verwechselt." Ein spottendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus:
"Oder der sich damit brüsten will, in der Lage zu sein, ein Kind zu töten - als ob das so schwer wäre!" Das Lachen, was daraufhin im Raum zu hören war, war erniedrigend und noch lange würde es Lycram verfolgen, genau wie Kasras letzte an ihn gerichtete Worte:
"Nein, nein, Junge, geh du mal wieder zurück zu deinem Spielzeug und lass Erwachsene über dich herrschen!"
...
"VERDAMMT!"
Mit Inbrunst wurde das Glas mit dem Absinth - oder Whisky oder Wodka, er hatte keine Ahnung, Hauptsache hochprozentig - auf die Theke der Bar geschmettert, ehe Lycram, die eigenen Zähne in seine Lippen beißend, verzweifelt und gedemütigt seine Hände in die langen Haare vergrub und sich wieder die Frage stellte, die der Barkeeper nun schon vier Mal gehört hatte:
"Wie konnte ich nur so bescheuert sein und auf den Trick dieser Schlampe reinfallen!?"
"Eine durchaus berechtigte Frage, Lycilein." Sofort wirbelte Lycram herum, seine Haare loslassend und sah Ri-Il neben sich sitzen, als hätte er schon die ganze Zeit dort gesessen - den Zylinder auf der Theke platziert, sich selbst lässig daran lehnend. Das einzige, was nicht darauf schließen ließ, dass er schon die ganze Zeit dort gewesen war, war die galante Bestellung des ersten Sakes des Abends.
"Ri-Il! Was machst du denn hier?!" Ri-Ils dünne Augenbrauen hoben sich eine Ahnung:
"Nun, ich bin Fürst." Es entging ihm nicht, dass Lycram bei diesem Wort wütend mit dem Auge zuckte:
"Und befinde mich in Lerenien-Sei, weil unsere Majestät ein Gespräch mit mir verlangte. Er vergaß allerdings, mich über die Versammlung der Hohen zu informieren." Er nahm den Sake in Empfang und führte die kleine Schale auch sofort zu seinen Lippen:
"Das kann natürlich passieren ... auch wenn es schon öfter passiert ist."
"Du warst also nicht dabei?" Irrte Ri-Il sich oder war da eine Spur Erleichterung in Lycrams Stimme zu hören?
"Nein, das war ich nicht, aber von deinem erröteten Gesicht her zu urteilen ..." Ri-Il grinste und umgehend versuchte Lycram knurrend die Zornesröte seines Gesichtes dadurch zu vertuschen, dass er sein Glas zum Trinken erhob - dabei bemerkend, dass sich nichts mehr im Glas befand, welches er hätte trinken können.
"... sind wir noch keine Kollegen", urteilte der Fürst, nachdem er den Barkeeper mit einer Geste darum gebeten hatte, Lycrams Glas aufzufüllen, da ihm natürlich bewusst war, dass ihm die Mittel fehlten, seine Wut in Alkohol zu ertränken.
"Ich brauche dein verfluchtes Mitleid nicht!" Aber den Alkohol brauchte er offensichtlich, denn diesen trank er ohne zu zögern sofort aus und auch ohne, dass der Fürst etwas sagen musste, verstand der Barkeeper, dass Lycrams Getränke heute Nacht auf Ri-Ils Rechnung gingen.
"Am besten du wartest ein paar Jahre, bis der kleine Shaginai erwachsen ist, und bringst ihn dann um, Lycilein - und jetzt lass uns nicht mehr von diesen Dingen sprechen. Wie geht es denn deiner Familie?"
...
Der führende Psychologe des Wächtertums mit dem überaus treffenden Beinamen "Licht des Mitgefühls" stand am rotglühenden Fenster und blickte in stumme Gedanken vertieft in die untergehende Sonne, als Adir im Sanctuarian ankam. Das Sanctuarian war von unheimlicher Stille eingehüllt; einer bedrückenden, unheilschwangeren Stille, die daher rührte, dass es zum ersten Mal seit Langem keine Verletzten oder Kranken, sondern nur Tote in den weißen Hallen gab. Die meisten noch lebenden Wächter befanden sich wohl in der Leichenhalle, dem Ort, der in den letzten Jahren so unbenutzt gewesen und nun vermutlich gut gefüllt war. Der Tod war wie eine Welle über sie gekommen ... ob sie darin ertrinken würden?
"Reitzel-san." Reitzel blickte auf, als er Adirs Stimme hörte, und wandte sich zu ihm herum. Er wirkte angespannt; sein sonst so elegantes, warmes Lächeln war steif - man sah ihm an, dass auch ihn dieser schicksalshafte Tag schockiert hatte, obwohl er zu jenen gehörte, die ebenfalls im Krieg geboren und gestorben waren.
"Adir-sama, ich hatte schon damit gerechnet, dass Sie es sein würden, der sich dem jungen Shaginai annimmt." Er schritt auf Adir zu und reichte ihm die Hand, eine wahrlich ungewöhnliche Geste unter Wächtern; man merkte ihm an, dass er viel Zeit bei den Menschen verbrachte und wahrscheinlich kam er auch gerade von jener Welt, denn er war in einen dunkelgrauen Anzug gekleidet und bei genauerem Hinsehen bemerkte Adir, dass seine Füße bereits flackerten.
"Immerhin muss das Schicksal Shaginais Sie daran erinnern, wie alleine Sie waren, als Ihre drei Kinder und Ihre Frau starben ..." Reitzel unterbrach sich selbst, rot angelaufen, Adirs steif gewordenem Lächeln ausweichend:
"Ich habe es schon wieder getan! Bitte verziehen Sie ..." Adir lächelte weiterhin, auch wenn es ihm schwerfiel; er wusste schon, warum alle Hikari den eigentlich sehr sympathischen Reitzel mieden. Er hatte einfach ein ungewöhnliches Talent dafür, in die Seele zu blicken und Dinge hervorzuziehen, die man selbst nicht hören wollte ... und schuf sich damit große, machtvolle Feinde, weswegen er den Großteil seines ewigen Lebens in der Menschenwelt verbrachte. Wenn sein Eciencé-Körper es nicht zuließ und er gezwungen war, sich im Jenseits aufzuhalten, dann mied er nicht nur sämtlichen Kontakt, sondern versteckte sich regelrecht vor den abgrenzenden Blicken der anderen Hikari; ganz vorne heran Hizashi.
"Warum kann ich es einfach nicht unterbinden ...", seufzte Reitzel erschöpft, doch lächelte sofort wieder:
"Aber die Hikari mit all ihren Traumata und unterdrückten Trieben ..." Er bemerkte seine ungeschickten Worte, noch ehe Adirs Augenbrauen sich heben konnten und verbeugte sich sofort mit hin- und her schwankendem Lockenhaar:
"Bitte verzeihen Sie!"
"Schon gut, Reitzel-san, schon gut. Wie geht es dem Jungen?" Immer noch ein wenig beschämt hüstelte Reitzel, ehe er Adir bedeutete, ihm zu folgen:
"Lassen Sie mich erst eine Gegenfrage stellen: kennen Sie ihn?" Adir wünschte sich, er könnte die Antwort mit "Ja" beantworten, aber leider war das nicht der Fall; er hatte weder ein Gespräch mit Shaginai geführt, noch sich sonderlich mit ihm auseinandergesetzt. Er war mit dessen Vater nie warm geworden und hatte keine besondere Bindung zu ihm aufgebaut, weswegen er auch dessen Kinder nicht viel gesehen hatte ... ein, zwei Mal beim Fest der Elemente vielleicht ... aber ansonsten?
"Leider nein."
"Wissen Sie, ob er noch weitere Familienmitglieder besitzt? War die Familie mit anderen Wächtern befreundet - hatte sie eine feste Bindung zu ihrem Tempelwächter?"
"Ich befürchte, dass der Tempelwächter mit auf Espiritou del Aire gewesen ist und daher zu den Toten gehört; wie ihre Bindung war, kann ich nicht sagen. Leider denke ich, dass Shaginai tatsächlich alleine auf dieser Welt ist ... seine Mutter starb bei seiner Geburt."
"Oh, das ist ..." Reitzel schien wieder irgendwelche psychologischen Erkenntnisse berichten zu wollen, doch er unterdrückte sie dieses Mal:
"... natürlich überaus bedauernswert." Adir deutete ein Nicken an, ehe sie vor einer Abzweigung stehen blieben und Reitzel ihm plötzlich direkt in die Augen sah:
"Sie sind nicht nur hier, weil Sie den Jungen trösten wollen. Sie sind auch hier, weil der Rat ihn zum Regime-Führer ernennen will, nicht wahr?" Wieder deutete Adir ein Nicken an, doch Reitzel sah ihm nur allzu deutlich an, wie sehr er selbst gegen den Gedanken war.
"Ich rate dringend davon ab, den Jungen zum Regime-Führer zu machen. Der kleine Shaginai hat seine gesamte Familie verloren und war für mehrere Stunden unter der Leiche seiner Schwester begraben. Er benötigt eine lange psychologische Betreuung; keine Pflichten und keinen Druck von außen. Ansonsten ..."
"Ich bin da ganz Ihrer Meinung", erwiderte Adir bedauernd, denn die Ausformulierung des "ansonsten" wollte er nicht hören; ein anderes Mal vielleicht, aber an diesem Tag ertrug sein Herz nicht mehr Grauen und Unheil. Er hatte genug gehört, genug gesehen für eine gesamte Ewigkeit ...
...
Reitzel stand neben ihm, als Adirs Gesicht zuerst Verwunderung zeigte, sich aber Schritt für Schritt dessen bewusst wurde, dass das, was er vor sich auf einem leeren, aber mit Blutflecken gesprenkelten Krankenbett sitzen sah, kein trauriges Kind war. Shaginai konnte sie nicht sehen, denn die Scheibe, die sie voneinander trennte, war gespiegelt, weshalb er sich unbeobachtet fühlte, alleine in dem leeren Zimmer, auf dem leeren Krankenbett, wo wohl wenige Stunden zuvor seine Schwester gelegen hatte. Er sah aus, wie Adir ihn gefunden hatte - das Gesicht rot von dem verschmierten Blut und immer noch in zerrissener Kleidung. Aber etwas ... etwas war komisch an ihm ... nur konnte Adir nicht sagen, was es war ... Er hatte schon so oft so viele verschiedene Facetten der Traurigkeit gesehen und selbst gespürt, aber dieses Kind ... die Tränen rannten ihm über sein blutiges Gesicht, tropften auf seine zu Fäusten geballten Hände, aber sein Kopf war nicht nach unten gerichtet. Ungewöhnlicherweise hatte er den Kopf erhoben, die Augen nicht zusammengepresst sondern geradeaus gegen die Wand gerichtet, als durchbohre er einen unsichtbaren Feind.
"Hat ... hat man ihm bereits gesagt, dass seine Schwester tot ist?", fragte Adir aus einem ihm unbekannten Grund nervös. Reitzel, der Shaginai nur kurz angesehen hatte, um stattdessen Adirs Reaktion zu beobachten, antwortete mit ruhiger Stimme:
"Ja, das hat man. Als er es erfuhr, war er in meiner Obhut. Daraufhin trennte er sich ohne ein Wort von mir und beobachtete, wie sie seine Schwester in den Leichenkeller brachten. Er weiß, dass sie tot ist ... und dennoch weiß er es zur gleichen Zeit nicht. Es ist ihm nicht bewusst. Statt an der Trauer des Verlustes zugrunde zu gehen, fokussiert sein Bewusstsein sich auf andere Gefühle ... ein sehr schädlicher Prozess für die Psyche. Wenn er sich seiner Traurigkeit nicht bekennt und sie unter anderen Gefühlen verschließt, besteht die Möglichkeit, dass er nie über den Tod seiner Schwester hinwegkommen wird und das wiederrum wird in einem Trauma resultieren, dessen Form sich momentan nur erahnen lässt." Reitzel wandte sich wieder Shaginai zu und fuhr mit stiller Stimme fort:
"Deswegen darf er jetzt noch kein Regime-Führer werden; ihm darf nicht die Möglichkeit genommen werden, zu trauern. Aber das ... das ist wahrscheinlich unwichtig für jemanden wie Hizashi."
...
Als Reitzel bemerkte, dass seine Finger sich nun auch aufzulösen begannen, verabschiedete er sich von Adir mit den Worten, dass er zurückkehren würde ins Jenseits - und ihm viel Glück mit Shaginai wünsche, welcher gerade Besuch von einer Tempelwächterin bekam, die ihm Suppe brachte. Sie wollte ihm offensichtlich auch das Blut vom Gesicht wischen, aber Shaginai riss seinen Kopf aus ihren sanften Händen frei - schien aber nichts zu sagen, doch seine Körpersprache war deutlich genug, um der jungen Tempelwächterin zu sagen, dass er lieber alleine gelassen werden sollte.
Shaginai rührte das Essen nicht an, aber er hatte aufgehört zu weinen; die letzten Tränen tropften von seiner Wange - die letzten, die Shaginai je vergießen würde. Als Adir den Raum betrat, sich herunter zu Shaginai beugte, die Hände auf dessen Knie legend, da war ihm bewusst, dass Reitzel recht hatte; Shaginais Tränen waren keine Zeugnis seiner Trauer gewesen. Erst viel später würde Adir schmerzlich bewusst werden, dass diese Tränen Tränen der Schande gewesen waren; Tränen der Schande über seinen Vater, Tränen der Verbitterung, Tränen der Nicht-Trauer.
Shaginais Herz war gebrochen, als sein Vater sich von ihm und seiner Schwester abwandte und sie ihrem Schicksal überließ - aber es war unheilbar ab dem Moment, in dem Hizashi den Tod seiner Schwester besiegelt hatte. Und die Möglichkeit, sein Herz jemals wieder zusammenzufügen, nahmen ihm die Hikari.
"Du sagst also, Junge, dass du einen Hikari umgebracht hast...", wiederholte er Lycrams Worte mit desinteressierter Stimme, weiterhin umher stolzierend, die schwangere Frau nicht beachtend:
"Wie kommt es dann, dass ich gerade gehört habe, dass der momentane Regime-Führer - wie auch immer der heißt ... - sich selbst umgebracht hat?" Einstimmiges Kichern ertönte aus den dunklen Schatten, allerdings unterbrochen davon, dass sich plötzlich die Tür hinter Lycram öffnete - ein langer, roter Lichtstrahl fand seinen Weg in den Saal, ehe die schwere Tür mit einem Krachen ins Schloss zurückfiel. Nicht nur das Kichern war verstummt, es kam Lycram sogar so vor, als würden alle gleichzeitig den Atem anhalten, er einbegriffen - auch der Dämonenherrscher war stehen geblieben und folgte dem Neuankömmling mit aufmerksamen roten Augen, wie dieser mit langsamen Schritten den Saal durchquerte.
Es war die Erscheinung einer jungen Frau, die ihnen den Atem raubte, deren langes, lockiges Haar durch den Saal rauschte, deren Gesicht Lycram aber nicht sehen konnte - dennoch wusste er, wer diese Frau war; ob sie wirklich so unbeschreiblich schön war, wie man behauptete?
"Ah, Menuét! Meine Juwelendame ist aber schnell zurück..." Doch Menuét ignorierte ihren Herrscher - oder tauschten sie Blicke aus, Lycram konnte es nicht sehen - um stattdessen der auf dem Boden kauernden Dämonin auf die Füße zu helfen, da Kasra sie grob zu Boden geworfen hatte, nachdem sie gegen ihn gestolpert war.
Ein genervtes Räuspern verlangte nach Aufmerksamkeit und sichtlich überrascht fuhr Lycram zusammen, als er bemerkte, dass ein Dämon genau neben ihm stand - war er zusammen mit Menuét gekommen?
"Mein König", versuchte der Dämon noch einmal, die Aufmerksamkeit Kasras zu erlangen, der Menuét hinterher gesehen hatte, sich jetzt aber seinem Berater zuwandte und wieder gelangweilt wirkte:
"Karou. Du bist auch schon wieder da." Karou deutete ein Nicken an und schien Lycrams neugierigen Blick, der auf dessen große, geschwungene Hörner gerichtet war, nicht zu bemerken - oder zu ignorieren. Er würdigte ihn auch keines Blickes sondern steuerte auf Kasra zu, um ihm etwas mitzuteilen, was offensichtlich nicht für alle Ohren gedacht war. Diese Chance nutzte die Dämonin, um endlich Kasras Zopf zu flechten, da dieser stehen geblieben war, und schien froh zu sein, von seiner Seite weichen zu können, als seine Haare wieder so saßen, wie sie sollten.
"Soso, du behauptest also, dass du einen Hikari umgebracht hast?", begann Kasra, nachdem Karou sich von ihm entfernt hatte und wieder an Lycram vorbeiging. Lycram wollte gerade antworten, da kam Kasra ihm zuvor:
"Ich glaube ..." Er hielt es nicht einmal für nötig, Lycram dabei anzusehen, sondern inspizierte gelangweilt seinen Zopf, ob er auch ja richtig geflochten war:
"... dass wir keinen Fürsten gebrauchen können, der Lichtmagie mit Feuermagie verwechselt." Ein spottendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus:
"Oder der sich damit brüsten will, in der Lage zu sein, ein Kind zu töten - als ob das so schwer wäre!" Das Lachen, was daraufhin im Raum zu hören war, war erniedrigend und noch lange würde es Lycram verfolgen, genau wie Kasras letzte an ihn gerichtete Worte:
"Nein, nein, Junge, geh du mal wieder zurück zu deinem Spielzeug und lass Erwachsene über dich herrschen!"
...
"VERDAMMT!"
Mit Inbrunst wurde das Glas mit dem Absinth - oder Whisky oder Wodka, er hatte keine Ahnung, Hauptsache hochprozentig - auf die Theke der Bar geschmettert, ehe Lycram, die eigenen Zähne in seine Lippen beißend, verzweifelt und gedemütigt seine Hände in die langen Haare vergrub und sich wieder die Frage stellte, die der Barkeeper nun schon vier Mal gehört hatte:
"Wie konnte ich nur so bescheuert sein und auf den Trick dieser Schlampe reinfallen!?"
"Eine durchaus berechtigte Frage, Lycilein." Sofort wirbelte Lycram herum, seine Haare loslassend und sah Ri-Il neben sich sitzen, als hätte er schon die ganze Zeit dort gesessen - den Zylinder auf der Theke platziert, sich selbst lässig daran lehnend. Das einzige, was nicht darauf schließen ließ, dass er schon die ganze Zeit dort gewesen war, war die galante Bestellung des ersten Sakes des Abends.
"Ri-Il! Was machst du denn hier?!" Ri-Ils dünne Augenbrauen hoben sich eine Ahnung:
"Nun, ich bin Fürst." Es entging ihm nicht, dass Lycram bei diesem Wort wütend mit dem Auge zuckte:
"Und befinde mich in Lerenien-Sei, weil unsere Majestät ein Gespräch mit mir verlangte. Er vergaß allerdings, mich über die Versammlung der Hohen zu informieren." Er nahm den Sake in Empfang und führte die kleine Schale auch sofort zu seinen Lippen:
"Das kann natürlich passieren ... auch wenn es schon öfter passiert ist."
"Du warst also nicht dabei?" Irrte Ri-Il sich oder war da eine Spur Erleichterung in Lycrams Stimme zu hören?
"Nein, das war ich nicht, aber von deinem erröteten Gesicht her zu urteilen ..." Ri-Il grinste und umgehend versuchte Lycram knurrend die Zornesröte seines Gesichtes dadurch zu vertuschen, dass er sein Glas zum Trinken erhob - dabei bemerkend, dass sich nichts mehr im Glas befand, welches er hätte trinken können.
"... sind wir noch keine Kollegen", urteilte der Fürst, nachdem er den Barkeeper mit einer Geste darum gebeten hatte, Lycrams Glas aufzufüllen, da ihm natürlich bewusst war, dass ihm die Mittel fehlten, seine Wut in Alkohol zu ertränken.
"Ich brauche dein verfluchtes Mitleid nicht!" Aber den Alkohol brauchte er offensichtlich, denn diesen trank er ohne zu zögern sofort aus und auch ohne, dass der Fürst etwas sagen musste, verstand der Barkeeper, dass Lycrams Getränke heute Nacht auf Ri-Ils Rechnung gingen.
"Am besten du wartest ein paar Jahre, bis der kleine Shaginai erwachsen ist, und bringst ihn dann um, Lycilein - und jetzt lass uns nicht mehr von diesen Dingen sprechen. Wie geht es denn deiner Familie?"
...
Der führende Psychologe des Wächtertums mit dem überaus treffenden Beinamen "Licht des Mitgefühls" stand am rotglühenden Fenster und blickte in stumme Gedanken vertieft in die untergehende Sonne, als Adir im Sanctuarian ankam. Das Sanctuarian war von unheimlicher Stille eingehüllt; einer bedrückenden, unheilschwangeren Stille, die daher rührte, dass es zum ersten Mal seit Langem keine Verletzten oder Kranken, sondern nur Tote in den weißen Hallen gab. Die meisten noch lebenden Wächter befanden sich wohl in der Leichenhalle, dem Ort, der in den letzten Jahren so unbenutzt gewesen und nun vermutlich gut gefüllt war. Der Tod war wie eine Welle über sie gekommen ... ob sie darin ertrinken würden?
"Reitzel-san." Reitzel blickte auf, als er Adirs Stimme hörte, und wandte sich zu ihm herum. Er wirkte angespannt; sein sonst so elegantes, warmes Lächeln war steif - man sah ihm an, dass auch ihn dieser schicksalshafte Tag schockiert hatte, obwohl er zu jenen gehörte, die ebenfalls im Krieg geboren und gestorben waren.
"Adir-sama, ich hatte schon damit gerechnet, dass Sie es sein würden, der sich dem jungen Shaginai annimmt." Er schritt auf Adir zu und reichte ihm die Hand, eine wahrlich ungewöhnliche Geste unter Wächtern; man merkte ihm an, dass er viel Zeit bei den Menschen verbrachte und wahrscheinlich kam er auch gerade von jener Welt, denn er war in einen dunkelgrauen Anzug gekleidet und bei genauerem Hinsehen bemerkte Adir, dass seine Füße bereits flackerten.
"Immerhin muss das Schicksal Shaginais Sie daran erinnern, wie alleine Sie waren, als Ihre drei Kinder und Ihre Frau starben ..." Reitzel unterbrach sich selbst, rot angelaufen, Adirs steif gewordenem Lächeln ausweichend:
"Ich habe es schon wieder getan! Bitte verziehen Sie ..." Adir lächelte weiterhin, auch wenn es ihm schwerfiel; er wusste schon, warum alle Hikari den eigentlich sehr sympathischen Reitzel mieden. Er hatte einfach ein ungewöhnliches Talent dafür, in die Seele zu blicken und Dinge hervorzuziehen, die man selbst nicht hören wollte ... und schuf sich damit große, machtvolle Feinde, weswegen er den Großteil seines ewigen Lebens in der Menschenwelt verbrachte. Wenn sein Eciencé-Körper es nicht zuließ und er gezwungen war, sich im Jenseits aufzuhalten, dann mied er nicht nur sämtlichen Kontakt, sondern versteckte sich regelrecht vor den abgrenzenden Blicken der anderen Hikari; ganz vorne heran Hizashi.
"Warum kann ich es einfach nicht unterbinden ...", seufzte Reitzel erschöpft, doch lächelte sofort wieder:
"Aber die Hikari mit all ihren Traumata und unterdrückten Trieben ..." Er bemerkte seine ungeschickten Worte, noch ehe Adirs Augenbrauen sich heben konnten und verbeugte sich sofort mit hin- und her schwankendem Lockenhaar:
"Bitte verzeihen Sie!"
"Schon gut, Reitzel-san, schon gut. Wie geht es dem Jungen?" Immer noch ein wenig beschämt hüstelte Reitzel, ehe er Adir bedeutete, ihm zu folgen:
"Lassen Sie mich erst eine Gegenfrage stellen: kennen Sie ihn?" Adir wünschte sich, er könnte die Antwort mit "Ja" beantworten, aber leider war das nicht der Fall; er hatte weder ein Gespräch mit Shaginai geführt, noch sich sonderlich mit ihm auseinandergesetzt. Er war mit dessen Vater nie warm geworden und hatte keine besondere Bindung zu ihm aufgebaut, weswegen er auch dessen Kinder nicht viel gesehen hatte ... ein, zwei Mal beim Fest der Elemente vielleicht ... aber ansonsten?
"Leider nein."
"Wissen Sie, ob er noch weitere Familienmitglieder besitzt? War die Familie mit anderen Wächtern befreundet - hatte sie eine feste Bindung zu ihrem Tempelwächter?"
"Ich befürchte, dass der Tempelwächter mit auf Espiritou del Aire gewesen ist und daher zu den Toten gehört; wie ihre Bindung war, kann ich nicht sagen. Leider denke ich, dass Shaginai tatsächlich alleine auf dieser Welt ist ... seine Mutter starb bei seiner Geburt."
"Oh, das ist ..." Reitzel schien wieder irgendwelche psychologischen Erkenntnisse berichten zu wollen, doch er unterdrückte sie dieses Mal:
"... natürlich überaus bedauernswert." Adir deutete ein Nicken an, ehe sie vor einer Abzweigung stehen blieben und Reitzel ihm plötzlich direkt in die Augen sah:
"Sie sind nicht nur hier, weil Sie den Jungen trösten wollen. Sie sind auch hier, weil der Rat ihn zum Regime-Führer ernennen will, nicht wahr?" Wieder deutete Adir ein Nicken an, doch Reitzel sah ihm nur allzu deutlich an, wie sehr er selbst gegen den Gedanken war.
"Ich rate dringend davon ab, den Jungen zum Regime-Führer zu machen. Der kleine Shaginai hat seine gesamte Familie verloren und war für mehrere Stunden unter der Leiche seiner Schwester begraben. Er benötigt eine lange psychologische Betreuung; keine Pflichten und keinen Druck von außen. Ansonsten ..."
"Ich bin da ganz Ihrer Meinung", erwiderte Adir bedauernd, denn die Ausformulierung des "ansonsten" wollte er nicht hören; ein anderes Mal vielleicht, aber an diesem Tag ertrug sein Herz nicht mehr Grauen und Unheil. Er hatte genug gehört, genug gesehen für eine gesamte Ewigkeit ...
...
Reitzel stand neben ihm, als Adirs Gesicht zuerst Verwunderung zeigte, sich aber Schritt für Schritt dessen bewusst wurde, dass das, was er vor sich auf einem leeren, aber mit Blutflecken gesprenkelten Krankenbett sitzen sah, kein trauriges Kind war. Shaginai konnte sie nicht sehen, denn die Scheibe, die sie voneinander trennte, war gespiegelt, weshalb er sich unbeobachtet fühlte, alleine in dem leeren Zimmer, auf dem leeren Krankenbett, wo wohl wenige Stunden zuvor seine Schwester gelegen hatte. Er sah aus, wie Adir ihn gefunden hatte - das Gesicht rot von dem verschmierten Blut und immer noch in zerrissener Kleidung. Aber etwas ... etwas war komisch an ihm ... nur konnte Adir nicht sagen, was es war ... Er hatte schon so oft so viele verschiedene Facetten der Traurigkeit gesehen und selbst gespürt, aber dieses Kind ... die Tränen rannten ihm über sein blutiges Gesicht, tropften auf seine zu Fäusten geballten Hände, aber sein Kopf war nicht nach unten gerichtet. Ungewöhnlicherweise hatte er den Kopf erhoben, die Augen nicht zusammengepresst sondern geradeaus gegen die Wand gerichtet, als durchbohre er einen unsichtbaren Feind.
"Hat ... hat man ihm bereits gesagt, dass seine Schwester tot ist?", fragte Adir aus einem ihm unbekannten Grund nervös. Reitzel, der Shaginai nur kurz angesehen hatte, um stattdessen Adirs Reaktion zu beobachten, antwortete mit ruhiger Stimme:
"Ja, das hat man. Als er es erfuhr, war er in meiner Obhut. Daraufhin trennte er sich ohne ein Wort von mir und beobachtete, wie sie seine Schwester in den Leichenkeller brachten. Er weiß, dass sie tot ist ... und dennoch weiß er es zur gleichen Zeit nicht. Es ist ihm nicht bewusst. Statt an der Trauer des Verlustes zugrunde zu gehen, fokussiert sein Bewusstsein sich auf andere Gefühle ... ein sehr schädlicher Prozess für die Psyche. Wenn er sich seiner Traurigkeit nicht bekennt und sie unter anderen Gefühlen verschließt, besteht die Möglichkeit, dass er nie über den Tod seiner Schwester hinwegkommen wird und das wiederrum wird in einem Trauma resultieren, dessen Form sich momentan nur erahnen lässt." Reitzel wandte sich wieder Shaginai zu und fuhr mit stiller Stimme fort:
"Deswegen darf er jetzt noch kein Regime-Führer werden; ihm darf nicht die Möglichkeit genommen werden, zu trauern. Aber das ... das ist wahrscheinlich unwichtig für jemanden wie Hizashi."
...
Als Reitzel bemerkte, dass seine Finger sich nun auch aufzulösen begannen, verabschiedete er sich von Adir mit den Worten, dass er zurückkehren würde ins Jenseits - und ihm viel Glück mit Shaginai wünsche, welcher gerade Besuch von einer Tempelwächterin bekam, die ihm Suppe brachte. Sie wollte ihm offensichtlich auch das Blut vom Gesicht wischen, aber Shaginai riss seinen Kopf aus ihren sanften Händen frei - schien aber nichts zu sagen, doch seine Körpersprache war deutlich genug, um der jungen Tempelwächterin zu sagen, dass er lieber alleine gelassen werden sollte.
Shaginai rührte das Essen nicht an, aber er hatte aufgehört zu weinen; die letzten Tränen tropften von seiner Wange - die letzten, die Shaginai je vergießen würde. Als Adir den Raum betrat, sich herunter zu Shaginai beugte, die Hände auf dessen Knie legend, da war ihm bewusst, dass Reitzel recht hatte; Shaginais Tränen waren keine Zeugnis seiner Trauer gewesen. Erst viel später würde Adir schmerzlich bewusst werden, dass diese Tränen Tränen der Schande gewesen waren; Tränen der Schande über seinen Vater, Tränen der Verbitterung, Tränen der Nicht-Trauer.
Shaginais Herz war gebrochen, als sein Vater sich von ihm und seiner Schwester abwandte und sie ihrem Schicksal überließ - aber es war unheilbar ab dem Moment, in dem Hizashi den Tod seiner Schwester besiegelt hatte. Und die Möglichkeit, sein Herz jemals wieder zusammenzufügen, nahmen ihm die Hikari.