Kapitel 95 - Das weiße Wasser
Die Hikari wandten sich zum Gehen. Die meisten von ihnen sahen nach vorne, einige von ihnen, unter anderem Shaginai, blickten noch einmal zum Turm zurück - aber White sah unbemerkt nach Westen, wo sie Nocturns Gruß gesehen, aber unerwidert gelassen hatte. Die Lichtmagie war auf ihren Inseln gerade so hoch konzentriert, dass es eigentlich jeden Dämon töten sollte - aber sie spürte keine Erleichterung... er lebte, wie auch immer er das geschafft hatte.
Nocturn und Youma lebten in der Tat. Der Flötenspieler war durch die Äste gefallen, hatte einige bei seinem Sturz abgebrochen und lag nun bewusstlos und verdreht im grünen Gras. Youma war ebenfalls bewusstlos, aber nicht zu Boden gefallen, sondern lag wohl gebettet in den Armen eines hochgewachsenen Mannes, dessen dunkelbraune, fast schwarze Haare um ihn herumflatterten, während seine Fußspitzen elegant auf dem Gras landeten.
Die roten Augen, gefüllt mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit, gönnten sich einen kurzen, sehnsüchtigen Anblick Youmas, ehe der Mächtigste aller Dämonen, der sich selbst zu gerne ihren Gott nannte, aufsah und zur strahlenden Lichtsäule blickte, die den Himmel auseinanderzureißen schien. Sein Blick war verbissen, während seine und Youmas Haare immer noch wie im Sturm um sie herumflatterten und auf seinem sonst stets grinsenden Gesicht zeigte sich weder solches noch ein Lächeln - die Lippen waren fest zusammengepresst und in seinen eisernen Augen spiegelte sich die Lichtsäule. Schaden konnte sie allerdings weder ihm noch Youma oder Nocturn - eine kaum sichtbare Kugel schützte sie, die nur als ein sachtes Flimmern in der Luft zu erkennen war. Nocturn schien jedoch nur zufällig geschützt zu werden; für ihn hatte der namenlose Dämonenherrscher nämlich keinen Blick übrig -er sah immer noch empor in den Himmel.
"Es sollte mich nicht überraschen, dass du ihn wieder töten willst, Hikaru. Aber was dir nicht gelungen ist, als die Welt noch einen anderen Namen trug, soll dir auch jetzt nicht gelingen." Die Finger, die Youma festhielten und an seinen Armen und seiner Kniekehle lagen, zuckten, krallten sich etwas fester in den Stoff von Youmas Uniform:
"Ein weiteres Mal..." Er schloss die Augen und ihm war, als sähe er tatsächlich die kleine Hikari vor sich; Form annehmend durch die freigesetzte Lichtmagie, durch die strahlende Luft, genau vor ihm stehend, so nah wie sie konnte, ohne die schützende Barriere zu durchbrechen, die die Dämonen vor dem Licht schützte:
"... wirst du mich nicht brechen können." Er öffnete die roten Augen wieder, die aus ihrer schwarzen Lederhaut hervorstachen wie glühende Lichter in der dunklen Nacht und sah seine unsichtbare Gegnerin an, von der er glaubte, dass sie ihn herausfordernd anlächelte... ehe seine Augen zu Nocturn blickten, in dessen lockigen Haaren kleine Zweige und Blätter steckten.
Der Dämonengott verdrehte etwas verärgert die Augen, ehe er sie mit der Kraft seiner Gedanken in die Dämonenwelt teleportierte und Nocturn ein weiteres Mal wie ein Gegenstand auf dem steinigen Boden aufprallte; Youma dagegen war weiterhin in die Arme seines Beschützers gebettet, der auch nicht vorzuhaben schien ihn herunterzulassen.
Aber während der namenlose Dämonenherrscher seinen Blick wieder auf Youmas ernst wirkendem, aber auch so fragilen Gesicht ruhen ließ und sein Blick etwas an Verbissenheit oder Ärgernis verlor, begann Nocturn sich zu regen. Der namenlose Dämonenherrscher bemerkte es nicht; zu sehr raubte Youma seine Aufmerksamkeit - aber Nocturn war schnell wieder bei Bewusstsein. Er fluchte auf Französisch; rieb sich den Hinterkopf, hatte sich gerade halbwegs aufgerichtet, als die beiden roten Augen der Dämonen sich trafen.
Nocturn kannte diesen Dämonen nicht, der genau wie er keine Aura besaß, aber etwas in seiner Erscheinung, in seinem Blick ließ Nocturn erstarren - irgendetwas sagte ihm sofort, dass dieser eigentlich recht unscheinbar gekleidete Dämon, dessen goldene Haarkordeln das einzige waren, was hervorleuchtete, anders war als jeder Dämon, dem er zuvor gegenübergetreten war. Die Luft um ihn herum schien anders zu sein, als würde er die Luft, die Steine und alles, was um sie herum war, mit seiner bloßen Anwesenheit verändern und aufladen - und Nocturn konnte seine Gedanken nicht...
"Dein Anblick ist wirklich nicht gerade ein Festschmaus für die Augen." Nocturn kam nicht dazu irgendwie zu reagieren; irgendetwas zu denken oder zu sagen, denn ihm wurde sofort schwarz vor Augen, als hätte man ein Licht ausgeschaltet.
Ein weiteres Mal fiel Nocturns Kopf auf den Boden, als er bewusstlos wurde und wieder hatte der namenlose Dämonenherrscher kein Interesse an ihm; nun sah er Youma etwas verdrießlich an:
"Es hätte niemand anderes sein können? Du musstest unbedingt so einen hässlichen Dämon zurückholen? Oh, Youma, du hast einen bemitleidenswerten Geschmack." Ein aufgebendes Seufzen entglitt ihm, ehe er seinen Schützling sanft herunterließ, ihn aber natürlich nicht, wie Nocturn, einfach auf dem Boden aufkommen ließ, sondern ihn vorsichtig an eine Wand lehnte. Aber anstatt sich wieder aufzurichten verblieb er in der Hocke und betrachtete Youmas Gesicht eingehend, dabei versuchend zu lächeln, weil er... es musste. Weil er nicht anders aussehen wollte, keinen Schmerz zeigen wollte, beim Anblick von Youmas Gesicht, das dem seines Vaters so ähnlich sah. Seine seidigen Haare hatte er von seiner Mutter... aber dieses perfekt geschnittene Gesicht, diese filigranen Gesichtszüge, so zerbrechlich und immer so ernst - das war das Gesicht... ah, lächeln, nicht etwas anderes zulassen... Luzifers.
Der ehemalige Herrscher verlor den Kampf gegen seine Gefühle. Sein Gesicht war gequält, als er sich dazu zwingen musste, sich aufzurichten. Mit einem Seufzen stand er auf, entfernte sich von ihm und dem bewusstlosen Nocturn, war bereits im Begriff zu verschwinden, als er bemerkte, dass Youma erwachte - und ihn schickte er nicht sofort zurück in die Ohnmacht, sondern wartete ganz geduldig darauf, dass Youma wieder zu Bewusstsein zurückfand, als hätte er die ganze Zeit darauf gelauert, dass er erwachte.
Sobald Youmas Geist wieder erwachte, wusste er, dass er nicht länger auf einer der Inseln der Wächter sein konnte; die Luft war bedrückend und schwer, metallisch und beklemmend - er war in der Dämonenwelt. In irgendeiner Schlucht, umringt von Klippen, die sich links von ihm zu einem Wasserloch öffneten, dessen Wasser schwarz war und alles andere als trinkbar aussah - und da stand der Dämonenherrscher vor ihm und lächelte ihn verschmitzt, aber auch ein wenig väterlich an.
"Ich grüße dich, Youma." Sofort, noch während er gegrüßt wurde, eilte Youma auf die Füße, dabei einen etwas verwirrten, leicht bestürzten Blick auf den bewusstlosen Nocturn werfend, der sich immer noch nicht rührte. Was war geschehen? Da war ein Licht gewesen; ein so starkes, blendendes Licht, dass Youma das Gefühl gehabt hatte, dass er am lebendigen Leib verbrannt werden würde... er war ohnmächtig geworden... Youma blickte zum Dämonenherrscher, der sich so selbstgefällig ihren Gott nannte - er musste sie gerettet haben. Aber warum - nein, wie? Er konnte sich doch überall materialisieren? Youma dachte... Youma hatte das eigentlich so verstanden, dass der namenlose Dämonenherrscher nur auf dem Turm Form annehmen konnte und ansonsten nirgends?
"Wie ist es möglich, dass Sie hier vor mir stehen können? Ich dachte, Ihr Wirkungskreis wäre auf den Turm beschränkt?", fragte Youma ohne sich bei ihm zu bedanken - und auch ohne ihn zu grüßen.
"Es fällt mir zugegeben auch schwer, mich außerhalb meiner Welt zu materialisieren." Es lag wirklich etwas grenzenlos Anmaßendes in seiner Art, wie er "meine Welt" sagte; nicht wie jemand, der etwas erobert hatte, sondern wie jemand, der einfach per se das Recht hatte so zu sprechen.
"Aber in deiner Nähe ist es ein wenig einfacher; deine Erinnerungen an mich dienen mir als Anker - oh, warum siehst du mich denn so bitter an, mein Hübscher? Du solltest mir lieber dankbar sein, ansonsten wären du und dein hässlicher "Partner" nur noch Funken." Er gab Nocturn einen achtlosen Tritt, auf den Youma aber nicht achtete - er ging auch nicht darauf ein, dass sein Gegenüber ein "Danke" von ihm forderte:
"Ihr Licht ist also wirklich eine ernstzunehmende Gefahr."
"Das der jetzigen Regime-Führerin?" Das Lächeln wurde etwas schmaler, aber er lächelte weiter obwohl sie hier von einer möglichen Bedrohung für alle Dämonen sprachen:
"Hm, schwierig zu messen. Ich spüre in der Tat große, mächtige, strahlende Magieströme, die sich um sie konzentrieren; ob sie sie nutzen kann, ist allerdings eine andere Frage. Die Nachfahren Hikarus werden versuchen, sie für die Magieeinwirkungen zu öffnen, aber ob das gelingt..." Der namenlose Dämonenherrscher hob die Schultern und erntete sich einen strengen Blick Youmas, der ihn zu erheitern schien. Wie konnte er so gleichgültig darüber sprechen, wenn jede große Lichtansammlung eine Gefahr für alle Dämonen bedeutete?
"Magieströme... wie die Magie Hikarus?" Bei der Erwähnung Hikarus konnte nicht einmal der namenlose Dämonenherrscher noch lächeln - ernst blickten die beiden, die einer längst vergangen Zeit angehörten, sich an.
"Du hast es also auch gespürt", schlussfolgerte der Dämonenherrscher und Youma nickte.
"Selbstverständlich habe ich das. Ich habe ihre Magie immerhin am eigenen Leib erfahren."
"Dann sind wir ja schon mal zwei." Youma hob abermals die Augenbrauen und wollte ihn schon fragen, wie er dann so gleichgültig sprechen konnte, als sein göttlicher Gönner ihm zuvorkam und außergewöhnlich ernst mit ihm sprach:
"Ich gebe dir den Ratschlag, Youma, immer auf Hikaru gefasst zu sein. Hikaru ist tot, aber nicht vernichtet. Sie ist in jeder dieser weißhaarigen Fratzen, sie ist in deren Element, sie ist die Stimme deren Elements - und solange du..." Ohne, dass Youma etwas tun konnte, um es zu verhindern - es im ersten Moment gar nicht bemerkte - öffnete sich von magischer Hand geführt sein Kragen. Er leuchtete ein wenig rötlich und ließ Youma zusammenfahren, aber sein Zurückweichen brachte nichts; der Magie des Dämonenherrschers konnte er sich nicht entziehen, der mit einem eleganten Fingerzeig Youmas Kette hervorholte, an der die Glöckchen der Zwillinge hingen - und Lights Glöckchen.
"... Lights Glöckchen um den Hals trägst, musst du darauf vorbereitet sein, dass sie versuchen wird, dich auszuschalten." Alle drei Glöckchen blieben rot leuchtend in der Luft genau vor Youma hängen - Youma, dem dieser Anblick gar nicht gefiel und der die Glöckchen packte, um sie wieder unter seinem Oberteil zu verbergen.
"Du darfst niemals zulassen, dass es deine Hände verlässt, Youma. Nur in deinen Händen ist es sicher... aber auch ohne Lights Glöckchen wird sie dich tot sehen wollen. Du bist ihr ein zu großer Dorn im Auge. Ich habe dich damals schon vor ihr gewarnt... sie ist gefährlich." Es war Ironie, dass ausgerechnet er das sagte...
"Dann hätte sie mich töten müssen, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hat, anstatt mich in einem Zeitbann einzusperren und mich mit dieser elenden Zeit zu verfluchen!" Die große Bitterkeit in Youmas Worten traf seinen Gesprächspartner, als hätte er ihn angegriffen.
"Ich sehe es genau wie du, auch wenn ich ihr nicht dafür grolle, dass sie es nicht getan hat. Ich bin froh, dass du hier bist, will ich dir damit sagen." Youma konnte sich dem gewiss nicht anschließen, aber der namenlose Dämonenherrscher war der letzte, mit dem er das diskutieren wollte.
"Sie wissen also nicht, warum sie das getan hat?" Der namenlose Dämonenherrscher schüttelte den Kopf:
"Hier in Henel bin ich zwar so gut wie allmächtig, aber wissen tue ich dennoch nicht alles. Ich kann mir genauso wenig wie du erklären, was Hikaru mit dem Zeitbann bezweckt hat. In den offiziellen Geschichtsbüchern heißt es, dass du zu stark gewesen wärst und sie daher keine andere Wahl hatte."
"Das ist nicht wahr. Sie war stärker. Sie hätte mich trotz allem töten können."
"Es muss wohl stimmen, dass sie keine andere Wahl hatte, ansonsten wärst du tot. Ich kann es mir aber genauso wenig erklären wie du...Aber lass uns nicht mehr darüber reden..." Mit einem Satz war er vor Youma aufgetaucht und der Yami wusste nicht, ob er mittels Magie plötzlich vor ihm stand, oder ob er sich so schnell bewegt hatte, dass er es nicht mitbekommen hatte - ehe Youma jedenfalls etwas tun konnte, packte der namenlose Dämonenherrscher seine Arme und blickte ihn mit leuchtenden Augen an:
"Deine neue Uniform steht dir ganz ausgezeichnet! Du siehst herrlich attraktiv aus. Die Mädchen bei Lacrimosa haben sich selbst übertroffen! Ich bin..." Youma riss sich los und nahm etwas verwirrt, eher zornig als geschmeichelt, Abstand, aber das hinderte den namenlosen Dämonenherrscher nicht daran, seinen Satz zuendezuführen:
"... wirklich sehr angetan von dem Ergebnis. Ein Fest für die Augen! Der Stoff und die Farben, der Schnitt, es schmeichelt alles deiner hübschen Körperform." Die Röte, die in Youmas Gesicht trat, war immer noch keine, die andeutete, dass er angetan war von den Komplimenten, mit denen er gerade überhäuft wurde:
"Lassen Sie mich in Ruhe!" Der Angesprochene lachte heiter und schlug die Augen nieder, nach wie vor lächelnd:
"Oh, ich glaube, das willst du gar nicht. Noch bist du doch gar nicht in der Lage den Worten, die du bei Lacrimosa verkündet hast, gerecht zu werden - geschweige denn dich vor Hikarus Licht schützen zu können." Er öffnete die Augen wieder, aber das Lächeln war nun schneidend:
"Du warst bei dem Kampf gegen Nocturn nur in der Lage ein wenig Eindruck zu schinden, weil ich dir erlaubt habe, dich an meinem Turm abzufedern, Youma. Wenn du König werden willst, dann musst du dich schon ein wenig mehr anstrengen - und das willst du doch, oder?" Das wollte er. Natürlich wollte er das - aber... und das sah auch der namenlose Dämonenherrscher in seinem Gesicht und sofort wurde das seinige ernst... er war nicht mehr so entschlossen wie er es vielleicht einmal gewesen war. Vielleicht war er es auch nie gewesen; vielleicht hatte er dieses Ziel auch nur verfolgt, um... überhaupt ein Ziel zu haben. Erbärmlich, aber vielleicht war das wahr. Was sagte ihm diese untergegangene Welt schon? Was bedeuteten ihm die Bewohner? Sie waren zum Sterben verdammt, wie diese Welt.
"Tu das nicht." Der namenlose Dämonenherrscher stand nun neben ihm und sah ihm fest, etwas bittend in die Augen, genau wie Youma seine Hand auf den Stein gelegt - nur, dass seine Hand zu einer Faust geballt war.
"Lesen Sie meine Gedanken?", fragte Youma schneidend und vorwurfsvoll.
"Nein. Sie stehen dir ins Gesicht geschrieben - deine Melancholie. Verfalle ihr nicht oder es wird dir so ergehen wie deinem Vater." Das hatte er nicht sagen wollen; das sah Youma ihm deutlich an; er hatte ihn auch nicht so ansehen wollen, hatte ihm nicht diese... ehrliche... Seite zeigen wollen. Etwas bestürzt und von sich selbst verärgert nahm der namenlose Dämonenherrscher Abstand von Youma, der ihn verwirrt musterte und sprach mit festerer Stimme weiter:
"Lerne diese Welt zu lieben."
"Wie soll ich eine Welt lieben lernen, die absolut nicht liebenswert ist?"
"Sie hat eine morbide Schönheit."
"Wenn Sie das "Schönheit" nennen..." Nun war es Youmas Hand, die sich zu einer Faust ballte:
"Dann sind Sie genauso wahnsinnig wie Nocturn." Der namenlose Dämonenherrscher verzog beleidigt das Gesicht:
"Ich bitte doch jawohl darum, da ein wenig zu differenzieren." Rückwärts ging er weiter - und Youmas Faust und sein Gesicht erweichten ein wenig vor Verblüffung, als er sah, dass der Gebieter dieser Welt rückwärts über das Wasser zu gehen begann; über das schwarze, sicherlich hochgradig giftige Wasser, dass sich durch seine Schritte auf dem Wasser und die Ringe, die er auslöste ein wenig... lila verfärbte.
"Und ich bitte dich darum, dass du die Augen öffnest; sie gänzlich öffnest. Siehe diese Welt und ihre mannigfaltigen Bewohner mit offenen, klaren Augen und werde es wert, ihr König zu sein." Er begann sich aufzulösen; in kleine, lila und rot leuchtende Funken, als wäre seine Zeit begrenzt und diese nun abgelaufen.
"Und ich beschwöre dich noch einmal: Begehe nicht denselben Fehler wie Luzifer."
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Überall war es hell.
Das Licht... es war überall. Es umgab sie, war in ihr - lauter, kleiner Fünkchen, um sie herum tänzelnd, unter ihr in dem hellen Wasser schwimmend, auf welchem sie schwebte. Ein seltsamer, aber warmer, schöner und freundlicher Ort. Aber wo war sie? Ah... natürlich. Sie war in ihrem Element. Sie war in dessen Inneren. Sie war selbst ein Teil davon. Sie war ein Licht... genau wie die anderen kleinen Fünkchen. Aber sie hielten sich fern von ihr... keines berührte sie, auch die Wasseroberfläche berührte sie nicht.
Sie wollte die Hand ausstrecken; sie wollte die Fünkchen berühren, weshalb sie den Arm hochhob, die Finger spreizte und dem Atem anhielt, als wären die Fünkchen Glühwürmchen, die davonfliegen würden.
"Du bist wirklich sehr neugierig, unreines Licht der Hoffnung."
Was für eine angenehme Stimme. Woher kam sie? Sie schien von überall her zu stammen, aber am stärksten war sie in ihr. Green kannte sie... Sie klang ein wenig wie die von Inceres; eine warme, freundliche Stimme, der man gerne zuhörte. Aber es war nicht die Stimme von Inceres... und da es nicht Inceres war, konnte es nur ein einziger, anderer Hikari sein.
"Light?" Keine Antwort, aber sie spürte ein leichtes Lächeln.
"Du bist nicht die Erste, die mich erkennt. Aber... du bist die erste, bei der ich eine deutliche Verbindung zu Youma spüre."
Eine deutliche Verbindung? Mit Youma? Warum nicht mit Silence? Sie hatte eine Bindung zu Silence, mit Youma garantiert nicht. Nur ein einziges Mal hatte sie ihm direkt gegenübergestanden und dieses eine direkte Treffen war ihr sehr negativ in Erinnerung geblieben - war das genug für "eine deutliche Verbindung"?
"Du bist mit Silence befreundet, nicht wahr?"
"Ja", antwortete Green nun sofort mit Nachdruck:
"Ja, das bin ich. Sie ist meine beste Freundin, auch wenn ihre Kritik manchmal zermürbend ist." Wieder spürte Green ein Lächeln.
"Es ist schön zu hören, dass es Silence gut geht und dass sie in dir eine Freundin gefunden hat nach all der Zeit der Einsamkeit..."
"Ich kann sie ja von dir grüßen, hehe!", erwiderte Green grinsend, sich bereits auf das Gesicht freuend, das Silence machen würde, wenn sie das hörte. Light schien sich diesem Lächeln nicht anschließen zu wollen - jedenfalls spürte Green nichts und einen kurzen Moment dachte sie, dass er verschwunden wäre, doch sie vernahm noch seine Gegenwart. Um ihn wieder dazu zu bringen, zu sprechen war es nun Green, die ihn direkt ansprach:
"Wenn ich schon, also... ehm ja, hier bin, darf ich dich etwas fragen?"
"Wenn es dein Wunsch ist zu wissen, dann frage."
Es gab tausend Fragen, die Green hätte stellen können; tausend wichtige Fragen, Fragen deren Antworten nicht nur für sie wichtig waren, sondern auch für Silence - und Green hoffte so sehr, dass sie die erste Hikari war, die sich an all das hier erinnern würde. Sie wollte Silence sagen, dass sie mit Light gesprochen hatte; dass sie ihn gespürt hatte und dass er an sie dachte und mit Liebe in der Stimme von ihr sprach. Sie wollte es!
"Du bist eine eigenartige Erbin... so eine Erbin wie dich habe ich noch nie gespürt."
Das nahm Green erfreut als Kompliment. Es war immer schön zu wissen, dass sie anders war - besonders, wenn sie anders war als ihre Familienmitglieder. Light klang auch nicht, als würde es ihn irgendwie abschrecken, mit ihr zu reden - er klang eher angenehm überrascht. Doch es war schwer zu beurteilen, wenn sie nur seine Stimme hörte.
"Ich möchte gerne wissen, was damals in Aeterniem passiert ist - was wirklich geschah."
Keine Antwort. Kein Lächeln, sondern bedrückendes Schweigen. Sogar die Funken um sie herum schienen sich langsamer zu bewegen. Zögerte er? War er überrascht über ihre Frage?
"Ich weiß, das kannst du mir vielleicht nicht..."
Light fiel ihr ins Wort und plötzlich klang seine Stimme viel näher als vorher, viel wirklicher, viel nahbarer:
"Du willst es wirklich wissen?"
"Das möchte ich. Ich will es verstehen."
Ganz ohne Zweifel: die Punkte nahmen Gestalt an, die Gestalt einer Person; schemenhaft und flackernd und die Stimme Lights kam nun eindeutig von dieser Lichtgestalt, die kaum größer war als Green und die ihr die Hand entgegenstreckte:
"Du machst deinem Namen alle Ehre, Licht der Hoffnung. Ich werde es versuchen... noch einmal hoffen... und dich leiten, soweit es in meiner Macht steht."
Ohne das geringste Anzeichen eines Zögerns ergriff Green Lights strahlende Hand.
Es war eigenartig gegensätzlich wie die unablässige Melodie der Glöckchen auf Firey wirkte: anders konnte sie es gar nicht beschreiben, denn auf der einen Seite beruhigten sie die Glöckchen... wie eine Mutter, die ihr Kind in den Schlaf wiegte, aber zur gleichen Zeit spürte sie auch eine ungewisse Unruhe in sich, als hätte dieses Wiegenlied irgendwie... den falschen Ton.
Diese Unruhe konnte natürlich daher stammen, dass sie der ganzen Weihe gegenüber skeptisch war, seitdem Yuuki Azuma und ihr von seinen Bedenken erzählt hatte. Eigenartigerweise teilte er ihr komisches Gefühl nicht, oder - nicht mehr. Seit dem Moment als Green den Turm betreten hatte, war er zur Ruhe gefallen und immer, wenn Firey ihm beichtete, dass sie sich tatsächlich vor der Weihe fürchtete und dass sie deswegen auch unruhig schlief, beruhigte er sie sofort, als hätte er selbst nicht noch vor wenigen Tagen die gleiche Angst verspürt.
Gerade diese Tatsache machte seine Beruhigungsversuche sehr unwirksam.
Azuma reagierte völlig anders: er war nicht nervös, ihm ging der Gesang der Glöckchen "auf den Zeiger" und wenn Firey und er allein waren, beschwerte er sich "über die Wächter und ihre bekloppten Traditionen". Aber gut, auch das war irgendwie eigenartig, denn irgendetwas sagte ihm, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht über die Weihe beschweren sollte. Keiner tat das. Alle erwarteten das Ende der 12 Tage mit einer paradox ruhigen Anspannung. Obwohl das Leben der Wächter - allen voran der Krieg - natürlich weiterging, schien die Zeit stillzustehen. Die Dämonen nahmen natürlich keine Rücksicht darauf, ob die Wächter sich ihren Traditionen widmeten oder nicht; sie wussten sicherlich auch nichts vom Abhalten der Weihe und bekamen dies auch nicht zu spüren, da die Wächter trotz der Vorbereitungen stetig zum Einsatz rückten - und das mit außergewöhnlich wenigen Verlusten, wie Firey erfuhr, als Azuma ihr erzählte, dass sie heute keinen einzigen Wächter bei einer Schlacht in Henel verloren hatten.
"Ich habe keine Ahnung, was mit denen momentan los ist", wunderte Azuma sich, seinen nassen Strubbelkopf mit einem Handtuch trocken rubbelnd, nachdem er nach der Schlacht unter die Dusche gehüpft war, weshalb er nun mit nacktem Oberkörper vor ihr stand:
"Es ist als wären sie auf Drogen oder so. Die laufen total Amok." Als er sah, dass Firey sich die Hand über die Augen hielt, musste er natürlich sofort an andere Dinge denken. Breit grinsend konnte er einen Kommentar natürlich nicht unterdrücken.
"Meine Güte, ihr Engländer seid aber auch prüde!" Obwohl Firey ihm ein Kissen an den Kopf warf, musste auch sie lächeln, denn sie mochte es, wenn er sie eine Engländerin nannte. Sie war ja eigentlich Japanerin, aber das übersah er gerne; er konnte mit der englischen Kultur mehr anfangen, meinte er, was sie immer wieder zum Stirnrunzeln brachte - warum hatte er sich dann einen japanischen Namen ausgesucht?
"Was meinst du mit "Amok laufen"?", fragte Firey, nachdem Azuma sich endlich sein Oberteil wieder übergezogen hatte und sie ihn daher wieder ansehen konnte. Im Schneidersitz hockte sie auf seinem Bett, wie sie es so oft schon getan hatte - normalerweise war Yuuki allerdings auch anwesend, aber er hatte gemeint, dass er lieber in sein Zimmer wollte. Meditieren, hatte Azuma lachend gefragt und es eigentlich als Witz gemeint, aber Yuuki hatte nur komisch gelächelt und nicht verneint.
"Die haben doch alle einen Knacks weg", lautete Azumas geflüsterter Kommentar an Firey.
Auch jetzt runzelte er die Stirn, sich neben Firey aufs Bett setzend.
"Naja, keinen Plan, wie ich das anders beschreiben soll als ich es schon getan habe. Die Attacken waren ziemlich krank. Im Sinne von ziemlich heftig. Wir haben heute mehr als tausend Dämonen ausgelöscht, das ist mehr, als was ich bis jetzt erlebt habe - und wir waren nur zwei Stunden oder so im Einsatz. Das ist doch ziemlich crazy." Azuma warf sein Handtuch achtlos auf einen Stuhl und schüttelte sich die braunen Haare aus dem Gesicht.
"Und sie wirkten auch irgendwie... naja, als wären sie besessen oder so."
""Besessen"?", wiederholte Firey, sich kurz fragend, ob Azuma das falsche Wort gewählt hatte, denn sie sprachen immer auf Englisch, wenn sie alleine waren und obwohl sein Englisch wirklich sehr gut war, so schlichen sich doch ab und zu Fehler ein. Nicht, dass sie das störte: Sie genoss es, Englisch zu sprechen.
"Ja, besessen. Von Geistern besessen, du weißt schon."
"Und bei dir?"
"Wirke ich besessen?"
"Nein, ich meine nur, ob du auch was... ehm ja, gespürt hast", antwortete Firey, ihre Worte mit unruhigen Handbewegungen unterstreichend, denn das Thema behagte ihr tatsächlich nicht. Absolut gar nicht. Sie mochte auch keine Horrorgeschichten - und sie hatte das Gefühl, sie steckte in einer!
"Nö, ich hab nichts gespürt. Meine Attacken sind immer cool, das weißt du doch!" Es war unglaublich, mit welch Leichtigkeit Azuma das ganze Thema handhabte, obwohl sie gerade von Besessenheit und Geistern sprachen. Aber wahrscheinlich sollte Firey das Thema ähnlich sehen, wenn man bedachte, in welcher Welt sie seit nun mehr als einem Jahr lebte... aber sie machte sich einfach zu große Sorgen um Green, die immerhin im Zentrum des ganzen... schlief, oder was auch immer sie tat; sie hatten kaum Informationen erhalten. 12 Tage lang würde sie im Turm sein und dann würde die eigentliche Weihe stattfinden, an der auch sie beteiligt waren als die Elementarwächter Greens.
"Die Wächter sind aber nicht das einzige, was heute komisch ist", fuhr Azuma fort an einer feuchten Haarsträhne zwirbelnd:
"Warst du heute schon duschen? Hast du das Wasser gesehen?" Firey wurde schlagartig rot:
"Eh-Ehm, nein, ich habe es heute Morgen nicht geschafft... rieche ich etwa?" Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Erdwächters aus und feixend lehnte er sich zu ihr herüber:
"Nein, nein, Fireyskat, du riechst fabelhaft wie immer - außerdem mögen wir Dänen es... natürlich." Automatisch wich Firey ein wenig zurück, nur mit den Augen antwortend.
"Hast du eigentlich gar keine Angst, so alleine, mit einem Mann, in seinem Zimmer, auf seinem Be--" Und da flog ihm bereits ein weiteres Kissen um die Ohren:
"Ich habe keine Kissen mehr; ich werde also als nächstes zu feurigen Waffen greifen, Azuma!" Dieser lachte nur, wich aber zurück:
"Schon gut, schon gut, ich werde es nicht herausfordern!"
"Außerdem habe ich gar nicht bemerkt, dass ich im Zimmer eines "Mannes" bin, dafür ist der Bewohner dieses Zimmers nämlich zu klein."
"Oh, der hat aber gesessen, mein Herz, es schmerzt!"
"Ich habe von den Besten gelernt."
"Oho, danke für das Kompliment." Eigentlich hatte Firey nicht ihn gemeint, sondern Siberu - und sie konnte sich gerade noch selbst aufhalten, diesen Gedanken auszusprechen. Rot wurde sie allerdings einen kurzen Augenblick, tat aber so als wäre nichts:
"Außerdem weiß ich, dass dir unsere Freundschaft wichtig ist und dass du sie nicht aufs Spiel setzen würdest."
"Natürlich, Fireyskat, natürlich! Aber wie sagen es die Amis so gerne: Ich habe nichts dagegen, unsere Beziehung auf das nächste Level zu befördern."
"Azuma, du willst heute Abend gerne verbrannt werden, oder?" Er antwortete mit einem heiteren Lachen und Firey sah das Thema eigentlich als beendet an, aber sie irrte sich; plötzlich unerwartet ernst stellte er eine Frage, die Firey nicht hatte kommen sehen:
"Warum eigentlich nicht?"
"Warum was nicht?", erwiderte Firey ein wenig mehr ahnungslos tuend, als sie war:
"Warum sollten wir nicht ein Paar werden? Wir streiten uns zwar viel, aber wenn es keine Reibereien in einer Beziehung gäbe, wäre es doch auch langweilig! Dazu kommt, dass wir beide vom Aussterben bedrohte Elemente besitzen, weshalb unsere ach so tollen Hikari es sicherlich begrüßen würden, wenn wir ein Paar werden würden." Natürlich war Firey nicht gänzlich von diesen Gedanken überrascht; er flirtete immerhin mit ihr wann auch immer er konnte, aber dass er dieses Thema nun so ernst so direkt ansprach... und von mehr als nur ein bisschen Flirten sprach, machte sie unruhig; lieber würde sie wieder von Geistern und Besessenheit reden als davon, einen Ehepartner wählen zu müssen.
"Und du magst mich doch, oder? Also, warum nicht?" Das war wohl die dänische Direktheit...
"Azuma, natürlich..." Oh Gott, sie war nicht gut in solchen Dingen. Das war Shos Gebiet, nicht ihres!
"... natürlich mag ich dich, wie einen Bruder. Aber ich bin eben nicht, also, nicht in dich verliebt."
"Das weißt du doch gar nicht. Du hast es ja gar nicht versucht." Für einen kurzen Moment - und Firey glaubte, es sei sogar das erste Mal - sah sie Traurigkeit in seinen Augen.
"Du könntest mich dich ja küssen lassen. Dann wüsstest du, ob du in mich verliebt bist", fügte er nun wieder grinsend hinzu, was Firey - trotz der Aussage - erleichterte.
"Ich weiß auch so, dass ich nicht in dich verliebt bin."
"Aber man könnte es ja auf einen Vers-"
"Azuma! Ist diese Sturheit etwa was Dänisches? Seid ihr etwa alle so?" Verwunderte sah Azuma sie an, aber dann lachte er:
"Nein, das bin einfach nur ich!" Sie begannen beide zu lachen und begannen wieder herumzualbern, womit das Thema vorerst vergessen schien. Als Firey nach einigen Minuten bemerkte, wie spät es war, verabschiedete sie sich von ihm - und bemerkte dann, dass das Thema leider nicht so vergessen war, wie sie geglaubt hatte. Denn gerade als die Feuerwächterin das Zimmer verlassen wollte, unterbrach er sie:
"Irgendwann sagst du mir aber noch den Grund, weshalb du dich dagegen wehrst, dich in mich zu verlieben."
Natürlich dachte Azuma eifrig darüber nach, was der Grund sein könnte - denn er konnte sich tatsächlich nicht erklären, warum Firey sich so sehr gegen die Idee sträubte, wo sie sich doch so gut verstanden. Natürlich streifte ihn der Gedanke, dass es womöglich einen Mann in Fireys Leben geben könnte. Aber diesen Gedanken schob er schnell beiseite - Firey doch nicht, denn wenn sie jemanden hätte, hätte sie Yuuki und ihm das erzählt: Firey war doch niemand, der Geheimnisse hatte.
Und selbst wenn er sich mehr als eine Minute mit diesen Gedanken beschäftigte, so kamen seine Gedanken niemals auch nur in die Nähe der Wahrheit. Wie sollte er auch schon auf den Gedanken kommen, dass Fireys Abfuhr - zwar eine freundliche, aber immer noch eine Abfuhr - im Zusammenhang mit ihrem eigenartigen Besuch in der Dämonenwelt stand und dass die Antwort in der Welt zu finden war, die er so "cool" fand?
Silver machte sich im Augenblick keine Gedanken darüber, ob sein Leben in dieser Welt "cool" war. Er tat seine Pflicht; tat das, was ihm befohlen worden war - und das war im Augenblick als das Hordenmitglied, das er war, zu trainieren. Die Zeiten, in denen er zusammen mit Blue Einzelunterricht von Ri-Il bekommen hatte, waren vorbei: Jetzt musste er mit den anderen Dämonen trainieren und das war nicht nur einfaches Training, sondern auch ein Behauptungskampf. Darius war nicht der Einzige, der die Sonderbehandlung der beiden Brüder immer mit erhobenen Augenbrauen betrachtet hatte; es gab in der Horde viele, die sich die Frage stellten, ob die beiden mehr konnten als nur in der Menschenwelt herumzulungern und das Training, das an diesem Tag aus individuellen Duellen bestand, bot die perfekte Gelegenheit, um herauszufinden, was der kleine Rotschopf draufhatte.
Zu seinem Missvergnügen musste Darius sich selbst eingestehen, dass Silver tatsächlich nicht schlecht war, denn obwohl er ihn - wissentlich natürlich - mit einem der besten Hordenmitglieder in ein Kampfpaar gesteckt hatte, schlug er sich erstaunlich gut. Er war sehr unüberlegt, aber im Gegensatz zu den vielen anderen unüberlegt handelnden Dämonen ermöglichte seine Schnelligkeit ihm, dass er nie für seine unüberlegten Taten zahlen musste. Seine Schnelligkeit war wirklich beachtlich, dachte Darius durch die Kämpfenden gehend, immer bereit einzugreifen, falls einer das Gebot vergaß, dass sie sich zwar verletzen durften, aber dass es dabei bei leichten Verletzungen bleiben musste und dass ein Töten absolut tabu war. Sie sollten immerhin trainieren und sich nicht selbst gegenseitig dezimieren, auch wenn Darius oft selbst das Verlangen hatte, einem von ihnen den Kopf einzuschlagen. Die alten Hordenmitglieder waren alle nach seinen - und Ri-Ils natürlich! - Vorstellungen zurechtgestutzt und nur selten tanzte einer von ihnen aus der Reihe, aber die neuen Mitglieder aus dem Nachbargebiet waren noch aufmüpfig. Aber das war nichts Unnormales, nichts womit Darius nicht auch schon Erfahrung hatte. Es war nun einmal oft der Fall, dass Hordenmitglieder, die mit Gewalt zu einem Hordenwechsel gezwungen worden waren, gerne gegen ihr Schicksal rebellierten; besonders, wenn sie ihren neuen Fürsten nicht mochten. Im Großen und Ganzen waren die neuen Mitglieder allerdings pflegeleicht. Nur fünf forderten Darius' besondere Aufmerksamkeit. Aber sie konnten ja gerne gehen; Ri-Il war bei diesem Thema sehr strikt. War man einmal ein Mitglied von Ri-Ils Horde, blieb man es, bis man sich in Fünkchen auflöste - und dieses Ende konnte schneller eintreten, als man dachte, wenn man sich gegen die Horde wandte. Anderen Fürsten war es egal, wenn sie Hordenmitglieder an andere Fürsten verloren, aber Ri-Il nicht - sie waren Teil des Trainings gewesen, hatten die Horde von innen gesehen, kurzum; hatten zu viele Informationen, um am Leben zu bleiben. Darius unterstützte Ri-Il dabei vollkommen.
Umso eigenartiger war die Sache mit Blue.
Ausgerechnet Blue.
Und das ausgerechnet zu Nocturn.
Natürlich stellte Darius die Taten seines verehrten Fürsten nicht in Frage... aber dennoch war die Frage, ob Ri-Il Blue umgebracht hatte, aus seinem Mund herausgepurzelt, als Ri-Il nach einer kurzen Abwesenheit in sein Gebiet zurückgekehrt war. Sofort war Darius sich der Peinlichkeit seiner Frage bewusst gewesen und noch ehe Ri-Il zu einer Antwort gekommen war, hatte er versucht sich herauszureden, hatte dabei allerdings nur um den heißen Brei herumgeredet und... urgh, warum war Mekare auch noch anwesend gewesen... peinlich, peinlich, peinlich.
"Rechte Seite offen, Gladwin - und du nutzt das nicht aus, Ylber. Schlaft ihr heute? Wächter nehmen keine Rücksicht darauf, ob ihr euren Schönheitsschlaf bekommen habt!" Kaum hatte Darius die beiden alt-eingesessenen Mitglieder zurechtgestutzt, da war es auch mal wieder an der Zeit zu erschrecken, denn Ri-Il tauchte neben ihm auf - wie gelang es ihm nur immer, sich so punktgenau zu teleportieren? Und das obwohl so viele Dämonen auf einem Haufen versammelt waren? Jeder hatte irgendwann schon mal den Fehler gemacht und war beim Teleportieren gegen jemanden gerempelt, aber Ri-Il nie.
"Und, Darius-kun, wie machen sich unsere fünf Problemkinder?", erkundigte sich Ri-Il, die trainierenden Dämonen genau wie er beobachtend. Jedenfalls nahm Darius das an, denn sein Fürst hatte wie immer die Augen geschlossen - aber er war schon längst zu dem Entschluss gekommen, dass Ri-Il wohl auch mit geschlossenen Augen sehen konnte, so selten wie er seine Augen zeigte.
"Zwei von ihnen haben versucht, ihren Trainingspartner umzubringen, aber ich war schnell genug da, um das zu verhindern. Sie sträuben sich, aber sie sind stark."
"Ja, es lohnt sich, Zeit in sie zu investieren." Darius nickte ergeben, auch wenn er keine Lust darauf hatte, Zeit in sie zu investieren; aber was getan werden musste...
"Nur einer von ihnen ist ein hoffnungsloser Fall. Ich musste in der letzten Flamme drei Mal eingreifen." Ri-Il wandte seinen Kopf in die Richtung, in die Darius zeigte - die Tatsache, dass Darius sich seinen Namen nicht gemerkt hatte, sagte ihm schon, dass er davon ausging, dass das besagte Hordenmitglied nicht lange in ihrer Horde bleiben würde. Aber Ri-Il sah das anders:
"Lass ihm ein wenig Zeit mit Uriel-kun. Sorg dafür, dass die beiden die Möglichkeit haben, miteinander zu sprechen." Darius runzelte die Stirn; er verstand nicht, warum er das tun sollte, denn er sah nicht, wie der ziemlich schmächtig aussehende Uriel den großen Hünen irgendwie zurechtreden sollte. Aber er verließ sich natürlich auf das Urteil Ri-Ils.
"Natürlich, Ri-Il-sama." Darius wollte gerade noch über andere Hordenmitglieder mit Ri-Il sprechen, da drehte dieser sich auch schon herum, um ihn wieder zu verlassen:
"Komm nach dem Training in mein Büro; wir haben etwas zu besprechen!" Die Art wie Ri-Il das mit seinem spielenden Unterton trällerte, gefiel Darius gar nicht und böse Vorahnungen machten sich schon in ihm breit - hatte er etwas Falsches getan? Hatte er, hatte er, hatte er?!
Darius hatte nichts Falsches getan - es war Silver, der eindeutig etwas Falsches tat, aber das war ihm egal. Es war an der Zeit, etwas Falsches zu tun. Das bemerkte er umso deutlicher, als er nach dem Training - oder eher zwischen Trainingsblock eins und zwei - wieder in sein Zimmer zurückkehrte, um sich kurz auszuruhen.
Die Schiebetür zog er beiseite, machte sich schon bereit sich zu beklagen, hörte schon förmlich, wie Blue sein Buch zusammenklappte -
Aber da war niemand. Das kleine Zimmer war leer und lag verlassen vor ihm. Es gab keine Bücher mehr und auch niemanden, der darin lesen würde. Das untere Bett des Etagenbettes war unbenutzt und die einzige Ersatzuniform an der Tür war die seine.
Silver hatte das Zimmer immer als zu klein empfunden.
Jetzt war es zu groß.
Viel Zeit, um darüber deprimiert zu werden, blieb ihm allerdings nicht - denn schon wurde er stürmisch von hinten umarmt; obwohl, förmlich überrannt passte wahrscheinlich besser.
"Silver-samaaaaaa!", rief Rui in ihrer schrillen Stimme und sah breit lächelnd zu ihm herauf, die Arme um seine Hüfte geschlungen. Anstatt seine offensichtliche Traurigkeit zu kommentieren, wählte sie ihm einfach die Nachricht zu überbringen, die ihn sicherlich auf andere Gedanken bringen würde:
"Ich habe gute Neuigkeiten aus Tokio!"
"Nicht daran denken, Firey. Nicht. Daran. Denken." Firey beschwor sich diese Worte so intensiv, seitdem sie das Zimmer von Azuma verlassen hatte, dass sie gar nicht auf die Wächter achtete, deren Weg sie kreuzte - alle Gedanken an die Weihe waren kurzzeitig von Azumas Verhalten verdrängt worden, doch schnell würden sie sich ihrem Bewusstsein wieder aufdrängen.
Immer noch damit beschäftigt, sich selbst abzulenken, zog sie ihre Uniform aus, kaum dass sie die Stiefel ausgezogen hatte und in ihr kleines Badezimmer schlüpfte. Beständig vor sich hin murmelnd, löste sie das Zopfband von ihren Haaren und begann ihren langen Zopf zu lösen, dabei nun allerdings langsam zur Ruhe kommend, während sie ihr Spiegelbild betrachtete.
Was fand er eigentlich an ihr? Was sollte überhaupt jemand an ihr finden? Sie war nicht hübsch; unweiblich... und diese Narben. Wenn Azuma sie sehen würde, dann würde er sicherlich alle Gedanken irgendetwas mit ihr anfangen zu wollen vergessen. Sie waren so hässlich... vielleicht sollte sie sie ihm zeigen, dann war das Thema gegessen.
Seufzend berührte Firey die verkrustete Haut mit den Fingerspitzen, zog sie allerdings sofort wieder weg: es tat immer noch weh. Die schwarzen Narben wollten einfach nicht verschwinden; die Creme nützte nichts... wurden sie nicht sogar größer?
Wenn sie ihre Uniform trug, sah man die Narben nicht so gut, aber sie musste daran denken, dass sie einen Schal oder Ähnliches trug, wenn sie ihre Familie übermorgen besuchen würde - eine logische Erklärung für diese Narben hatte sie nämlich nicht gefunden.
Traurig lächelte sie ihrem Spiegelbild entgegen und lachte ein wenig:
"Wenigstens Bakayama würden sie nicht stören; für ihn war ich ja sowieso immer schon hässlich." Das Lächeln verschwand schnell und ein dunkler Schatten legte sich über ihr Gesicht, ehe sie sich ihrer Dusche zuwandte. Ihre Hand zitterte wie immer ein wenig, als sie das Wasser aktivieren wollte, die Narben schmerzten immer so in Kontakt mit Wasser----
Firey schrie auf. Ein langer, quälender Schrei entfloh ihrer geschundenen Kehle. Schreiend brach sie zusammen, die Hände an ihrer Kehle, versucht sie vor dem herablaufenden Wasser zu schützen, ehe es ihr gelang, das Wasser mit der rechten, stark bebenden Hand auszuschalten.
Wimmernd und in sich zusammen gekrümmt blieb Firey auf dem Becken der Dusche liegen: nicht fähig, das Geschehene zu begreifen oder ihre Schmerzen zum Abflauen zu bringen.
"Firey-sama! Ist Ihnen etwas zugestoßen?" Ihr Schrei war zu laut gewesen; die Wache, die wohl gerade ihre Zimmertür gekreuzt hatte, hatte ihn gehört und stand nun vor ihrer Badezimmertür, an eben dieser klopfend. Firey musste antworten, ansonsten würde sie hereinkommen und sie, das kleine, nackte, vernarbte Elend auf dem Boden kauernd sehen. Aber ihre Kehle... ihr Hals...
"Firey-sama?!"
"... M-Mir geht es gu...hut..." Ihre Stimme war nur ein ersticktes Wimmern und kaum hörbar, da sie ihre Kehle mit beiden Händen umschlossen hatte, damit das Wasser, das von ihrem Kopf herunterlief es nicht streifen konnte.
"Ich... ich bin nur... aaah, dumm gestolpert, a-alles gut!"
"Seid Ihr Euch sicher, Firey-sama?"
"Ja... ja... bitte nicht hereinkommen, ich... bin unbekleidet, das... das wäre mir sehr unangenehm..."
"Natürlich, Firey-sama. Wenn Ihr etwas benötigt, gebt bitte Bescheid."
"Ja... danke... das... werde ich." Ihre Zimmertür schloss sich wieder, auch wenn Firey gehört hatte, dass die freundliche Wache einen Augenblick gezögert hatte. Was war nur mit ihren Narben los? Sie reagierten zwar in Verbindung mit Wasser immer sehr empfindlich, aber diese Schmerzen... als würde ihre Haut ein weiteres Mal verbrannt werden... und bildete sie sich das ein oder stieg Dampf von den schwarzen Stellen auf?
Da weiteten sich Fireys Augen überrascht: das Wasser - was war mit dem Wasser los? Warte, war es das, was Azuma hatte erzählen wollen? Ihr war das vorher gar nicht aufgefallen; sie trank lieber Säfte statt Wasser und an ihren Händen hatte sie keine Narben, die sie darauf hätten aufmerksam machen können, dass etwas an dem Wasser anders war als normal... das Wasser... es war... weiß.
Es sah nicht aus wie Milch - Firey traute sich nicht, es näher zu betrachten oder gar es anzufassen - es sah tatsächlich einfach aus wie weißes Wasser. Vorsichtig, die eine Hand immer noch über ihrer Kehle und ein wenig stöhnend, richtete Firey sich auf und drehte den Wasserhahn auf; dasselbe. Das Wasser war weiß.
Was hatte das zu bedeuten?
Nocturn und Youma lebten in der Tat. Der Flötenspieler war durch die Äste gefallen, hatte einige bei seinem Sturz abgebrochen und lag nun bewusstlos und verdreht im grünen Gras. Youma war ebenfalls bewusstlos, aber nicht zu Boden gefallen, sondern lag wohl gebettet in den Armen eines hochgewachsenen Mannes, dessen dunkelbraune, fast schwarze Haare um ihn herumflatterten, während seine Fußspitzen elegant auf dem Gras landeten.
Die roten Augen, gefüllt mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit, gönnten sich einen kurzen, sehnsüchtigen Anblick Youmas, ehe der Mächtigste aller Dämonen, der sich selbst zu gerne ihren Gott nannte, aufsah und zur strahlenden Lichtsäule blickte, die den Himmel auseinanderzureißen schien. Sein Blick war verbissen, während seine und Youmas Haare immer noch wie im Sturm um sie herumflatterten und auf seinem sonst stets grinsenden Gesicht zeigte sich weder solches noch ein Lächeln - die Lippen waren fest zusammengepresst und in seinen eisernen Augen spiegelte sich die Lichtsäule. Schaden konnte sie allerdings weder ihm noch Youma oder Nocturn - eine kaum sichtbare Kugel schützte sie, die nur als ein sachtes Flimmern in der Luft zu erkennen war. Nocturn schien jedoch nur zufällig geschützt zu werden; für ihn hatte der namenlose Dämonenherrscher nämlich keinen Blick übrig -er sah immer noch empor in den Himmel.
"Es sollte mich nicht überraschen, dass du ihn wieder töten willst, Hikaru. Aber was dir nicht gelungen ist, als die Welt noch einen anderen Namen trug, soll dir auch jetzt nicht gelingen." Die Finger, die Youma festhielten und an seinen Armen und seiner Kniekehle lagen, zuckten, krallten sich etwas fester in den Stoff von Youmas Uniform:
"Ein weiteres Mal..." Er schloss die Augen und ihm war, als sähe er tatsächlich die kleine Hikari vor sich; Form annehmend durch die freigesetzte Lichtmagie, durch die strahlende Luft, genau vor ihm stehend, so nah wie sie konnte, ohne die schützende Barriere zu durchbrechen, die die Dämonen vor dem Licht schützte:
"... wirst du mich nicht brechen können." Er öffnete die roten Augen wieder, die aus ihrer schwarzen Lederhaut hervorstachen wie glühende Lichter in der dunklen Nacht und sah seine unsichtbare Gegnerin an, von der er glaubte, dass sie ihn herausfordernd anlächelte... ehe seine Augen zu Nocturn blickten, in dessen lockigen Haaren kleine Zweige und Blätter steckten.
Der Dämonengott verdrehte etwas verärgert die Augen, ehe er sie mit der Kraft seiner Gedanken in die Dämonenwelt teleportierte und Nocturn ein weiteres Mal wie ein Gegenstand auf dem steinigen Boden aufprallte; Youma dagegen war weiterhin in die Arme seines Beschützers gebettet, der auch nicht vorzuhaben schien ihn herunterzulassen.
Aber während der namenlose Dämonenherrscher seinen Blick wieder auf Youmas ernst wirkendem, aber auch so fragilen Gesicht ruhen ließ und sein Blick etwas an Verbissenheit oder Ärgernis verlor, begann Nocturn sich zu regen. Der namenlose Dämonenherrscher bemerkte es nicht; zu sehr raubte Youma seine Aufmerksamkeit - aber Nocturn war schnell wieder bei Bewusstsein. Er fluchte auf Französisch; rieb sich den Hinterkopf, hatte sich gerade halbwegs aufgerichtet, als die beiden roten Augen der Dämonen sich trafen.
Nocturn kannte diesen Dämonen nicht, der genau wie er keine Aura besaß, aber etwas in seiner Erscheinung, in seinem Blick ließ Nocturn erstarren - irgendetwas sagte ihm sofort, dass dieser eigentlich recht unscheinbar gekleidete Dämon, dessen goldene Haarkordeln das einzige waren, was hervorleuchtete, anders war als jeder Dämon, dem er zuvor gegenübergetreten war. Die Luft um ihn herum schien anders zu sein, als würde er die Luft, die Steine und alles, was um sie herum war, mit seiner bloßen Anwesenheit verändern und aufladen - und Nocturn konnte seine Gedanken nicht...
"Dein Anblick ist wirklich nicht gerade ein Festschmaus für die Augen." Nocturn kam nicht dazu irgendwie zu reagieren; irgendetwas zu denken oder zu sagen, denn ihm wurde sofort schwarz vor Augen, als hätte man ein Licht ausgeschaltet.
Ein weiteres Mal fiel Nocturns Kopf auf den Boden, als er bewusstlos wurde und wieder hatte der namenlose Dämonenherrscher kein Interesse an ihm; nun sah er Youma etwas verdrießlich an:
"Es hätte niemand anderes sein können? Du musstest unbedingt so einen hässlichen Dämon zurückholen? Oh, Youma, du hast einen bemitleidenswerten Geschmack." Ein aufgebendes Seufzen entglitt ihm, ehe er seinen Schützling sanft herunterließ, ihn aber natürlich nicht, wie Nocturn, einfach auf dem Boden aufkommen ließ, sondern ihn vorsichtig an eine Wand lehnte. Aber anstatt sich wieder aufzurichten verblieb er in der Hocke und betrachtete Youmas Gesicht eingehend, dabei versuchend zu lächeln, weil er... es musste. Weil er nicht anders aussehen wollte, keinen Schmerz zeigen wollte, beim Anblick von Youmas Gesicht, das dem seines Vaters so ähnlich sah. Seine seidigen Haare hatte er von seiner Mutter... aber dieses perfekt geschnittene Gesicht, diese filigranen Gesichtszüge, so zerbrechlich und immer so ernst - das war das Gesicht... ah, lächeln, nicht etwas anderes zulassen... Luzifers.
Der ehemalige Herrscher verlor den Kampf gegen seine Gefühle. Sein Gesicht war gequält, als er sich dazu zwingen musste, sich aufzurichten. Mit einem Seufzen stand er auf, entfernte sich von ihm und dem bewusstlosen Nocturn, war bereits im Begriff zu verschwinden, als er bemerkte, dass Youma erwachte - und ihn schickte er nicht sofort zurück in die Ohnmacht, sondern wartete ganz geduldig darauf, dass Youma wieder zu Bewusstsein zurückfand, als hätte er die ganze Zeit darauf gelauert, dass er erwachte.
Sobald Youmas Geist wieder erwachte, wusste er, dass er nicht länger auf einer der Inseln der Wächter sein konnte; die Luft war bedrückend und schwer, metallisch und beklemmend - er war in der Dämonenwelt. In irgendeiner Schlucht, umringt von Klippen, die sich links von ihm zu einem Wasserloch öffneten, dessen Wasser schwarz war und alles andere als trinkbar aussah - und da stand der Dämonenherrscher vor ihm und lächelte ihn verschmitzt, aber auch ein wenig väterlich an.
"Ich grüße dich, Youma." Sofort, noch während er gegrüßt wurde, eilte Youma auf die Füße, dabei einen etwas verwirrten, leicht bestürzten Blick auf den bewusstlosen Nocturn werfend, der sich immer noch nicht rührte. Was war geschehen? Da war ein Licht gewesen; ein so starkes, blendendes Licht, dass Youma das Gefühl gehabt hatte, dass er am lebendigen Leib verbrannt werden würde... er war ohnmächtig geworden... Youma blickte zum Dämonenherrscher, der sich so selbstgefällig ihren Gott nannte - er musste sie gerettet haben. Aber warum - nein, wie? Er konnte sich doch überall materialisieren? Youma dachte... Youma hatte das eigentlich so verstanden, dass der namenlose Dämonenherrscher nur auf dem Turm Form annehmen konnte und ansonsten nirgends?
"Wie ist es möglich, dass Sie hier vor mir stehen können? Ich dachte, Ihr Wirkungskreis wäre auf den Turm beschränkt?", fragte Youma ohne sich bei ihm zu bedanken - und auch ohne ihn zu grüßen.
"Es fällt mir zugegeben auch schwer, mich außerhalb meiner Welt zu materialisieren." Es lag wirklich etwas grenzenlos Anmaßendes in seiner Art, wie er "meine Welt" sagte; nicht wie jemand, der etwas erobert hatte, sondern wie jemand, der einfach per se das Recht hatte so zu sprechen.
"Aber in deiner Nähe ist es ein wenig einfacher; deine Erinnerungen an mich dienen mir als Anker - oh, warum siehst du mich denn so bitter an, mein Hübscher? Du solltest mir lieber dankbar sein, ansonsten wären du und dein hässlicher "Partner" nur noch Funken." Er gab Nocturn einen achtlosen Tritt, auf den Youma aber nicht achtete - er ging auch nicht darauf ein, dass sein Gegenüber ein "Danke" von ihm forderte:
"Ihr Licht ist also wirklich eine ernstzunehmende Gefahr."
"Das der jetzigen Regime-Führerin?" Das Lächeln wurde etwas schmaler, aber er lächelte weiter obwohl sie hier von einer möglichen Bedrohung für alle Dämonen sprachen:
"Hm, schwierig zu messen. Ich spüre in der Tat große, mächtige, strahlende Magieströme, die sich um sie konzentrieren; ob sie sie nutzen kann, ist allerdings eine andere Frage. Die Nachfahren Hikarus werden versuchen, sie für die Magieeinwirkungen zu öffnen, aber ob das gelingt..." Der namenlose Dämonenherrscher hob die Schultern und erntete sich einen strengen Blick Youmas, der ihn zu erheitern schien. Wie konnte er so gleichgültig darüber sprechen, wenn jede große Lichtansammlung eine Gefahr für alle Dämonen bedeutete?
"Magieströme... wie die Magie Hikarus?" Bei der Erwähnung Hikarus konnte nicht einmal der namenlose Dämonenherrscher noch lächeln - ernst blickten die beiden, die einer längst vergangen Zeit angehörten, sich an.
"Du hast es also auch gespürt", schlussfolgerte der Dämonenherrscher und Youma nickte.
"Selbstverständlich habe ich das. Ich habe ihre Magie immerhin am eigenen Leib erfahren."
"Dann sind wir ja schon mal zwei." Youma hob abermals die Augenbrauen und wollte ihn schon fragen, wie er dann so gleichgültig sprechen konnte, als sein göttlicher Gönner ihm zuvorkam und außergewöhnlich ernst mit ihm sprach:
"Ich gebe dir den Ratschlag, Youma, immer auf Hikaru gefasst zu sein. Hikaru ist tot, aber nicht vernichtet. Sie ist in jeder dieser weißhaarigen Fratzen, sie ist in deren Element, sie ist die Stimme deren Elements - und solange du..." Ohne, dass Youma etwas tun konnte, um es zu verhindern - es im ersten Moment gar nicht bemerkte - öffnete sich von magischer Hand geführt sein Kragen. Er leuchtete ein wenig rötlich und ließ Youma zusammenfahren, aber sein Zurückweichen brachte nichts; der Magie des Dämonenherrschers konnte er sich nicht entziehen, der mit einem eleganten Fingerzeig Youmas Kette hervorholte, an der die Glöckchen der Zwillinge hingen - und Lights Glöckchen.
"... Lights Glöckchen um den Hals trägst, musst du darauf vorbereitet sein, dass sie versuchen wird, dich auszuschalten." Alle drei Glöckchen blieben rot leuchtend in der Luft genau vor Youma hängen - Youma, dem dieser Anblick gar nicht gefiel und der die Glöckchen packte, um sie wieder unter seinem Oberteil zu verbergen.
"Du darfst niemals zulassen, dass es deine Hände verlässt, Youma. Nur in deinen Händen ist es sicher... aber auch ohne Lights Glöckchen wird sie dich tot sehen wollen. Du bist ihr ein zu großer Dorn im Auge. Ich habe dich damals schon vor ihr gewarnt... sie ist gefährlich." Es war Ironie, dass ausgerechnet er das sagte...
"Dann hätte sie mich töten müssen, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hat, anstatt mich in einem Zeitbann einzusperren und mich mit dieser elenden Zeit zu verfluchen!" Die große Bitterkeit in Youmas Worten traf seinen Gesprächspartner, als hätte er ihn angegriffen.
"Ich sehe es genau wie du, auch wenn ich ihr nicht dafür grolle, dass sie es nicht getan hat. Ich bin froh, dass du hier bist, will ich dir damit sagen." Youma konnte sich dem gewiss nicht anschließen, aber der namenlose Dämonenherrscher war der letzte, mit dem er das diskutieren wollte.
"Sie wissen also nicht, warum sie das getan hat?" Der namenlose Dämonenherrscher schüttelte den Kopf:
"Hier in Henel bin ich zwar so gut wie allmächtig, aber wissen tue ich dennoch nicht alles. Ich kann mir genauso wenig wie du erklären, was Hikaru mit dem Zeitbann bezweckt hat. In den offiziellen Geschichtsbüchern heißt es, dass du zu stark gewesen wärst und sie daher keine andere Wahl hatte."
"Das ist nicht wahr. Sie war stärker. Sie hätte mich trotz allem töten können."
"Es muss wohl stimmen, dass sie keine andere Wahl hatte, ansonsten wärst du tot. Ich kann es mir aber genauso wenig erklären wie du...Aber lass uns nicht mehr darüber reden..." Mit einem Satz war er vor Youma aufgetaucht und der Yami wusste nicht, ob er mittels Magie plötzlich vor ihm stand, oder ob er sich so schnell bewegt hatte, dass er es nicht mitbekommen hatte - ehe Youma jedenfalls etwas tun konnte, packte der namenlose Dämonenherrscher seine Arme und blickte ihn mit leuchtenden Augen an:
"Deine neue Uniform steht dir ganz ausgezeichnet! Du siehst herrlich attraktiv aus. Die Mädchen bei Lacrimosa haben sich selbst übertroffen! Ich bin..." Youma riss sich los und nahm etwas verwirrt, eher zornig als geschmeichelt, Abstand, aber das hinderte den namenlosen Dämonenherrscher nicht daran, seinen Satz zuendezuführen:
"... wirklich sehr angetan von dem Ergebnis. Ein Fest für die Augen! Der Stoff und die Farben, der Schnitt, es schmeichelt alles deiner hübschen Körperform." Die Röte, die in Youmas Gesicht trat, war immer noch keine, die andeutete, dass er angetan war von den Komplimenten, mit denen er gerade überhäuft wurde:
"Lassen Sie mich in Ruhe!" Der Angesprochene lachte heiter und schlug die Augen nieder, nach wie vor lächelnd:
"Oh, ich glaube, das willst du gar nicht. Noch bist du doch gar nicht in der Lage den Worten, die du bei Lacrimosa verkündet hast, gerecht zu werden - geschweige denn dich vor Hikarus Licht schützen zu können." Er öffnete die Augen wieder, aber das Lächeln war nun schneidend:
"Du warst bei dem Kampf gegen Nocturn nur in der Lage ein wenig Eindruck zu schinden, weil ich dir erlaubt habe, dich an meinem Turm abzufedern, Youma. Wenn du König werden willst, dann musst du dich schon ein wenig mehr anstrengen - und das willst du doch, oder?" Das wollte er. Natürlich wollte er das - aber... und das sah auch der namenlose Dämonenherrscher in seinem Gesicht und sofort wurde das seinige ernst... er war nicht mehr so entschlossen wie er es vielleicht einmal gewesen war. Vielleicht war er es auch nie gewesen; vielleicht hatte er dieses Ziel auch nur verfolgt, um... überhaupt ein Ziel zu haben. Erbärmlich, aber vielleicht war das wahr. Was sagte ihm diese untergegangene Welt schon? Was bedeuteten ihm die Bewohner? Sie waren zum Sterben verdammt, wie diese Welt.
"Tu das nicht." Der namenlose Dämonenherrscher stand nun neben ihm und sah ihm fest, etwas bittend in die Augen, genau wie Youma seine Hand auf den Stein gelegt - nur, dass seine Hand zu einer Faust geballt war.
"Lesen Sie meine Gedanken?", fragte Youma schneidend und vorwurfsvoll.
"Nein. Sie stehen dir ins Gesicht geschrieben - deine Melancholie. Verfalle ihr nicht oder es wird dir so ergehen wie deinem Vater." Das hatte er nicht sagen wollen; das sah Youma ihm deutlich an; er hatte ihn auch nicht so ansehen wollen, hatte ihm nicht diese... ehrliche... Seite zeigen wollen. Etwas bestürzt und von sich selbst verärgert nahm der namenlose Dämonenherrscher Abstand von Youma, der ihn verwirrt musterte und sprach mit festerer Stimme weiter:
"Lerne diese Welt zu lieben."
"Wie soll ich eine Welt lieben lernen, die absolut nicht liebenswert ist?"
"Sie hat eine morbide Schönheit."
"Wenn Sie das "Schönheit" nennen..." Nun war es Youmas Hand, die sich zu einer Faust ballte:
"Dann sind Sie genauso wahnsinnig wie Nocturn." Der namenlose Dämonenherrscher verzog beleidigt das Gesicht:
"Ich bitte doch jawohl darum, da ein wenig zu differenzieren." Rückwärts ging er weiter - und Youmas Faust und sein Gesicht erweichten ein wenig vor Verblüffung, als er sah, dass der Gebieter dieser Welt rückwärts über das Wasser zu gehen begann; über das schwarze, sicherlich hochgradig giftige Wasser, dass sich durch seine Schritte auf dem Wasser und die Ringe, die er auslöste ein wenig... lila verfärbte.
"Und ich bitte dich darum, dass du die Augen öffnest; sie gänzlich öffnest. Siehe diese Welt und ihre mannigfaltigen Bewohner mit offenen, klaren Augen und werde es wert, ihr König zu sein." Er begann sich aufzulösen; in kleine, lila und rot leuchtende Funken, als wäre seine Zeit begrenzt und diese nun abgelaufen.
"Und ich beschwöre dich noch einmal: Begehe nicht denselben Fehler wie Luzifer."
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Überall war es hell.
Das Licht... es war überall. Es umgab sie, war in ihr - lauter, kleiner Fünkchen, um sie herum tänzelnd, unter ihr in dem hellen Wasser schwimmend, auf welchem sie schwebte. Ein seltsamer, aber warmer, schöner und freundlicher Ort. Aber wo war sie? Ah... natürlich. Sie war in ihrem Element. Sie war in dessen Inneren. Sie war selbst ein Teil davon. Sie war ein Licht... genau wie die anderen kleinen Fünkchen. Aber sie hielten sich fern von ihr... keines berührte sie, auch die Wasseroberfläche berührte sie nicht.
Sie wollte die Hand ausstrecken; sie wollte die Fünkchen berühren, weshalb sie den Arm hochhob, die Finger spreizte und dem Atem anhielt, als wären die Fünkchen Glühwürmchen, die davonfliegen würden.
"Du bist wirklich sehr neugierig, unreines Licht der Hoffnung."
Was für eine angenehme Stimme. Woher kam sie? Sie schien von überall her zu stammen, aber am stärksten war sie in ihr. Green kannte sie... Sie klang ein wenig wie die von Inceres; eine warme, freundliche Stimme, der man gerne zuhörte. Aber es war nicht die Stimme von Inceres... und da es nicht Inceres war, konnte es nur ein einziger, anderer Hikari sein.
"Light?" Keine Antwort, aber sie spürte ein leichtes Lächeln.
"Du bist nicht die Erste, die mich erkennt. Aber... du bist die erste, bei der ich eine deutliche Verbindung zu Youma spüre."
Eine deutliche Verbindung? Mit Youma? Warum nicht mit Silence? Sie hatte eine Bindung zu Silence, mit Youma garantiert nicht. Nur ein einziges Mal hatte sie ihm direkt gegenübergestanden und dieses eine direkte Treffen war ihr sehr negativ in Erinnerung geblieben - war das genug für "eine deutliche Verbindung"?
"Du bist mit Silence befreundet, nicht wahr?"
"Ja", antwortete Green nun sofort mit Nachdruck:
"Ja, das bin ich. Sie ist meine beste Freundin, auch wenn ihre Kritik manchmal zermürbend ist." Wieder spürte Green ein Lächeln.
"Es ist schön zu hören, dass es Silence gut geht und dass sie in dir eine Freundin gefunden hat nach all der Zeit der Einsamkeit..."
"Ich kann sie ja von dir grüßen, hehe!", erwiderte Green grinsend, sich bereits auf das Gesicht freuend, das Silence machen würde, wenn sie das hörte. Light schien sich diesem Lächeln nicht anschließen zu wollen - jedenfalls spürte Green nichts und einen kurzen Moment dachte sie, dass er verschwunden wäre, doch sie vernahm noch seine Gegenwart. Um ihn wieder dazu zu bringen, zu sprechen war es nun Green, die ihn direkt ansprach:
"Wenn ich schon, also... ehm ja, hier bin, darf ich dich etwas fragen?"
"Wenn es dein Wunsch ist zu wissen, dann frage."
Es gab tausend Fragen, die Green hätte stellen können; tausend wichtige Fragen, Fragen deren Antworten nicht nur für sie wichtig waren, sondern auch für Silence - und Green hoffte so sehr, dass sie die erste Hikari war, die sich an all das hier erinnern würde. Sie wollte Silence sagen, dass sie mit Light gesprochen hatte; dass sie ihn gespürt hatte und dass er an sie dachte und mit Liebe in der Stimme von ihr sprach. Sie wollte es!
"Du bist eine eigenartige Erbin... so eine Erbin wie dich habe ich noch nie gespürt."
Das nahm Green erfreut als Kompliment. Es war immer schön zu wissen, dass sie anders war - besonders, wenn sie anders war als ihre Familienmitglieder. Light klang auch nicht, als würde es ihn irgendwie abschrecken, mit ihr zu reden - er klang eher angenehm überrascht. Doch es war schwer zu beurteilen, wenn sie nur seine Stimme hörte.
"Ich möchte gerne wissen, was damals in Aeterniem passiert ist - was wirklich geschah."
Keine Antwort. Kein Lächeln, sondern bedrückendes Schweigen. Sogar die Funken um sie herum schienen sich langsamer zu bewegen. Zögerte er? War er überrascht über ihre Frage?
"Ich weiß, das kannst du mir vielleicht nicht..."
Light fiel ihr ins Wort und plötzlich klang seine Stimme viel näher als vorher, viel wirklicher, viel nahbarer:
"Du willst es wirklich wissen?"
"Das möchte ich. Ich will es verstehen."
Ganz ohne Zweifel: die Punkte nahmen Gestalt an, die Gestalt einer Person; schemenhaft und flackernd und die Stimme Lights kam nun eindeutig von dieser Lichtgestalt, die kaum größer war als Green und die ihr die Hand entgegenstreckte:
"Du machst deinem Namen alle Ehre, Licht der Hoffnung. Ich werde es versuchen... noch einmal hoffen... und dich leiten, soweit es in meiner Macht steht."
Ohne das geringste Anzeichen eines Zögerns ergriff Green Lights strahlende Hand.
Es war eigenartig gegensätzlich wie die unablässige Melodie der Glöckchen auf Firey wirkte: anders konnte sie es gar nicht beschreiben, denn auf der einen Seite beruhigten sie die Glöckchen... wie eine Mutter, die ihr Kind in den Schlaf wiegte, aber zur gleichen Zeit spürte sie auch eine ungewisse Unruhe in sich, als hätte dieses Wiegenlied irgendwie... den falschen Ton.
Diese Unruhe konnte natürlich daher stammen, dass sie der ganzen Weihe gegenüber skeptisch war, seitdem Yuuki Azuma und ihr von seinen Bedenken erzählt hatte. Eigenartigerweise teilte er ihr komisches Gefühl nicht, oder - nicht mehr. Seit dem Moment als Green den Turm betreten hatte, war er zur Ruhe gefallen und immer, wenn Firey ihm beichtete, dass sie sich tatsächlich vor der Weihe fürchtete und dass sie deswegen auch unruhig schlief, beruhigte er sie sofort, als hätte er selbst nicht noch vor wenigen Tagen die gleiche Angst verspürt.
Gerade diese Tatsache machte seine Beruhigungsversuche sehr unwirksam.
Azuma reagierte völlig anders: er war nicht nervös, ihm ging der Gesang der Glöckchen "auf den Zeiger" und wenn Firey und er allein waren, beschwerte er sich "über die Wächter und ihre bekloppten Traditionen". Aber gut, auch das war irgendwie eigenartig, denn irgendetwas sagte ihm, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht über die Weihe beschweren sollte. Keiner tat das. Alle erwarteten das Ende der 12 Tage mit einer paradox ruhigen Anspannung. Obwohl das Leben der Wächter - allen voran der Krieg - natürlich weiterging, schien die Zeit stillzustehen. Die Dämonen nahmen natürlich keine Rücksicht darauf, ob die Wächter sich ihren Traditionen widmeten oder nicht; sie wussten sicherlich auch nichts vom Abhalten der Weihe und bekamen dies auch nicht zu spüren, da die Wächter trotz der Vorbereitungen stetig zum Einsatz rückten - und das mit außergewöhnlich wenigen Verlusten, wie Firey erfuhr, als Azuma ihr erzählte, dass sie heute keinen einzigen Wächter bei einer Schlacht in Henel verloren hatten.
"Ich habe keine Ahnung, was mit denen momentan los ist", wunderte Azuma sich, seinen nassen Strubbelkopf mit einem Handtuch trocken rubbelnd, nachdem er nach der Schlacht unter die Dusche gehüpft war, weshalb er nun mit nacktem Oberkörper vor ihr stand:
"Es ist als wären sie auf Drogen oder so. Die laufen total Amok." Als er sah, dass Firey sich die Hand über die Augen hielt, musste er natürlich sofort an andere Dinge denken. Breit grinsend konnte er einen Kommentar natürlich nicht unterdrücken.
"Meine Güte, ihr Engländer seid aber auch prüde!" Obwohl Firey ihm ein Kissen an den Kopf warf, musste auch sie lächeln, denn sie mochte es, wenn er sie eine Engländerin nannte. Sie war ja eigentlich Japanerin, aber das übersah er gerne; er konnte mit der englischen Kultur mehr anfangen, meinte er, was sie immer wieder zum Stirnrunzeln brachte - warum hatte er sich dann einen japanischen Namen ausgesucht?
"Was meinst du mit "Amok laufen"?", fragte Firey, nachdem Azuma sich endlich sein Oberteil wieder übergezogen hatte und sie ihn daher wieder ansehen konnte. Im Schneidersitz hockte sie auf seinem Bett, wie sie es so oft schon getan hatte - normalerweise war Yuuki allerdings auch anwesend, aber er hatte gemeint, dass er lieber in sein Zimmer wollte. Meditieren, hatte Azuma lachend gefragt und es eigentlich als Witz gemeint, aber Yuuki hatte nur komisch gelächelt und nicht verneint.
"Die haben doch alle einen Knacks weg", lautete Azumas geflüsterter Kommentar an Firey.
Auch jetzt runzelte er die Stirn, sich neben Firey aufs Bett setzend.
"Naja, keinen Plan, wie ich das anders beschreiben soll als ich es schon getan habe. Die Attacken waren ziemlich krank. Im Sinne von ziemlich heftig. Wir haben heute mehr als tausend Dämonen ausgelöscht, das ist mehr, als was ich bis jetzt erlebt habe - und wir waren nur zwei Stunden oder so im Einsatz. Das ist doch ziemlich crazy." Azuma warf sein Handtuch achtlos auf einen Stuhl und schüttelte sich die braunen Haare aus dem Gesicht.
"Und sie wirkten auch irgendwie... naja, als wären sie besessen oder so."
""Besessen"?", wiederholte Firey, sich kurz fragend, ob Azuma das falsche Wort gewählt hatte, denn sie sprachen immer auf Englisch, wenn sie alleine waren und obwohl sein Englisch wirklich sehr gut war, so schlichen sich doch ab und zu Fehler ein. Nicht, dass sie das störte: Sie genoss es, Englisch zu sprechen.
"Ja, besessen. Von Geistern besessen, du weißt schon."
"Und bei dir?"
"Wirke ich besessen?"
"Nein, ich meine nur, ob du auch was... ehm ja, gespürt hast", antwortete Firey, ihre Worte mit unruhigen Handbewegungen unterstreichend, denn das Thema behagte ihr tatsächlich nicht. Absolut gar nicht. Sie mochte auch keine Horrorgeschichten - und sie hatte das Gefühl, sie steckte in einer!
"Nö, ich hab nichts gespürt. Meine Attacken sind immer cool, das weißt du doch!" Es war unglaublich, mit welch Leichtigkeit Azuma das ganze Thema handhabte, obwohl sie gerade von Besessenheit und Geistern sprachen. Aber wahrscheinlich sollte Firey das Thema ähnlich sehen, wenn man bedachte, in welcher Welt sie seit nun mehr als einem Jahr lebte... aber sie machte sich einfach zu große Sorgen um Green, die immerhin im Zentrum des ganzen... schlief, oder was auch immer sie tat; sie hatten kaum Informationen erhalten. 12 Tage lang würde sie im Turm sein und dann würde die eigentliche Weihe stattfinden, an der auch sie beteiligt waren als die Elementarwächter Greens.
"Die Wächter sind aber nicht das einzige, was heute komisch ist", fuhr Azuma fort an einer feuchten Haarsträhne zwirbelnd:
"Warst du heute schon duschen? Hast du das Wasser gesehen?" Firey wurde schlagartig rot:
"Eh-Ehm, nein, ich habe es heute Morgen nicht geschafft... rieche ich etwa?" Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Erdwächters aus und feixend lehnte er sich zu ihr herüber:
"Nein, nein, Fireyskat, du riechst fabelhaft wie immer - außerdem mögen wir Dänen es... natürlich." Automatisch wich Firey ein wenig zurück, nur mit den Augen antwortend.
"Hast du eigentlich gar keine Angst, so alleine, mit einem Mann, in seinem Zimmer, auf seinem Be--" Und da flog ihm bereits ein weiteres Kissen um die Ohren:
"Ich habe keine Kissen mehr; ich werde also als nächstes zu feurigen Waffen greifen, Azuma!" Dieser lachte nur, wich aber zurück:
"Schon gut, schon gut, ich werde es nicht herausfordern!"
"Außerdem habe ich gar nicht bemerkt, dass ich im Zimmer eines "Mannes" bin, dafür ist der Bewohner dieses Zimmers nämlich zu klein."
"Oh, der hat aber gesessen, mein Herz, es schmerzt!"
"Ich habe von den Besten gelernt."
"Oho, danke für das Kompliment." Eigentlich hatte Firey nicht ihn gemeint, sondern Siberu - und sie konnte sich gerade noch selbst aufhalten, diesen Gedanken auszusprechen. Rot wurde sie allerdings einen kurzen Augenblick, tat aber so als wäre nichts:
"Außerdem weiß ich, dass dir unsere Freundschaft wichtig ist und dass du sie nicht aufs Spiel setzen würdest."
"Natürlich, Fireyskat, natürlich! Aber wie sagen es die Amis so gerne: Ich habe nichts dagegen, unsere Beziehung auf das nächste Level zu befördern."
"Azuma, du willst heute Abend gerne verbrannt werden, oder?" Er antwortete mit einem heiteren Lachen und Firey sah das Thema eigentlich als beendet an, aber sie irrte sich; plötzlich unerwartet ernst stellte er eine Frage, die Firey nicht hatte kommen sehen:
"Warum eigentlich nicht?"
"Warum was nicht?", erwiderte Firey ein wenig mehr ahnungslos tuend, als sie war:
"Warum sollten wir nicht ein Paar werden? Wir streiten uns zwar viel, aber wenn es keine Reibereien in einer Beziehung gäbe, wäre es doch auch langweilig! Dazu kommt, dass wir beide vom Aussterben bedrohte Elemente besitzen, weshalb unsere ach so tollen Hikari es sicherlich begrüßen würden, wenn wir ein Paar werden würden." Natürlich war Firey nicht gänzlich von diesen Gedanken überrascht; er flirtete immerhin mit ihr wann auch immer er konnte, aber dass er dieses Thema nun so ernst so direkt ansprach... und von mehr als nur ein bisschen Flirten sprach, machte sie unruhig; lieber würde sie wieder von Geistern und Besessenheit reden als davon, einen Ehepartner wählen zu müssen.
"Und du magst mich doch, oder? Also, warum nicht?" Das war wohl die dänische Direktheit...
"Azuma, natürlich..." Oh Gott, sie war nicht gut in solchen Dingen. Das war Shos Gebiet, nicht ihres!
"... natürlich mag ich dich, wie einen Bruder. Aber ich bin eben nicht, also, nicht in dich verliebt."
"Das weißt du doch gar nicht. Du hast es ja gar nicht versucht." Für einen kurzen Moment - und Firey glaubte, es sei sogar das erste Mal - sah sie Traurigkeit in seinen Augen.
"Du könntest mich dich ja küssen lassen. Dann wüsstest du, ob du in mich verliebt bist", fügte er nun wieder grinsend hinzu, was Firey - trotz der Aussage - erleichterte.
"Ich weiß auch so, dass ich nicht in dich verliebt bin."
"Aber man könnte es ja auf einen Vers-"
"Azuma! Ist diese Sturheit etwa was Dänisches? Seid ihr etwa alle so?" Verwunderte sah Azuma sie an, aber dann lachte er:
"Nein, das bin einfach nur ich!" Sie begannen beide zu lachen und begannen wieder herumzualbern, womit das Thema vorerst vergessen schien. Als Firey nach einigen Minuten bemerkte, wie spät es war, verabschiedete sie sich von ihm - und bemerkte dann, dass das Thema leider nicht so vergessen war, wie sie geglaubt hatte. Denn gerade als die Feuerwächterin das Zimmer verlassen wollte, unterbrach er sie:
"Irgendwann sagst du mir aber noch den Grund, weshalb du dich dagegen wehrst, dich in mich zu verlieben."
Natürlich dachte Azuma eifrig darüber nach, was der Grund sein könnte - denn er konnte sich tatsächlich nicht erklären, warum Firey sich so sehr gegen die Idee sträubte, wo sie sich doch so gut verstanden. Natürlich streifte ihn der Gedanke, dass es womöglich einen Mann in Fireys Leben geben könnte. Aber diesen Gedanken schob er schnell beiseite - Firey doch nicht, denn wenn sie jemanden hätte, hätte sie Yuuki und ihm das erzählt: Firey war doch niemand, der Geheimnisse hatte.
Und selbst wenn er sich mehr als eine Minute mit diesen Gedanken beschäftigte, so kamen seine Gedanken niemals auch nur in die Nähe der Wahrheit. Wie sollte er auch schon auf den Gedanken kommen, dass Fireys Abfuhr - zwar eine freundliche, aber immer noch eine Abfuhr - im Zusammenhang mit ihrem eigenartigen Besuch in der Dämonenwelt stand und dass die Antwort in der Welt zu finden war, die er so "cool" fand?
Silver machte sich im Augenblick keine Gedanken darüber, ob sein Leben in dieser Welt "cool" war. Er tat seine Pflicht; tat das, was ihm befohlen worden war - und das war im Augenblick als das Hordenmitglied, das er war, zu trainieren. Die Zeiten, in denen er zusammen mit Blue Einzelunterricht von Ri-Il bekommen hatte, waren vorbei: Jetzt musste er mit den anderen Dämonen trainieren und das war nicht nur einfaches Training, sondern auch ein Behauptungskampf. Darius war nicht der Einzige, der die Sonderbehandlung der beiden Brüder immer mit erhobenen Augenbrauen betrachtet hatte; es gab in der Horde viele, die sich die Frage stellten, ob die beiden mehr konnten als nur in der Menschenwelt herumzulungern und das Training, das an diesem Tag aus individuellen Duellen bestand, bot die perfekte Gelegenheit, um herauszufinden, was der kleine Rotschopf draufhatte.
Zu seinem Missvergnügen musste Darius sich selbst eingestehen, dass Silver tatsächlich nicht schlecht war, denn obwohl er ihn - wissentlich natürlich - mit einem der besten Hordenmitglieder in ein Kampfpaar gesteckt hatte, schlug er sich erstaunlich gut. Er war sehr unüberlegt, aber im Gegensatz zu den vielen anderen unüberlegt handelnden Dämonen ermöglichte seine Schnelligkeit ihm, dass er nie für seine unüberlegten Taten zahlen musste. Seine Schnelligkeit war wirklich beachtlich, dachte Darius durch die Kämpfenden gehend, immer bereit einzugreifen, falls einer das Gebot vergaß, dass sie sich zwar verletzen durften, aber dass es dabei bei leichten Verletzungen bleiben musste und dass ein Töten absolut tabu war. Sie sollten immerhin trainieren und sich nicht selbst gegenseitig dezimieren, auch wenn Darius oft selbst das Verlangen hatte, einem von ihnen den Kopf einzuschlagen. Die alten Hordenmitglieder waren alle nach seinen - und Ri-Ils natürlich! - Vorstellungen zurechtgestutzt und nur selten tanzte einer von ihnen aus der Reihe, aber die neuen Mitglieder aus dem Nachbargebiet waren noch aufmüpfig. Aber das war nichts Unnormales, nichts womit Darius nicht auch schon Erfahrung hatte. Es war nun einmal oft der Fall, dass Hordenmitglieder, die mit Gewalt zu einem Hordenwechsel gezwungen worden waren, gerne gegen ihr Schicksal rebellierten; besonders, wenn sie ihren neuen Fürsten nicht mochten. Im Großen und Ganzen waren die neuen Mitglieder allerdings pflegeleicht. Nur fünf forderten Darius' besondere Aufmerksamkeit. Aber sie konnten ja gerne gehen; Ri-Il war bei diesem Thema sehr strikt. War man einmal ein Mitglied von Ri-Ils Horde, blieb man es, bis man sich in Fünkchen auflöste - und dieses Ende konnte schneller eintreten, als man dachte, wenn man sich gegen die Horde wandte. Anderen Fürsten war es egal, wenn sie Hordenmitglieder an andere Fürsten verloren, aber Ri-Il nicht - sie waren Teil des Trainings gewesen, hatten die Horde von innen gesehen, kurzum; hatten zu viele Informationen, um am Leben zu bleiben. Darius unterstützte Ri-Il dabei vollkommen.
Umso eigenartiger war die Sache mit Blue.
Ausgerechnet Blue.
Und das ausgerechnet zu Nocturn.
Natürlich stellte Darius die Taten seines verehrten Fürsten nicht in Frage... aber dennoch war die Frage, ob Ri-Il Blue umgebracht hatte, aus seinem Mund herausgepurzelt, als Ri-Il nach einer kurzen Abwesenheit in sein Gebiet zurückgekehrt war. Sofort war Darius sich der Peinlichkeit seiner Frage bewusst gewesen und noch ehe Ri-Il zu einer Antwort gekommen war, hatte er versucht sich herauszureden, hatte dabei allerdings nur um den heißen Brei herumgeredet und... urgh, warum war Mekare auch noch anwesend gewesen... peinlich, peinlich, peinlich.
"Rechte Seite offen, Gladwin - und du nutzt das nicht aus, Ylber. Schlaft ihr heute? Wächter nehmen keine Rücksicht darauf, ob ihr euren Schönheitsschlaf bekommen habt!" Kaum hatte Darius die beiden alt-eingesessenen Mitglieder zurechtgestutzt, da war es auch mal wieder an der Zeit zu erschrecken, denn Ri-Il tauchte neben ihm auf - wie gelang es ihm nur immer, sich so punktgenau zu teleportieren? Und das obwohl so viele Dämonen auf einem Haufen versammelt waren? Jeder hatte irgendwann schon mal den Fehler gemacht und war beim Teleportieren gegen jemanden gerempelt, aber Ri-Il nie.
"Und, Darius-kun, wie machen sich unsere fünf Problemkinder?", erkundigte sich Ri-Il, die trainierenden Dämonen genau wie er beobachtend. Jedenfalls nahm Darius das an, denn sein Fürst hatte wie immer die Augen geschlossen - aber er war schon längst zu dem Entschluss gekommen, dass Ri-Il wohl auch mit geschlossenen Augen sehen konnte, so selten wie er seine Augen zeigte.
"Zwei von ihnen haben versucht, ihren Trainingspartner umzubringen, aber ich war schnell genug da, um das zu verhindern. Sie sträuben sich, aber sie sind stark."
"Ja, es lohnt sich, Zeit in sie zu investieren." Darius nickte ergeben, auch wenn er keine Lust darauf hatte, Zeit in sie zu investieren; aber was getan werden musste...
"Nur einer von ihnen ist ein hoffnungsloser Fall. Ich musste in der letzten Flamme drei Mal eingreifen." Ri-Il wandte seinen Kopf in die Richtung, in die Darius zeigte - die Tatsache, dass Darius sich seinen Namen nicht gemerkt hatte, sagte ihm schon, dass er davon ausging, dass das besagte Hordenmitglied nicht lange in ihrer Horde bleiben würde. Aber Ri-Il sah das anders:
"Lass ihm ein wenig Zeit mit Uriel-kun. Sorg dafür, dass die beiden die Möglichkeit haben, miteinander zu sprechen." Darius runzelte die Stirn; er verstand nicht, warum er das tun sollte, denn er sah nicht, wie der ziemlich schmächtig aussehende Uriel den großen Hünen irgendwie zurechtreden sollte. Aber er verließ sich natürlich auf das Urteil Ri-Ils.
"Natürlich, Ri-Il-sama." Darius wollte gerade noch über andere Hordenmitglieder mit Ri-Il sprechen, da drehte dieser sich auch schon herum, um ihn wieder zu verlassen:
"Komm nach dem Training in mein Büro; wir haben etwas zu besprechen!" Die Art wie Ri-Il das mit seinem spielenden Unterton trällerte, gefiel Darius gar nicht und böse Vorahnungen machten sich schon in ihm breit - hatte er etwas Falsches getan? Hatte er, hatte er, hatte er?!
Darius hatte nichts Falsches getan - es war Silver, der eindeutig etwas Falsches tat, aber das war ihm egal. Es war an der Zeit, etwas Falsches zu tun. Das bemerkte er umso deutlicher, als er nach dem Training - oder eher zwischen Trainingsblock eins und zwei - wieder in sein Zimmer zurückkehrte, um sich kurz auszuruhen.
Die Schiebetür zog er beiseite, machte sich schon bereit sich zu beklagen, hörte schon förmlich, wie Blue sein Buch zusammenklappte -
Aber da war niemand. Das kleine Zimmer war leer und lag verlassen vor ihm. Es gab keine Bücher mehr und auch niemanden, der darin lesen würde. Das untere Bett des Etagenbettes war unbenutzt und die einzige Ersatzuniform an der Tür war die seine.
Silver hatte das Zimmer immer als zu klein empfunden.
Jetzt war es zu groß.
Viel Zeit, um darüber deprimiert zu werden, blieb ihm allerdings nicht - denn schon wurde er stürmisch von hinten umarmt; obwohl, förmlich überrannt passte wahrscheinlich besser.
"Silver-samaaaaaa!", rief Rui in ihrer schrillen Stimme und sah breit lächelnd zu ihm herauf, die Arme um seine Hüfte geschlungen. Anstatt seine offensichtliche Traurigkeit zu kommentieren, wählte sie ihm einfach die Nachricht zu überbringen, die ihn sicherlich auf andere Gedanken bringen würde:
"Ich habe gute Neuigkeiten aus Tokio!"
"Nicht daran denken, Firey. Nicht. Daran. Denken." Firey beschwor sich diese Worte so intensiv, seitdem sie das Zimmer von Azuma verlassen hatte, dass sie gar nicht auf die Wächter achtete, deren Weg sie kreuzte - alle Gedanken an die Weihe waren kurzzeitig von Azumas Verhalten verdrängt worden, doch schnell würden sie sich ihrem Bewusstsein wieder aufdrängen.
Immer noch damit beschäftigt, sich selbst abzulenken, zog sie ihre Uniform aus, kaum dass sie die Stiefel ausgezogen hatte und in ihr kleines Badezimmer schlüpfte. Beständig vor sich hin murmelnd, löste sie das Zopfband von ihren Haaren und begann ihren langen Zopf zu lösen, dabei nun allerdings langsam zur Ruhe kommend, während sie ihr Spiegelbild betrachtete.
Was fand er eigentlich an ihr? Was sollte überhaupt jemand an ihr finden? Sie war nicht hübsch; unweiblich... und diese Narben. Wenn Azuma sie sehen würde, dann würde er sicherlich alle Gedanken irgendetwas mit ihr anfangen zu wollen vergessen. Sie waren so hässlich... vielleicht sollte sie sie ihm zeigen, dann war das Thema gegessen.
Seufzend berührte Firey die verkrustete Haut mit den Fingerspitzen, zog sie allerdings sofort wieder weg: es tat immer noch weh. Die schwarzen Narben wollten einfach nicht verschwinden; die Creme nützte nichts... wurden sie nicht sogar größer?
Wenn sie ihre Uniform trug, sah man die Narben nicht so gut, aber sie musste daran denken, dass sie einen Schal oder Ähnliches trug, wenn sie ihre Familie übermorgen besuchen würde - eine logische Erklärung für diese Narben hatte sie nämlich nicht gefunden.
Traurig lächelte sie ihrem Spiegelbild entgegen und lachte ein wenig:
"Wenigstens Bakayama würden sie nicht stören; für ihn war ich ja sowieso immer schon hässlich." Das Lächeln verschwand schnell und ein dunkler Schatten legte sich über ihr Gesicht, ehe sie sich ihrer Dusche zuwandte. Ihre Hand zitterte wie immer ein wenig, als sie das Wasser aktivieren wollte, die Narben schmerzten immer so in Kontakt mit Wasser----
Firey schrie auf. Ein langer, quälender Schrei entfloh ihrer geschundenen Kehle. Schreiend brach sie zusammen, die Hände an ihrer Kehle, versucht sie vor dem herablaufenden Wasser zu schützen, ehe es ihr gelang, das Wasser mit der rechten, stark bebenden Hand auszuschalten.
Wimmernd und in sich zusammen gekrümmt blieb Firey auf dem Becken der Dusche liegen: nicht fähig, das Geschehene zu begreifen oder ihre Schmerzen zum Abflauen zu bringen.
"Firey-sama! Ist Ihnen etwas zugestoßen?" Ihr Schrei war zu laut gewesen; die Wache, die wohl gerade ihre Zimmertür gekreuzt hatte, hatte ihn gehört und stand nun vor ihrer Badezimmertür, an eben dieser klopfend. Firey musste antworten, ansonsten würde sie hereinkommen und sie, das kleine, nackte, vernarbte Elend auf dem Boden kauernd sehen. Aber ihre Kehle... ihr Hals...
"Firey-sama?!"
"... M-Mir geht es gu...hut..." Ihre Stimme war nur ein ersticktes Wimmern und kaum hörbar, da sie ihre Kehle mit beiden Händen umschlossen hatte, damit das Wasser, das von ihrem Kopf herunterlief es nicht streifen konnte.
"Ich... ich bin nur... aaah, dumm gestolpert, a-alles gut!"
"Seid Ihr Euch sicher, Firey-sama?"
"Ja... ja... bitte nicht hereinkommen, ich... bin unbekleidet, das... das wäre mir sehr unangenehm..."
"Natürlich, Firey-sama. Wenn Ihr etwas benötigt, gebt bitte Bescheid."
"Ja... danke... das... werde ich." Ihre Zimmertür schloss sich wieder, auch wenn Firey gehört hatte, dass die freundliche Wache einen Augenblick gezögert hatte. Was war nur mit ihren Narben los? Sie reagierten zwar in Verbindung mit Wasser immer sehr empfindlich, aber diese Schmerzen... als würde ihre Haut ein weiteres Mal verbrannt werden... und bildete sie sich das ein oder stieg Dampf von den schwarzen Stellen auf?
Da weiteten sich Fireys Augen überrascht: das Wasser - was war mit dem Wasser los? Warte, war es das, was Azuma hatte erzählen wollen? Ihr war das vorher gar nicht aufgefallen; sie trank lieber Säfte statt Wasser und an ihren Händen hatte sie keine Narben, die sie darauf hätten aufmerksam machen können, dass etwas an dem Wasser anders war als normal... das Wasser... es war... weiß.
Es sah nicht aus wie Milch - Firey traute sich nicht, es näher zu betrachten oder gar es anzufassen - es sah tatsächlich einfach aus wie weißes Wasser. Vorsichtig, die eine Hand immer noch über ihrer Kehle und ein wenig stöhnend, richtete Firey sich auf und drehte den Wasserhahn auf; dasselbe. Das Wasser war weiß.
Was hatte das zu bedeuten?