Kapitel 90 - Ein Vater, der sein Kind verliert
Das Essen hatte Blue nur vorübergehend neue Kraft gegeben: kaum dass sie wieder in der Wohnung angelangt waren, war Blue trotz aller Anstrengung unter enormen Kopfschmerzen zusammengebrochen. Nocturn, nicht sonderlich überrascht darüber, dass Blue sich nicht lange hatte aufrechthalten können, hatte ihn wieder ins Bett gebracht, wo Blue ein traumloser Schlaf vergönnt war, aus welchem er erst am Morgen erwachte. Nach diesem Gespräch mit Nocturn... hätte er nicht gedacht, dass er überhaupt hatte schlafen können. Was hatte er da gehört...? Was hatte Nocturn ihm da vorgeschlagen...?
Aber trotz allem hatte er nicht einmal Albträume gehabt. Es musste die momentane an ihm nagende Schwäche sein, der er dies zu verdanken hatte, als er am Morgen für eine kurze Zeit erwachte und mit schummrigen Blick an die Decke starrte.
Die Sonne musste gerade erst aufgegangen sein, denn ein fahles Licht fiel durch die zugezogenen Vorhänge und tauchte den Raum in ein trübes Dämmerlicht. Doch obwohl es noch früh am Tag war, konnte Blue Stimmen aus den anderen Zimmern hören und Stück für Stück erwachten seine Sinne im Versuch er erahnen, was eben diese Stimmen besprachen - doch es war ein vergebliches Unterfangen. Er konnte nicht hören, was sie besprachen... aber es waren definitiv Nocturn und Youma. Sie stritten sich... Streit war immer so leicht zu erkennen... Ah, deswegen verstand Blue nichts von dem, was sie besprachen: das war die Sprache der Wächter, die da an sein Ohr herandrang.
Blues Sinne kämpften darum wach zu bleiben, zu lauschen und irgendetwas zu erhaschen, irgendein Wort, das vielleicht auf Dämonisch gesagt wurde; einen Sinn des Gespräches auszumachen - doch abermals verloren seine Sinne den Kampf und der Halbdämon sank wieder zurück in einen tiefen Schlaf.
Dieses Mal jedoch war es ihm nicht vergönnt, traumlos einzuschlafen.
Er sah Silver. Er sah Green. Sie trugen alle drei ihre Schuluniformen. Es war irgendein Tag: irgendein belangloser Tag... sie hatten gute Laune. Blue spürte, dass Silver und Green ihn zu einem Lächeln brachten. Sie lachten alle drei, lachten zusammen. Niemand dachte an das Glöckchen um Greens Hals, obwohl es doch Silvers und Blues Auftrag war, es zum Brechen zu bringen.
"Das ist eine heikle Aufgabe, Blue-kun."
Er hörte nicht Silvers und Greens Lachen. Er hörte nur Ri-Ils Stimme. Er spürte ihn hinter sich. Er spürte seinen stechenden Blick im Nacken. Seine Hände auf der Stuhllehne. Blue hatte aufgehört zu lächeln. Er konnte nicht mehr mitlachen.
"Aber ich vertraue dir. Silver-kun albert rum..." Sie waren nicht mehr in der Wohnung: jetzt waren sie auf dem Schulhof. Silver lachte immer noch. Green tadelte ihn, weil er Firey mal wieder geärgert hatte. Aber sie schimpfte nur halbherzig und Blue erhaschte auch ein verstohlenes Lächeln von Firey. Ri-Il stand immer noch hinter ihm und verhinderte seine Teilnahme.
"... er ist eben noch jung. Aber ich weiß, dass du den Auftrag nicht aus dem Auge verlierst. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann."
Das letzte Mal bevor Silver und Blue ins Jenseits geeilt waren, um Green vor der Hinrichtung zu retten, da hatte Blue Ri-Il nicht geantwortet. Er hatte nicht das... Richtige antworten können... eigentlich hatte er da doch schon ahnen müssen, dass Ri-Il kommen würde, um sie - um IHN - daran zu erinnern, dass nicht Green wichtig war, sondern das Glöckchen um ihren Hals... und dass sie es zerstören mussten.
All diese Blue verspottenden Bilder liefen wie ein Stummfilm vor ihm ab; vor dem ausgeschlossenen, unbeteiligten Zuschauer namens Blue. Das, was seine Ohren hören konnten, war nicht das Lachen, was er so deutlich auf den Gesichtern seiner Liebenden sehen konnten, sondern Gesprächsfetzen; beliebig zusammengewürfelt, ihn verletzend wo sie nur konnten:
"...Du wirst nie davor fliehen können, dass du ein Dämon bist, Blue-kun. Es wird Zeit, dass du dein Blut akzeptierst... Vielleicht kannst du an einer neuen Weltordnung mitgestalten, in der ihr drei wieder zusammen sein könnt? ... und wenn du dich dein ganzes Leben lang vor den Hohen versteckst, vor deinem Blut kannst du nicht davonlaufen! ... Du redest... wie N-Nocturn! ...Wenn du sie wirklich lieben würdest... würdest du auf dein Glück verzichten, um sie zu retten... Nocturn, dieses... dieses Monstrum, hat das Leben meiner Mutter zur Hölle gemacht! ... Aniki, du... du hast mich doch lieb, oder? Du hasst mich nicht, so wie Mama, oder...? ... Ich... bin in diese Welt gekommen... um dir etwas zu sagen...
Ich liebe dich...
Du hast mich doch lieb, oder?
Ich liebe dich...
Du hast mich doch lieb, oder?
Ich liebe dich.
Ich liebe dich, Gary!"
Viel zu viele Stunden drehten immer dieselben Sätze sich im Kreis; viel zu viele Stunden hielt ihn dieser Albtraum gefangen, bis er ihn... erlöste.
Seitdem Blue den Auftrag ausgeführt hatte, hatte er regelmäßig Albträume; so regelmäßig, dass er nicht mehr vor ihnen erschrak und ruhig aus ihnen erwachte, als wäre es bereits eine Routine, an die er sich gewohnt hatte.
Die Wahrheit war allerdings, dass er sich nicht an sie gewohnt hatte, die vielen Farben und Formen, in denen sie ihn heimsuchten, machten es unmöglich, sich an diese zu gewöhnen... doch das Vorhaben es sich für Silver nicht anmerken zu lassen, war so tief in ihm verankert, dass man es ihm nicht ansah, wenn er aus einem weiteren Albtraum erwachte. Als er die Augen jedoch langsam aufschlug und wieder zur Realität zurückkehrte, klang Silvers verzweifeltes Betteln nach Liebe und Greens Liebeserklärung noch in seinen Ohren nach und als würde er zwei Filme zugleich sehen, sah er noch verschwommen den vierjährigen, weinenden Silver vor sich, weil er sich bewusst war, dass seine Mutter ihn nicht liebte und gleich daneben die auf dem Boden Lerenien-Seis kauernde Green, mit dem zerbrochenen Glöckchen, ihre Liebe beteuernd... und ihm war auch immer noch, als starre Ri-Il ihn an.
Viel zu langsam lösten sich diese Bilder auf... viel zu lange dauerte es, bis Blue verstand, dass er in der Menschenwelt war. Dass er auf dem Kanapé lag; dass er nicht aufrecht stand und dass Ri-Il sich nicht hinter ihm befand. Blue schüttelte stöhnend den Kopf und rieb sich die Stirn und die Schläfen, die wieder schmerzten... Er schloss noch einmal die Augen, aber dann sah er nur wieder Green und Silver vor sich, beide so verletzt, beide so... weinend... dass er sich beeilte, die Augen wieder zu öffnen.
Helles Tageslicht fiel nun durch zwei große Fenster hinein, wovon eines leicht geöffnet war und die hellen Vorhänge vor dem Fenster in Bewegung brachte, im Takt mit den von draußen fern klingenden Geräuschen, die durch den Fensterspalt in das Zimmer hinein gelockt wurden. Autogeräusche, Hupen und Sirenen und sicherlich auch menschliche Stimmen wären zu hören, wenn Blues Gehör einen solchen Eindruck wieder zulassen würde und erinnerten ihn wieder daran, dass er sich in einer Metropole befand... in Nocturns Wohnung, in Nocturns Zimmer.
Es war ein schmaler rechteckiger, unaufgeräumt und chaotisch wirkender Raum. Auf dem Boden lagen verstreut aufgeschlagene Bücher, einige Textzeilen markiert mit schwarzer und roter Tinte, die wohl aus den Tintengläsern stammte, die überall auf dem Boden verstreut waren - aber keines war umgekippt, was Blue bei der großen Menge fast schon beeindruckte. Auf dem großen Sekretär standen ebenfalls Tintenfässer zusammen mit vielen Kerzen. Große, wuchtige Kerzen, die man auch in Kirchen fand, verteilten ihr Wachs auf dem dunklen Holz des Möbelstücks. Auch vor dem Fenster, wo man sich auf einen kleinen Vorsprung setzen konnte, standen diese großen Kerzen, die offenbar oft entzündet wurden.
Die drei Bücherregale zu Blues Linken, den beiden Fenstern gegenüber, waren eine Pein für Bücherliebhaber wie ihn, denn die vielen verschiedenen Bücher waren chaotisch ins Regal geworfen worden; einige standen schief, andere falsch herum und sie gehörten mehreren verschiedenen Sprachen an: der Großteil von ihnen war auf Französisch, doch er meinte auch einige in der Sprache der Wächter erahnen zu können und ein paar wenige auf Englisch. Die meisten handelten zweifelsfrei um Musik oder waren Dramen; einige bekannte Namen wie Shakespeare, Sartre, Camus und Goethe meinte Blue lesen zu können, doch auch viele ihm unbekannte - doch Blue erkannte auch ein paar Geschichtsbücher der Wächter in der eigenartigen Sammlung Nocturns. Er hatte deren Rücken schon mal bei Green und ihren von Grey aufgezwungenen Lektüren gesehen... eines von den Büchern war ohne Zweifel "Geschichte der Wächter" von Tao Kikou Asuka.
Wahllos zwischen die Bücher hineingeschoben entdeckte Blue auch mehrere Schallplatten, Notizen und Notenblätter - von denen der Schreibtisch sich kaum retten konnte - und oben auf dem Bücherregal lag eine verstaubte Geige in ihrem dazugehörigen Kasten. Das einzige andere Instrument, welches Blue ausmachen konnte, war eine Harfe, gleich neben dem ersten Fenster - doch sie wirkte unbenutzt. Nocturns Querflöte konnte er nirgends sehen, dafür allerdings eine kleine Sammlung an Notenständern und allgemein viel zu viele Kerzen - sogar auf dem Boden; ob nun zwischen den Notenblättern, neben den Notenständern oder mitten im Bücherregal. Sehr rücksichtslos...
Der einzige Punkt im Zimmer, welcher nicht im Chaos versank, war eine fast lebensgroße Engelsstatue aus einem weißen Material und sehr detailliert gehauenen Flügeln; das Gesicht des weiblichen Engels allerdings war ausdruckslos, denn er besaß weder Augen noch Mund und machte daher keinen besonders warmen oder freundlichen Eindruck... eher bedrohlich wie Blue fand. Nocturn schien diese Skulptur allerdings zu mögen, denn er hatte ein silbernes Diadem auf deren Kopf platziert - welches nicht zur Skulptur zu gehören schien; es war ein Fremdkörper.
"G-Guten Morgen..." Blue schreckte auf und sah nun zum ersten Mal Feullé, welche gekleidet in ein blaues Lolita-Kleidchen an der Tür erschienen war und ein Tablett mit einem kompletten Frühstück trug, womit Blue auf einmal bemerkte, dass er scheinbar schon wieder Hunger hatte; aber dass sein Magen auf den wohltuenden Geruch von warmen Brötchen - oder waren es Croissants? - reagierte, war wohl ein gutes Zeichen.
"Sie müssen sich nicht fürchten, Blue-san. Sie sind... hier in guten Händen." Feullé reichte dem Kranken das gefüllte Tablett, auf welchem sich tatsächlich Croissants mit Orangensaft, einem hartgekochten Ei, Butter und Käse, aber auch Marmelade und ein Kaffee befanden.
Blue war einen Augenblick lang von dem ungewöhnlichen Anblick überrascht, denn er hatte in dem vergangenen Jahr kaum bis gar nicht menschliches Essen gegessen. Bei Ri-Il hatten Silver und er genau wie die anderen Dämonen das zähe, zwar sättigende, doch nach Nichts schmeckende Dämonenfleisch essen müssen; manchmal hatte es für sie aber auch hartes, aus der Menschenwelt stammendes Vollkornbrot mit fettiger Milch gegeben. Blue hatte sich nie beschwert, da er keine Person war, der Essen sonderlich wichtig war, doch als er dieses ausgiebige Frühstück sah, bemerkte er doch einen Unterschied.
Feullé hatte sich zwar einen Hocker an das Bett herangeschoben, in welches Blue sich wieder gesetzt hatte, doch verhielt sich ruhig, während Blue alles bis auf den letzten Krümel aufaß und sich dann, wie es sich für einen Guterzogenen gehörte, für das Essen bedankte, was Feullé aufzutauen schien.
"Es freut mich... dass es Ihnen geschmeckt hat. Ich kaufe so gerne ein. Hier in der Menschenwelt gibt es so viel Auswahl und ich probiere... gerne Neues. Ich kann noch nicht so gut... kochen, aber... mein Vater lobt meine Croissants. Die... backe ich n-neuerdings selbst und der... Orangensaft ist auch selbst gepresst." Nachdem Feullé diese Worte gesagt hatte, hob sie den Kopf und die beiden sahen sich einen kurzen Augenblick an; bis Blue plötzlich die Stirn runzelte:
"Haben wir beide uns nicht schon einmal gesehen?"
"Doch... doch das haben wir. Mein Name ist Feullé Le Noires.", begann Feullé und erzählte, dass sie sich bei der Verkündung der Kriegserklärung gesehen hätten, wobei es Blue auch wieder einfiel; sie war das Mädchen gewesen, welches in Begleitung Lacrimosas versucht hatte, mit ihm zu reden, sich aber doch abgewandt hatte.
"Ich habe erkannt, dass Sie Black-sans Sohn sind", fuhr Feullé fort und machte einen schüchternen Wink zu Blues Haaren.
"Du kanntest meinen Vater?" Obwohl Feullé ihm mit solch einem großen Maß an Höflichkeit entgegenkam, schien es Blue merkwürdig, das kleine Mädchen vor ihm zu siezen; wie alt sie wohl war - sie machte den Eindruck eines kleinen Mädchens und obwohl sie von niedriger Statur war, besaß ihr Körper doch bereits weibliche Rundungen. Dazu kam, dass sie gar nicht so jung sein konnte, wenn sie Black noch gekannt hatte... sie musste... Ja, dieses kleine Mädchen musste älter sein als Blue!
"Ja, ich kannte Black-san", erwiderte Feullé flüsternd und mit einem unsicheren Nicken, weshalb Blue bereits schlimme Vorahnungen hatte, doch ihre weiteren Worte überraschten den Halbdämon:
"Black-san hat immer auf mich aufgepasst, wenn mein Vater White-sama besucht hat. Wir haben viel zusammen unter...nommen. Einmal waren wir alle drei zusammen im Disneyland; das war so schön..." Diese Erinnerung war ganz offensichtlich eine sehr positive für Feullé, denn sie lächelte plötzlich mit erröteten Wangen und während sie noch in ihren Erinnerungen schwelgte, sah sie nun lächelnd wieder auf und sagte:
"Aber das muss ich Ihnen ja sicherlich nicht sagen... Black-san war... Habt Ihr etwas, Blue-san?" Das ungläubige Anstarren Blues war nicht zu übersehen und da Feullé nur gute Erinnerungen mit Black verknüpfte, konnte sie sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass Blues plötzlich erstarrtes Gesicht etwas mit ihren Worten zu tun hatte - auf der anderen Seite konnte Blue sich nicht vorstellen, dass sie tatsächlich von der gleichen Person sprachen. Black, sein Vater? Als rührender Vater, der mit ins Disneyland ging? Er hatte es nicht einmal gemocht, einen Supermarkt zu betreten.
"Du... hast also nur gute Erinnerungen mit ihm gesammelt?", hakte Blue nach, da er das Bild seines Vaters einfach nicht im Disneyland platzieren konnte; genauso wenig wie er sich vorstellen konnte, wie Black mit einem kleinen Mädchen alleine war und auf es aufpasste; womöglich noch mit ihm gespielt hatte.
"Oh ja, ich... ich mochte Black-san sehr."
"Habt ihr... auch zusammen gespielt?"
"Aber ja. Wir haben oft Memory gespielt. Auf Französisch, damit wir es beide lernen."
"Memory. Du und mein Vater ihr habt... Memory gespielt."
"Habt Ihr etwas, Blue-san?"
"Aber vorgelesen hat er dir nicht?"
"Aber nein, das hat mein Vater gemacht, wenn er da war, wenn ich ins Bett sollte. Ich musste immer pünktlich schlafen... und Vater war nicht immer da. Dann hat Black-san mich stattdessen ins Bett gebracht. Manchmal bin ich in der Stube eingeschlafen... und dann hat Black-san mich auf dem Arm genommen und - Also, Blue-san, Ihr seht wirklich nicht gut aus... waren die O-orangen vielleicht nicht mehr gut? Aber ich habe sie doch erst gestern Morgen gekauft..." Es lag gewiss nicht an der Reife der Orangen, dass Blue ungläubig mit einem weißen Gesicht Feullé anzustarren schien - sein Blick war allerdings nicht auf Feullé gerichtet, sondern glitt hinab in die Vergangenheit; er sah Bilder seiner Kindheit vor sich, welche die Erinnerungen zeigten, die er von seinem Vater besaß. Keiner dieser Erinnerungen würde Blue jemals als "gute Erinnerung" einstufen; wenn er an Black dachte, dachte er dabei zwar schon an seinen Vater - notgedrungen, weil es nun einmal eine Tatsache war, so traurig sie auch war - doch nur als eine ferne Person, die kein Teil der Familie war und dass diese Distanz auch gut und wünschenswert war, denn wenn diese Person... sein Vater... zu nah herankommen würde, wäre er eine Gefahr. Wie oft hatte er gesehen, wie Black seine Mutter geschlagen hatte? Sie hat so oft geblutet. Sie hat so oft die Zähne zusammengebissen und sich selbst verarztet.
Blue besaß ein außerordentliches - von ihm so manches Mal verfluchtes - Gedächtnis und selbst wenn er es wollte, vergaß er nichts. Er besaß Erinnerungen frühester Kindheit und Black war einer der Gründe, weshalb er sich wünschte, sich an diese nicht mehr erinnern zu können... und die einzige Erinnerung, die nicht in das Ganze hinein passen wollte und die er heute noch anzweifelte, war damals, als er seine Mutter und seinen Vater in der Küche überrascht hatte - derselbe Ort, an welchem sie später... in dem ganzen Blut...
Blut. Es spritzt aus der immer größer werdenden Wunde. Es trieft. Es spritzt. Es riecht nach Metall. Metallischem Tod. Aber es ist der Wind, der stirbt. Der abgestochen wird. Das Blut ist auf dem Boden. Es hat sein Gesicht mit Flecken bemalt. Die Hände sind rot. Auf dem Boden ist alles rot. Sie beiden stehen in einer roten Pfütze. Nein. Nur einer steht. Der Wind hängt und berührt nicht den Boden. Denn er hat ihn aufgespießt.
"Du Monstrum! Meine Schwester wird nie, niemals darauf hereinfallen! Ihr Herz ist stark! Ich glaube an sie!"
"Mach das Fenster zu!"
Feullé erschrak, als Blue ihr dies befahl; seine Stimme klang plötzlich so fest und hart, überhaupt nicht vergleichbar mit der etwas fern klingenden Tonlage von vor einigen Minuten, bevor er plötzlich ins Schweigen gefallen war - und warum sollte sie das Fenster schließen? Die kühle Brise, die durch das offene Fenster hineingekommen war, war doch eigentlich sehr angenehm? Sie hatte es extra geöffnet, um seine Lebensgeister ein wenig zu erfrischen... aber er meinte es ernst, denn als Feullé keine Anstalten machte, sich irgendwie zu bewegen, versuchte Blue sich aufzurichten und das Bett zu verlassen.
"I-Ich mache das s-schon!" Noch während Feullé diese Worte gestottert hatte, war sie auch schon aufgesprungen und auf das Fenster zugestolpert, um es mit einer ausgestreckten Hand zu schließen.
Offensichtlich... hatte Blue genauso sehr etwas gegen den Wind wie Nocturn.
Der Streit, den Blue mit halbem Ohr hatte hören können, hatte um sechs Uhr morgens stattgefunden und war in der Tat von Nocturn und von Youma ausgetragen worden. Feullé, noch in einen rosafarbenen Pyjama gekleidet, tüftelte in der Küche herum, um das Frühstück vorzubereiten und als Youma aus seinem Zimmer kam, war Nocturn gerade bei seiner zweiten Tasse Kaffee. Er saß auf einem der Drehstühle an der Küchentheke und war in die eben erst gekaufte Ausgabe der Le Figaro-Zeitung vertieft, während er einen überzuckerten Café au Lait trank.
"Guten Morgen!", begann Nocturn mit einer offensichtlichen guten Laune, obwohl er sich eigentlich denken konnte, dass Youmas Laune diesen schönen Morgen ruinieren würde. Ja, eigentlich konnte er sich denken, dass Youma schlechte Laune hatte. Gestern Abend war Nocturn einfach ohne Youma mit Blue verschwunden und als sie dann endlich nach vier Stunden zurückgekommen waren, hatte Nocturn ihn einfach geheimnisvoll angeschwiegen und war dann, nachdem er den ohnmächtigen Blue ins Zimmer gebracht hatte, einfach wieder verschwunden - wer wusste wohin!
Aber jetzt nicht! Dieses Mal würde Nocturn Youma nicht entgehen: dieses Mal würde er eine Antwort erhalten, eine Erklärung für dieses ganze Tara, eine Erklärung dafür warum dieser schwache Halbdämon bei ihnen war.
"Anti-Teleportationsbannkreis... ich bin ja beeindruckt." Nocturn klang nicht beeindruckt. Er sah immer noch in seine Zeitung und seine von links nach rechts huschenden Augen sagten dem Sensenmann auch, dass er noch las; etwas, was den vom Schlaf noch recht zerzaust aussehenden Youma noch mehr reizte, denn er konnte kein Verständnis dafür aufbringen, dass Nocturn sich so sehr für die Menschenwelt interessierte statt für die Dämonenwelt.
"Anti... Teleportationsbannkreis?", stotterte Feullé überrascht und auch besorgt, wohl Gefahr befürchtend, doch Nocturn beruhigte ihre Sorge mit einer Hand auf ihren Kopf und ein paar französischen Worten.
"Wann hast du das denn gelernt? Und vor allen Dingen... von wem, wenn nicht von mir?"
"Von Lacrimosa-san", erwiderte Youma trotzig und setzte sich auf den hohen Barstuhl neben Nocturn, während er verkündete, dass sie jawohl etwas zu besprechen hätten.
"Und dieses Mal wirst du mir nicht wegrennen!"
"Ich bin nicht weggerannt, ich hatte nur keine Lust mir dir zu reden" Nocturn nahm einen Schluck von seinem Kaffee, welchen Youma ihm zu gerne aus der Hand geschlagen hätte. Aber er blieb ruhig... versuchte es jedenfalls... und wünschte Feullé, die das Ganze beobachtete, einen "Guten Morgen", welche sich allerdings nicht traute, etwas zu erwidern. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Feullé mit sich selbst rang - wahrscheinlich spürte sie, im Gegensatz zu Nocturn, dass Youma wütend war und wollte vermeiden, dass er explodierte.
"Nocturn?! Könntest du..."
"Einen Moment noch; ich muss das hier noch fertig lesen."
"Ich dachte, du interessierst dich nicht für Politik?! Warum interessierst du dich für die menschliche?!"
"Ich sagte, "Moment noch"." Youma wollte auf diese komischen Gebarden eigentlich keine Rücksicht nehmen, entschied sich aber doch dazu, dass er vielleicht nicht sofort einen Streit anfangen sollte - obwohl Nocturn ihn eindeutig reizen wollte.
"Tue ich auch nicht", erhob Nocturn dann wieder das Wort, nachdem er seinen Café au Lait ausgetrunken hatte:
"Aber ich interessiere mich für Frankreich."
"Vielleicht solltest du anfangen, dich auch für die Dämonenwelt zu interessieren..."
"C’est incroyable, ma petite princess... cet fichu directeur a mis sur un casting completement mauvais ! Avec cet casting la prochaine Casse-noisette termine par un désastre... Pauvre Casse-noisette ! Pauvre Tchaïkovski ! 1" Ohne auf die Tatsache Rücksicht zu nehmen, dass Youma kein Französisch verstand, richtete Nocturn einige Worte in jener Sprache an Feullé; scheinbar erzählte er ihr irgendetwas, was er gerade gelesen hatte, wozu Feullé allerdings kaum etwas erwiderte. Sie lächelte zurückhaltend, nickte unsicher und ließ ihre großen Augen immer wieder zu Youma huschen, um Nocturn zu bedeuten, dass sein Sitznachbar langsam ungeduldig wurde, aber scheinbar musste Nocturn - im ausschweifenden Tonfall - Feullé ganz genau berichten, was in Frankreich momentan vor sich ging. Erst als Youma sich auffällig laut räusperte unterbrach Nocturn sich. Überrascht, als hätte er Youma nicht gerade mit Absicht übergangen, wandte er sich an ihn:
"Warum am frühen Morgen schon so schlecht gelaunt?"
"Oh, weiß ich nicht; es könnte daran liegen, dass du mich ausschließt", lautete Youmas vor Ironie triefende Antwort.
"Ich schließe dich doch nicht aus; du kannst doch einfach Französisch lernen, das ist für jeden eine Bereicherung! Wie lange hat Black nochmal gebraucht, ma petite? Drei Jahre? Na gut, seine Aussprache blieb immer katastrophal..." Feullé öffnete den Mund, wollte gerade losstammeln, als Youma sie unterbrach:
"Sehr schön, dann sind wir ja wenigstens schon mal beim Thema!" Ehe er fortfuhr vollführte er eine abweisende Handbewegung den Gang herunter, wo Blue gerade schlief:
"Warum ist er hier?!" Seine Tonlage war nicht ganz in der Lage seine Wut zu unterdrücken, aber Youma war auch nicht in der Stimmung irgendetwas zu unterdrücken, was Feullé auch zu dem Entschluss brachte, dass sie sich lieber ins Badezimmer begeben würde.
"Warum interessiert dich das plötzlich?"
"Weil er jetzt ganz offensichtlich lebt..." Wohlbemerkt hatte es ihn schon die ganze Zeit interessiert, aber es war unmöglich gewesen, irgendetwas aus Nocturn herauszubekommen und da Youma nicht geglaubt hatte, dass Blue wieder zu den Lebenden zurückkehren würde, hatte er das Thema auf die leichte Schulter genommen... ein Fehler. Ein Fehler, den er nun korrigieren würde.
"... wie auch immer du das vollbracht hast." Nocturn lächelte schmal und füllte sich in Schweigen einen weiteren Café au Lait ein, ganz langsam, als bemerke er Youmas wachsamen Blick gar nicht, der auch nicht von dem angenehmen Geruch des Café au Lait erweicht wurde, obwohl er angefangen hatte, den Geruch recht gerne zu mögen.
"Möchtest du es wissen, Kronprinz...?" Natürlich wollte er das - und das wusste Nocturn ganz genau.
"... möchtest du wissen, wie ich das geschafft habe, woran Ri-Il scheiterte?" Youmas Augen verengten sich, er spannte sich weiter an... als ginge von Nocturn eine Gefahr aus, obwohl dieser nur seinen Café au Lait trank und diesen zu genießen schien.
"Ich möchte es in der Tat gerne wissen", antwortete Youma leise, als besprächen sie ein Geheimnis.
"Hängt es damit zusammen, dass du ihn... gelesen hast?"
"Hmhmh... ein wenig." Nocturn stellte seine Tasse geräuschlos auf den Unterteller und gab Youma endlich eine Erklärung, die man auch eine solche nennen konnte.
"Ich bin schlichtweg in einigen Dingen besser als er, obwohl sich unsere Fertigkeiten in einigen Dingen überschneiden. Ich habe ein größeres Maß an Empathie... das hat mir bei der Heilung Blues geholfen. Dazu kommt ein entscheidender Unterschied..." Nocturn lächelte, aber er schien nicht Youma anzulächeln.
"Blue hasst mich nicht, Ri-Il aber schon. Das machte es für mich um einiges einfacherer. Das Unterbewusstsein vergisst niemals."
"Was meinst du damit?" Nocturn lachte ein wenig und... kam es Youma nur so vor oder genoss er - obwohl er Youma die gesamte Zeit aus dem Weg gegangen war - das Besprechen dieses Themas plötzlich?
"Blue hat eine Gedächtnislücke. Nur eine. Und die stammt ganz eindeutig von einer verbotenen Technik."
"Das kannst du feststellen?"
"Na hör mal, natürlich kann ich das! Ich bin Experte für Gedankenlesen und Erinnerungen! Natürlich sehe ich, wenn im Gedächtnis gefuscht wurde - und das wurde es eindeutig bei unserem Streberlein... und zwar nicht irgendeine, sondern die Erinnerung, wie er zum ersten Mal in den Dämonenmodus ging. Irgendetwas hat Ri-Il damals mit ihm gemacht... und Ri-Il schien der Meinung zu sein, dass Blue sich daran nicht erinnern sollte. Ich weiß nicht was, ich bin ja nicht der Urheber der Magie und kann damit die Erinnerungen nicht wiederherstellen, aber es muss schon etwas sehr Schockierendes gewesen sein... etwas, was Blue Ri-Il hat hassen lassen und dieser Hass ist in seinem Unterbewusstsein gut verankert." Nocturn, der eben noch aus dem Fenster gesehen hatte, warf nun einen Blick zu Youma, welcher ihm aufmerksam und interessiert zuhörte, etwas was Nocturn ein wenig zu verwirren schien, denn er sah ihn ein wenig stutzend an und schien mit dem Fortfahren zu zögern, obwohl er doch eigentlich was das Reden anbetraf kaum zu bremsen war.
"Und was hat das mit seiner Erweckung zu tun?", fragte Youma auffordernd und brachte Nocturn damit zum Weitersprechen:
"Um sich von Lichtintus zu befreien braucht man Kraft. Überlebenswille. Anti-Licht alleine ist bei so einer Attacke, die Blue getroffen hat, nicht ausreichend. Ri-Il hatte dasselbe vorgehabt, was ich auch getan habe - in sein Unterbewusstsein eindringen, um ihm Kraft und Überlebenswille zu geben. Aber Ri-Il konnte nicht vordringen: Blues Abneigung gegen ihn versperrte ihm jedes Durchkommen. Ri-Il ist machtvoll genug, er hätte es sicherlich mit Gewalt schaffen können... aber Gewalt ist nicht immer die Lösung. Besonders nicht in so einem Fall. Da muss man ganz sensibel vorgehen..."
"Und das warst du? Sensibel?"
"Das war ich." Nocturn lächelte... anders als sonst - oder kam es Youma nur so vor?
"Ich habe ihm seine Hoffnung zurückgebracht."
Nicht nur Green war zusammengezuckt, als Blue wieder aufgewacht war und seine ersten Schritte zu gehen begonnen hatte - sondern auch Silver. Ihn hatte es aus dem Schlaf gerissen und sofort hatte er sich aus dem Hochbett geangelt, seine roten Haare aus dem Gesicht gewischt und nach unten, in das untere Etagenbett gesehen, wo sein Bruder eigentlich liegen sollte. Aber auf dem Gesicht des aufgeregten Halbdämons zeichnete sich schnell Enttäuschung ab, als er das untere Bett verlassen sah. Aber was hatte er denn gedacht? Dass Blue magischerweise...
Doch genau wie Green glaubte er seinem Gefühl - Blue lebte. Blue war wieder wach. Und koste es, was es wolle, er würde den Aufenthaltsort seines Bruders nun endlich von Ri-Il erfahren! Er wusste nicht wie, aber das war dem entschlossenen Rotschopf auch egal, als er sich schnell anzog und natürlich auch nicht vergaß, sich im Gehen schnell die Haare zu kämen. Ri-Il hatte ihm versprochen, dass er Blue wiedersehen würde. Er hatte ihm auch versprochen, dass er ihm sagen würde, wo er war, sobald es ihm besserging - also sollte es jawohl kein Problem sein, Silver das jetzt mitzuteilen! Wenn Silver gespürt hatte, dass es Blue besserging, dann hatte Ri-Il es sicherlich schon vor zehn Stunden gewusst! Egal! Ja, es war egal, wann wer was gewusst hatte, solange Ri-Il ihm nun...
"Ri-Il-sama ist nicht hier." Erschrocken und eigentlich auch ziemlich wütend sah Silver den grauhäutigen Dämon an: der erste Dämon, dem er über den Weg gelaufen war, nachdem er hatte feststellen müssen, dass Ri-Il nicht in seinem Büro war.
Er - jedenfalls glaubte Silver, dass es ein "er" war, denn er hatte keine deutlichen Geschlechtsmerkmale - war einer von Ri-Ils Assistenten; nicht auf dem Schlachtfeld tätig und auch nicht für die Lustspiele von Kunden, sondern für die notwendige Papierarbeit. Er war dafür zuständig, die Geburten- und Sterberate aller Dämonen, die zu Ri-Il gehörten, in Listen festzuhalten, genau wie Alter und Rasse - einen Posten, den es wohl nur in diesem Gebiet gab, wo obendrein alles auf Papier niedergeschrieben wurde anstatt digital erfasst zu werden. Silver hatte so wenig mit diesem viel zu hohen, viel zu dünnen Typen zu tun, dass er nicht einmal seinen Namen wusste.
"Was?! Wo ist er!?"
"Ich glaube nicht, dass du berechtigt dazu bist, das zu wissen." Silver war kurz davor rot zu sehen und dem Dämon vor ihm einfach an die Gurgel zu springen, aber das würde ihn wohl nicht näher an die Informationen bringen, die er haben wollte... Er zwang sich daher dazu, sich zu beruhigen, obwohl er große Wut und auch Frustration verspürte. Warum war Ri-Il nicht da! Warum ausgerechnet jetzt?! Was gab es wichtigeres als Blue!
"Darf ich dann... wenigstens erfahren, wann er zurück ist?" Silver biss sich auf die Unterlippe... In Gedanken überlegte er schon, ob er selbst nach Blue suchen sollte... Er konnte es wenigstens versuchen... in Paris einfach solange unterwegs sein, bis er einen Hauch von seiner Aura vernahm! Er musste etwas tun; irgendetwas!
"Er ist bald zurück, Silver-kun." Silver überraschte diese Antwort - und viel mehr überraschte ihn sein oder ihr mitfühlender Tonfall, der ihn scheinbar... trösten sollte.
"Du musst dich noch ein wenig gedulden. Aber wer geduldig ist, der wird belohnt werden." Nun schämte Silver sich ein wenig dafür, dass er den Namen eines Gesprächspartners, welcher ihn ermunternd anlächelte, nicht mehr wusste - wenn er sich ihn denn überhaupt mal gemerkt hatte.
"Danke..."
Eigentlich sollte Silver wieder zurück ins Bett gehen, aber das tat er nicht. Er bedankte sich, zermalmte sich weiter den Kopf darüber, wie dieser Dämon hieß... und begab sich zum Eingang von Ri-Ils Anwesen, wo er sich auf die unterste Treppenstufe setzte, die sein Fürst unweigerlich gehen musste, um in sein Büro zu gelangen.
Und dort wartete er.
Jetzt - drei Stunden später, fast noch bevor Ri-Il über die Schwelle seines Anwesens getreten war, überfiel ihn Silver; er wartete mit seinen Fragen nicht einmal darauf, dass sie in Ri-Ils Büro gingen, sondern löcherte ihn sofort. Aber Ri-Il blieb hart. Erst als die Schiebetür hinter Silver zugeschoben wurde und Ri-Il sich hinter seinen Schreibtisch setzte, ein, zwei Dokumente geprüft hatte, die während seiner Abwesenheit auf seinem Schreibtisch gelandet waren, erklärte Ri-Il Silver sachlich, dass Blue in der Tat wieder bei Bewusstsein war. Er nannte es eine "erfreuliche Botschaft", aber obwohl es in der Tat eine war, lächelte Silver nicht.
"Aber warum ist er denn noch nicht wieder hier?! Dieser komische Typ wird ihn doch festhalten!"
"Das mag sein." Diese Antwort genügte Silver offensichtlich nicht und gerade als Mekare hereinkam ließ Silver seine Handflächen auf Ri-Ils Schreibtisch hernieder sausen. Mekare schockierte dieser gewalttätige Gefühlsausbruch offensichtlich, aber Ri-Il blieb ruhig, auch wenn das letzte Mal, dass Silver ihn so wütend angefunkelt hatte, sehr lange zurücklag - genauer gesagt glaubte Ri-Il, dass er ihn das letzte Mal so wütend gesehen hatte, als er ihn zum ersten Mal im Dämonenmodus erlebte. Damals war es das Verlangen gewesen, Ri-Il umzubringen.
"Nach allem was Blue und ich für Euch getan haben ist das alles, was Ihr dazu zu sagen habt?!" Silver war so wütend, dass er sogar Mekares Hände, die sie ihm gerade von hinten auf die Schultern gelegt hatte, im Versuch ihn zu beruhigen, beiseite schlug - Silver bemerkte es nicht, hatte dafür momentan keine Augen, aber Ri-Il sah, dass Mekare Tränen in die Augen traten. Sie rang mit sich selbst, denn sie hatte das Verlangen Silver zu schlagen, ihn zurechtzustutzen, laut zu werden, aber diese abneigende Geste von ihm löste Trauer in ihr aus - und die Wut... die Wut löste die Angst vor etwas Irreparablem aus.
Ri-Il sagte immer noch nichts und für jede Sekunde, die verstrich wurde Silver wütender und verzweifelter - bis Ri-Il sich aus seiner Starre löste. Silver ging sofort in Abwehrposition über, doch Ri-Ils Bewegungen waren viel zu langsam, um ein Angriff zu sein, weshalb Silvers rote Augen langsam verwundert wurden, als er bemerkte, wie sein Lehrmeister seinen vielbenutzten Tintenfüller nahm und etwas aufschrieb, was Silver auf dem Kopf nicht lesen konnte - er sah nur, dass er das lateinische Alphabet benutzte. Als er ihm den Zettel reichte, realisierte Silver, dass es eine Adresse war. Fragend hob Silver den Kopf und Ri-Il erklärte:
"Das ist Nocturns Adresse."
"Die... die gebt Ihr mir einfach?"
"Natürlich. Wie versprochen", begann Ri-Il ruhig und fuhr fort:
"Es ist zwar ein paar Jahre her, dass Blue und du in Paris gewesen seid, aber ich denke, du wirst dich ohne Probleme zum Eiffelturm teleportieren können, oder, Silver-kun? Guck vom Turm aus zum Fluss und geh links die Straße entlang; zehn Minuten, wenn du wie ein Mensch gehst. Jedenfalls soweit ich mich erinnere." Silver starrte wieder auf die Adresse, dann wieder zu Ri-Il; offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er einfach so den Aufenthaltsort von Nocturn erhalten würde und plötzlich sah er beschämt aus. Und er... war wütend geworden, hatte für einen Moment... so etwas Schlechtes von Ri-Il gedacht, der ihn einfach wie immer anlächelte und ihn gar nicht für seine Wut zurechtwies, als wäre sie gar nicht geschehen.
"Äh... ja, danke. Ich... gehe dann mal." Und schon drehte er sich herum, stolperte komischerweise sogar fast und vermied es mit roten Ohren, Mekare anzusehen. Erst als er bei der Tür angekommen war und diese schon aufgeschoben hatte, hielt ihn Ri-Il noch einmal auf:
"Soweit ich mich erinnere, hat das Hochhaus, in welchem sich das Apartment befindet, eine Rezeption." Silver versuchte zu grinsen, als er sich herumwandte:
"Kein Problem, das bekomm ich schon hin!" Und schon verschwand er, gefolgt von dem Blick Mekares, welche sich allerdings sofort Ri-Il zuwandte:
"War das so schlau, Ri-Il? Jetzt hat Nocturn beide! Was ist, wenn er Silver-kun..." Ri-Il schüttelte den Kopf, wobei seine schwebenden Zöpfe hin und her wackelten:
"Er wird Silver-kun nichts antun; so dumm ist er nicht. Wenn er wirklich an Blue interessiert ist, dann wird er schon wissen, dass er ihn ab dem Punkt verliert, wo er Silver-kun etwas antut." Mekare holte ihren Fächer hervor und schwieg, immer wieder zur Tür sehend, als hoffe und erwarte sie, dass Silver noch einmal zurückkommen würde, obwohl sie beide seine Schritte gehört hatten, als er die Treppe nach unten gerannt war.
"Ri-Il...Silver-kun, er wird doch..."
"Wiederkommen?" Mekare nickte, ruckartige Bewegungen mit ihrem Fächer machend.
"Ja, das wird er." Sie wandte ihren Blick von der verzierten Schiebetür ab und die Frage, woher Ri-Il das zu wissen glaubte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, aber sie stellte sie nicht, weshalb er das Thema für abgeschlossen ansah.
Ja, er war sich sicher, dass Silver wiederkommen würde. Denn während Blue von seinem Gebiet immer nur als "Ri-Ils Gebiet" gedacht hatte, hatte Silver es immer sein Zuhause genannt, egal ob in einem Gespräch oder in seinen Gedanken - und auch jetzt war der deutlichste Gedanke in dem Kopf des Rotschopfes der Wunsch, seinen Bruder nach Hause zu holen.
Wortwahl... sagte so viel über die Gesinnung aus.
Ri-Il erhob sich, nachdem Mekare gegangen war und ohne, dass Ri-Il etwas tat schloss sich die Schiebetür wie von unsichtbarer Zauberhand geführt. Er seufzte nur und fragte sich gleichzeitig woher dieses Seufzen, diese Wehmut stammte. Was brachte ihn dazu, sich an seinen Lieblingsplatz - ein großes, rundes Fenster hinter seinem Schreibtisch, mit einem schmalen Fensterbrett, wo er dank seines ebenfalls schmalen Körpers bequem Platz fand - niederzulassen, plötzlich komisch erschöpft fühlend?
Sein Blick lag auf seinem Gebiet. Seine Sinne waren auf die Gedanken der Bewohner gerichtet wie an so vielen Abenden zuvor. Er mochte das. Es gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Natürlich, Kontrolle war wichtig; antrainierte Wachsamkeit, aber es gab ihm auch das Gefühl von Zusammenhang. Mekare machte sich bereit für ihren nächsten Kunden, dachte aber nur an "ihre zwei Jungs"; Darius freute sich über die heutigen Erfolge, ärgerte sich aber auch gleichzeitig über Uriel und Silver machte sich auf nach Paris, jetzt wieder nur noch an seinen Bruder denkend, den er... nach Hause holen wollte.
Aber Blue hörte Ri-Il nicht mehr.
Wenn er alle seine Sinne auf ihn konzentrieren würde, würde er ihn und seine Gedanken wahrscheinlich immer noch ausmachen können, doch mit der Zeit würde es schwerer werden... und irgendwann würde das Band, das sogar die Welten überbrücken konnte, gänzlich in Auflösung gehen. Es hatte bereits begonnen; von dem Moment an, als Ri-Il vor wenigen Stunden mitangehört hatte, wie Blue jedes Wort von Nocturn verschlungen hatte, begann es unklarer zu werden.
Ri-Il wusste, dass Blue nicht zurückkehren würde. Er war ihm ein für alle mal entglitten.
Nein, da musste Ri-Il sich selbst korrigieren; Blue war ihm schon entglitten, als er ihn gewaltsam zum Dämonenmodus gezwungen hatte.
Es war alles nach Plan verlaufen. Er hatte keine Verluste zu beklagen, keinerlei Nachteile, die er berücksichtigen musste; vielleicht sogar Vorteile, die er nutzen konnte. Eigentlich war es kein zu beklagender Verlust.
Woher also.... kam dann dieses bedauernde Gefühl von Schmerz?
---
1 "Es ist unglaublich, meine kleine Prinzessin! Dieser verdammte Direktor hat auf eine komplett falsche Besetzung gesetzt! Mit diesem Casting endet der nächste Nussknacker in einem Desaster... Armer Nussknaker! Armer Tchaikovski!"
Aber trotz allem hatte er nicht einmal Albträume gehabt. Es musste die momentane an ihm nagende Schwäche sein, der er dies zu verdanken hatte, als er am Morgen für eine kurze Zeit erwachte und mit schummrigen Blick an die Decke starrte.
Die Sonne musste gerade erst aufgegangen sein, denn ein fahles Licht fiel durch die zugezogenen Vorhänge und tauchte den Raum in ein trübes Dämmerlicht. Doch obwohl es noch früh am Tag war, konnte Blue Stimmen aus den anderen Zimmern hören und Stück für Stück erwachten seine Sinne im Versuch er erahnen, was eben diese Stimmen besprachen - doch es war ein vergebliches Unterfangen. Er konnte nicht hören, was sie besprachen... aber es waren definitiv Nocturn und Youma. Sie stritten sich... Streit war immer so leicht zu erkennen... Ah, deswegen verstand Blue nichts von dem, was sie besprachen: das war die Sprache der Wächter, die da an sein Ohr herandrang.
Blues Sinne kämpften darum wach zu bleiben, zu lauschen und irgendetwas zu erhaschen, irgendein Wort, das vielleicht auf Dämonisch gesagt wurde; einen Sinn des Gespräches auszumachen - doch abermals verloren seine Sinne den Kampf und der Halbdämon sank wieder zurück in einen tiefen Schlaf.
Dieses Mal jedoch war es ihm nicht vergönnt, traumlos einzuschlafen.
Er sah Silver. Er sah Green. Sie trugen alle drei ihre Schuluniformen. Es war irgendein Tag: irgendein belangloser Tag... sie hatten gute Laune. Blue spürte, dass Silver und Green ihn zu einem Lächeln brachten. Sie lachten alle drei, lachten zusammen. Niemand dachte an das Glöckchen um Greens Hals, obwohl es doch Silvers und Blues Auftrag war, es zum Brechen zu bringen.
"Das ist eine heikle Aufgabe, Blue-kun."
Er hörte nicht Silvers und Greens Lachen. Er hörte nur Ri-Ils Stimme. Er spürte ihn hinter sich. Er spürte seinen stechenden Blick im Nacken. Seine Hände auf der Stuhllehne. Blue hatte aufgehört zu lächeln. Er konnte nicht mehr mitlachen.
"Aber ich vertraue dir. Silver-kun albert rum..." Sie waren nicht mehr in der Wohnung: jetzt waren sie auf dem Schulhof. Silver lachte immer noch. Green tadelte ihn, weil er Firey mal wieder geärgert hatte. Aber sie schimpfte nur halbherzig und Blue erhaschte auch ein verstohlenes Lächeln von Firey. Ri-Il stand immer noch hinter ihm und verhinderte seine Teilnahme.
"... er ist eben noch jung. Aber ich weiß, dass du den Auftrag nicht aus dem Auge verlierst. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann."
Das letzte Mal bevor Silver und Blue ins Jenseits geeilt waren, um Green vor der Hinrichtung zu retten, da hatte Blue Ri-Il nicht geantwortet. Er hatte nicht das... Richtige antworten können... eigentlich hatte er da doch schon ahnen müssen, dass Ri-Il kommen würde, um sie - um IHN - daran zu erinnern, dass nicht Green wichtig war, sondern das Glöckchen um ihren Hals... und dass sie es zerstören mussten.
All diese Blue verspottenden Bilder liefen wie ein Stummfilm vor ihm ab; vor dem ausgeschlossenen, unbeteiligten Zuschauer namens Blue. Das, was seine Ohren hören konnten, war nicht das Lachen, was er so deutlich auf den Gesichtern seiner Liebenden sehen konnten, sondern Gesprächsfetzen; beliebig zusammengewürfelt, ihn verletzend wo sie nur konnten:
"...Du wirst nie davor fliehen können, dass du ein Dämon bist, Blue-kun. Es wird Zeit, dass du dein Blut akzeptierst... Vielleicht kannst du an einer neuen Weltordnung mitgestalten, in der ihr drei wieder zusammen sein könnt? ... und wenn du dich dein ganzes Leben lang vor den Hohen versteckst, vor deinem Blut kannst du nicht davonlaufen! ... Du redest... wie N-Nocturn! ...Wenn du sie wirklich lieben würdest... würdest du auf dein Glück verzichten, um sie zu retten... Nocturn, dieses... dieses Monstrum, hat das Leben meiner Mutter zur Hölle gemacht! ... Aniki, du... du hast mich doch lieb, oder? Du hasst mich nicht, so wie Mama, oder...? ... Ich... bin in diese Welt gekommen... um dir etwas zu sagen...
Ich liebe dich...
Du hast mich doch lieb, oder?
Ich liebe dich...
Du hast mich doch lieb, oder?
Ich liebe dich.
Ich liebe dich, Gary!"
Viel zu viele Stunden drehten immer dieselben Sätze sich im Kreis; viel zu viele Stunden hielt ihn dieser Albtraum gefangen, bis er ihn... erlöste.
Seitdem Blue den Auftrag ausgeführt hatte, hatte er regelmäßig Albträume; so regelmäßig, dass er nicht mehr vor ihnen erschrak und ruhig aus ihnen erwachte, als wäre es bereits eine Routine, an die er sich gewohnt hatte.
Die Wahrheit war allerdings, dass er sich nicht an sie gewohnt hatte, die vielen Farben und Formen, in denen sie ihn heimsuchten, machten es unmöglich, sich an diese zu gewöhnen... doch das Vorhaben es sich für Silver nicht anmerken zu lassen, war so tief in ihm verankert, dass man es ihm nicht ansah, wenn er aus einem weiteren Albtraum erwachte. Als er die Augen jedoch langsam aufschlug und wieder zur Realität zurückkehrte, klang Silvers verzweifeltes Betteln nach Liebe und Greens Liebeserklärung noch in seinen Ohren nach und als würde er zwei Filme zugleich sehen, sah er noch verschwommen den vierjährigen, weinenden Silver vor sich, weil er sich bewusst war, dass seine Mutter ihn nicht liebte und gleich daneben die auf dem Boden Lerenien-Seis kauernde Green, mit dem zerbrochenen Glöckchen, ihre Liebe beteuernd... und ihm war auch immer noch, als starre Ri-Il ihn an.
Viel zu langsam lösten sich diese Bilder auf... viel zu lange dauerte es, bis Blue verstand, dass er in der Menschenwelt war. Dass er auf dem Kanapé lag; dass er nicht aufrecht stand und dass Ri-Il sich nicht hinter ihm befand. Blue schüttelte stöhnend den Kopf und rieb sich die Stirn und die Schläfen, die wieder schmerzten... Er schloss noch einmal die Augen, aber dann sah er nur wieder Green und Silver vor sich, beide so verletzt, beide so... weinend... dass er sich beeilte, die Augen wieder zu öffnen.
Helles Tageslicht fiel nun durch zwei große Fenster hinein, wovon eines leicht geöffnet war und die hellen Vorhänge vor dem Fenster in Bewegung brachte, im Takt mit den von draußen fern klingenden Geräuschen, die durch den Fensterspalt in das Zimmer hinein gelockt wurden. Autogeräusche, Hupen und Sirenen und sicherlich auch menschliche Stimmen wären zu hören, wenn Blues Gehör einen solchen Eindruck wieder zulassen würde und erinnerten ihn wieder daran, dass er sich in einer Metropole befand... in Nocturns Wohnung, in Nocturns Zimmer.
Es war ein schmaler rechteckiger, unaufgeräumt und chaotisch wirkender Raum. Auf dem Boden lagen verstreut aufgeschlagene Bücher, einige Textzeilen markiert mit schwarzer und roter Tinte, die wohl aus den Tintengläsern stammte, die überall auf dem Boden verstreut waren - aber keines war umgekippt, was Blue bei der großen Menge fast schon beeindruckte. Auf dem großen Sekretär standen ebenfalls Tintenfässer zusammen mit vielen Kerzen. Große, wuchtige Kerzen, die man auch in Kirchen fand, verteilten ihr Wachs auf dem dunklen Holz des Möbelstücks. Auch vor dem Fenster, wo man sich auf einen kleinen Vorsprung setzen konnte, standen diese großen Kerzen, die offenbar oft entzündet wurden.
Die drei Bücherregale zu Blues Linken, den beiden Fenstern gegenüber, waren eine Pein für Bücherliebhaber wie ihn, denn die vielen verschiedenen Bücher waren chaotisch ins Regal geworfen worden; einige standen schief, andere falsch herum und sie gehörten mehreren verschiedenen Sprachen an: der Großteil von ihnen war auf Französisch, doch er meinte auch einige in der Sprache der Wächter erahnen zu können und ein paar wenige auf Englisch. Die meisten handelten zweifelsfrei um Musik oder waren Dramen; einige bekannte Namen wie Shakespeare, Sartre, Camus und Goethe meinte Blue lesen zu können, doch auch viele ihm unbekannte - doch Blue erkannte auch ein paar Geschichtsbücher der Wächter in der eigenartigen Sammlung Nocturns. Er hatte deren Rücken schon mal bei Green und ihren von Grey aufgezwungenen Lektüren gesehen... eines von den Büchern war ohne Zweifel "Geschichte der Wächter" von Tao Kikou Asuka.
Wahllos zwischen die Bücher hineingeschoben entdeckte Blue auch mehrere Schallplatten, Notizen und Notenblätter - von denen der Schreibtisch sich kaum retten konnte - und oben auf dem Bücherregal lag eine verstaubte Geige in ihrem dazugehörigen Kasten. Das einzige andere Instrument, welches Blue ausmachen konnte, war eine Harfe, gleich neben dem ersten Fenster - doch sie wirkte unbenutzt. Nocturns Querflöte konnte er nirgends sehen, dafür allerdings eine kleine Sammlung an Notenständern und allgemein viel zu viele Kerzen - sogar auf dem Boden; ob nun zwischen den Notenblättern, neben den Notenständern oder mitten im Bücherregal. Sehr rücksichtslos...
Der einzige Punkt im Zimmer, welcher nicht im Chaos versank, war eine fast lebensgroße Engelsstatue aus einem weißen Material und sehr detailliert gehauenen Flügeln; das Gesicht des weiblichen Engels allerdings war ausdruckslos, denn er besaß weder Augen noch Mund und machte daher keinen besonders warmen oder freundlichen Eindruck... eher bedrohlich wie Blue fand. Nocturn schien diese Skulptur allerdings zu mögen, denn er hatte ein silbernes Diadem auf deren Kopf platziert - welches nicht zur Skulptur zu gehören schien; es war ein Fremdkörper.
"G-Guten Morgen..." Blue schreckte auf und sah nun zum ersten Mal Feullé, welche gekleidet in ein blaues Lolita-Kleidchen an der Tür erschienen war und ein Tablett mit einem kompletten Frühstück trug, womit Blue auf einmal bemerkte, dass er scheinbar schon wieder Hunger hatte; aber dass sein Magen auf den wohltuenden Geruch von warmen Brötchen - oder waren es Croissants? - reagierte, war wohl ein gutes Zeichen.
"Sie müssen sich nicht fürchten, Blue-san. Sie sind... hier in guten Händen." Feullé reichte dem Kranken das gefüllte Tablett, auf welchem sich tatsächlich Croissants mit Orangensaft, einem hartgekochten Ei, Butter und Käse, aber auch Marmelade und ein Kaffee befanden.
Blue war einen Augenblick lang von dem ungewöhnlichen Anblick überrascht, denn er hatte in dem vergangenen Jahr kaum bis gar nicht menschliches Essen gegessen. Bei Ri-Il hatten Silver und er genau wie die anderen Dämonen das zähe, zwar sättigende, doch nach Nichts schmeckende Dämonenfleisch essen müssen; manchmal hatte es für sie aber auch hartes, aus der Menschenwelt stammendes Vollkornbrot mit fettiger Milch gegeben. Blue hatte sich nie beschwert, da er keine Person war, der Essen sonderlich wichtig war, doch als er dieses ausgiebige Frühstück sah, bemerkte er doch einen Unterschied.
Feullé hatte sich zwar einen Hocker an das Bett herangeschoben, in welches Blue sich wieder gesetzt hatte, doch verhielt sich ruhig, während Blue alles bis auf den letzten Krümel aufaß und sich dann, wie es sich für einen Guterzogenen gehörte, für das Essen bedankte, was Feullé aufzutauen schien.
"Es freut mich... dass es Ihnen geschmeckt hat. Ich kaufe so gerne ein. Hier in der Menschenwelt gibt es so viel Auswahl und ich probiere... gerne Neues. Ich kann noch nicht so gut... kochen, aber... mein Vater lobt meine Croissants. Die... backe ich n-neuerdings selbst und der... Orangensaft ist auch selbst gepresst." Nachdem Feullé diese Worte gesagt hatte, hob sie den Kopf und die beiden sahen sich einen kurzen Augenblick an; bis Blue plötzlich die Stirn runzelte:
"Haben wir beide uns nicht schon einmal gesehen?"
"Doch... doch das haben wir. Mein Name ist Feullé Le Noires.", begann Feullé und erzählte, dass sie sich bei der Verkündung der Kriegserklärung gesehen hätten, wobei es Blue auch wieder einfiel; sie war das Mädchen gewesen, welches in Begleitung Lacrimosas versucht hatte, mit ihm zu reden, sich aber doch abgewandt hatte.
"Ich habe erkannt, dass Sie Black-sans Sohn sind", fuhr Feullé fort und machte einen schüchternen Wink zu Blues Haaren.
"Du kanntest meinen Vater?" Obwohl Feullé ihm mit solch einem großen Maß an Höflichkeit entgegenkam, schien es Blue merkwürdig, das kleine Mädchen vor ihm zu siezen; wie alt sie wohl war - sie machte den Eindruck eines kleinen Mädchens und obwohl sie von niedriger Statur war, besaß ihr Körper doch bereits weibliche Rundungen. Dazu kam, dass sie gar nicht so jung sein konnte, wenn sie Black noch gekannt hatte... sie musste... Ja, dieses kleine Mädchen musste älter sein als Blue!
"Ja, ich kannte Black-san", erwiderte Feullé flüsternd und mit einem unsicheren Nicken, weshalb Blue bereits schlimme Vorahnungen hatte, doch ihre weiteren Worte überraschten den Halbdämon:
"Black-san hat immer auf mich aufgepasst, wenn mein Vater White-sama besucht hat. Wir haben viel zusammen unter...nommen. Einmal waren wir alle drei zusammen im Disneyland; das war so schön..." Diese Erinnerung war ganz offensichtlich eine sehr positive für Feullé, denn sie lächelte plötzlich mit erröteten Wangen und während sie noch in ihren Erinnerungen schwelgte, sah sie nun lächelnd wieder auf und sagte:
"Aber das muss ich Ihnen ja sicherlich nicht sagen... Black-san war... Habt Ihr etwas, Blue-san?" Das ungläubige Anstarren Blues war nicht zu übersehen und da Feullé nur gute Erinnerungen mit Black verknüpfte, konnte sie sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass Blues plötzlich erstarrtes Gesicht etwas mit ihren Worten zu tun hatte - auf der anderen Seite konnte Blue sich nicht vorstellen, dass sie tatsächlich von der gleichen Person sprachen. Black, sein Vater? Als rührender Vater, der mit ins Disneyland ging? Er hatte es nicht einmal gemocht, einen Supermarkt zu betreten.
"Du... hast also nur gute Erinnerungen mit ihm gesammelt?", hakte Blue nach, da er das Bild seines Vaters einfach nicht im Disneyland platzieren konnte; genauso wenig wie er sich vorstellen konnte, wie Black mit einem kleinen Mädchen alleine war und auf es aufpasste; womöglich noch mit ihm gespielt hatte.
"Oh ja, ich... ich mochte Black-san sehr."
"Habt ihr... auch zusammen gespielt?"
"Aber ja. Wir haben oft Memory gespielt. Auf Französisch, damit wir es beide lernen."
"Memory. Du und mein Vater ihr habt... Memory gespielt."
"Habt Ihr etwas, Blue-san?"
"Aber vorgelesen hat er dir nicht?"
"Aber nein, das hat mein Vater gemacht, wenn er da war, wenn ich ins Bett sollte. Ich musste immer pünktlich schlafen... und Vater war nicht immer da. Dann hat Black-san mich stattdessen ins Bett gebracht. Manchmal bin ich in der Stube eingeschlafen... und dann hat Black-san mich auf dem Arm genommen und - Also, Blue-san, Ihr seht wirklich nicht gut aus... waren die O-orangen vielleicht nicht mehr gut? Aber ich habe sie doch erst gestern Morgen gekauft..." Es lag gewiss nicht an der Reife der Orangen, dass Blue ungläubig mit einem weißen Gesicht Feullé anzustarren schien - sein Blick war allerdings nicht auf Feullé gerichtet, sondern glitt hinab in die Vergangenheit; er sah Bilder seiner Kindheit vor sich, welche die Erinnerungen zeigten, die er von seinem Vater besaß. Keiner dieser Erinnerungen würde Blue jemals als "gute Erinnerung" einstufen; wenn er an Black dachte, dachte er dabei zwar schon an seinen Vater - notgedrungen, weil es nun einmal eine Tatsache war, so traurig sie auch war - doch nur als eine ferne Person, die kein Teil der Familie war und dass diese Distanz auch gut und wünschenswert war, denn wenn diese Person... sein Vater... zu nah herankommen würde, wäre er eine Gefahr. Wie oft hatte er gesehen, wie Black seine Mutter geschlagen hatte? Sie hat so oft geblutet. Sie hat so oft die Zähne zusammengebissen und sich selbst verarztet.
Blue besaß ein außerordentliches - von ihm so manches Mal verfluchtes - Gedächtnis und selbst wenn er es wollte, vergaß er nichts. Er besaß Erinnerungen frühester Kindheit und Black war einer der Gründe, weshalb er sich wünschte, sich an diese nicht mehr erinnern zu können... und die einzige Erinnerung, die nicht in das Ganze hinein passen wollte und die er heute noch anzweifelte, war damals, als er seine Mutter und seinen Vater in der Küche überrascht hatte - derselbe Ort, an welchem sie später... in dem ganzen Blut...
Blut. Es spritzt aus der immer größer werdenden Wunde. Es trieft. Es spritzt. Es riecht nach Metall. Metallischem Tod. Aber es ist der Wind, der stirbt. Der abgestochen wird. Das Blut ist auf dem Boden. Es hat sein Gesicht mit Flecken bemalt. Die Hände sind rot. Auf dem Boden ist alles rot. Sie beiden stehen in einer roten Pfütze. Nein. Nur einer steht. Der Wind hängt und berührt nicht den Boden. Denn er hat ihn aufgespießt.
"Du Monstrum! Meine Schwester wird nie, niemals darauf hereinfallen! Ihr Herz ist stark! Ich glaube an sie!"
"Mach das Fenster zu!"
Feullé erschrak, als Blue ihr dies befahl; seine Stimme klang plötzlich so fest und hart, überhaupt nicht vergleichbar mit der etwas fern klingenden Tonlage von vor einigen Minuten, bevor er plötzlich ins Schweigen gefallen war - und warum sollte sie das Fenster schließen? Die kühle Brise, die durch das offene Fenster hineingekommen war, war doch eigentlich sehr angenehm? Sie hatte es extra geöffnet, um seine Lebensgeister ein wenig zu erfrischen... aber er meinte es ernst, denn als Feullé keine Anstalten machte, sich irgendwie zu bewegen, versuchte Blue sich aufzurichten und das Bett zu verlassen.
"I-Ich mache das s-schon!" Noch während Feullé diese Worte gestottert hatte, war sie auch schon aufgesprungen und auf das Fenster zugestolpert, um es mit einer ausgestreckten Hand zu schließen.
Offensichtlich... hatte Blue genauso sehr etwas gegen den Wind wie Nocturn.
Der Streit, den Blue mit halbem Ohr hatte hören können, hatte um sechs Uhr morgens stattgefunden und war in der Tat von Nocturn und von Youma ausgetragen worden. Feullé, noch in einen rosafarbenen Pyjama gekleidet, tüftelte in der Küche herum, um das Frühstück vorzubereiten und als Youma aus seinem Zimmer kam, war Nocturn gerade bei seiner zweiten Tasse Kaffee. Er saß auf einem der Drehstühle an der Küchentheke und war in die eben erst gekaufte Ausgabe der Le Figaro-Zeitung vertieft, während er einen überzuckerten Café au Lait trank.
"Guten Morgen!", begann Nocturn mit einer offensichtlichen guten Laune, obwohl er sich eigentlich denken konnte, dass Youmas Laune diesen schönen Morgen ruinieren würde. Ja, eigentlich konnte er sich denken, dass Youma schlechte Laune hatte. Gestern Abend war Nocturn einfach ohne Youma mit Blue verschwunden und als sie dann endlich nach vier Stunden zurückgekommen waren, hatte Nocturn ihn einfach geheimnisvoll angeschwiegen und war dann, nachdem er den ohnmächtigen Blue ins Zimmer gebracht hatte, einfach wieder verschwunden - wer wusste wohin!
Aber jetzt nicht! Dieses Mal würde Nocturn Youma nicht entgehen: dieses Mal würde er eine Antwort erhalten, eine Erklärung für dieses ganze Tara, eine Erklärung dafür warum dieser schwache Halbdämon bei ihnen war.
"Anti-Teleportationsbannkreis... ich bin ja beeindruckt." Nocturn klang nicht beeindruckt. Er sah immer noch in seine Zeitung und seine von links nach rechts huschenden Augen sagten dem Sensenmann auch, dass er noch las; etwas, was den vom Schlaf noch recht zerzaust aussehenden Youma noch mehr reizte, denn er konnte kein Verständnis dafür aufbringen, dass Nocturn sich so sehr für die Menschenwelt interessierte statt für die Dämonenwelt.
"Anti... Teleportationsbannkreis?", stotterte Feullé überrascht und auch besorgt, wohl Gefahr befürchtend, doch Nocturn beruhigte ihre Sorge mit einer Hand auf ihren Kopf und ein paar französischen Worten.
"Wann hast du das denn gelernt? Und vor allen Dingen... von wem, wenn nicht von mir?"
"Von Lacrimosa-san", erwiderte Youma trotzig und setzte sich auf den hohen Barstuhl neben Nocturn, während er verkündete, dass sie jawohl etwas zu besprechen hätten.
"Und dieses Mal wirst du mir nicht wegrennen!"
"Ich bin nicht weggerannt, ich hatte nur keine Lust mir dir zu reden" Nocturn nahm einen Schluck von seinem Kaffee, welchen Youma ihm zu gerne aus der Hand geschlagen hätte. Aber er blieb ruhig... versuchte es jedenfalls... und wünschte Feullé, die das Ganze beobachtete, einen "Guten Morgen", welche sich allerdings nicht traute, etwas zu erwidern. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Feullé mit sich selbst rang - wahrscheinlich spürte sie, im Gegensatz zu Nocturn, dass Youma wütend war und wollte vermeiden, dass er explodierte.
"Nocturn?! Könntest du..."
"Einen Moment noch; ich muss das hier noch fertig lesen."
"Ich dachte, du interessierst dich nicht für Politik?! Warum interessierst du dich für die menschliche?!"
"Ich sagte, "Moment noch"." Youma wollte auf diese komischen Gebarden eigentlich keine Rücksicht nehmen, entschied sich aber doch dazu, dass er vielleicht nicht sofort einen Streit anfangen sollte - obwohl Nocturn ihn eindeutig reizen wollte.
"Tue ich auch nicht", erhob Nocturn dann wieder das Wort, nachdem er seinen Café au Lait ausgetrunken hatte:
"Aber ich interessiere mich für Frankreich."
"Vielleicht solltest du anfangen, dich auch für die Dämonenwelt zu interessieren..."
"C’est incroyable, ma petite princess... cet fichu directeur a mis sur un casting completement mauvais ! Avec cet casting la prochaine Casse-noisette termine par un désastre... Pauvre Casse-noisette ! Pauvre Tchaïkovski ! 1" Ohne auf die Tatsache Rücksicht zu nehmen, dass Youma kein Französisch verstand, richtete Nocturn einige Worte in jener Sprache an Feullé; scheinbar erzählte er ihr irgendetwas, was er gerade gelesen hatte, wozu Feullé allerdings kaum etwas erwiderte. Sie lächelte zurückhaltend, nickte unsicher und ließ ihre großen Augen immer wieder zu Youma huschen, um Nocturn zu bedeuten, dass sein Sitznachbar langsam ungeduldig wurde, aber scheinbar musste Nocturn - im ausschweifenden Tonfall - Feullé ganz genau berichten, was in Frankreich momentan vor sich ging. Erst als Youma sich auffällig laut räusperte unterbrach Nocturn sich. Überrascht, als hätte er Youma nicht gerade mit Absicht übergangen, wandte er sich an ihn:
"Warum am frühen Morgen schon so schlecht gelaunt?"
"Oh, weiß ich nicht; es könnte daran liegen, dass du mich ausschließt", lautete Youmas vor Ironie triefende Antwort.
"Ich schließe dich doch nicht aus; du kannst doch einfach Französisch lernen, das ist für jeden eine Bereicherung! Wie lange hat Black nochmal gebraucht, ma petite? Drei Jahre? Na gut, seine Aussprache blieb immer katastrophal..." Feullé öffnete den Mund, wollte gerade losstammeln, als Youma sie unterbrach:
"Sehr schön, dann sind wir ja wenigstens schon mal beim Thema!" Ehe er fortfuhr vollführte er eine abweisende Handbewegung den Gang herunter, wo Blue gerade schlief:
"Warum ist er hier?!" Seine Tonlage war nicht ganz in der Lage seine Wut zu unterdrücken, aber Youma war auch nicht in der Stimmung irgendetwas zu unterdrücken, was Feullé auch zu dem Entschluss brachte, dass sie sich lieber ins Badezimmer begeben würde.
"Warum interessiert dich das plötzlich?"
"Weil er jetzt ganz offensichtlich lebt..." Wohlbemerkt hatte es ihn schon die ganze Zeit interessiert, aber es war unmöglich gewesen, irgendetwas aus Nocturn herauszubekommen und da Youma nicht geglaubt hatte, dass Blue wieder zu den Lebenden zurückkehren würde, hatte er das Thema auf die leichte Schulter genommen... ein Fehler. Ein Fehler, den er nun korrigieren würde.
"... wie auch immer du das vollbracht hast." Nocturn lächelte schmal und füllte sich in Schweigen einen weiteren Café au Lait ein, ganz langsam, als bemerke er Youmas wachsamen Blick gar nicht, der auch nicht von dem angenehmen Geruch des Café au Lait erweicht wurde, obwohl er angefangen hatte, den Geruch recht gerne zu mögen.
"Möchtest du es wissen, Kronprinz...?" Natürlich wollte er das - und das wusste Nocturn ganz genau.
"... möchtest du wissen, wie ich das geschafft habe, woran Ri-Il scheiterte?" Youmas Augen verengten sich, er spannte sich weiter an... als ginge von Nocturn eine Gefahr aus, obwohl dieser nur seinen Café au Lait trank und diesen zu genießen schien.
"Ich möchte es in der Tat gerne wissen", antwortete Youma leise, als besprächen sie ein Geheimnis.
"Hängt es damit zusammen, dass du ihn... gelesen hast?"
"Hmhmh... ein wenig." Nocturn stellte seine Tasse geräuschlos auf den Unterteller und gab Youma endlich eine Erklärung, die man auch eine solche nennen konnte.
"Ich bin schlichtweg in einigen Dingen besser als er, obwohl sich unsere Fertigkeiten in einigen Dingen überschneiden. Ich habe ein größeres Maß an Empathie... das hat mir bei der Heilung Blues geholfen. Dazu kommt ein entscheidender Unterschied..." Nocturn lächelte, aber er schien nicht Youma anzulächeln.
"Blue hasst mich nicht, Ri-Il aber schon. Das machte es für mich um einiges einfacherer. Das Unterbewusstsein vergisst niemals."
"Was meinst du damit?" Nocturn lachte ein wenig und... kam es Youma nur so vor oder genoss er - obwohl er Youma die gesamte Zeit aus dem Weg gegangen war - das Besprechen dieses Themas plötzlich?
"Blue hat eine Gedächtnislücke. Nur eine. Und die stammt ganz eindeutig von einer verbotenen Technik."
"Das kannst du feststellen?"
"Na hör mal, natürlich kann ich das! Ich bin Experte für Gedankenlesen und Erinnerungen! Natürlich sehe ich, wenn im Gedächtnis gefuscht wurde - und das wurde es eindeutig bei unserem Streberlein... und zwar nicht irgendeine, sondern die Erinnerung, wie er zum ersten Mal in den Dämonenmodus ging. Irgendetwas hat Ri-Il damals mit ihm gemacht... und Ri-Il schien der Meinung zu sein, dass Blue sich daran nicht erinnern sollte. Ich weiß nicht was, ich bin ja nicht der Urheber der Magie und kann damit die Erinnerungen nicht wiederherstellen, aber es muss schon etwas sehr Schockierendes gewesen sein... etwas, was Blue Ri-Il hat hassen lassen und dieser Hass ist in seinem Unterbewusstsein gut verankert." Nocturn, der eben noch aus dem Fenster gesehen hatte, warf nun einen Blick zu Youma, welcher ihm aufmerksam und interessiert zuhörte, etwas was Nocturn ein wenig zu verwirren schien, denn er sah ihn ein wenig stutzend an und schien mit dem Fortfahren zu zögern, obwohl er doch eigentlich was das Reden anbetraf kaum zu bremsen war.
"Und was hat das mit seiner Erweckung zu tun?", fragte Youma auffordernd und brachte Nocturn damit zum Weitersprechen:
"Um sich von Lichtintus zu befreien braucht man Kraft. Überlebenswille. Anti-Licht alleine ist bei so einer Attacke, die Blue getroffen hat, nicht ausreichend. Ri-Il hatte dasselbe vorgehabt, was ich auch getan habe - in sein Unterbewusstsein eindringen, um ihm Kraft und Überlebenswille zu geben. Aber Ri-Il konnte nicht vordringen: Blues Abneigung gegen ihn versperrte ihm jedes Durchkommen. Ri-Il ist machtvoll genug, er hätte es sicherlich mit Gewalt schaffen können... aber Gewalt ist nicht immer die Lösung. Besonders nicht in so einem Fall. Da muss man ganz sensibel vorgehen..."
"Und das warst du? Sensibel?"
"Das war ich." Nocturn lächelte... anders als sonst - oder kam es Youma nur so vor?
"Ich habe ihm seine Hoffnung zurückgebracht."
Nicht nur Green war zusammengezuckt, als Blue wieder aufgewacht war und seine ersten Schritte zu gehen begonnen hatte - sondern auch Silver. Ihn hatte es aus dem Schlaf gerissen und sofort hatte er sich aus dem Hochbett geangelt, seine roten Haare aus dem Gesicht gewischt und nach unten, in das untere Etagenbett gesehen, wo sein Bruder eigentlich liegen sollte. Aber auf dem Gesicht des aufgeregten Halbdämons zeichnete sich schnell Enttäuschung ab, als er das untere Bett verlassen sah. Aber was hatte er denn gedacht? Dass Blue magischerweise...
Doch genau wie Green glaubte er seinem Gefühl - Blue lebte. Blue war wieder wach. Und koste es, was es wolle, er würde den Aufenthaltsort seines Bruders nun endlich von Ri-Il erfahren! Er wusste nicht wie, aber das war dem entschlossenen Rotschopf auch egal, als er sich schnell anzog und natürlich auch nicht vergaß, sich im Gehen schnell die Haare zu kämen. Ri-Il hatte ihm versprochen, dass er Blue wiedersehen würde. Er hatte ihm auch versprochen, dass er ihm sagen würde, wo er war, sobald es ihm besserging - also sollte es jawohl kein Problem sein, Silver das jetzt mitzuteilen! Wenn Silver gespürt hatte, dass es Blue besserging, dann hatte Ri-Il es sicherlich schon vor zehn Stunden gewusst! Egal! Ja, es war egal, wann wer was gewusst hatte, solange Ri-Il ihm nun...
"Ri-Il-sama ist nicht hier." Erschrocken und eigentlich auch ziemlich wütend sah Silver den grauhäutigen Dämon an: der erste Dämon, dem er über den Weg gelaufen war, nachdem er hatte feststellen müssen, dass Ri-Il nicht in seinem Büro war.
Er - jedenfalls glaubte Silver, dass es ein "er" war, denn er hatte keine deutlichen Geschlechtsmerkmale - war einer von Ri-Ils Assistenten; nicht auf dem Schlachtfeld tätig und auch nicht für die Lustspiele von Kunden, sondern für die notwendige Papierarbeit. Er war dafür zuständig, die Geburten- und Sterberate aller Dämonen, die zu Ri-Il gehörten, in Listen festzuhalten, genau wie Alter und Rasse - einen Posten, den es wohl nur in diesem Gebiet gab, wo obendrein alles auf Papier niedergeschrieben wurde anstatt digital erfasst zu werden. Silver hatte so wenig mit diesem viel zu hohen, viel zu dünnen Typen zu tun, dass er nicht einmal seinen Namen wusste.
"Was?! Wo ist er!?"
"Ich glaube nicht, dass du berechtigt dazu bist, das zu wissen." Silver war kurz davor rot zu sehen und dem Dämon vor ihm einfach an die Gurgel zu springen, aber das würde ihn wohl nicht näher an die Informationen bringen, die er haben wollte... Er zwang sich daher dazu, sich zu beruhigen, obwohl er große Wut und auch Frustration verspürte. Warum war Ri-Il nicht da! Warum ausgerechnet jetzt?! Was gab es wichtigeres als Blue!
"Darf ich dann... wenigstens erfahren, wann er zurück ist?" Silver biss sich auf die Unterlippe... In Gedanken überlegte er schon, ob er selbst nach Blue suchen sollte... Er konnte es wenigstens versuchen... in Paris einfach solange unterwegs sein, bis er einen Hauch von seiner Aura vernahm! Er musste etwas tun; irgendetwas!
"Er ist bald zurück, Silver-kun." Silver überraschte diese Antwort - und viel mehr überraschte ihn sein oder ihr mitfühlender Tonfall, der ihn scheinbar... trösten sollte.
"Du musst dich noch ein wenig gedulden. Aber wer geduldig ist, der wird belohnt werden." Nun schämte Silver sich ein wenig dafür, dass er den Namen eines Gesprächspartners, welcher ihn ermunternd anlächelte, nicht mehr wusste - wenn er sich ihn denn überhaupt mal gemerkt hatte.
"Danke..."
Eigentlich sollte Silver wieder zurück ins Bett gehen, aber das tat er nicht. Er bedankte sich, zermalmte sich weiter den Kopf darüber, wie dieser Dämon hieß... und begab sich zum Eingang von Ri-Ils Anwesen, wo er sich auf die unterste Treppenstufe setzte, die sein Fürst unweigerlich gehen musste, um in sein Büro zu gelangen.
Und dort wartete er.
Jetzt - drei Stunden später, fast noch bevor Ri-Il über die Schwelle seines Anwesens getreten war, überfiel ihn Silver; er wartete mit seinen Fragen nicht einmal darauf, dass sie in Ri-Ils Büro gingen, sondern löcherte ihn sofort. Aber Ri-Il blieb hart. Erst als die Schiebetür hinter Silver zugeschoben wurde und Ri-Il sich hinter seinen Schreibtisch setzte, ein, zwei Dokumente geprüft hatte, die während seiner Abwesenheit auf seinem Schreibtisch gelandet waren, erklärte Ri-Il Silver sachlich, dass Blue in der Tat wieder bei Bewusstsein war. Er nannte es eine "erfreuliche Botschaft", aber obwohl es in der Tat eine war, lächelte Silver nicht.
"Aber warum ist er denn noch nicht wieder hier?! Dieser komische Typ wird ihn doch festhalten!"
"Das mag sein." Diese Antwort genügte Silver offensichtlich nicht und gerade als Mekare hereinkam ließ Silver seine Handflächen auf Ri-Ils Schreibtisch hernieder sausen. Mekare schockierte dieser gewalttätige Gefühlsausbruch offensichtlich, aber Ri-Il blieb ruhig, auch wenn das letzte Mal, dass Silver ihn so wütend angefunkelt hatte, sehr lange zurücklag - genauer gesagt glaubte Ri-Il, dass er ihn das letzte Mal so wütend gesehen hatte, als er ihn zum ersten Mal im Dämonenmodus erlebte. Damals war es das Verlangen gewesen, Ri-Il umzubringen.
"Nach allem was Blue und ich für Euch getan haben ist das alles, was Ihr dazu zu sagen habt?!" Silver war so wütend, dass er sogar Mekares Hände, die sie ihm gerade von hinten auf die Schultern gelegt hatte, im Versuch ihn zu beruhigen, beiseite schlug - Silver bemerkte es nicht, hatte dafür momentan keine Augen, aber Ri-Il sah, dass Mekare Tränen in die Augen traten. Sie rang mit sich selbst, denn sie hatte das Verlangen Silver zu schlagen, ihn zurechtzustutzen, laut zu werden, aber diese abneigende Geste von ihm löste Trauer in ihr aus - und die Wut... die Wut löste die Angst vor etwas Irreparablem aus.
Ri-Il sagte immer noch nichts und für jede Sekunde, die verstrich wurde Silver wütender und verzweifelter - bis Ri-Il sich aus seiner Starre löste. Silver ging sofort in Abwehrposition über, doch Ri-Ils Bewegungen waren viel zu langsam, um ein Angriff zu sein, weshalb Silvers rote Augen langsam verwundert wurden, als er bemerkte, wie sein Lehrmeister seinen vielbenutzten Tintenfüller nahm und etwas aufschrieb, was Silver auf dem Kopf nicht lesen konnte - er sah nur, dass er das lateinische Alphabet benutzte. Als er ihm den Zettel reichte, realisierte Silver, dass es eine Adresse war. Fragend hob Silver den Kopf und Ri-Il erklärte:
"Das ist Nocturns Adresse."
"Die... die gebt Ihr mir einfach?"
"Natürlich. Wie versprochen", begann Ri-Il ruhig und fuhr fort:
"Es ist zwar ein paar Jahre her, dass Blue und du in Paris gewesen seid, aber ich denke, du wirst dich ohne Probleme zum Eiffelturm teleportieren können, oder, Silver-kun? Guck vom Turm aus zum Fluss und geh links die Straße entlang; zehn Minuten, wenn du wie ein Mensch gehst. Jedenfalls soweit ich mich erinnere." Silver starrte wieder auf die Adresse, dann wieder zu Ri-Il; offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er einfach so den Aufenthaltsort von Nocturn erhalten würde und plötzlich sah er beschämt aus. Und er... war wütend geworden, hatte für einen Moment... so etwas Schlechtes von Ri-Il gedacht, der ihn einfach wie immer anlächelte und ihn gar nicht für seine Wut zurechtwies, als wäre sie gar nicht geschehen.
"Äh... ja, danke. Ich... gehe dann mal." Und schon drehte er sich herum, stolperte komischerweise sogar fast und vermied es mit roten Ohren, Mekare anzusehen. Erst als er bei der Tür angekommen war und diese schon aufgeschoben hatte, hielt ihn Ri-Il noch einmal auf:
"Soweit ich mich erinnere, hat das Hochhaus, in welchem sich das Apartment befindet, eine Rezeption." Silver versuchte zu grinsen, als er sich herumwandte:
"Kein Problem, das bekomm ich schon hin!" Und schon verschwand er, gefolgt von dem Blick Mekares, welche sich allerdings sofort Ri-Il zuwandte:
"War das so schlau, Ri-Il? Jetzt hat Nocturn beide! Was ist, wenn er Silver-kun..." Ri-Il schüttelte den Kopf, wobei seine schwebenden Zöpfe hin und her wackelten:
"Er wird Silver-kun nichts antun; so dumm ist er nicht. Wenn er wirklich an Blue interessiert ist, dann wird er schon wissen, dass er ihn ab dem Punkt verliert, wo er Silver-kun etwas antut." Mekare holte ihren Fächer hervor und schwieg, immer wieder zur Tür sehend, als hoffe und erwarte sie, dass Silver noch einmal zurückkommen würde, obwohl sie beide seine Schritte gehört hatten, als er die Treppe nach unten gerannt war.
"Ri-Il...Silver-kun, er wird doch..."
"Wiederkommen?" Mekare nickte, ruckartige Bewegungen mit ihrem Fächer machend.
"Ja, das wird er." Sie wandte ihren Blick von der verzierten Schiebetür ab und die Frage, woher Ri-Il das zu wissen glaubte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, aber sie stellte sie nicht, weshalb er das Thema für abgeschlossen ansah.
Ja, er war sich sicher, dass Silver wiederkommen würde. Denn während Blue von seinem Gebiet immer nur als "Ri-Ils Gebiet" gedacht hatte, hatte Silver es immer sein Zuhause genannt, egal ob in einem Gespräch oder in seinen Gedanken - und auch jetzt war der deutlichste Gedanke in dem Kopf des Rotschopfes der Wunsch, seinen Bruder nach Hause zu holen.
Wortwahl... sagte so viel über die Gesinnung aus.
Ri-Il erhob sich, nachdem Mekare gegangen war und ohne, dass Ri-Il etwas tat schloss sich die Schiebetür wie von unsichtbarer Zauberhand geführt. Er seufzte nur und fragte sich gleichzeitig woher dieses Seufzen, diese Wehmut stammte. Was brachte ihn dazu, sich an seinen Lieblingsplatz - ein großes, rundes Fenster hinter seinem Schreibtisch, mit einem schmalen Fensterbrett, wo er dank seines ebenfalls schmalen Körpers bequem Platz fand - niederzulassen, plötzlich komisch erschöpft fühlend?
Sein Blick lag auf seinem Gebiet. Seine Sinne waren auf die Gedanken der Bewohner gerichtet wie an so vielen Abenden zuvor. Er mochte das. Es gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Natürlich, Kontrolle war wichtig; antrainierte Wachsamkeit, aber es gab ihm auch das Gefühl von Zusammenhang. Mekare machte sich bereit für ihren nächsten Kunden, dachte aber nur an "ihre zwei Jungs"; Darius freute sich über die heutigen Erfolge, ärgerte sich aber auch gleichzeitig über Uriel und Silver machte sich auf nach Paris, jetzt wieder nur noch an seinen Bruder denkend, den er... nach Hause holen wollte.
Aber Blue hörte Ri-Il nicht mehr.
Wenn er alle seine Sinne auf ihn konzentrieren würde, würde er ihn und seine Gedanken wahrscheinlich immer noch ausmachen können, doch mit der Zeit würde es schwerer werden... und irgendwann würde das Band, das sogar die Welten überbrücken konnte, gänzlich in Auflösung gehen. Es hatte bereits begonnen; von dem Moment an, als Ri-Il vor wenigen Stunden mitangehört hatte, wie Blue jedes Wort von Nocturn verschlungen hatte, begann es unklarer zu werden.
Ri-Il wusste, dass Blue nicht zurückkehren würde. Er war ihm ein für alle mal entglitten.
Nein, da musste Ri-Il sich selbst korrigieren; Blue war ihm schon entglitten, als er ihn gewaltsam zum Dämonenmodus gezwungen hatte.
Es war alles nach Plan verlaufen. Er hatte keine Verluste zu beklagen, keinerlei Nachteile, die er berücksichtigen musste; vielleicht sogar Vorteile, die er nutzen konnte. Eigentlich war es kein zu beklagender Verlust.
Woher also.... kam dann dieses bedauernde Gefühl von Schmerz?
---
1 "Es ist unglaublich, meine kleine Prinzessin! Dieser verdammte Direktor hat auf eine komplett falsche Besetzung gesetzt! Mit diesem Casting endet der nächste Nussknacker in einem Desaster... Armer Nussknaker! Armer Tchaikovski!"