Kapitel 91 - Der Weg des Verlangens
Zwei Mal war Blue vorher in Paris gewesen; der erste Aufenthalt entsprang einer Idee Silvers, welcher seine neugewonnene Fähigkeit der Teleportation sofort für eine "Reise" hatte anwenden wollen und sie deshalb einen sehr kurzen Abstecher nach Paris unternommen hatten. Der zweite Aufenthalt war auftragsrelevant gewesen und wenig unterhaltsam; eher langweilig, wie Silver wahrscheinlich sagen würde, denn damals waren sie nur zur Beobachtung in der Metropole gewesen. Sie hatten ein Treffen von ein paar Wächtern beobachten müssen, was überhaupt nicht nach Silvers Geschmack gewesen war... er wollte viel lieber die Stadt auskundschaften.
Ja, Paris war eine interessante Stadt - obwohl Blue und sein kleiner Bruder unterschiedliche Dinge wertgeschätzt hatten. Silver hatte sich in den belebten Boulevards austoben wollen und während Blue die Gravuren des Triumphbogens studierte, war Silver schon längst auf der Champs-Élysées verlorengegangen - heutzutage würde er wahrscheinlich Pigalle, das Freudenviertel, unruhig machen.
Die einzige Touristenattraktion, die Blue jedoch im Moment erahnen konnte, war die entfernte Spitze des Eiffelturmes, die hinter den weißgrauen Häuserfassaden immer wieder hervorlugte; die aus hellen Ziegelsteinen gebauten Häuser, bestehend aus acht Etagen, den vielen hohen Fenstern mit kleinen schwarzgeschnörkelten Blumenkästen versehen und den dazu passenden, eng an der Hauswand anliegenden Balkonen. Die Dächer eher flach, aber dafür mit Hunderten von kleinen Schornsteinen gesprenkelt, mit schiefen Dachfenstern und egal von welchem dieser vielen Aussichtspunkte man über die Stadt hinweg sah, so konnte man von überall das Wahrzeichen der Stadt sehen; außer man blickte nach Nordwesten, wo sich der Montmartre mit seiner "Zuckerspitze", dem runden Kirchturm der weißen Sacré-Cœur-Kirche, befand.
Unter Blues Füßen spürte er deutlich die Metro entlangbrettern, während er in Begleitung von Feullé unter den hohen Bäumen auf dem breiten Bürgersteig eines belebten Boulevards entlangging. Langsam... denn er war noch nicht ganz sicher auf den Beinen. Der Halbdämon wusste nicht wo er war, aber von der Touristenanzahl ausgehend, urteilte er, dass er sich im Zentrum befand. Es war sein Wunsch gewesen, rauszukommen; frische Luft zu schnappen und seine Beine wieder an das Gehen zu gewöhnen.
Eigentlich hatte Blue das alleine tun wollen. Doch kaum war er auf die Wohnungstür zugesteuert, war Feullé aufgesprungen und hatte schon, ausgerüstet mit einem kleinen, roten Lederportemonnaie, stotternd verkündet, dass sie, wenn er nichts dagegen hatte, gerne mitkommen würde, denn sie müsse ohnehin noch einkaufen. Es war drei Uhr, wie Blue an der roten Uhr der Mikrowelle feststellen konnte, die sonnendurchflutete Wohnung war leer gewesen, bis auf Feullé... Nocturn und Youma nicht da. Ob Feullé den Auftrag bekommen hatte, auf Blue aufzupassen? Ihn zu beobachten? Wollte sie deswegen mit ihm gehen?
Aber als er nun neben ihr ging... hatte er nicht das Gefühl, dass es so war. Eigentlich sollte er wohl auch dankbar sein für ihre Anwesenheit, denn Blue hätte sich in dieser großen Stadt sicherlich nicht zurechtgefunden, obwohl er sie schon zwei Mal besucht hatte. Feullé hatte ihn gleich mit in die vollgestopfte, eher schlecht als recht klimatisierte Metro genommen, die sie immer zu benutzen schien anstatt sich zu teleportieren. Sie hatte ja auch eine Monatskarte für die Metro, erklärte sie, und benutze diese gerne. Für Blue würde sie gerne bezahlen, bis er selbst eine Monatskarte bekam!
Ah ja... er sollte eine Monatskarte bekommen... ah...ja... was? Wozu? Wozu diese Geldausgabe, wenn er sich doch teleportieren konnte, wenn er die Stadt näher kennenlernte?
"U-Unsere Metrostation ist Bir Hakeim, dargestellt durch die türkise Linie. Die Linie 6. Sie können sie kaum verpassen, sie... liegt nämlich direkt am Tour Eiffel."
"Du kannst mich duzen." Feullé blieb verwundert in der Nähe eines plätschernden Springbrunnens stehen, wo sich einige Menschen am Rand ausruhten und die Sonne genossen. Blue beobachtete die Menschen aus den Augenwinkeln, ebenso wie er Feullé ansah - so viele Menschen war er gar nicht mehr gewohnt. Es waren weniger als in Tokio... aber Tokio war auch schon lange her.
"Ist das denn... angebracht?"
"Bist du nicht älter als ich?" Doch obwohl Blue von so vielen sich hastig bewegenden Menschen umgeben war und auch sehr viele Geräusche auf ihn einschlugen, so bekam er nicht wieder Kopfschmerzen und hinsetzen musste er sich auch nicht - er verbuchte das als gutes Zeichen. Feullé allerdings antwortete nicht, als würde die Antwort sie verwirren, weshalb Blue fragte, wie alt sie denn sei.
"Ich bin 26."
"Dann bist du älter als ich, also... brauchst du mich nicht so förmlich anzusprechen." Feullé nickte, aber sie war immer noch verunsichert. Wegen ihm... oder war sie das einfach?
Sie schwiegen wieder und Blue widmete sich seinen Gedanken, während Feullé einige Schritte weiter in einen Supermarkt huschte - er dagegen... er blieb draußen und widmete sich seinen Gedanken. Er sollte also eine Monatskarte bekommen... und so wie Feullé sprach klang es nicht so, als betrachte sie ihn als einen Touristen, jemanden, der die Stadt nur kurz besuchte und dann wieder ging - sie schien davon auszugehen, dass er blieb.
Der Grund, weshalb sie das tat, war eigentlich irrelevant - viel wichtiger war... wovon er ausging. Würde er bleiben? Blue wusste es nicht. Viel zu viele Gedanken kreisten und schwirrten in seinem Kopf herum... eigentlich wollte er zu Silver; mit ihm besprechen, was er letzte Nacht gehört hatte, obwohl Silver ihm sicherlich nicht mehr Klarheit geben konnte. Aber konnte Blue sich einfach in Ri-Ils Gebiet teleportieren?
Ha... Blue lachte sich beinahe selbst aus, während er den Kopf in den Nacken legte, wo der kühle Schatten eines Baumes sein Gesicht kühlte... auf was für Gedanken er da kam. Natürlich konnte er das nicht. Egal welche Antwort er Nocturn geben würde, er gehörte nicht mehr in Ri-Ils Gebiet, gehörte nicht mehr dazu... und so gerne er auch in diesem Moment mit Silver sprechen wollte... Blue öffnete die Augen und sah in den klaren blauen Oktoberhimmel empor... das war eine ziemliche Erleichterung.
Genau wie Nocturn es gesagt hatte.
"Wenn du dich mir anschließen würdest, gehörst du definitiv nicht mehr zu Ri-Ils Gebiet - und das alleine ist doch schon ein Vorteil, nicht wahr?" Nach dem Dinieren... die Erinnerung war ein wenig schummrig, aber Blue erinnerte sich daran, dass sie nach dem Essen in einem Park gewesen waren, in der Nähe des Eiffelturmes. Nocturn hatte sie dorthin teleportiert, um dort ihr Gespräch fortzusetzen. Er hatte es nicht im Restaurant führen wollen und Blue müsste seine Beine bewegen... das tat er auch, wenn auch etwas schwerfällig. Sie gingen langsam einen nach unten fallenden Sandweg hinab, mit dunklen Bäumen auf der linken Seite und einem gigantischen Wasserbecken rechts von Blue, welches bis zur Brücke herunterreichte, die direkt zum Fuß des Eiffelturms führte, der sich golden vor ihm emporstreckte und sich strahlend vor dem schwarzen Himmel abhob. Einige Menschen waren trotz der späten Uhrzeit noch unterwegs, machten Fotos, saßen zusammen... aber sie achteten nicht auf die beiden Dämonen, genauso wenig wie Nocturn auf sie achtete. Blue war ebenfalls eher halbherzig in seiner Beobachtung der Umwelt: er konzentrierte sich mehr auf Nocturn.
"Ich werde dir eine ganz neue Zukunftsaussicht geben!", sprach Nocturn, der natürlich einige Schritte weiter vorne ging, denn er wurde ja nicht von seinem Körper gelähmt. Er streckte die Hände aus, während er dies sagte, wie um seine Worte feierlich zu untermauern.
"Ich benötige keine... Zukunftsaussicht." Blue meinte, Nocturn seufzen zu hören.
"Aber nein, natürlich nicht. Du willst sterben, das weiß ich!"
"Das habe ich nicht gesagt..." Nocturn überhörte ihn:
"Dein ganzes Sein verlangt förmlich danach..." Das stimmte nicht... Er durfte nicht... er konnte nicht... natürlich wollte er nicht! Er hatte es Silver...
"... und das einzige, was dich aufhält, diesem dringenden Wunsch nachzugeben, ist dein Bruder." Blue fühlte sich in seinen Gedanken ertappt und fragte sich, ob er seine Gedanken - wo er eben Silvers inständigen Blick gesehen hatte - wirklich nicht lesen konnte.
"Du bist so ein guter, großer Bruder und willst ihn nicht alleine lassen, nicht wahr? Deine Mutter hat dir zu viel Verantwortung aufgebürdet, mein Junge. Du machst dein Leben und sogar deinen Tod von deinem Bruder abhängig! Dabei ist der Tod doch die höchste Befreiung, die schönste Erlösung." Nocturn drehte sich herum, ging rückwärts weiter und fixierte Blue fest:
"Aber nehmen wir mal an, es gäbe ihn gar nicht - meiner Treu, guck mich nicht so böse an, das ist gewiss keine Drohung! - für was würdest du dann leben?"
"Worauf... wollen Sie hinaus?" Nocturn schloss die Augen wieder und lächelte:
"Lass uns mit offenen Karten spielen, Blue. Das macht das Ganze einfacher... und ich bin ohnehin kein Dämon, der besonders große Freude dabei empfindet zu lügen, ich werde daher ehrlich mit dir sein." Er öffnete die Augen wieder und das Rot dieser schmalen Augen leuchtete in der Dunkelheit wie ein leise loderndes Feuer.
"Ich weiß, dass du nach Green verlangst." Blue hatte nicht die Gelegenheit auf diese Worte zu reagieren, denn schon fuhr Nocturn fort, ohne auf den schockierten Blick des Halbdämons zu achten, der es nicht gewohnt war, diese Worte ausgesprochen zu hören.
"Und ich weiß noch mehr! Ich weiß von euren gemeinsamen Schultagen. Ich weiß von den langsam aufkeimenden Gefühlen, die so gar nicht zum Auftrag passen wollten. Ich weiß von eurer kleinen Rettungsaktion ins Jenseits - ganz nebenbei, meine Hochachtung! - ich weiß von Silvers kläglichem Versuch alles zu stoppen, weil er glaubte, euch alle drei retten zu können. Ich weiß auch alles von dem Moment, wo du ihr Glöckchen zerstört hast; ihre Folter, der Tod von Whites Sohnemann... und, oh ich weiß auch, wie Silver dich und Green erwischt hat, als du das erste Mal die Lippen deiner Hikari mit deinen berührt hast! Er war eifersüchtig, aber viel eher verletzt und besorgt. Aber was erzähle ich dir das. Das weißt du ja bereits!" Er legte eine kleine, aber schreckliche Pause ein und wenn es möglich war, dann war Blue sich sicher, dass das Leuchten in Nocturns Augen intensiver wurde, als er fortfuhr:
"Sag, Blue, wie hat es sich angefühlt, als du ihre Lippen das erste Mal mit deinen berührt hast? Die Lippen einer Hikari? Weißt du es nicht mehr? Ja, es ist ja auch lange her, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass du es noch weißt. So etwas vergisst man nicht; ich weiß, wovon ich spreche - und weißt du, was ich ebenfalls sehr gut nachvollziehen kann? Die Wut, die du gespürt hast, als dieser Kaze deine Green aufgefangen hat. Und jetzt sind sie auch noch verlobt. Ja, du meine Güte, es ist ja fast so, als würde sich alles noch einmal wiederholen!" Leise lachend ging Nocturn weiter, tänzelte förmlich über den Boden; ganz offensichtlich gut gelaunt. Blue dagegen war entgeistert. Er verstand nicht, wozu dieses Thema... angeschnitten wurde, weshalb sie darüber sprachen, über diese Dinge, die nicht ausgesprochen gehörten.
"Es wird sich nicht wiederholen", entgegnete Blue und obwohl seine Stimme immer noch von Schwäche gezeichnet war, lag eine Gewissheit in den Worten, die deutlich machte, dass Blue wusste, dass es sich nicht wiederholen würde. Deutlich hatte er noch Greens Erzählung im Kopf, was Nocturn alles getan hatte, um auch nur die kleinste Aufmerksamkeit Whites zu erhaschen, weshalb er nun auch noch hinzufügte:
"Ich würde ihren Verlobten niemals umbringen." Nocturn blieb dieser indirekte Fauxpass natürlich nicht unbemerkt, doch es brachte ihn gewiss nicht aus der Ruhe und anstatt, dass Blue dafür gesorgt hatte, dass das widerlich überzeugte Lächeln aus dem Gesicht seines Gegenübers verschwand, wurde es sogar noch breiter:
"Als nächstes wirst du mir wahrscheinlich sagen, dass dein Glück das ihre ist. Hm, ich kann mich täuschen, aber ich glaube, es hat sie nicht sonderlich glücklich gemacht, als du ihren Bruder getötet hast." Sofort wurde das Gesicht Blues starr und für einen kurzen Moment huschte stille Verzweiflung über seine Gesichtszüge, als er wieder daran erinnert wurde.
"Und wenn ihr Glück dich glücklich machen würde, würdest du dich wohl kaum am liebsten tot sein", fuhr Nocturn ungehindert fort, dabei ein wenig gelangweilt klingend als wären das Themen, die er schon viel zu oft besprochen hatte.
"Ich... bin nicht wie Sie", erwiderte Blue, doch seine Stimme hatte an Gewissheit verloren, was nicht nur er selbst bemerkte.
"Nein, gewiss, aber du spielst dieselbe Rolle in dem gleichen Stück. Du spielst sie nur anders. Eine eigene Interpretation. Oder war das etwa keine Eifersucht, die du gespürt hast, als du die beiden damals in Tokio zusammen gesehen hast? Wie er sie angeguckt hat, wie sie seinen Blick erwidert hat und die Gewissheit, dass er viel besser für sie geeignet wäre als du? Und dass sie sogar hervorragend zusammenpassen würden, so ein fleißiger, strebsamer Wächter, der immer nur das beste für sie gewollt hat.... anders als du?"
"Ich wollte auch immer das beste für sie..." Nocturn lächelte mitleidig, aber mit hochgezogenen Augenbrauen und Blue wusste selbst, dass er sich diese Worte nicht sonderlich verdient gemacht hatte.
"Also ist Green der Grund..." Blue musste sich zusammennehmen, aber er hatte das Gefühl, dass es ihm die Kehle zuschnürte, wenn er ihren Namen in den Mund nahm:
"... weshalb ich hier bin und weshalb Sie wollen, dass ich bleibe?" Nocturn blieb stehen, aber er lächelte immer noch.
"Es wäre für dich doch auch nur zum Vorteil, nicht? Du würdest aus der unmittelbaren Gefahrenzone der Hohen herauskommen und müsstest nicht mehr fürchten, getötet zu werden, nur weil du nach einer Hikari verlangst. Nicht mehr konstant Ri-Ils Blicken ausgesetzt zu sein ist ja an sich schon ein Vorteil, wie wir ja bereits festgestellt haben." Ja, das hatten sie, auch wenn Blue es nicht ausgesprochen hatte, aber sein Blick war Antwort genug - ja, sie wussten beide, dass das an sich schon Grund genug war für Blue.
"Dann gibt es natürlich noch eine weitere Sache, die es zu bedenken gibt... und zwar unseren Griesgram von einem Prinzen. Du hast es ja bei dem herrlichen dämonischen Abendmahl mitbekommen, dass er vorhat, der König der Hölle zu werden. Dinge werden sich verändern..." Nocturn sah in den Himmel empor mit einem ernsten Blick. Lächeln tat er jedoch immer noch.
"Ja, ich habe das Gefühl, dass wir uns in einer sehr interessanten Zeitperiode befinden, wo viele Dinge im Begriff sind sich zu verändern. Wer weiß, wo uns diese Veränderungen hinführen werden, wenn wir sie packen und eine Revolution beginnen. Wer weiß!" Mit einem ruckartigen Schwung senkte Nocturn wieder grinsend den Kopf und seine wilden Locken wirbelten um ihn herum:
"Vielleicht kannst du ja von hier aus an einer Weltordnung mitarbeiten, in der du, Green und dein Bruder wieder eine gemeinsame Zukunftsaussicht habt?" Nocturns entschlossenes Lächeln war genauso glühend wie seine Augen - aber Blue konnte sich dieser Euphorie nicht anschließen. Er spürte einen Knoten in sich.
"Ich halte das für unrealistisch...", flüstere Blue und wandte den Blick ab, aber als Nocturn einen Schritt auf ihn zuging, hob er den Kopf wieder in dem Moment, wo Nocturn genau vor ihm stand.
"Aber, Blue... ist Green nicht das Licht der Hoffnung?" Blue blinzelte einen kühlen Windhauch auf dem Gesicht spürend.
"Ist es denn nicht an der Zeit... wieder zu hoffen?"
Hartnäckig kreisten die Worte Nocturns endlos in Blues Kopf. Er hatte sich bei Nocturn für seine Hilfe bedankt; hatte sich auch für seinen Vorschlag bedankt... aus Höflichkeit, aus wachsamer, kalter Höflichkeit heraus, aber auch betont, dass er ihm noch keine Antwort geben konnte und wollte. Er wollte mit Silver darüber reden.
"Das habe ich mir schon gedacht", hatte Nocturn geantwortet:
"Aber das Angebot gilt nur für dich." Lachend hatte der Flötenspieler hinzugefügt, dass er nur noch ein Zimmer freihatte und er würde keine "unmenschliche Unbequemlichkeit" zulassen und zwei Personen in einem so kleinen Zimmer schlafen lassen; wo kamen sie denn da hin... Aber das war sicherlich nur so dahingesagt: es war deutlich, dass Nocturn sich absolut nicht für Silver interessierte. Sein Name fiel ja kaum... war es wirklich nur wegen Green und Blues... Verbindung zu ihr? Oder war es die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem Vater, dessen Aussehen nun einmal nur er geerbt hatte?
Blue wusste zu wenig über Nocturn, um das beurteilen zu können. Er wusste auch zu wenig über ihn, um seine Worte einschätzen zu können. Waren sie Lüge oder Wahrheit? Das einzige, was Blue eigentlich konkret über Nocturn wusste, war das, was er White im Namen seines Verlangens angetan hatte... und er hatte ein eindeutiges Interesse an Green und allem, was mit ihr im Zusammenhang stand.
Blue wollte sich nicht vorstellen, was Nocturn sich bereits für Green ausgedacht hatte. Dass er bereits jetzt, so relativ kurz nach seiner Wiederbelebung so ein deutliches Interesse an Green hatte, war überaus beunruhigend. Es gab eindeutig zu viele, die ein eher beunruhigendes Interesse an Green hatten. Blue hatte geglaubt, dass es ihm möglich sei, von Innen heraus Green irgendwie vor diesen Interessen zu bewahren, aber vielleicht hatte Nocturn recht und es war tatsächlich besser, sich aus der Schusslinie der Hohen zurückzuziehen und wenn er gleichzeitig auch Nocturn von seinen Plänen, was Green anging, abbringen konnte...
Aber ob Nocturn ihn nicht einfach nur anlog? Und was war mit Silver? Er war wahrscheinlich tatsächlich sicherer ohne ihn in der Dämonenwelt, aber... Blue wollte ihn nicht bei Ri-Il alleine lassen. Das ging nicht; das war viel zu gefährlich. Sein Bruder war viel zu gut darin, Fehler zu machen.
Und ja... dann war da noch der von Nocturn so genannte "politische Aspekt". Blue wollte ihn lieber eine Utopie nennen - und mit diesen hatte er Erfahrung. Er war bereits einmal auf eine solche Vorstellung reingefallen... hatte sich diesem Wunschdenken hingegeben... andere in den Abgrund gerissen...
Blues Beine hatten ihr Limit erreicht und ihn dazu gezwungen, sich zu setzen; Feullés Vorschlag, dass sie sich doch einfach in eines der zahlreichen Cafés setzen konnten, lehnte Blue höflich, aber entschieden ab und ließ sich stattdessen auf dem Rand eines Springbrunnens nieder, wo er sofort von griesgrämig dreinguckende Touristen stumm dazu aufgefordert wurde, sich doch bitte einen anderen, weniger störenden Sitzplatz zu suchen.
Von dem Gescheuche genervt, ließ sich Blue dann endlich auf einer Bank in der Nähe des Springbrunnens nieder, genau wie Feullé, die ihn musterte, ihn aber in seinen Gedanken nicht störte.
Irgendwie war das Plätschern des Wassers und das Rauschen der vielen Menschenstimmen um ihn herum, das Gurren der Tauben und fern das aufgeregte Treiben des Verkehrs doch irgendwie beruhigend für seine Nerven und seinen Gedanken. In der Menschenwelt war so viel pulsierendes Leben; so viele verschiedene Stimmungen, Farben und Formen auf einem kleinen Ort wie diesem Platz versammelt - und die Sonne. Es war Anfang Oktober, die Blätter des weiter entfernten Parks vor dem Louvre Museum färbten sich langsam rot, braun und gelb und die Luft war angenehm kühl. Obwohl es ihm gefiel, dass es um einiges kühler war als in der Dämonenwelt, war es die Sonne, die Blue in diesem Moment am meisten schätzte. In der Dämonenwelt war es immer so dunkel und düster; nichts, was ihn normalerweise störte oder gar bedrückte, aber dieses Licht...
Blue, welcher die Augen halb geschlossen gehalten hatte und daher dösend gewirkt hatte, schlug sie nun wieder auf, entfernte seine den Kopf abstützende Faust und legte sie zusammen mit seiner linken Hand in seinen Schoß; zuerst zusammengekrampft, sich dann jedoch zur Entspannung besinnend, in den blauen, klaren, nur von ein paar Dunstwolken überzogenen Himmel hinaufsehend.
Irgendwo da oben in dem blauen Nichts lag der Tempel; von niemandem gesehen und von allen unerreichbar. Wie sehr wünschte er sich, er könnte sich nun einfach dorthin teleportieren... und doch wünschte er gleichzeitig, so weit weg wie möglich zu sein von diesem ihm verbotenen Ort.
Er hatte gesehen, was passierte, wenn er diesem Wunsch nachgab.
Es war auch gar nicht so, dass er sich wünschte, er als Person könnte in diesem Moment da sein; denn das, was Green ihm, Blue, gegenüber empfand, war nicht das, nach dem er sich jetzt sehnte. Er wollte keinen Hass sehen; keine Trauer, keine Wut - nicht einmal ihren entschlossenen Blick, bereit beim kleinsten Zucken anzugreifen.
Wie es ihr ging, wollte er sehen; er wollte diese blauen Augen, in die er sich verliebt hatte, strahlen sehen, wollte sehen, dass sie lachte, Spaß hatte; er wollte sehen, dass alles, was er tat, was er versuchte zu tun, einem solchen Resultat dienlich war - war das zu viel verlangt? Ja, das war es, denn Greens Augen strahlten nicht und wahrscheinlich war ihr auch nicht nach Lachen zumute, denn Blue konnte sich nicht vorstellen, dass sie den Tod ihres Bruders bereits verarbeitet hatte.
Ob die Beisetzung schon gewesen war?
Wenn ja, dann hoffte er aufrichtig, zwar mit schmerzendem, aber aufrichtigen Herz, dass Saiyon bereits wusste, wie man Green tröstete. Es war nicht immer ganz leicht; Green war so stur und wollte nicht weinen, obwohl sie es dringend brauchte - und jetzt wahrscheinlich dringender denn je.
Ja, hoffentlich wusste Saiyon das.
"Blue-san? K-Können Sie wieder gehen?"
"Ja, ich kann gehen."
"Was machst du Hurensohn eigentlich schon wieder hier?!" Ri-Il ließ sich von Lycrams brüsker Anrede überhaupt nicht aus der Ruhe bringen: es schien für ihn nicht einmal eine Aufforderung zu sein sich herumzudrehen, Lycram anzusehen oder von der Fensterbank herunter zu gleiten, wo er es sich richtig bequem gemacht hatte - obwohl das weder seine Fensterbank war, noch sein Fenster, sein Schloss und erst recht nicht sein Gebiet. Aber wenigstens hatte er den Anstand, sich nicht schon wieder selbst zu bedienen an Lycrams Alkoholsammlung, die sich links von ihm in großen Vitrinenschränken befand: das stärkste, was man so finden konnte, sowohl in der Menschenwelt als auch in der Dämonenwelt, aufgereiht, als wären es Trophäen. Bunte Trophäen, denn alle Flaschen waren aus einem andersfarbigen Glas und warfen dank der Beleuchtung der Vitrinen buntes Licht auf den Boden, als seien sie in einer Kirche.
"Dir auch einen guten Abend, Lyci."
"Wohl eher einen guten Morgen, beziehungsweise..." Lycram sah ihn grummelnd an, aber sein Nachbar sah immer noch aus dem Fenster, als gäbe es im Himmel irgendetwas Interessantes zu lesen.
"... einen beschissenen Morgen." Nun wandte Ri-Il sich endlich Lycram, der seinen bizarren Nachbarn stirnrunzelnd musterte, zu:
"Oh, habe ich dich geweckt? Einen über den Durst getrunken, Lyci?"
"Sagmal kannst du mit diesen absolut lächerlichen Beleidigungen nicht mal aufhören und mich ORDENTLICH beleidigen?!" Ri-Il spielte den Verwunderten und reagierte auch nicht darauf, dass Lycrams orangene Augen ihn wahrlich durchbohrten, als suche er irgendetwas:
"Was, beleidigen? Du empfindest "Lyci" als Beleidigung? Ich versichere dir, mein geschätzter Nachbar, es ist nicht meine Absicht, dich zu kränken..." Ri-Il grinste und es war nur allzu deutlich, dass er das nächste Wort sehr genoss, jede Silbe davon:
"... Lycilein!" Lycram verzog das Gesicht und hätte er nicht einen wirklich üblen Kater von der letzten Nacht, er hätte sich auf einen Kampf eingelassen - aber heute hielt er sich zurück, denn er beherrschte sein Handwerk, was das Lesen von Ri-Ils eigenartiger Körpersprache anging. Er sah ihm an, dass er nicht zum Spaß hier war und dass das Grinsen eher ein pro Forma-Grinsen war: es war nicht echt. Ri-Il war nicht hier, um ihn zu ärgern; er wollte etwas von ihm.
"Raus mit der Sprache: was willst du? Was auch immer es ist - du kannst dir sicherlich denken, dass ich scheiße drauf bin - du hast dir also einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht für irgendeins von deinen dubiosen Handelsabkommen!" Ri-Ils lange Beine rutschten von der Fensterbank herunter, als Lycram vor ihm ankam, aber er blieb am Fenster gelehnt und auch wenn er wusste, dass Lycram ihn durchschaut hatte, so lächelte er trotzdem, obwohl sie beide wussten, dass dies ein ernstes Gespräch werden würde.
"Ich bin nicht hier, weil ich mit dir verhandeln möchte."
"Ach."
"Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich auf dem Laufenden halten werde." Ri-Il hatte ihm dies vor zwei Monaten mitgeteilt: Zeit genug, in der Lycram diese Worte eigentlich hätte vergessen können - aber Lycram wusste sofort, wovon sein Nachbar sprach und sofort verdüsterte sich seine grimmige Miene etwas fragend, während Ri-Il ein wenig lächelte.
"Und du bist hier, um das zu tun?"
"In der Tat - ist das so verwunderlich? Halte ich denn nie meine Versprechen?" Der Angesprochene antwortete nicht, denn auch wenn Ri-Il seine Versprechen tatsächlich meistens einhielt, bejahte er dies nicht. Er verteilte doch keine unnötigen Komplimente!
"Es ist sogar ziemlich eigenartig, wenn ein Schlitzohr wie du jemanden umsonst "auf dem Laufenden" hält. Sowas hat den Klang von einer Allianz und du gehst eigentlich keine Allianzen ein, genauso wenig wie ich es tue. Allianzen machen keinen Spaß. Allianzen geht man nur ein, wenn es Not tut." Ri-Il antwortete nicht; aber er lächelte immer noch, Lycram das Wort überlassend.
"Das letzte Mal..."
"... und auch das erste Mal...", ergänzte Ri-Il mit einem mysteriös klingenden Singsang.
"... haben wir uns gegen Kasra zusammengetan." Ri-Il antwortete nicht. Aber er lächelte nicht länger - und seine Augen hatten sich geöffnet. Und in der Tat, Ri-Il musste Lycram ganz recht geben: Lycram war gut darin, die Körpersprache seines Erzfeindes zu lesen, denn Ri-Il musste gar nichts sagen; Lycram verstand es auch so.
"Kasra ist tot. Er ist sowas von abgekratzt."
"Niemand hat gesehen wie unser ehemaliger König gestorben ist. Es gibt keine Zeugen."
"Was nennst du ihn so?! Wir sollten überhaupt nicht von dem Kerl reden. Kasra ist Geschichte! Langweilige, abgeschlossene Geschichte, von der ich gar nichts hören will." Auch Ri-Il war gut darin, Lycrams Körpersprache zu lesen: ihm entging nicht, dass Lycram sich versteift hatte, dass er sofort blass geworden war. Er hatte dieses Gespräch schon oft in den Bars geführt, besonders in den Jahren, als Lerou gerade erst König geworden war. Aber in einer Bar, mit einem guten Getränk, konnte er es lachend beiseiteschieben in Kombination mit einer Faust in das Gesicht desjenigen, der behauptete, dass Kasra nicht tot sei. Aber er konnte nicht darüber lachen, wenn Ri-Il es sagte.
"Vielleicht ist er nicht tot."
Wenn Ri-Il es sagte, dann war es plötzlich echt.
Wenn Ri-Il einen so ernst mit seinen geöffneten, gelb leuchtenden Augen ansah, dann spürte man plötzlich wieder die Anspannung, die Kasras Aura ausgelöst hatte - die dauernde Wachsamkeit, die feste Gewissheit, dass jedes falsche Wort den Tod bedeuten konnte. Lycram war immer gut mit den "falschen Worten" gewesen. Ri-Il hatte ihm mehr als einmal davon abgeraten, unter Kasras Regime Fürst werden zu wollen. Zwar mit seinem üblichen Grinsen, mit seiner üblichen lächerlichen, guten Laune, die aber nicht ohne Grund einen Funken Ernsthaftigkeit gezeigt hatte. Doch alle Worte Ri-Ils, alle Ernsthaftigkeit hatte nichts daran geändert, dass Lycram Fürst geworden war und...
"Einen Arm und einen Finger darfst du behalten, Lycram."
... natürlich waren die falschen Worte sehr schnell gefallen.
Lycram, auf dem Boden, unfähig sich aufzurichten, mit großen, verdammt großen Schmerzen; größer als... bei so manch anderer Prügelei, die er schon hinter sich hatte, größer als die Schmerzen, die der Hikari-Junge ihn hatte spüren lassen; brennender als das Feuer der Feuerwächter. Nur noch ein Arm - und an diesem Arm war nur noch ein Finger. Was er getan hatte, um sich diese saftige Abreibung zu verdienen, wusste Lycram nicht mehr - das wusste er weder heute noch hatte er es damals gewusst. Irgendwelche Worte, die dem König der Dämonen Anlass gegeben hatten, seine ach so königliche Visage in Lycrams neuem Gebiet blicken zu lassen - vielleicht war es auch ein Willkommensgeschenk: willkommen bei den Hohen! Willkommen bei denjenigen, die als erstes vor Kasra kriechen dürfen und hinhalten müssen, wenn der König Lust auf Abwechslung hat.
"Deine Regenerationsfähigkeit ist sehr praktisch, das muss man dir und deiner Rasse lassen..." Lycram knurrte; knurrte gegen den Boden seines eigenen Audienzraums, wo die Flammen, die rings um sie in die Höhe schlugen, sich in den Fliesen des Bodens spiegelten, genau wie Lycrams bittere Augen. Er wollte den Rest seiner Hand nehmen und sie diesem verdammten Mistkerl ins Gesicht rammen!
"Ich hoffe, das ist eine Lehre für dich und dein loses Mundwerk." Gerade noch hatte der König der Dämonen mit Hohn gesprochen und man hatte ihm angehört, dass er sich an dem Spaß, den er sich selbst bereitet hatte, labte. Aber nun sprach er gelangweilt - als wäre das Spiel und die Unterhaltung bereits vorbei. Aber nein, es war nicht vorbei und nun war es Lycram, der es genoss, den etwas verwunderten Blick in Kasras dunklem Gesicht zu sehen, als der frischgebackene, neuverbrannte Fürst es schaffte, den Kopf zu heben und den König anzusehen.
Er stand gute dreizehn Meter von ihm entfernt am Ende des nun ziemlich ramponierten Saals, entspannt, angeberisch an den Thron gelehnt, der eigentlich Lycram zustand als Fürst dieses Gebietes. Kasras langer Zopf, der dem Schwanz eines Skorpions glich, wehte hinter ihm im Wind, der durch das zersprungene Fenster hereinpeitschte. Das Feuer wurde vom Wind erfasst, loderte empor, genau wie der lange, dunkelblaue Umhang des Königs es tat, vor dem die Flammen scheinbar zu großen Respekt hatten, um ihre Zähne in diesen zu setzen. Er wirkte wie ein großer, mächtiger Schatten, wo nur die roten Augen und die goldenen Kronen hervorleuchteten - die Krone, die er auf der Stirn trug und die, die sich um seinen Hinterkopf schlang: die goldenen Hörner des "zum König Geborenen", die ihm eine ganz natürliche Krone verliehen in Form von zwei Hörnern, die einen Kranz um seinen Hinterkopf bildeten und in der Glut leuchtend zu vibrieren schienen... aber das konnte auch Lycrams schwindende Sicht sein.
Kasra hatte keine einzige Schramme, genauso wenig wie die Frau, die zwischen ihnen stand und deren lange Locken den Blick auf Kasra ab und zu verbargen.
"Verrecke!" Die Frau rührte sich nicht. Sie blieb wie eine Statue stehen und reagierte nicht auf das Wort. Kasra aber lächelte.
"Ich wusste schon, dass es amüsant werden würde mit dir in meinem Fürsten-Stab." Er lachte laut, aber kurz auf, legte seine Hand auf die Lehne des Stuhls und richtete sein Wort an die Frau, die zwischen ihnen stand - aber ansehen tat er Lycram.
"Menuét." Sie drehte sich zu ihrem König herum, der den Blick ihrer schwarzen Augen allerdings nicht erwiderte.
"Bring unseren Großkotz zum Schweigen." Kasras Worte waren kaum ausgesprochen, da schrie Lycram schon dazwischen:
"Muss der König eine Frau vorschicken?! Ist das die Ehre des Dämonenkönigs?!" Die Antwort war ein lautes Lachen und zwei rote Augen, die amüsiert wie Blitze aufleuchteten, als Kasra einen Schritt vorwärts tat:
"Ha! Überschätze dich nicht, Bengel. Die Zeit des Königs..." Oh, wie genau erinnerte Lycram sich nicht mehr an den Moment, als er den schweren Stiefel Kasras auf seinem Kopf spürte, der ihn herunterpresste, herunterdrückte in die harten, zersprungenen Fliesen.
"... ist zu kostbar, um an einem schwachen Dämon wie dir verschwendet zu werden."
... ha, aber dieser ach so schwache Dämon hatte Kasra überlebt. Er hatte diese "Ermahnung" oder den "Willkommensgruß" überstanden und er lebte, während Kasra es nicht mehr tat. Dennoch war die Erinnerung genug, um Lycram knurren zu lassen, bitter und wütend und er spürte auch wieder die Scham, die er sich damals nicht hatte wegtrinken können und die ihn auch heute noch zum Brodeln brachte.
Selbstverständlich hatte Ri-Il jeden einzelnen dieser Gedanken gehört und auch er erinnerte sich noch gut daran... immerhin war er es gewesen, der die Flammen gelöscht hatte, ehe sie den kampfunfähigen Lycram hatten verbrennen können. Er hatte den Einarmigen gestützt, welcher selbst noch halb bewusstlos Kasra Verwünschungen an den Kopf geworfen hatte - er würde es büßen. Eines Tages würde er es büßen.
Und jetzt kam Ri-Il in sein Gebiet, welches Lycram so erbittert erkämpft und so oft verteidigt hatte, und übermittelte so eine schlechte Nachricht über Kasra - obwohl sie sich doch irgendwie stillschweigend einig geworden waren, nie wieder über ihn zu sprechen. Kein Wunder, dass Lycram Ri-Il so böse anfunkelte.
"Wie kommst du darauf, dass der Kerl noch lebt?", fragte Lycram mit schneidender Stimme. Sein Gesicht war immer noch fahl und er warf einen kurzen Blick zu seiner Alkoholsammlung, als bräuchte er jetzt etwas sehr, sehr Starkes, aber er blieb steif vor Ri-Il stehen, der immer noch am Fenster lehnte, wo der rote Himmel zu sehen war - und fern am Horizont der Turm von Lerenien-Sei.
"Du machst dich damit wieder ziemlich unbeliebt, das ist dir klar, oder? Nicht nur bei mir, sondern auch bei jedem anderen, der das hören sollte."
"Ich spreche aber nicht mit jedem darüber, sondern mit dir." Lycram schwieg - ernst, aber auch ein wenig überrascht. Damals, als sie ihre erste Allianz gegründet hatten, hatte Lycram den Fürsten-Titel erst frisch getragen und die Allianz war... nun, im Rückspiegel betrachtet wusste Lycram sehr wohl, dass er und seine damals noch ziemlich mickrige Horde - im Vergleich zu heute - mehr ein Back-Up gewesen war für Ri-Il. Und jetzt konsultierte er ihn als erstes.
Ha, Lycram brachte dies trotz des ernsten Themas fast zu einem Grinsen - was für eine Ehre!
"Wenn er noch leben würde..." Lycram warf sich in einen schwarzen Sessel und deutete mit einer Handbewegung auf den neben sich, eine Aufforderung, der Ri-Il Folge leistete und galant das eine Bein über das andere schlug.
"... dann wäre er hier und wir würden nicht mehr leben. Er wäre in Lerenien-Sei und seine Speichellecker würden aufhören zu heulen. Aber sie heulen noch. Wie lange ist der Kerl tot? Zwanzig Jahre?"
"48, Lyci!" Natürlich wusste Ri-Il es genau, pfft, natürlich!
"Ach keine Ahnung, der verdammte Bannkreis hat mein Zeitgefühl kaputt gemacht!"
"Nicht nur deins." Aber Ri-Ils natürlich nicht.
"Gut... aber du stimmst mir jawohl zu, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass er 48 Jahre lang nichts tut, während so ein Schwachkopf wie Lerou regiert, oder?" Lerou mochte ein Schwachkopf sein, aber er war ihm allemal lieber als Kasra - und das sahen zum Glück die meisten so. Wirklich! Ri-Il sollte seine Gedanken nicht in Umlauf bringen, sowas wollte doch niemand hören! Die ganze Dämonenwelt würde panisch werden! Und das wo sie sich gerade so über den zerstörten Bannkreis freuten! So viele Wächter zum Bekämpfen! Und Ri-Il verteilte so schlechte Nachrichten! Was sollte denn das?!
"Ja, das ist es. Aber es ist ebenso unwahrscheinlich, dass Lerou Kasra in einem Kampf besiegen konnte... einen Kampf, den niemand gesehen hat. Irgendetwas ist damals, nachdem Kasra gegen White und Shaginai gekämpft hat, passiert und ich möchte wissen was."
"Das ist so lange her, wen interessiert das noch!?" Offensichtlich Ri-Il, der Lycram recht ernst ansah, obwohl er seine Augen wie ein ruhender Fuchs geschlossen hatte.
"Wirklich?! Oh Mann, Ri-Il, ernsthaft?! Warum jetzt?! 48 Jahre lang haben wir nicht über Kasra gesprochen - warum es jetzt tun?!" Nur weil sie nicht über ihn gesprochen hatten, bedeutete das nicht, dass Ri-Il nicht stets nachgeforscht hatte... für ihn war der Name "Kasra" nie von der Bildfläche verschwunden.
"Weil sich eine Schachfigur in Bewegung gesetzt hat, die 48 Jahre lang überhaupt keinen Zug genommen hat. Eine weitere Schachfigur ist wieder auf dem Spielbrett aufgetaucht, die ebenfalls angeblich tot war und eine gänzlich neue ist dazu gekommen, deren Reichweite unkalkulierbar ist." Lycram kniff die Augen zusammen und lehnte sich etwas vor, aber auch dies half ihm nicht dabei Sinn aus Ri-Ils Worten zu entnehmen. Was... wovon sprach er?
"Also... die Schachfigur, die angeblich tot war, ist wahrscheinlich Nocturn..."
"Erkannt."
"Und die anderen beiden...?" Ri-Il tat ihm diesen Gefallen nicht: er amüsierte sich zu sehr darüber, wie Lycram sich darüber den Kopf zerbrach und wechselte das Thema.
"Noch weiß ich nichts Konkretes, Lycilein, aber du wirst der erste sein, dem ich die Neuigkeiten überbringen werde." Ri-Il erhob sich plötzlich mit einem Schwung und sofort sprang Lycram überrascht aus seinen Gedanken empor.
"Und dafür musst du nicht einmal deinen Kommandeur verkaufen", fügte Ri-Il mit einem Zwinkern hinzu; den kleinen Seitenwink auf Lycrams und Lacrimosas Übereinkunft konnte er dann doch nicht lassen... Lycram stand Röte zu gut!
"Nebenbei gesagt ehren mich deine Bemühungen, Lycilein! Aber du hättest mich doch einfach fragen können, ob ich hinter der Kriegserklärung stecke?" Lycram schoss empor wie ein Pfeil:
"Und tust du es denn?!"
"Nein, ich habe gar nichts mit ihr zu tun!" Ri-Il lachte noch einmal, als er sogar sah, wie Lycrams Ohren rot wurden... ahja, es war eine gute Idee heute dieses Gebiet zu besuchen.
"Ich möchte dich aber um einen Gefallen im Gegenzug bitten, Lyci!", begann Ri-Il, während er durch den Raum zur Tür ging.
"Ha! Ich wusste, dass man bei dir nichts umsonst kriegt!"
"Es ist etwas, was nur du tun kannst!"
"Ja ja, nun spucks schon aus!" Ri-Il drehte sich herum, ging aber rückwärts weiter.
"Bring mir Suren. Du bist der einzige, der ihn finden kann - ich möchte, dass du es tust, ehe die andere Schachfigur ihn findet."
"Huh?! Suren?! Weißt du eigentlich wie lange ich ihn nicht mehr gesehen habe?! Der könnte tot sein, der Idiot! Als Kasras ehemaliger oberster Kommandeur kann er sich doch gar nicht mehr nach Lerenien-Sei wagen ohne eine Abreibung zu erhalten!"
"Aber du wirst es dennoch schaffen, ich vertraue dir da voll und gaaaanz!" Und dann war Ri-Il schon aus der Tür verschwunden... aber noch hatte er das Gebiet nicht verlassen, das spürte Lycram. Ri-Il war noch draußen im Gang; ging durch das Schloss, als gehöre es ihm, anstatt sich einfach zu teleportieren - eine komische, eigenartige, nervige Angewohnheit von ihm, die Lycram schon kannte. Als wollte Lycram ihn eigenhändig rauswerfen, rannte er zu der Tür, durch die Ri-Il gerade hindurch gegangen war, schlug diese auf und sah die orangenen Zöpfe tatsächlich noch am Ende des Ganges.
"Ri-Il!" Sein Nachbar drehte sich herum.
"Lebt der Halbdämon nicht mehr?" Anders als Lycram schrie Ri-Il nicht. Seine Antwort war leise.
"Wieso?"
"Weil du wirkst, als wäre jemand gestorben." Ri-Il antwortete nicht. Aber Lycram sah von Weitem, dass seine Augen sich geöffnet hatten.
"Lust auf einen Drink?"
Während Blue und Feullé einkaufen gewesen waren, hatten Nocturn und Youma eigentlich in Lacrimosas Gebiet trainieren wollen. Aber da Youma vergessen hatte, dass sie dort nicht mehr trainieren durften, wurden sie beide hochkant wieder herausgeworfen - aber erst nachdem Lacrimosa Nocturn es ebenfalls noch einmal erklärt hatte, wobei sie keine Sekunde ausließ Youma einen finsteren Blick zuzuwerfen, während Nocturn nur sein geliebtes Eis aß... was ihre Laune etwas besserte - immerhin hatte sie sich große Sorgen darüber gemacht, dass Nocturn nichts zu sich nahm - aber das änderte nichts daran, dass sie Nocturn und Youma wieder nach Paris zurückschickte.
"Hm... jetzt sind wir dazu gezwungen einen anderen Ort zum Trainieren zu finden...", grummelte Youma, als sie wieder vor ihrem Hochhaus landeten und die viel befahrene Straße überquerten. Nocturn hatte leider zu Youmas Überlegungen nicht viel beizutragen. Das Einzige, was er zu dem Treffen mit Lacrimosa sagte, war, dass er sein Eis zu schnell gegessen und jetzt Kopfschmerzen hatte; das Eis sei schmackhaft gewesen, aber es war tödlich für die Zähne eine so kalte Nahrung aufzunehmen, wenn es ohnehin kalt war - wie hielten die dort lebenden Frauen das nur auf die Dauer aus?!
"Sie sind nicht so empfindlich wie du", urteilte Youma, als sie nach Nocturns französischem Abendplausch mit der Rezeptionistin in den Fahrstuhl stiegen, wobei Youma ihren komischen Blick was seine Anwesenheit anbelangte ignorierte, genauso wie er wählte, sich nicht danach zu erkundigen, was Nocturn wieder mit ihr zu besprechen gehabt hatte. Stattdessen warf Youma einen Blick zu seinem Partner, welcher eine jammernde Miene machte, während er sich die linke Seite seines Kiefer rieb und über seine Zähne jammerte.
"Warum hast du eigentlich keine spitzen Eckzähne so wie ich und die anderen Dämonen? Ist das bei deiner Rasse normal?" Nocturn hörte nicht auf seine Wange zu reiben, aber Youma bemerkte überrascht, dass seine Haltung abweisender wurde; auch seine Tonlage, die eben noch einer jammernden Kinderstimme glich, veränderte sich schlagartig, als er Youma antwortete:
"Keine Ahnung, warum das so ist." Youma wählte es, seine offensichtliche Körpersprache zu ignorieren und setzte das Gespräch dem ungeachtet fort, nun neugierig:
"Welcher Rasse gehörst du eigentlich an?" Jetzt hörte Nocturn auf, sich die Wange zu reiben und seine sonst so feurigen Augen waren kalt, als er Youma fixierte:
"Unwichtig."
"Soll das etwa heißen, dass du es nicht weißt?", bohrte der Halbdämon weiter nach. Wie konnte man nur so etwas Wichtiges über sich selbst nicht wissen?
"Genau das soll es heißen." Der Fahrstuhl verlangsamte das Tempo und das Ziffernblatt für die 61. Etage leuchtete auf.
"Haben deine Eltern es dir denn nie gesagt? Welcher Rasse gehörten sie denn..."
"Jetzt hörst du mir mal zu", unterbrach Nocturn Youma mit einem eiskalten, schneidenden Unterton, gerade als die Fahrstuhltüren sich öffneten:
"Wenn du, wie du es so schön nennst, eine "florierende Partnerschaft" erlangen willst, dann wirst du solche Fragen nie wieder stellen. Ich frage nicht, welche Leichen in deinem Keller sind und du nicht nach meinen, verstanden?" Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ Nocturn den Fahrstuhl und steuerte auf das Appartement mit der Nummer 667 zu, dicht gefolgt von Youma, für den das Thema allerdings noch nicht abgeschlossen war:
"Woher willst du wissen, ob ich "Leichen im Keller" habe, wenn du meine Gedanken nicht lesen kannst?" Nocturn wandte sich halb herum, sah ihn von der Seite her mit einem undefinierbaren, erkalteten Blick an, ehe er langsam als wäre jedes Wort wohlüberlegt antwortete:
"In deinem Fall muss ich keine Gedanken lesen können. Wer jede Nacht schreiend aufwacht und erst eine halbe Stunde herumgeht, ehe er sich wieder schlafen legt, hat definitiv ein paar mehr Leichen im Keller."
Youma antwortete nicht; denn das verschlug ihm tatsächlich die Sprache.
Auch als Nocturns Stimme sofort eine 180°-Drehung machte, nachdem er die Haustür geöffnet hatte und Feullé begrüßte, war Youma nicht imstande sich dem anzupassen, obwohl er ihm mechanisch hinterher ging. Wie Nocturn das mitbekommen hatte war klar, aber wie viel wusste er schon? Hatte Youma womöglich Wörter gesagt, Namen gerufen? Wenn Nocturn nur einmal Lights Namen in Verbindung mit Youma hören würde, wäre seine Identität verraten... aber nur dann wenn Nocturn sich für die Geschichte der Wächter interessierte und das vermaledeite Buch dieses verfluchten Forschers, dem Silence sich anvertraut hatte, hatte er wohl kaum gelesen; er interessierte sich ja nicht einmal für seine eigene Rasse, warum sollte er sich für die Wurzeln der Wächter interessieren? Gut, bei ihm konnte man nie wissen; sein Denken war immerhin nicht von Logik regiert, es war also vergebene Liebesmüh, diese bei ihm anwenden zu wollen...
Youma war so in Gedanken versunken, dass er Blues Anwesenheit gar nicht bemerkte und das morgendliche Thema und die Übereinkunft zwischen Youma und Nocturn hatte er auch nicht mehr im Hinterkopf; die Übereinkunft, dass Blue sich ihnen anschließen durfte unter der Bedingung, dass Nocturn Youma helfen würde, anstatt ihm bei jeder Gelegenheit ein Bein zu stellen, so wie solche Aktionen beim Hofe. Das war einfach nur... Urgh, nein, nicht darüber nachdenken.
Aber Nocturn achtete ohnehin nicht auf Youma; nachdem er Feullé begrüßt und gemeint hatte, dass das bereits am Kochen seiende Abendessen in der sauberen Küche mit gedeckter Theke vorzüglich roch, widmete er sich Blue, welcher aufgestanden war, nachdem Nocturn und Youma hereingekommen waren. Während Feullé in der Küche hantiert hatte, hatte er ihr beim Kochen geholfen, denn er hatte es natürlich nicht gewagt, sich eines von Nocturns Büchern zu nehmen - sowieso glaubte er nicht, dass sie denselben Geschmack besaßen. Blue hatte keine Vorliebe für Dramen; sowieso las er sehr wenig Prosa.
"Und, Blue? Bist du zu einem Entschluss gekommen?" Nocturn war ganz offensichtlich sehr neugierig und gespannt auf eine Antwort, denn er ging sofort auf Blue zu und einen Moment lang fürchtete er fast, dass Nocturn seine Hände nehmen würde, aber das tat er dann doch nicht.
"Ich stimme zu."
"Haha! Ich wusste es!", erwiderte Nocturn die dünnen Hände erfreut zusammenschlagend und einen triumphierenden Blick zu Youma werfend, welcher ihn allerdings immer noch nicht zu hören schien; erst bei Blues nächsten Worten horchte er auf:
"Aber ich habe eine Bedingung."
"Eine Bedingung?", fragte Nocturn offensichtlich verwirrt, was Youma nicht war, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde und die gleiche Frage wiederholte; allerdings mit spöttischem Unterton:
"Eine Bedingung? Du glaubst wirklich, dass du dich in der Position befindest, Bedingungen stellen zu dürfen?" Die beiden Halbdämonen sahen sich nur einen kurzen Augenblick an, dann sah Blue wieder zu Nocturn, der ihn nach wie vor einfach nur aufmerksam musterte, auf eine Erklärung wartend.
"Ich nehme an, dass Ri-Il zu besiegen ein Teil eurer Pläne ist, denn nur indem ihr ihn besiegt, ist eine unabhängige Machterlangung in der Dämonenwelt möglich." Youma schnaubte verächtlich, während Nocturn ihm da ohne Hemmungen recht gab und ihn fortfahren ließ, sich die Richtung bereits denken könnend:
"Sollte es soweit kommen, dann lautet meine Bedingung, dass meinem Bruder dabei nichts geschieht."
"Natürlich." Youmas abwehrende Haltung fiel sofort in sich zusammen, als er Nocturn anfuhr:
""Natürlich"?! Wie kannst du diesem Wicht das so einfach zusichern?!"
"Wieso? Hast du etwas gegen das Überleben eines einzigen Dämons? Hast du etwa für jeden einzelnen Dämon einen Plan?"
"Darum geht es doch gar nicht! Du kannst doch nicht so einfach..."
"D-Das...Essen ist fertig..." Youma war zu fahrig, um Feullés gestammelte Worte zu bemerken und Blue folgte dem Gespräch zu aufmerksam, um es zu tun; aber Nocturn schien die kleine Mädchenstimme eher zu hören als Youmas Wut, die sich nicht gerade dadurch beruhigte, dass der Flötenspieler aufsprang und prompt das Thema wechselte:
"Jetzt musst du aber erst einmal Feullés Essen probieren; zu Tisch!"
"Ich war noch überhaupt nicht fertig mit dir, Nocturn!"
Aber Feullés Essen würde kalt werden, denn sie erhielten Besuch - und zwar von Lacrimosa, inklusive Gefolgschaft.
"Ah, wie gut das riecht! Da kommen wir ja gerade..." Und dann entdeckte sie Blue.
Ja, Paris war eine interessante Stadt - obwohl Blue und sein kleiner Bruder unterschiedliche Dinge wertgeschätzt hatten. Silver hatte sich in den belebten Boulevards austoben wollen und während Blue die Gravuren des Triumphbogens studierte, war Silver schon längst auf der Champs-Élysées verlorengegangen - heutzutage würde er wahrscheinlich Pigalle, das Freudenviertel, unruhig machen.
Die einzige Touristenattraktion, die Blue jedoch im Moment erahnen konnte, war die entfernte Spitze des Eiffelturmes, die hinter den weißgrauen Häuserfassaden immer wieder hervorlugte; die aus hellen Ziegelsteinen gebauten Häuser, bestehend aus acht Etagen, den vielen hohen Fenstern mit kleinen schwarzgeschnörkelten Blumenkästen versehen und den dazu passenden, eng an der Hauswand anliegenden Balkonen. Die Dächer eher flach, aber dafür mit Hunderten von kleinen Schornsteinen gesprenkelt, mit schiefen Dachfenstern und egal von welchem dieser vielen Aussichtspunkte man über die Stadt hinweg sah, so konnte man von überall das Wahrzeichen der Stadt sehen; außer man blickte nach Nordwesten, wo sich der Montmartre mit seiner "Zuckerspitze", dem runden Kirchturm der weißen Sacré-Cœur-Kirche, befand.
Unter Blues Füßen spürte er deutlich die Metro entlangbrettern, während er in Begleitung von Feullé unter den hohen Bäumen auf dem breiten Bürgersteig eines belebten Boulevards entlangging. Langsam... denn er war noch nicht ganz sicher auf den Beinen. Der Halbdämon wusste nicht wo er war, aber von der Touristenanzahl ausgehend, urteilte er, dass er sich im Zentrum befand. Es war sein Wunsch gewesen, rauszukommen; frische Luft zu schnappen und seine Beine wieder an das Gehen zu gewöhnen.
Eigentlich hatte Blue das alleine tun wollen. Doch kaum war er auf die Wohnungstür zugesteuert, war Feullé aufgesprungen und hatte schon, ausgerüstet mit einem kleinen, roten Lederportemonnaie, stotternd verkündet, dass sie, wenn er nichts dagegen hatte, gerne mitkommen würde, denn sie müsse ohnehin noch einkaufen. Es war drei Uhr, wie Blue an der roten Uhr der Mikrowelle feststellen konnte, die sonnendurchflutete Wohnung war leer gewesen, bis auf Feullé... Nocturn und Youma nicht da. Ob Feullé den Auftrag bekommen hatte, auf Blue aufzupassen? Ihn zu beobachten? Wollte sie deswegen mit ihm gehen?
Aber als er nun neben ihr ging... hatte er nicht das Gefühl, dass es so war. Eigentlich sollte er wohl auch dankbar sein für ihre Anwesenheit, denn Blue hätte sich in dieser großen Stadt sicherlich nicht zurechtgefunden, obwohl er sie schon zwei Mal besucht hatte. Feullé hatte ihn gleich mit in die vollgestopfte, eher schlecht als recht klimatisierte Metro genommen, die sie immer zu benutzen schien anstatt sich zu teleportieren. Sie hatte ja auch eine Monatskarte für die Metro, erklärte sie, und benutze diese gerne. Für Blue würde sie gerne bezahlen, bis er selbst eine Monatskarte bekam!
Ah ja... er sollte eine Monatskarte bekommen... ah...ja... was? Wozu? Wozu diese Geldausgabe, wenn er sich doch teleportieren konnte, wenn er die Stadt näher kennenlernte?
"U-Unsere Metrostation ist Bir Hakeim, dargestellt durch die türkise Linie. Die Linie 6. Sie können sie kaum verpassen, sie... liegt nämlich direkt am Tour Eiffel."
"Du kannst mich duzen." Feullé blieb verwundert in der Nähe eines plätschernden Springbrunnens stehen, wo sich einige Menschen am Rand ausruhten und die Sonne genossen. Blue beobachtete die Menschen aus den Augenwinkeln, ebenso wie er Feullé ansah - so viele Menschen war er gar nicht mehr gewohnt. Es waren weniger als in Tokio... aber Tokio war auch schon lange her.
"Ist das denn... angebracht?"
"Bist du nicht älter als ich?" Doch obwohl Blue von so vielen sich hastig bewegenden Menschen umgeben war und auch sehr viele Geräusche auf ihn einschlugen, so bekam er nicht wieder Kopfschmerzen und hinsetzen musste er sich auch nicht - er verbuchte das als gutes Zeichen. Feullé allerdings antwortete nicht, als würde die Antwort sie verwirren, weshalb Blue fragte, wie alt sie denn sei.
"Ich bin 26."
"Dann bist du älter als ich, also... brauchst du mich nicht so förmlich anzusprechen." Feullé nickte, aber sie war immer noch verunsichert. Wegen ihm... oder war sie das einfach?
Sie schwiegen wieder und Blue widmete sich seinen Gedanken, während Feullé einige Schritte weiter in einen Supermarkt huschte - er dagegen... er blieb draußen und widmete sich seinen Gedanken. Er sollte also eine Monatskarte bekommen... und so wie Feullé sprach klang es nicht so, als betrachte sie ihn als einen Touristen, jemanden, der die Stadt nur kurz besuchte und dann wieder ging - sie schien davon auszugehen, dass er blieb.
Der Grund, weshalb sie das tat, war eigentlich irrelevant - viel wichtiger war... wovon er ausging. Würde er bleiben? Blue wusste es nicht. Viel zu viele Gedanken kreisten und schwirrten in seinem Kopf herum... eigentlich wollte er zu Silver; mit ihm besprechen, was er letzte Nacht gehört hatte, obwohl Silver ihm sicherlich nicht mehr Klarheit geben konnte. Aber konnte Blue sich einfach in Ri-Ils Gebiet teleportieren?
Ha... Blue lachte sich beinahe selbst aus, während er den Kopf in den Nacken legte, wo der kühle Schatten eines Baumes sein Gesicht kühlte... auf was für Gedanken er da kam. Natürlich konnte er das nicht. Egal welche Antwort er Nocturn geben würde, er gehörte nicht mehr in Ri-Ils Gebiet, gehörte nicht mehr dazu... und so gerne er auch in diesem Moment mit Silver sprechen wollte... Blue öffnete die Augen und sah in den klaren blauen Oktoberhimmel empor... das war eine ziemliche Erleichterung.
Genau wie Nocturn es gesagt hatte.
"Wenn du dich mir anschließen würdest, gehörst du definitiv nicht mehr zu Ri-Ils Gebiet - und das alleine ist doch schon ein Vorteil, nicht wahr?" Nach dem Dinieren... die Erinnerung war ein wenig schummrig, aber Blue erinnerte sich daran, dass sie nach dem Essen in einem Park gewesen waren, in der Nähe des Eiffelturmes. Nocturn hatte sie dorthin teleportiert, um dort ihr Gespräch fortzusetzen. Er hatte es nicht im Restaurant führen wollen und Blue müsste seine Beine bewegen... das tat er auch, wenn auch etwas schwerfällig. Sie gingen langsam einen nach unten fallenden Sandweg hinab, mit dunklen Bäumen auf der linken Seite und einem gigantischen Wasserbecken rechts von Blue, welches bis zur Brücke herunterreichte, die direkt zum Fuß des Eiffelturms führte, der sich golden vor ihm emporstreckte und sich strahlend vor dem schwarzen Himmel abhob. Einige Menschen waren trotz der späten Uhrzeit noch unterwegs, machten Fotos, saßen zusammen... aber sie achteten nicht auf die beiden Dämonen, genauso wenig wie Nocturn auf sie achtete. Blue war ebenfalls eher halbherzig in seiner Beobachtung der Umwelt: er konzentrierte sich mehr auf Nocturn.
"Ich werde dir eine ganz neue Zukunftsaussicht geben!", sprach Nocturn, der natürlich einige Schritte weiter vorne ging, denn er wurde ja nicht von seinem Körper gelähmt. Er streckte die Hände aus, während er dies sagte, wie um seine Worte feierlich zu untermauern.
"Ich benötige keine... Zukunftsaussicht." Blue meinte, Nocturn seufzen zu hören.
"Aber nein, natürlich nicht. Du willst sterben, das weiß ich!"
"Das habe ich nicht gesagt..." Nocturn überhörte ihn:
"Dein ganzes Sein verlangt förmlich danach..." Das stimmte nicht... Er durfte nicht... er konnte nicht... natürlich wollte er nicht! Er hatte es Silver...
"... und das einzige, was dich aufhält, diesem dringenden Wunsch nachzugeben, ist dein Bruder." Blue fühlte sich in seinen Gedanken ertappt und fragte sich, ob er seine Gedanken - wo er eben Silvers inständigen Blick gesehen hatte - wirklich nicht lesen konnte.
"Du bist so ein guter, großer Bruder und willst ihn nicht alleine lassen, nicht wahr? Deine Mutter hat dir zu viel Verantwortung aufgebürdet, mein Junge. Du machst dein Leben und sogar deinen Tod von deinem Bruder abhängig! Dabei ist der Tod doch die höchste Befreiung, die schönste Erlösung." Nocturn drehte sich herum, ging rückwärts weiter und fixierte Blue fest:
"Aber nehmen wir mal an, es gäbe ihn gar nicht - meiner Treu, guck mich nicht so böse an, das ist gewiss keine Drohung! - für was würdest du dann leben?"
"Worauf... wollen Sie hinaus?" Nocturn schloss die Augen wieder und lächelte:
"Lass uns mit offenen Karten spielen, Blue. Das macht das Ganze einfacher... und ich bin ohnehin kein Dämon, der besonders große Freude dabei empfindet zu lügen, ich werde daher ehrlich mit dir sein." Er öffnete die Augen wieder und das Rot dieser schmalen Augen leuchtete in der Dunkelheit wie ein leise loderndes Feuer.
"Ich weiß, dass du nach Green verlangst." Blue hatte nicht die Gelegenheit auf diese Worte zu reagieren, denn schon fuhr Nocturn fort, ohne auf den schockierten Blick des Halbdämons zu achten, der es nicht gewohnt war, diese Worte ausgesprochen zu hören.
"Und ich weiß noch mehr! Ich weiß von euren gemeinsamen Schultagen. Ich weiß von den langsam aufkeimenden Gefühlen, die so gar nicht zum Auftrag passen wollten. Ich weiß von eurer kleinen Rettungsaktion ins Jenseits - ganz nebenbei, meine Hochachtung! - ich weiß von Silvers kläglichem Versuch alles zu stoppen, weil er glaubte, euch alle drei retten zu können. Ich weiß auch alles von dem Moment, wo du ihr Glöckchen zerstört hast; ihre Folter, der Tod von Whites Sohnemann... und, oh ich weiß auch, wie Silver dich und Green erwischt hat, als du das erste Mal die Lippen deiner Hikari mit deinen berührt hast! Er war eifersüchtig, aber viel eher verletzt und besorgt. Aber was erzähle ich dir das. Das weißt du ja bereits!" Er legte eine kleine, aber schreckliche Pause ein und wenn es möglich war, dann war Blue sich sicher, dass das Leuchten in Nocturns Augen intensiver wurde, als er fortfuhr:
"Sag, Blue, wie hat es sich angefühlt, als du ihre Lippen das erste Mal mit deinen berührt hast? Die Lippen einer Hikari? Weißt du es nicht mehr? Ja, es ist ja auch lange her, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass du es noch weißt. So etwas vergisst man nicht; ich weiß, wovon ich spreche - und weißt du, was ich ebenfalls sehr gut nachvollziehen kann? Die Wut, die du gespürt hast, als dieser Kaze deine Green aufgefangen hat. Und jetzt sind sie auch noch verlobt. Ja, du meine Güte, es ist ja fast so, als würde sich alles noch einmal wiederholen!" Leise lachend ging Nocturn weiter, tänzelte förmlich über den Boden; ganz offensichtlich gut gelaunt. Blue dagegen war entgeistert. Er verstand nicht, wozu dieses Thema... angeschnitten wurde, weshalb sie darüber sprachen, über diese Dinge, die nicht ausgesprochen gehörten.
"Es wird sich nicht wiederholen", entgegnete Blue und obwohl seine Stimme immer noch von Schwäche gezeichnet war, lag eine Gewissheit in den Worten, die deutlich machte, dass Blue wusste, dass es sich nicht wiederholen würde. Deutlich hatte er noch Greens Erzählung im Kopf, was Nocturn alles getan hatte, um auch nur die kleinste Aufmerksamkeit Whites zu erhaschen, weshalb er nun auch noch hinzufügte:
"Ich würde ihren Verlobten niemals umbringen." Nocturn blieb dieser indirekte Fauxpass natürlich nicht unbemerkt, doch es brachte ihn gewiss nicht aus der Ruhe und anstatt, dass Blue dafür gesorgt hatte, dass das widerlich überzeugte Lächeln aus dem Gesicht seines Gegenübers verschwand, wurde es sogar noch breiter:
"Als nächstes wirst du mir wahrscheinlich sagen, dass dein Glück das ihre ist. Hm, ich kann mich täuschen, aber ich glaube, es hat sie nicht sonderlich glücklich gemacht, als du ihren Bruder getötet hast." Sofort wurde das Gesicht Blues starr und für einen kurzen Moment huschte stille Verzweiflung über seine Gesichtszüge, als er wieder daran erinnert wurde.
"Und wenn ihr Glück dich glücklich machen würde, würdest du dich wohl kaum am liebsten tot sein", fuhr Nocturn ungehindert fort, dabei ein wenig gelangweilt klingend als wären das Themen, die er schon viel zu oft besprochen hatte.
"Ich... bin nicht wie Sie", erwiderte Blue, doch seine Stimme hatte an Gewissheit verloren, was nicht nur er selbst bemerkte.
"Nein, gewiss, aber du spielst dieselbe Rolle in dem gleichen Stück. Du spielst sie nur anders. Eine eigene Interpretation. Oder war das etwa keine Eifersucht, die du gespürt hast, als du die beiden damals in Tokio zusammen gesehen hast? Wie er sie angeguckt hat, wie sie seinen Blick erwidert hat und die Gewissheit, dass er viel besser für sie geeignet wäre als du? Und dass sie sogar hervorragend zusammenpassen würden, so ein fleißiger, strebsamer Wächter, der immer nur das beste für sie gewollt hat.... anders als du?"
"Ich wollte auch immer das beste für sie..." Nocturn lächelte mitleidig, aber mit hochgezogenen Augenbrauen und Blue wusste selbst, dass er sich diese Worte nicht sonderlich verdient gemacht hatte.
"Also ist Green der Grund..." Blue musste sich zusammennehmen, aber er hatte das Gefühl, dass es ihm die Kehle zuschnürte, wenn er ihren Namen in den Mund nahm:
"... weshalb ich hier bin und weshalb Sie wollen, dass ich bleibe?" Nocturn blieb stehen, aber er lächelte immer noch.
"Es wäre für dich doch auch nur zum Vorteil, nicht? Du würdest aus der unmittelbaren Gefahrenzone der Hohen herauskommen und müsstest nicht mehr fürchten, getötet zu werden, nur weil du nach einer Hikari verlangst. Nicht mehr konstant Ri-Ils Blicken ausgesetzt zu sein ist ja an sich schon ein Vorteil, wie wir ja bereits festgestellt haben." Ja, das hatten sie, auch wenn Blue es nicht ausgesprochen hatte, aber sein Blick war Antwort genug - ja, sie wussten beide, dass das an sich schon Grund genug war für Blue.
"Dann gibt es natürlich noch eine weitere Sache, die es zu bedenken gibt... und zwar unseren Griesgram von einem Prinzen. Du hast es ja bei dem herrlichen dämonischen Abendmahl mitbekommen, dass er vorhat, der König der Hölle zu werden. Dinge werden sich verändern..." Nocturn sah in den Himmel empor mit einem ernsten Blick. Lächeln tat er jedoch immer noch.
"Ja, ich habe das Gefühl, dass wir uns in einer sehr interessanten Zeitperiode befinden, wo viele Dinge im Begriff sind sich zu verändern. Wer weiß, wo uns diese Veränderungen hinführen werden, wenn wir sie packen und eine Revolution beginnen. Wer weiß!" Mit einem ruckartigen Schwung senkte Nocturn wieder grinsend den Kopf und seine wilden Locken wirbelten um ihn herum:
"Vielleicht kannst du ja von hier aus an einer Weltordnung mitarbeiten, in der du, Green und dein Bruder wieder eine gemeinsame Zukunftsaussicht habt?" Nocturns entschlossenes Lächeln war genauso glühend wie seine Augen - aber Blue konnte sich dieser Euphorie nicht anschließen. Er spürte einen Knoten in sich.
"Ich halte das für unrealistisch...", flüstere Blue und wandte den Blick ab, aber als Nocturn einen Schritt auf ihn zuging, hob er den Kopf wieder in dem Moment, wo Nocturn genau vor ihm stand.
"Aber, Blue... ist Green nicht das Licht der Hoffnung?" Blue blinzelte einen kühlen Windhauch auf dem Gesicht spürend.
"Ist es denn nicht an der Zeit... wieder zu hoffen?"
Hartnäckig kreisten die Worte Nocturns endlos in Blues Kopf. Er hatte sich bei Nocturn für seine Hilfe bedankt; hatte sich auch für seinen Vorschlag bedankt... aus Höflichkeit, aus wachsamer, kalter Höflichkeit heraus, aber auch betont, dass er ihm noch keine Antwort geben konnte und wollte. Er wollte mit Silver darüber reden.
"Das habe ich mir schon gedacht", hatte Nocturn geantwortet:
"Aber das Angebot gilt nur für dich." Lachend hatte der Flötenspieler hinzugefügt, dass er nur noch ein Zimmer freihatte und er würde keine "unmenschliche Unbequemlichkeit" zulassen und zwei Personen in einem so kleinen Zimmer schlafen lassen; wo kamen sie denn da hin... Aber das war sicherlich nur so dahingesagt: es war deutlich, dass Nocturn sich absolut nicht für Silver interessierte. Sein Name fiel ja kaum... war es wirklich nur wegen Green und Blues... Verbindung zu ihr? Oder war es die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem Vater, dessen Aussehen nun einmal nur er geerbt hatte?
Blue wusste zu wenig über Nocturn, um das beurteilen zu können. Er wusste auch zu wenig über ihn, um seine Worte einschätzen zu können. Waren sie Lüge oder Wahrheit? Das einzige, was Blue eigentlich konkret über Nocturn wusste, war das, was er White im Namen seines Verlangens angetan hatte... und er hatte ein eindeutiges Interesse an Green und allem, was mit ihr im Zusammenhang stand.
Blue wollte sich nicht vorstellen, was Nocturn sich bereits für Green ausgedacht hatte. Dass er bereits jetzt, so relativ kurz nach seiner Wiederbelebung so ein deutliches Interesse an Green hatte, war überaus beunruhigend. Es gab eindeutig zu viele, die ein eher beunruhigendes Interesse an Green hatten. Blue hatte geglaubt, dass es ihm möglich sei, von Innen heraus Green irgendwie vor diesen Interessen zu bewahren, aber vielleicht hatte Nocturn recht und es war tatsächlich besser, sich aus der Schusslinie der Hohen zurückzuziehen und wenn er gleichzeitig auch Nocturn von seinen Plänen, was Green anging, abbringen konnte...
Aber ob Nocturn ihn nicht einfach nur anlog? Und was war mit Silver? Er war wahrscheinlich tatsächlich sicherer ohne ihn in der Dämonenwelt, aber... Blue wollte ihn nicht bei Ri-Il alleine lassen. Das ging nicht; das war viel zu gefährlich. Sein Bruder war viel zu gut darin, Fehler zu machen.
Und ja... dann war da noch der von Nocturn so genannte "politische Aspekt". Blue wollte ihn lieber eine Utopie nennen - und mit diesen hatte er Erfahrung. Er war bereits einmal auf eine solche Vorstellung reingefallen... hatte sich diesem Wunschdenken hingegeben... andere in den Abgrund gerissen...
Blues Beine hatten ihr Limit erreicht und ihn dazu gezwungen, sich zu setzen; Feullés Vorschlag, dass sie sich doch einfach in eines der zahlreichen Cafés setzen konnten, lehnte Blue höflich, aber entschieden ab und ließ sich stattdessen auf dem Rand eines Springbrunnens nieder, wo er sofort von griesgrämig dreinguckende Touristen stumm dazu aufgefordert wurde, sich doch bitte einen anderen, weniger störenden Sitzplatz zu suchen.
Von dem Gescheuche genervt, ließ sich Blue dann endlich auf einer Bank in der Nähe des Springbrunnens nieder, genau wie Feullé, die ihn musterte, ihn aber in seinen Gedanken nicht störte.
Irgendwie war das Plätschern des Wassers und das Rauschen der vielen Menschenstimmen um ihn herum, das Gurren der Tauben und fern das aufgeregte Treiben des Verkehrs doch irgendwie beruhigend für seine Nerven und seinen Gedanken. In der Menschenwelt war so viel pulsierendes Leben; so viele verschiedene Stimmungen, Farben und Formen auf einem kleinen Ort wie diesem Platz versammelt - und die Sonne. Es war Anfang Oktober, die Blätter des weiter entfernten Parks vor dem Louvre Museum färbten sich langsam rot, braun und gelb und die Luft war angenehm kühl. Obwohl es ihm gefiel, dass es um einiges kühler war als in der Dämonenwelt, war es die Sonne, die Blue in diesem Moment am meisten schätzte. In der Dämonenwelt war es immer so dunkel und düster; nichts, was ihn normalerweise störte oder gar bedrückte, aber dieses Licht...
Blue, welcher die Augen halb geschlossen gehalten hatte und daher dösend gewirkt hatte, schlug sie nun wieder auf, entfernte seine den Kopf abstützende Faust und legte sie zusammen mit seiner linken Hand in seinen Schoß; zuerst zusammengekrampft, sich dann jedoch zur Entspannung besinnend, in den blauen, klaren, nur von ein paar Dunstwolken überzogenen Himmel hinaufsehend.
Irgendwo da oben in dem blauen Nichts lag der Tempel; von niemandem gesehen und von allen unerreichbar. Wie sehr wünschte er sich, er könnte sich nun einfach dorthin teleportieren... und doch wünschte er gleichzeitig, so weit weg wie möglich zu sein von diesem ihm verbotenen Ort.
Er hatte gesehen, was passierte, wenn er diesem Wunsch nachgab.
Es war auch gar nicht so, dass er sich wünschte, er als Person könnte in diesem Moment da sein; denn das, was Green ihm, Blue, gegenüber empfand, war nicht das, nach dem er sich jetzt sehnte. Er wollte keinen Hass sehen; keine Trauer, keine Wut - nicht einmal ihren entschlossenen Blick, bereit beim kleinsten Zucken anzugreifen.
Wie es ihr ging, wollte er sehen; er wollte diese blauen Augen, in die er sich verliebt hatte, strahlen sehen, wollte sehen, dass sie lachte, Spaß hatte; er wollte sehen, dass alles, was er tat, was er versuchte zu tun, einem solchen Resultat dienlich war - war das zu viel verlangt? Ja, das war es, denn Greens Augen strahlten nicht und wahrscheinlich war ihr auch nicht nach Lachen zumute, denn Blue konnte sich nicht vorstellen, dass sie den Tod ihres Bruders bereits verarbeitet hatte.
Ob die Beisetzung schon gewesen war?
Wenn ja, dann hoffte er aufrichtig, zwar mit schmerzendem, aber aufrichtigen Herz, dass Saiyon bereits wusste, wie man Green tröstete. Es war nicht immer ganz leicht; Green war so stur und wollte nicht weinen, obwohl sie es dringend brauchte - und jetzt wahrscheinlich dringender denn je.
Ja, hoffentlich wusste Saiyon das.
"Blue-san? K-Können Sie wieder gehen?"
"Ja, ich kann gehen."
"Was machst du Hurensohn eigentlich schon wieder hier?!" Ri-Il ließ sich von Lycrams brüsker Anrede überhaupt nicht aus der Ruhe bringen: es schien für ihn nicht einmal eine Aufforderung zu sein sich herumzudrehen, Lycram anzusehen oder von der Fensterbank herunter zu gleiten, wo er es sich richtig bequem gemacht hatte - obwohl das weder seine Fensterbank war, noch sein Fenster, sein Schloss und erst recht nicht sein Gebiet. Aber wenigstens hatte er den Anstand, sich nicht schon wieder selbst zu bedienen an Lycrams Alkoholsammlung, die sich links von ihm in großen Vitrinenschränken befand: das stärkste, was man so finden konnte, sowohl in der Menschenwelt als auch in der Dämonenwelt, aufgereiht, als wären es Trophäen. Bunte Trophäen, denn alle Flaschen waren aus einem andersfarbigen Glas und warfen dank der Beleuchtung der Vitrinen buntes Licht auf den Boden, als seien sie in einer Kirche.
"Dir auch einen guten Abend, Lyci."
"Wohl eher einen guten Morgen, beziehungsweise..." Lycram sah ihn grummelnd an, aber sein Nachbar sah immer noch aus dem Fenster, als gäbe es im Himmel irgendetwas Interessantes zu lesen.
"... einen beschissenen Morgen." Nun wandte Ri-Il sich endlich Lycram, der seinen bizarren Nachbarn stirnrunzelnd musterte, zu:
"Oh, habe ich dich geweckt? Einen über den Durst getrunken, Lyci?"
"Sagmal kannst du mit diesen absolut lächerlichen Beleidigungen nicht mal aufhören und mich ORDENTLICH beleidigen?!" Ri-Il spielte den Verwunderten und reagierte auch nicht darauf, dass Lycrams orangene Augen ihn wahrlich durchbohrten, als suche er irgendetwas:
"Was, beleidigen? Du empfindest "Lyci" als Beleidigung? Ich versichere dir, mein geschätzter Nachbar, es ist nicht meine Absicht, dich zu kränken..." Ri-Il grinste und es war nur allzu deutlich, dass er das nächste Wort sehr genoss, jede Silbe davon:
"... Lycilein!" Lycram verzog das Gesicht und hätte er nicht einen wirklich üblen Kater von der letzten Nacht, er hätte sich auf einen Kampf eingelassen - aber heute hielt er sich zurück, denn er beherrschte sein Handwerk, was das Lesen von Ri-Ils eigenartiger Körpersprache anging. Er sah ihm an, dass er nicht zum Spaß hier war und dass das Grinsen eher ein pro Forma-Grinsen war: es war nicht echt. Ri-Il war nicht hier, um ihn zu ärgern; er wollte etwas von ihm.
"Raus mit der Sprache: was willst du? Was auch immer es ist - du kannst dir sicherlich denken, dass ich scheiße drauf bin - du hast dir also einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht für irgendeins von deinen dubiosen Handelsabkommen!" Ri-Ils lange Beine rutschten von der Fensterbank herunter, als Lycram vor ihm ankam, aber er blieb am Fenster gelehnt und auch wenn er wusste, dass Lycram ihn durchschaut hatte, so lächelte er trotzdem, obwohl sie beide wussten, dass dies ein ernstes Gespräch werden würde.
"Ich bin nicht hier, weil ich mit dir verhandeln möchte."
"Ach."
"Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich auf dem Laufenden halten werde." Ri-Il hatte ihm dies vor zwei Monaten mitgeteilt: Zeit genug, in der Lycram diese Worte eigentlich hätte vergessen können - aber Lycram wusste sofort, wovon sein Nachbar sprach und sofort verdüsterte sich seine grimmige Miene etwas fragend, während Ri-Il ein wenig lächelte.
"Und du bist hier, um das zu tun?"
"In der Tat - ist das so verwunderlich? Halte ich denn nie meine Versprechen?" Der Angesprochene antwortete nicht, denn auch wenn Ri-Il seine Versprechen tatsächlich meistens einhielt, bejahte er dies nicht. Er verteilte doch keine unnötigen Komplimente!
"Es ist sogar ziemlich eigenartig, wenn ein Schlitzohr wie du jemanden umsonst "auf dem Laufenden" hält. Sowas hat den Klang von einer Allianz und du gehst eigentlich keine Allianzen ein, genauso wenig wie ich es tue. Allianzen machen keinen Spaß. Allianzen geht man nur ein, wenn es Not tut." Ri-Il antwortete nicht; aber er lächelte immer noch, Lycram das Wort überlassend.
"Das letzte Mal..."
"... und auch das erste Mal...", ergänzte Ri-Il mit einem mysteriös klingenden Singsang.
"... haben wir uns gegen Kasra zusammengetan." Ri-Il antwortete nicht. Aber er lächelte nicht länger - und seine Augen hatten sich geöffnet. Und in der Tat, Ri-Il musste Lycram ganz recht geben: Lycram war gut darin, die Körpersprache seines Erzfeindes zu lesen, denn Ri-Il musste gar nichts sagen; Lycram verstand es auch so.
"Kasra ist tot. Er ist sowas von abgekratzt."
"Niemand hat gesehen wie unser ehemaliger König gestorben ist. Es gibt keine Zeugen."
"Was nennst du ihn so?! Wir sollten überhaupt nicht von dem Kerl reden. Kasra ist Geschichte! Langweilige, abgeschlossene Geschichte, von der ich gar nichts hören will." Auch Ri-Il war gut darin, Lycrams Körpersprache zu lesen: ihm entging nicht, dass Lycram sich versteift hatte, dass er sofort blass geworden war. Er hatte dieses Gespräch schon oft in den Bars geführt, besonders in den Jahren, als Lerou gerade erst König geworden war. Aber in einer Bar, mit einem guten Getränk, konnte er es lachend beiseiteschieben in Kombination mit einer Faust in das Gesicht desjenigen, der behauptete, dass Kasra nicht tot sei. Aber er konnte nicht darüber lachen, wenn Ri-Il es sagte.
"Vielleicht ist er nicht tot."
Wenn Ri-Il es sagte, dann war es plötzlich echt.
Wenn Ri-Il einen so ernst mit seinen geöffneten, gelb leuchtenden Augen ansah, dann spürte man plötzlich wieder die Anspannung, die Kasras Aura ausgelöst hatte - die dauernde Wachsamkeit, die feste Gewissheit, dass jedes falsche Wort den Tod bedeuten konnte. Lycram war immer gut mit den "falschen Worten" gewesen. Ri-Il hatte ihm mehr als einmal davon abgeraten, unter Kasras Regime Fürst werden zu wollen. Zwar mit seinem üblichen Grinsen, mit seiner üblichen lächerlichen, guten Laune, die aber nicht ohne Grund einen Funken Ernsthaftigkeit gezeigt hatte. Doch alle Worte Ri-Ils, alle Ernsthaftigkeit hatte nichts daran geändert, dass Lycram Fürst geworden war und...
"Einen Arm und einen Finger darfst du behalten, Lycram."
... natürlich waren die falschen Worte sehr schnell gefallen.
Lycram, auf dem Boden, unfähig sich aufzurichten, mit großen, verdammt großen Schmerzen; größer als... bei so manch anderer Prügelei, die er schon hinter sich hatte, größer als die Schmerzen, die der Hikari-Junge ihn hatte spüren lassen; brennender als das Feuer der Feuerwächter. Nur noch ein Arm - und an diesem Arm war nur noch ein Finger. Was er getan hatte, um sich diese saftige Abreibung zu verdienen, wusste Lycram nicht mehr - das wusste er weder heute noch hatte er es damals gewusst. Irgendwelche Worte, die dem König der Dämonen Anlass gegeben hatten, seine ach so königliche Visage in Lycrams neuem Gebiet blicken zu lassen - vielleicht war es auch ein Willkommensgeschenk: willkommen bei den Hohen! Willkommen bei denjenigen, die als erstes vor Kasra kriechen dürfen und hinhalten müssen, wenn der König Lust auf Abwechslung hat.
"Deine Regenerationsfähigkeit ist sehr praktisch, das muss man dir und deiner Rasse lassen..." Lycram knurrte; knurrte gegen den Boden seines eigenen Audienzraums, wo die Flammen, die rings um sie in die Höhe schlugen, sich in den Fliesen des Bodens spiegelten, genau wie Lycrams bittere Augen. Er wollte den Rest seiner Hand nehmen und sie diesem verdammten Mistkerl ins Gesicht rammen!
"Ich hoffe, das ist eine Lehre für dich und dein loses Mundwerk." Gerade noch hatte der König der Dämonen mit Hohn gesprochen und man hatte ihm angehört, dass er sich an dem Spaß, den er sich selbst bereitet hatte, labte. Aber nun sprach er gelangweilt - als wäre das Spiel und die Unterhaltung bereits vorbei. Aber nein, es war nicht vorbei und nun war es Lycram, der es genoss, den etwas verwunderten Blick in Kasras dunklem Gesicht zu sehen, als der frischgebackene, neuverbrannte Fürst es schaffte, den Kopf zu heben und den König anzusehen.
Er stand gute dreizehn Meter von ihm entfernt am Ende des nun ziemlich ramponierten Saals, entspannt, angeberisch an den Thron gelehnt, der eigentlich Lycram zustand als Fürst dieses Gebietes. Kasras langer Zopf, der dem Schwanz eines Skorpions glich, wehte hinter ihm im Wind, der durch das zersprungene Fenster hereinpeitschte. Das Feuer wurde vom Wind erfasst, loderte empor, genau wie der lange, dunkelblaue Umhang des Königs es tat, vor dem die Flammen scheinbar zu großen Respekt hatten, um ihre Zähne in diesen zu setzen. Er wirkte wie ein großer, mächtiger Schatten, wo nur die roten Augen und die goldenen Kronen hervorleuchteten - die Krone, die er auf der Stirn trug und die, die sich um seinen Hinterkopf schlang: die goldenen Hörner des "zum König Geborenen", die ihm eine ganz natürliche Krone verliehen in Form von zwei Hörnern, die einen Kranz um seinen Hinterkopf bildeten und in der Glut leuchtend zu vibrieren schienen... aber das konnte auch Lycrams schwindende Sicht sein.
Kasra hatte keine einzige Schramme, genauso wenig wie die Frau, die zwischen ihnen stand und deren lange Locken den Blick auf Kasra ab und zu verbargen.
"Verrecke!" Die Frau rührte sich nicht. Sie blieb wie eine Statue stehen und reagierte nicht auf das Wort. Kasra aber lächelte.
"Ich wusste schon, dass es amüsant werden würde mit dir in meinem Fürsten-Stab." Er lachte laut, aber kurz auf, legte seine Hand auf die Lehne des Stuhls und richtete sein Wort an die Frau, die zwischen ihnen stand - aber ansehen tat er Lycram.
"Menuét." Sie drehte sich zu ihrem König herum, der den Blick ihrer schwarzen Augen allerdings nicht erwiderte.
"Bring unseren Großkotz zum Schweigen." Kasras Worte waren kaum ausgesprochen, da schrie Lycram schon dazwischen:
"Muss der König eine Frau vorschicken?! Ist das die Ehre des Dämonenkönigs?!" Die Antwort war ein lautes Lachen und zwei rote Augen, die amüsiert wie Blitze aufleuchteten, als Kasra einen Schritt vorwärts tat:
"Ha! Überschätze dich nicht, Bengel. Die Zeit des Königs..." Oh, wie genau erinnerte Lycram sich nicht mehr an den Moment, als er den schweren Stiefel Kasras auf seinem Kopf spürte, der ihn herunterpresste, herunterdrückte in die harten, zersprungenen Fliesen.
"... ist zu kostbar, um an einem schwachen Dämon wie dir verschwendet zu werden."
... ha, aber dieser ach so schwache Dämon hatte Kasra überlebt. Er hatte diese "Ermahnung" oder den "Willkommensgruß" überstanden und er lebte, während Kasra es nicht mehr tat. Dennoch war die Erinnerung genug, um Lycram knurren zu lassen, bitter und wütend und er spürte auch wieder die Scham, die er sich damals nicht hatte wegtrinken können und die ihn auch heute noch zum Brodeln brachte.
Selbstverständlich hatte Ri-Il jeden einzelnen dieser Gedanken gehört und auch er erinnerte sich noch gut daran... immerhin war er es gewesen, der die Flammen gelöscht hatte, ehe sie den kampfunfähigen Lycram hatten verbrennen können. Er hatte den Einarmigen gestützt, welcher selbst noch halb bewusstlos Kasra Verwünschungen an den Kopf geworfen hatte - er würde es büßen. Eines Tages würde er es büßen.
Und jetzt kam Ri-Il in sein Gebiet, welches Lycram so erbittert erkämpft und so oft verteidigt hatte, und übermittelte so eine schlechte Nachricht über Kasra - obwohl sie sich doch irgendwie stillschweigend einig geworden waren, nie wieder über ihn zu sprechen. Kein Wunder, dass Lycram Ri-Il so böse anfunkelte.
"Wie kommst du darauf, dass der Kerl noch lebt?", fragte Lycram mit schneidender Stimme. Sein Gesicht war immer noch fahl und er warf einen kurzen Blick zu seiner Alkoholsammlung, als bräuchte er jetzt etwas sehr, sehr Starkes, aber er blieb steif vor Ri-Il stehen, der immer noch am Fenster lehnte, wo der rote Himmel zu sehen war - und fern am Horizont der Turm von Lerenien-Sei.
"Du machst dich damit wieder ziemlich unbeliebt, das ist dir klar, oder? Nicht nur bei mir, sondern auch bei jedem anderen, der das hören sollte."
"Ich spreche aber nicht mit jedem darüber, sondern mit dir." Lycram schwieg - ernst, aber auch ein wenig überrascht. Damals, als sie ihre erste Allianz gegründet hatten, hatte Lycram den Fürsten-Titel erst frisch getragen und die Allianz war... nun, im Rückspiegel betrachtet wusste Lycram sehr wohl, dass er und seine damals noch ziemlich mickrige Horde - im Vergleich zu heute - mehr ein Back-Up gewesen war für Ri-Il. Und jetzt konsultierte er ihn als erstes.
Ha, Lycram brachte dies trotz des ernsten Themas fast zu einem Grinsen - was für eine Ehre!
"Wenn er noch leben würde..." Lycram warf sich in einen schwarzen Sessel und deutete mit einer Handbewegung auf den neben sich, eine Aufforderung, der Ri-Il Folge leistete und galant das eine Bein über das andere schlug.
"... dann wäre er hier und wir würden nicht mehr leben. Er wäre in Lerenien-Sei und seine Speichellecker würden aufhören zu heulen. Aber sie heulen noch. Wie lange ist der Kerl tot? Zwanzig Jahre?"
"48, Lyci!" Natürlich wusste Ri-Il es genau, pfft, natürlich!
"Ach keine Ahnung, der verdammte Bannkreis hat mein Zeitgefühl kaputt gemacht!"
"Nicht nur deins." Aber Ri-Ils natürlich nicht.
"Gut... aber du stimmst mir jawohl zu, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass er 48 Jahre lang nichts tut, während so ein Schwachkopf wie Lerou regiert, oder?" Lerou mochte ein Schwachkopf sein, aber er war ihm allemal lieber als Kasra - und das sahen zum Glück die meisten so. Wirklich! Ri-Il sollte seine Gedanken nicht in Umlauf bringen, sowas wollte doch niemand hören! Die ganze Dämonenwelt würde panisch werden! Und das wo sie sich gerade so über den zerstörten Bannkreis freuten! So viele Wächter zum Bekämpfen! Und Ri-Il verteilte so schlechte Nachrichten! Was sollte denn das?!
"Ja, das ist es. Aber es ist ebenso unwahrscheinlich, dass Lerou Kasra in einem Kampf besiegen konnte... einen Kampf, den niemand gesehen hat. Irgendetwas ist damals, nachdem Kasra gegen White und Shaginai gekämpft hat, passiert und ich möchte wissen was."
"Das ist so lange her, wen interessiert das noch!?" Offensichtlich Ri-Il, der Lycram recht ernst ansah, obwohl er seine Augen wie ein ruhender Fuchs geschlossen hatte.
"Wirklich?! Oh Mann, Ri-Il, ernsthaft?! Warum jetzt?! 48 Jahre lang haben wir nicht über Kasra gesprochen - warum es jetzt tun?!" Nur weil sie nicht über ihn gesprochen hatten, bedeutete das nicht, dass Ri-Il nicht stets nachgeforscht hatte... für ihn war der Name "Kasra" nie von der Bildfläche verschwunden.
"Weil sich eine Schachfigur in Bewegung gesetzt hat, die 48 Jahre lang überhaupt keinen Zug genommen hat. Eine weitere Schachfigur ist wieder auf dem Spielbrett aufgetaucht, die ebenfalls angeblich tot war und eine gänzlich neue ist dazu gekommen, deren Reichweite unkalkulierbar ist." Lycram kniff die Augen zusammen und lehnte sich etwas vor, aber auch dies half ihm nicht dabei Sinn aus Ri-Ils Worten zu entnehmen. Was... wovon sprach er?
"Also... die Schachfigur, die angeblich tot war, ist wahrscheinlich Nocturn..."
"Erkannt."
"Und die anderen beiden...?" Ri-Il tat ihm diesen Gefallen nicht: er amüsierte sich zu sehr darüber, wie Lycram sich darüber den Kopf zerbrach und wechselte das Thema.
"Noch weiß ich nichts Konkretes, Lycilein, aber du wirst der erste sein, dem ich die Neuigkeiten überbringen werde." Ri-Il erhob sich plötzlich mit einem Schwung und sofort sprang Lycram überrascht aus seinen Gedanken empor.
"Und dafür musst du nicht einmal deinen Kommandeur verkaufen", fügte Ri-Il mit einem Zwinkern hinzu; den kleinen Seitenwink auf Lycrams und Lacrimosas Übereinkunft konnte er dann doch nicht lassen... Lycram stand Röte zu gut!
"Nebenbei gesagt ehren mich deine Bemühungen, Lycilein! Aber du hättest mich doch einfach fragen können, ob ich hinter der Kriegserklärung stecke?" Lycram schoss empor wie ein Pfeil:
"Und tust du es denn?!"
"Nein, ich habe gar nichts mit ihr zu tun!" Ri-Il lachte noch einmal, als er sogar sah, wie Lycrams Ohren rot wurden... ahja, es war eine gute Idee heute dieses Gebiet zu besuchen.
"Ich möchte dich aber um einen Gefallen im Gegenzug bitten, Lyci!", begann Ri-Il, während er durch den Raum zur Tür ging.
"Ha! Ich wusste, dass man bei dir nichts umsonst kriegt!"
"Es ist etwas, was nur du tun kannst!"
"Ja ja, nun spucks schon aus!" Ri-Il drehte sich herum, ging aber rückwärts weiter.
"Bring mir Suren. Du bist der einzige, der ihn finden kann - ich möchte, dass du es tust, ehe die andere Schachfigur ihn findet."
"Huh?! Suren?! Weißt du eigentlich wie lange ich ihn nicht mehr gesehen habe?! Der könnte tot sein, der Idiot! Als Kasras ehemaliger oberster Kommandeur kann er sich doch gar nicht mehr nach Lerenien-Sei wagen ohne eine Abreibung zu erhalten!"
"Aber du wirst es dennoch schaffen, ich vertraue dir da voll und gaaaanz!" Und dann war Ri-Il schon aus der Tür verschwunden... aber noch hatte er das Gebiet nicht verlassen, das spürte Lycram. Ri-Il war noch draußen im Gang; ging durch das Schloss, als gehöre es ihm, anstatt sich einfach zu teleportieren - eine komische, eigenartige, nervige Angewohnheit von ihm, die Lycram schon kannte. Als wollte Lycram ihn eigenhändig rauswerfen, rannte er zu der Tür, durch die Ri-Il gerade hindurch gegangen war, schlug diese auf und sah die orangenen Zöpfe tatsächlich noch am Ende des Ganges.
"Ri-Il!" Sein Nachbar drehte sich herum.
"Lebt der Halbdämon nicht mehr?" Anders als Lycram schrie Ri-Il nicht. Seine Antwort war leise.
"Wieso?"
"Weil du wirkst, als wäre jemand gestorben." Ri-Il antwortete nicht. Aber Lycram sah von Weitem, dass seine Augen sich geöffnet hatten.
"Lust auf einen Drink?"
Während Blue und Feullé einkaufen gewesen waren, hatten Nocturn und Youma eigentlich in Lacrimosas Gebiet trainieren wollen. Aber da Youma vergessen hatte, dass sie dort nicht mehr trainieren durften, wurden sie beide hochkant wieder herausgeworfen - aber erst nachdem Lacrimosa Nocturn es ebenfalls noch einmal erklärt hatte, wobei sie keine Sekunde ausließ Youma einen finsteren Blick zuzuwerfen, während Nocturn nur sein geliebtes Eis aß... was ihre Laune etwas besserte - immerhin hatte sie sich große Sorgen darüber gemacht, dass Nocturn nichts zu sich nahm - aber das änderte nichts daran, dass sie Nocturn und Youma wieder nach Paris zurückschickte.
"Hm... jetzt sind wir dazu gezwungen einen anderen Ort zum Trainieren zu finden...", grummelte Youma, als sie wieder vor ihrem Hochhaus landeten und die viel befahrene Straße überquerten. Nocturn hatte leider zu Youmas Überlegungen nicht viel beizutragen. Das Einzige, was er zu dem Treffen mit Lacrimosa sagte, war, dass er sein Eis zu schnell gegessen und jetzt Kopfschmerzen hatte; das Eis sei schmackhaft gewesen, aber es war tödlich für die Zähne eine so kalte Nahrung aufzunehmen, wenn es ohnehin kalt war - wie hielten die dort lebenden Frauen das nur auf die Dauer aus?!
"Sie sind nicht so empfindlich wie du", urteilte Youma, als sie nach Nocturns französischem Abendplausch mit der Rezeptionistin in den Fahrstuhl stiegen, wobei Youma ihren komischen Blick was seine Anwesenheit anbelangte ignorierte, genauso wie er wählte, sich nicht danach zu erkundigen, was Nocturn wieder mit ihr zu besprechen gehabt hatte. Stattdessen warf Youma einen Blick zu seinem Partner, welcher eine jammernde Miene machte, während er sich die linke Seite seines Kiefer rieb und über seine Zähne jammerte.
"Warum hast du eigentlich keine spitzen Eckzähne so wie ich und die anderen Dämonen? Ist das bei deiner Rasse normal?" Nocturn hörte nicht auf seine Wange zu reiben, aber Youma bemerkte überrascht, dass seine Haltung abweisender wurde; auch seine Tonlage, die eben noch einer jammernden Kinderstimme glich, veränderte sich schlagartig, als er Youma antwortete:
"Keine Ahnung, warum das so ist." Youma wählte es, seine offensichtliche Körpersprache zu ignorieren und setzte das Gespräch dem ungeachtet fort, nun neugierig:
"Welcher Rasse gehörst du eigentlich an?" Jetzt hörte Nocturn auf, sich die Wange zu reiben und seine sonst so feurigen Augen waren kalt, als er Youma fixierte:
"Unwichtig."
"Soll das etwa heißen, dass du es nicht weißt?", bohrte der Halbdämon weiter nach. Wie konnte man nur so etwas Wichtiges über sich selbst nicht wissen?
"Genau das soll es heißen." Der Fahrstuhl verlangsamte das Tempo und das Ziffernblatt für die 61. Etage leuchtete auf.
"Haben deine Eltern es dir denn nie gesagt? Welcher Rasse gehörten sie denn..."
"Jetzt hörst du mir mal zu", unterbrach Nocturn Youma mit einem eiskalten, schneidenden Unterton, gerade als die Fahrstuhltüren sich öffneten:
"Wenn du, wie du es so schön nennst, eine "florierende Partnerschaft" erlangen willst, dann wirst du solche Fragen nie wieder stellen. Ich frage nicht, welche Leichen in deinem Keller sind und du nicht nach meinen, verstanden?" Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ Nocturn den Fahrstuhl und steuerte auf das Appartement mit der Nummer 667 zu, dicht gefolgt von Youma, für den das Thema allerdings noch nicht abgeschlossen war:
"Woher willst du wissen, ob ich "Leichen im Keller" habe, wenn du meine Gedanken nicht lesen kannst?" Nocturn wandte sich halb herum, sah ihn von der Seite her mit einem undefinierbaren, erkalteten Blick an, ehe er langsam als wäre jedes Wort wohlüberlegt antwortete:
"In deinem Fall muss ich keine Gedanken lesen können. Wer jede Nacht schreiend aufwacht und erst eine halbe Stunde herumgeht, ehe er sich wieder schlafen legt, hat definitiv ein paar mehr Leichen im Keller."
Youma antwortete nicht; denn das verschlug ihm tatsächlich die Sprache.
Auch als Nocturns Stimme sofort eine 180°-Drehung machte, nachdem er die Haustür geöffnet hatte und Feullé begrüßte, war Youma nicht imstande sich dem anzupassen, obwohl er ihm mechanisch hinterher ging. Wie Nocturn das mitbekommen hatte war klar, aber wie viel wusste er schon? Hatte Youma womöglich Wörter gesagt, Namen gerufen? Wenn Nocturn nur einmal Lights Namen in Verbindung mit Youma hören würde, wäre seine Identität verraten... aber nur dann wenn Nocturn sich für die Geschichte der Wächter interessierte und das vermaledeite Buch dieses verfluchten Forschers, dem Silence sich anvertraut hatte, hatte er wohl kaum gelesen; er interessierte sich ja nicht einmal für seine eigene Rasse, warum sollte er sich für die Wurzeln der Wächter interessieren? Gut, bei ihm konnte man nie wissen; sein Denken war immerhin nicht von Logik regiert, es war also vergebene Liebesmüh, diese bei ihm anwenden zu wollen...
Youma war so in Gedanken versunken, dass er Blues Anwesenheit gar nicht bemerkte und das morgendliche Thema und die Übereinkunft zwischen Youma und Nocturn hatte er auch nicht mehr im Hinterkopf; die Übereinkunft, dass Blue sich ihnen anschließen durfte unter der Bedingung, dass Nocturn Youma helfen würde, anstatt ihm bei jeder Gelegenheit ein Bein zu stellen, so wie solche Aktionen beim Hofe. Das war einfach nur... Urgh, nein, nicht darüber nachdenken.
Aber Nocturn achtete ohnehin nicht auf Youma; nachdem er Feullé begrüßt und gemeint hatte, dass das bereits am Kochen seiende Abendessen in der sauberen Küche mit gedeckter Theke vorzüglich roch, widmete er sich Blue, welcher aufgestanden war, nachdem Nocturn und Youma hereingekommen waren. Während Feullé in der Küche hantiert hatte, hatte er ihr beim Kochen geholfen, denn er hatte es natürlich nicht gewagt, sich eines von Nocturns Büchern zu nehmen - sowieso glaubte er nicht, dass sie denselben Geschmack besaßen. Blue hatte keine Vorliebe für Dramen; sowieso las er sehr wenig Prosa.
"Und, Blue? Bist du zu einem Entschluss gekommen?" Nocturn war ganz offensichtlich sehr neugierig und gespannt auf eine Antwort, denn er ging sofort auf Blue zu und einen Moment lang fürchtete er fast, dass Nocturn seine Hände nehmen würde, aber das tat er dann doch nicht.
"Ich stimme zu."
"Haha! Ich wusste es!", erwiderte Nocturn die dünnen Hände erfreut zusammenschlagend und einen triumphierenden Blick zu Youma werfend, welcher ihn allerdings immer noch nicht zu hören schien; erst bei Blues nächsten Worten horchte er auf:
"Aber ich habe eine Bedingung."
"Eine Bedingung?", fragte Nocturn offensichtlich verwirrt, was Youma nicht war, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde und die gleiche Frage wiederholte; allerdings mit spöttischem Unterton:
"Eine Bedingung? Du glaubst wirklich, dass du dich in der Position befindest, Bedingungen stellen zu dürfen?" Die beiden Halbdämonen sahen sich nur einen kurzen Augenblick an, dann sah Blue wieder zu Nocturn, der ihn nach wie vor einfach nur aufmerksam musterte, auf eine Erklärung wartend.
"Ich nehme an, dass Ri-Il zu besiegen ein Teil eurer Pläne ist, denn nur indem ihr ihn besiegt, ist eine unabhängige Machterlangung in der Dämonenwelt möglich." Youma schnaubte verächtlich, während Nocturn ihm da ohne Hemmungen recht gab und ihn fortfahren ließ, sich die Richtung bereits denken könnend:
"Sollte es soweit kommen, dann lautet meine Bedingung, dass meinem Bruder dabei nichts geschieht."
"Natürlich." Youmas abwehrende Haltung fiel sofort in sich zusammen, als er Nocturn anfuhr:
""Natürlich"?! Wie kannst du diesem Wicht das so einfach zusichern?!"
"Wieso? Hast du etwas gegen das Überleben eines einzigen Dämons? Hast du etwa für jeden einzelnen Dämon einen Plan?"
"Darum geht es doch gar nicht! Du kannst doch nicht so einfach..."
"D-Das...Essen ist fertig..." Youma war zu fahrig, um Feullés gestammelte Worte zu bemerken und Blue folgte dem Gespräch zu aufmerksam, um es zu tun; aber Nocturn schien die kleine Mädchenstimme eher zu hören als Youmas Wut, die sich nicht gerade dadurch beruhigte, dass der Flötenspieler aufsprang und prompt das Thema wechselte:
"Jetzt musst du aber erst einmal Feullés Essen probieren; zu Tisch!"
"Ich war noch überhaupt nicht fertig mit dir, Nocturn!"
Aber Feullés Essen würde kalt werden, denn sie erhielten Besuch - und zwar von Lacrimosa, inklusive Gefolgschaft.
"Ah, wie gut das riecht! Da kommen wir ja gerade..." Und dann entdeckte sie Blue.