Kapitel 88 - Schlafendes Buch und Windklinge
Silver konnte sich wieder einmal nicht auf sein Training konzentrieren. Er wusste, dass Darius unzufrieden mit ihm war, weil er sich beinahe heute schon zum dritten Mal etwas gebrochen hätte - und wenn er sich nicht selbst seine Knochen brach, weil er unvorsichtig war, dann brach er einem der anderen Hordenmitglieder die Knochen - fast natürlich nur. Sie durften sich zwar verletzen - das war nun einmal dabei - aber die Knochen brechen oder sogar töten war ein absolutes No-Go, weshalb Silver sich schon mehrere Male eine Faust Darius’ eingeheimst hatte, wenn der Frustrationspegel des Rotschopfes explodierte. Ihm fehlte schon ein Zahn - der zum Glück dabei war nachzuwachsen - und er konnte nicht zählen, wie viele Standpauken er schon bekommen hatte... Wirklich, er hasste dieses Gruppentraining. Er wünschte, er könnte wieder Einzelunterricht von Ri-Il bekommen... er bestrafte einen jedenfalls nicht mit einem gut platzierten Faustschlag. Er musste nur die Augen öffnen und schon hatte man so schlechtes Gewissen, dass man sich am liebsten verkriechen wollte. Darius nahm sich einen zur Brust - und Silver nahm er sich ganz besonders gerne zur Brust. Als ob er so viele Fehler machte! Okay, gut, vielleicht ein paar.
"Sehe ich auch irgendwann mal noch Leistung von dir, Junge, die dich dazu berechtigt, so von Ri-Il-sama bevorzugt zu werden?!" Schon wieder hatte er ihn zur Seite genommen - eigentlich hatte Darius Silver eher am Kragen gepackt und ihn zur Seite geworfen. Sie waren etwas abseits vom Trainingsplatz, wo der zweite Kommandeur von Ri-Ils Horde gerade das Trainingskommando übernommen hatte. Der Holzboden tat weh, als Silver hart darauf landete und die roten Lampions über seinem Kopf schaukelten hin und her, als Darius mit dem Fuß neben ihm auftrat und natürlich nicht darauf wartete, bis Silver sich aufrichtete.
"Oder kannst du deinen Kopf nun nicht mehr zum Nachdenken benutzen, nun wo dein Brüderchen tot ist?"
"Mein Bruder ist nicht tot!", erwiderte Silver mit wütend funkelnden Augen, sich das Blut von den Lippen wischend.
"Er ist nicht tot!", wiederholte er noch einmal.
"Ob er tot ist oder nicht sollte nichts an deiner Kampfqualität ändern, Bursche." Nein, natürlich nicht - das fand Silver ja auch, aber das würde er Darius garantiert nicht sagen. Lieber sah er ihn trotzig an, denn ihm recht geben - nein. Das kam gar nicht in Frage, auch wenn er in diesem Punkt gar nicht so falsch lag. Silver wollte ja gute Resultate erzielen. Er wollte gut sein. So wie immer. Es sollte alles so wie immer sein. Aber... Blue... Es war schon einen Monat her, wie lange wollte Ri-Il denn noch--- nichts tun?! Einen Monat war Blue schon bei Nocturn und Ri-Il---- Ri-Il tat gar nichts!
"Lass ihn, Darius." Es war nicht Ri-Il, der Darius sofort von Silver ablenkte - es war die einzige andere Person, von der er Befehle entgegennahm: Mekare.
Sie kam gerade von einem Kunden - Silver hatte einen Blick dafür entwickelt - aber das hinderte sie nicht daran, Darius mit erhabener Entschlossenheit entgegenzutreten... was sie gar nicht zu tun brauchte, denn der oberste Kommandeur war ihr gegenüber zahm wie ein Lämmchen, das nur allzu gerne gestreichelt werden wollte.
"Mekare!" Er wurde sofort rot und hatte offensichtlich Mühe, ihr in die schwarzen Augen zu sehen. Silver grinste ein wenig, denn nur vor ihr sah man den eigentlich so strengen Dämon rot werden. Aber das konnte man ihm wohl kaum vorwerfen! Mekare war einfach eine umwerfende Frau. Sie hatte so schönes rotes Haar und genau die richtigen Ma---
"Nur weil du eifersüchtig bist auf Silver-kun musst du ihn nicht gleich drangsalieren, Darius."
"Eifersüchtig?! Auf so einen untrainierten Jungdämon?!" Untrainiert?! Silver hatte gerade noch ein wenig gegrinst, jetzt war ihm das Grinsen aber entgangen - er war nicht untrainiert!
"Es ist meine Aufgabe - meine Pflicht! - sicherzugehen, dass die Qualität, für die Ri-Il-samas Horde steht, aufrechterhalten wird - und die Resultate, die Silver im Moment erbringt, sind nicht ausreichend!" Er sprach ganz schön geschwollen, dachte Silver - wollte Darius da gerade bei Mekare punkten...? Na, so nicht! Ha, vielleicht sollte Silver ihm mal Tipps geben... obwohl... fand er, dass die beiden gut zusammenpassten...? Darius gehörte nicht gerade zu der Sorte "gutaussehender Dämon". Er war eher grober Natur; kurzes, zerzaustes Haar, das aussah wie Sand und meistens konnte man riechen, dass er das Training auch für sich selbst sehr ernst nahm... Mekare sah das Thema Hygiene genau wie Silver - sie war wichtig! - und solange er so roch, würde sie ihn nicht einmal in ihre Nähe lassen, ganz zu schweigen davon, dass keines der Hordenmitglieder mit den Mitgliedern des Bordells verkehren durfte. Nicht einmal wenn sie dafür bezahlen könnten.
"Wir sind im Krieg." Silver hatte die ganze Zeit nur mit halbem Ohr zugehört, während sie diskutierten, aber bei diesem Satz von Darius horchte er auf, als hätte der Kommandeur ihn angesprochen.
"Und wir dienen alle unserem Gebiet und Ri-Il-sama. Wir tun es jeder auf unserer Art und an der Art, wie Silver es im Moment tut..." Darius fixierte ihn:
"... sollte er dringend etwas ändern." Dann kehrte er mit festen Schritten - aber nicht ohne sich noch etwas unsicher von Mekare zu verabschieden - zum Trainingsplatz zurück, wobei er offensichtlich vergessen hatte, Silver mitzunehmen, der nun neben Mekare stehenblieb, die Darius nur kurz hinterher sah.
"Er hat recht, Silver-kun." Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte seine Haare... er liebte es, wenn sie das tat. Es war so angenehm.
"Ich weiß, dass du dir große Sorgen um Blue-kun machst. Das tue ich auch. Aber du musst Ri-Il vertrauen. Wenn er sagt, dass Blue aufwachen wird, dann wird er es tun. Ich kann verstehen, dass dich das Warten wahnsinnig macht, aber..." Sie zupfte ein wenig an seinen Haaren:
"An erster Stelle kommt immer unser Gebiet."
"Hizashi will mich sehen?" Green war so perplex, dass sie Reitzel die Frage noch einmal stellen musste:
"Hizashi?!" Noch nie war sie zu Hizashi gerufen worden. Er hatte nach dem einen Kampf, wo ihre Lichtmagie so explodiert war, einige für ihn ernüchternde Tests durchgeführt, aber das war das einzige Mal, dass sie mit ihrem uralten Vorfahren alleine gewesen war - und dieses Mal konnte es sich eigentlich nicht um irgendwelche Tests handeln, denn Green kam gerade von einer ganzen Reihe gesundheitlicher Untersuchungen, die sie alle für die Weihe hatte vollziehen müssen, wo sowohl ihr Körper als auch ihre Magie getestet worden war. Wollte Hizashi auch noch mal "das Licht in ihrem Blut" messen? Brauchten die Hikari einen eigenen Test? In Lights Namen nochmal, es waren 30 Ärzte anwesend gewesen! Reichte ihnen das nicht? Wenn Hizashi so erpicht darauf war, warum war er dann nicht anwesend gewesen und hatte die Tests geleitet anstatt Aores? Nicht, dass das irgendetwas besser gemacht hätte... ob man nun vor dem grimmigen Gesicht von Aores stand oder dem dauernden Lächeln von Hizashi. Beides war nicht schön.
Sie hatte sich schon darauf gefreut, in den Tempel zurückzukehren, aber sie hatte es nicht einmal geschafft, das Sanctuarian zu verlassen, ehe sie schon von Reitzel abgefangen worden war, der ihr die Nachricht überbracht hatte, dass Hizashi sie zu sich riefe. Jetzt.
"Ich fürchte es ist so." Er fürchtete es? Nun, es war wohl für niemanden schön von Hizashi zu einem Gespräch gerufen zu werden... Reitzel sah auch nicht gerade gut gelaunt aus, auch wenn er sich Mühe gab zu lächeln... und sich nicht anmerken zu lassen, dass er ein wenig zu lange im Diesseits gewesen war. Seine Hand flackerte - es waren immer zuerst die Hände, die anfingen zu verschwinden - was Green bemerkt hatte, obwohl Reitzel sie nach dem Händeschütteln hinter seinen Rücken gelegt hatte. Er sah etwas übermüdet aus - wenn Hikari das denn sein konnten - und seine hellen grauen Augen leuchteten nicht so freundlich wie bei ihrem letzten Treffen.
"Gut, dann... habe ich wohl keine andere Wahl als mich ins Jenseits zu begeben und zu sehen, was mein Urururgroßvater so von mir will." Sie hatte keine Lust darauf, denn eigentlich hatte sie diesen Nachmittag frei und wollte sich mit Firey und Pink treffen, aber Hizashi war genauso wenig ein Hikari, den man warten ließ, wie ihr Großvater - das wusste auch Green.
"Nein, nein, das ist nicht nötig." Reitzel zeigte mit dem Zeigefinger seiner linken Hand nach oben:
"Hizashi hat auch im Diesseits ein Büro, hier im achten Stock. Du sollst ihn da aufsuchen."
"Er hat hier ein Büro? Im Krankenhaus?" Er war doch Lehrer... und das Schulgebäude war ziemlich weit weg. Reitzel seufzte und Green ertappte sich dabei, wie sie seine weichen Locken ansah - sie sahen wirklich sehr fluffig aus. Wie ein Schaf... okay, das sollte sie vielleicht nicht über ihren Vorfahren denken, der obendrein auch noch ein Psychiater war und sie sicherlich sofort wieder durchschauen würde! Weggucken!
"Hizashi scheint es vorzuziehen, sich in einem Krankenhaus aufzuhalten." Sofort dachte Green an etwas anderes als Reitzels Locken: Hizashi, dieser verdammte Typ hatte sie doch nicht mehr alle! Wer mochte es denn gerne in einem Krankenhaus zu sein! Green war definitiv schon viel zu oft im Sanctuarian gewesen für ihren Geschmack und leider befürchtete sie, dass es in der Zukunft sicherlich noch weitere Besuche geben würde - und er mochte es, freiwillig hier zu sein?! Hoffentlich musste sie wenigstens vor der Weihe nicht mehr ins Sanctuarian... ihr Bein war nicht länger taub und sie musste diesen ekelhaften Trank nur noch zwei Tage trinken, dann war es vorüber. Für die Weihe musste sie fit sein... sie durfte auch nicht mehr an einer Schlacht teilnehmen oder sonst irgendwie kämpfen... kein Trainieren mehr mit ihrem Großvater... sie durfte sich nur noch auf ihre Weihe konzentrieren. Alleine der Gedanke. Ja, leider weckte alleine der Gedanke wieder ein taubes Gefühl in ihr, aber dieses Mal war es nicht ihr Bein. Nachdem sie am vorigen Tag mit ihrer Mutter dort unten gewesen war... gesehen hatte, was Inceres damals wiederfahren war... hatte sie ein mulmiges Gefühl.
"Auf Wiedersehen, Green."
"Oh, ja, auf Wiedersehen, Reitzel." Sie war zu sehr in Gedanken gewesen; Reitzel hatte sie geweckt... aber die Gedanken an die Weihe kehrten zurück, kaum dass sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, weshalb sie auch nicht bemerkte, dass der Psychiater ihr nachdenklich hinterhersah mit Sorge im Blick - einer Sorge, die ebenfalls der Weihe galt.
Aber es war zu spät.
Die Vorbereitungen hatten Fahrt aufgenommen und nichts konnte mehr rückgängig gemacht werden. Die Hikari sah Itzumi im Moment kaum noch, weil sie die ganze Zeit weg - ja einfach weg - war. Green hatte eine sehr schweigsame Ersatztempelwächterin erhalten, von der sie nie angesehen wurde, genauso wenig wie Saiyon es wurde. Auch Ryô hatte sie nicht mehr an Greys Grab gesehen... Sie hatte ihn gewählt, als denjenigen, der Itzumi zur Seite stehen sollte in den Vorbereitungen, als Itzumi sie vor vier Tagen gefragt hatte. Es sei Greens Wahl. Nur Itzumi stand fest, aber den anderen Tempelwächter durfte, nein, musste Green wählen. Sie hatte ohne Bedenken Ryô genommen, aber mittlerweile... nein, sie bereute nichts! Sie wollte die Weihe. Das gesamte Wächtertum, das geschmückt und herausgeputzt wurde, wollte die Weihe - und sie würde kommen.
Widerstrebend und nicht ohne ein Seufzen klopfte Green an der Tür ihres uralten Familienmitglieds, dem Ältesten aller Hikari... und dem Unheimlichsten ihrer Meinung nach.
"Komm herein, Green." Immer noch kein Suffix? Eigentlich war sie ja nicht diejenige, die auf eine solche Betitelung achtete, aber von Hizashi wollte sie eigentlich nicht so persönlich angesprochen werden, ganz egal ob sie mit ihm verwandt war oder nicht... Allgemein wollte sie eigentlich nicht so gerne mit ihm reden, also war die Devise - das Gespräch lieber schnell hinter sich bringen, weshalb sie durch die simple weiße Tür schritt, die mit Hizashis Namen gekennzeichnet war - ansonsten hätte sie das Büro sicherlich niemals gefunden!
Green versuchte, nicht allzu feindlich zu wirken und betrat das Büro, welches aus zwei aneinander anschließenden, kreisrunden Räumen bestand. Die Wände des ersten Kreises waren bedeckt mit Bücherregalen, die alle bis zur Decke ragten und alle mit Büchern bestückt waren, die denselben Einband hatten - ein dunkelgrünes Leder - aber nicht dieselbe Höhe und Dicke, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkte, als besäße Hizashi 2000-mal dasselbe Buch... doch die Werke, auf denen das Wappen der Hikari golden leuchtete, waren nur äußerlich einheitlich gebunden. Auf dem Parkettboden, gleich vor Greens Füßen, lag ein großer runder Teppich ebenfalls mit dem Wappen der Hikari - derselbe, den man auch bei ihrem Großvater fand - und die Bücherregale wurden eingesäumt von dunklen Säulen, die irgendwie verdächtig alt aussahen im grünen Licht der kugelförmigen Lampen, die an diesen befestigt waren. Nett sah dieser Raum gewiss nicht aus... genauso wenig wie der Hikari, der hinter dem vier Meter großen Schreibtisch saß und... Greens Gedanken verharrten sofort, als sie das sah, was über dem Schreibtisch in der Luft flog.
"Du hast mich sieben Minuten warten..."
"Ist das Greys Waffe?"
Youma stöhnte mühselig auf; ihm tat alles weh! Er hatte mehrere Kratzer im Gesicht und an den Armen, die alle höllisch brannten. Eigentlich alles nur oberflächliche Wunden, die aber dennoch alle so sehr schmerzten, als wäre es eine große Fleischwunde. Dennoch schämte er sich beinahe für das Aufstöhnen: bei seinen Mitdämonen heimste er sich damit jedenfalls keinen Respekt ein, sondern nur verhaltenes Lachen. Aber auch seine Knochen waren erschöpft; heute, so wie gestern... und morgen würden sie es wohl auch sein. Seine Ausdauer war schlecht, das wusste Youma: Lacrimosa und Nocturn nannten sie beide "lachhaft". Auch jetzt, denn Lacrimosa hatte sein Stöhnen vernommen, hatte sie eher einen tadelnden Blick für Youmas Leid übrig als Mitgefühl für den von Nocturn traktierten Dämon, der das Training zwar benötigte, welches Nocturn ihm gab, es aber sicherlich nicht begrüßte.
Sie standen in der Eingangshalle ihres eisigen Palastes; alleine, denn Nocturn war bereits wieder in Paris. Youma machte dort in der Eingangshalle keinen sonderlich eleganten Eindruck - so erschöpft wie er sich mit der behandschuhten Hand an die Eiswand gelegt abstützte. Als er allerdings bemerkte, dass Lacrimosa ihn beobachtete, zog er die Hand zurück und straffte etwas hüstelnd seinen Rücken - sein Jammern war peinlich genug.
"Du machst wirklich keine großen Fortschritte, Youma." Der Angesprochene verzog etwas beleidigt das Gesicht:
"Vielen Dank für diese motivierenden Worte." Lacrimosa lachte ein wenig in sich hinein, aber ihr Gesicht verblieb ernst:
"Ich soll dich nicht motivieren: dein Ziel an sich sollte Motivation genug sein. Ein so schwacher König wie du..."
"... ist in der Tat lachhaft, ich weiß, das sagt mein schrecklicher Lehrmeister mir oft genug", fiel Youma ihr ins Wort und schob sich etwas irritiert seine Haare hinter sein Ohr, dabei immer noch beobachtet von Lacrimosas wachsamen, gelben Augen. Eigentlich war "schwach" nicht das richtige Wort: schlecht war passender. "Schwach" war er nicht, denn er hielt sehr viele Treffer aus und seine Wunden heilten sehr schnell. Diese Kratzer, die er nun im Gesicht hatte und die Lacrimosa da oft gesehen hatte, waren meistens am nächsten Tag wieder gänzlich verschwunden, auch wenn Nocturn bei deren Training alles andere als zimperlich war und auch tiefe Kratzer hinterließ auf diesem hübschen Gesicht; das zu vernarben wahrlich ein Verbrechen sein würde. Aber Youma war wirklich schlecht im Parieren, in der Deckung, im Ausweichen, in der Technik... hoffnungslos überfordert mit Nocturn, dessen Angriffe schnell und zielsicher waren.
"Er gibt dir auch andere Tipps, aber du nimmst dir das nicht sonderlich zu Herzen." Youma schnaubte:
"Er ist ein Spielkind; ein wahnsinniges, schmerzliebendes Spielkind..." Ein tiefes, irritiertes Seufzen Lacrimosas unterbrach ihn und ließ seine Wangen beschämt erröten, als hätte er etwas Falsches getan. Ungeduldig fuhr die Herrin des Eises fort, irritiert mit der Hand gestikulierend:
"Und dein Lehrmeister, von dem du wirklich viel lernen könntest, Youma! Er ist ein sehr guter Kämpfer und du ein schlechter Schüler. Beim Kämpfen hat jeder seine eigene Art, um den Gegner zu töten... und Nocturns Art ist definitiv effektiver als deine. Alleine wie lange du brauchst, um mit deiner Sense auszuholen... in der Zeit hat dich jeder umgebracht, der auch nur ein bisschen was vom Töten versteht." Youma antwortete zuerst nicht, nahm die Kritik etwas verkniffen auf und wollte nicht erwidern, dass er schon viele getötet hatte und wer zu seinen Opfern gehörte... daraus einen Konkurrenzkampf zu machen fand er makaber.
"Ist das alles, was Sie mit mir besprechen wollten?" Lacrimosa ließ sich von Youmas pikiertem Tonfall nicht beeindrucken:
"Wenn du nicht bald deutliche Fortschritte machst, werden wir dieses Thema noch sehr oft haben, Youma - und Nocturn lange seinen Spaß. Aber ich habe keinen Spaß; Lerou ist eine Plage und die Schritte, in denen du Fortschritte machst sind so klein, dass ich im Moment nicht glaube, dass dein Weg dich jemals nach Lerenien-Sei führen wird. Jeden Tag sterben mehr Dämonen, mehr Kinder, während Lycram und Merrlius sich darüber prügeln, wer die meisten Wächter umgebracht hat!" Sie sah ihn durchbohrend an:
"Ich hoffe, das ist dir nicht egal?" Youma erwiderte ihren Blick standhaft... aber nicht so standhaft wie Lacrimosa, die fortfuhr:
"Aber das ist nicht das, was ich dir sagen wollte. Ich habe eigentlich nichts dagegen, wenn ihr hier trainiert, aber es wird dennoch in Zukunft nicht mehr stattfinden." Überrascht sah Youma sie an:
"Was? Weshalb?" Lacrimosa seufzte:
"Ich bin eine Fürstin mit politischer Verantwortung - das, was alle anderen nicht haben - und ich habe ab und zu Besuch von anderen Dämoninnen aus anderen Gebieten - Kommandeurinnen, Botschafterinnen - von denen ich nicht möchte, dass sie euch sehen. Wie sieht denn das aus, dass ich zwei Männer hier trainieren lasse? Obendrein zwei Männer, die Lerou im Moment jagen lässt, was du ja wohl hoffentlich nicht vergessen hast?" Nein, dachte Youma und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, ohne den Blickkontakt abzubrechen: natürlich hatte er das nicht vergessen! Als Lacrimosa es ihm und Nocturn erzählt hatte, hatte sein sogenannter Partner sich großspurig darüber amüsiert, ohne den Ernst der Lage zu erkennen. Ja, vielleicht war Lerou dämlich und vielleicht war es keine akute Gefahr, aber es war dennoch alles andere als vorteilhaft, wenn die Fürsten darauf angesetzt waren sie zu jagen? Wie konnte man überhaupt darüber lachen? Vielleicht kam irgendeiner von ihnen auf die Idee, es tatsächlich zu tun? Nocturn hatte ihnen immerhin verraten, wo sie ihn finden konnten! Seitdem Youma erfahren hatte, dass Lerou sie jagen ließ um sie zu töten, hatte er noch schlechter geschlafen als zuvor: er konnte absolut nichts Positives oder Unterhaltsames daran finden. Aber Nocturn mangelte es mal wieder an der Weitsicht.
"Nein, mein Lieber, das geht nicht", fuhr Lacrimosa fort:
"Solange du nicht deutlich machst, dass du den Titel eines Königs verdient hast, möchte ich vermeiden, dass jemand glaubt, dass wir uns verbündet haben. Ihr müsst euch also einen anderen Ort suchen, um zu trainieren." Youma war nicht lange überrascht dies zu hören, immerhin... hatte sie recht. Es wäre schädlich für Lacrimosa, wenn man erfuhr, dass sie mit ihnen zusammenarbeitete. Aber wo sollten sie sonst trainieren? In der Menschenwelt? Youma war nicht heiß auf das Training mit Nocturn, nein, in der Tat hasste er es, aber er schloss sich Lacrimosa und Nocturns Meinung an; er benötigte es... und es musste fortgesetzt werden. Alleine schon weil Youma seinen stets grinsenden "Lehrmeister" endlich in die Knie zwingen wollte, damit dieses schreckliche Grinsen verschwand!
"In Zukunft werde ich daher euch besuchen kommen und nicht umgekehrt." Lacrimosa betrachtete ihre goldenen Blumenringe, während Youma nach wie vor noch am Grummeln und Zetern war, nun aber schnell schwieg und den Blickkontakt mit Lacrimosa wiederaufnahm.
"Du kannst Nocturn-kun ausrichten, dass ich ihm aber natürlich sein geliebtes Eis mitnehmen werde." Sie stöhnte und zwirbelte ihre Finger durch ihr langes, violettes Haar, das zur Abwechslung mal offen war und über ihre nackten Schultern fiel, die von einem hellblauen Pelz umrahmt waren. Sie trug wie eigentlich immer ein enganliegendes Kleid, welches jedoch weit ausfiel, mit einem glitzernden Schleier und goldenem Schmuck, der sie gut kleidete - und eindeutig ergaunerter Wächterschmuck war. Von dem was Youma bereits beobachtet hatte - und Klariette und Lacrimosa hatten es ihm auch gerne erzählt - nahmen sich Dämonen eher selten Blumen als Vorbild für ihren Schmuck. Es gab immerhin gar keine Blumen in der Dämonenwelt... Jedenfalls hatte Youma noch nie welche gesehen.
"In der Hoffnung, dass der Junge mal ein wenig zunimmt. Er ist wirklich schrecklich dürr." Youma musste ein wenig über diese Äußerung schmunzeln: Lacrimosa nannte deren Beziehung zwar eine "spezielle Freundschaft", aber manchmal kam sie ihm eher so vor, als sei sie Nocturns Mutter. Wie alt war sie eigentlich...?
"Ich glaube, im Moment würde er selbst das schmackhafteste Eis ablehnen." Lacrimosa horchte auf und sah ihn verwundert an, um eine Ausführung bittend:
"Er hat seit vier Wochen weder gegessen noch getrunken - jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Ich beobachte ihn ja nicht." Eigentlich erwartete Youma, dass die Eiskönigin ihn verwundert, ja, gar geschockt ansehen würde, denn Youma empfand das eigentlich als ziemlich verwunderlich und abnorm, aber sie runzelte nur sehr kritisch die Stirn:
"Nocturn-kun hat seit vier Wochen nichts zu sich genommen und er hat dich dennoch mit Leichtigkeit besiegt?" Diese Worte waren effektiver als jeder ihrer Eisspeere und sofort war Youma erstarrt, beschämt und zu keiner Antwort in der Lage.
"Du bist wirklich schwächer als ich dachte." Youma wurde rot, knirschte ein wenig mit den Zähnen - aber so richtig eine Ausrede fand er leider nicht, weshalb er fand, dass es der richtige Augenblick war, um sich zu verabschieden. Aber Lacrimosa hielt ihn auf, als er sich schon herumgedreht hatte:
"Behalte ihn im Auge. Egal wofür er es schon wieder macht, er ist bereits zu mager. Nocturn-kun muss gnädiger mit seinem Körper umgehen, ansonsten zerbricht er ihm noch, ganz gleich wie groß seine Magie ist." Youma konnte sich dieser Meinung nicht anschließen:
"Ich glaube nicht, dass man sich um Nocturn Sorgen zu machen braucht."
"Oh, da irrst du dich", antwortete sie ernst und ein wenig streng:
"Ausgerechnet um Nocturn-kun sollte man sich Sorgen machen."
Ja, aber doch nur weil dieser Wahnsinnige auf irgendwelche Irrgedanken kommen könnte und jemand anderem damit schaden könnte. Natürlich hatte Youma sich schon gewundert, als er bemerkt hatte, dass er deren Kaffeebestand alleine trank - Feullé trank nämlich keinen - und Feullé Youma auch mitgeteilt hatte, dass Nocturn nichts mehr zu sich nahm. Auch Feullé war besorgt, doch genauso wenig wie Lacrimosa schien sie verwundert zu sein - obwohl sie betonte, dass sie ihrem Vater vertraue. Nachdem Nocturn allerdings diesen Halbdämon mitgenommen hatte, fand sich Youma in dem Glauben bestätigt, dass man Nocturn und "vertrauen" nicht in einem Satz erwähnen konnte: wie Feullé ihm vertrauen konnte, war ihm auch ein Rätsel.
Aber ein Gutes hatte das Dasein des Halbdämons: seitdem er sich in deren Appartement befand, war es herrlich ruhig. Keine überwältigend dramatische Musik mehr, keine plötzlichen, lauten Selbstgespräche von Nocturn und kein ebenso lautes, französisches Geplapper seiner Mitbewohner. Es war ruhig. Einfach nur ruhig. Ein Genuss!
Im letzten Monat hatte Nocturn nur zwei Dinge getan: Youma trainiert - um die 4 Stunden am Tag - und den Rest der Zeit verbrachte er in seinem Atelier... an der Ruhestätte dieses komischen, schwachen Dämons, dessen Aura Youma schon gar nicht mehr spüren konnte.
Vier Wochen lang war es Youma egal gewesen, was Nocturn da drinnen tat. Er wollte mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Zu Beginn hatte er versucht, Nocturn die Idee, Blue für irgendetwas zu benutzen, auszureden, aber mittlerweile war Youma die Lust an dieser Diskussion vergangen, die ohnehin sinnlos erschien, denn der Dämon, über den Nocturn "wachte" oder was auch immer er tat... schien ohnehin nicht wieder aufzuwachen.
Aber trotzdem schien Nocturn es unglaublich interessant zu finden, den Jungen anzustarren, denn als Youma, durch Lacrimosas Worte dazu getrieben, die Tür zu seinem Atelier öffnete, fand er ihn wieder genau dies tun. Nocturn saß am Ende des langen Zimmers, wo wieder nur drei Kerzen an den Füßen der Statue brannten - ah, nein, neben Nocturn auf dem Boden - sehr sicher - brannte auch eine hohe Wachskerze, dort wo der Halbdämon lag und genauso bleich aussah wie vor einem Monat.
Der Junge schien sich überhaupt nicht geregt zu haben - als wäre die Zeit überhaupt nicht vergangen, als befänden sie sich an genau demselben Tag wie vor einem Monat. Aber es war nicht derselbe Tag: draußen regnete es und schwere Regentropfen trommelten an die Scheiben und... an Nocturn war etwas anders.
Youma bemerkte es sofort, als er das Zimmer betrat, nein, schon als er die Tür geöffnet hatte - er spürte... Nocturns Magie. Sie schien eingesetzt, nein, freigesetzt zu werden; die Luft um Nocturn herum war schier aufgeladen von seiner Magie und es würde Youma, der sich sofort angespannt hatte, nicht überraschen, wenn die Luft um ihn herum vibrieren würde.
Nocturn reagierte nicht, als Youma näher herantrat; auch nicht als er sich neben ihn hinstellte. Er wirkte... fast genauso tot wie der Junge, der vor ihnen lag. Nocturn blinzelte nicht; sein Starren war sehr intensiv, feurig und entschlossen, aber auch ruhend. Seine schwarzen Pupillen bewegten sich nicht; er starrte nur auf einen einzigen Punkt ohne sich zu regen - und das Zeichen unter seinem Auge... es leuchtete rot, als würde es brennen.
Plötzlich horchte Nocturn auf, als hätte Youma etwas getan oder gesagt, um auf sich aufmerksam zu machen; er sah ihn etwas alarmiert an, obwohl Youma tatsächlich absolut gar nichts getan hatte.
"Was machst du hier?"
"Ich könnte dich dasselbe fragen." Aber Nocturn schien nicht zu finden, dass er ihm eine Antwort schuldig war, sondern umgekehrt, weshalb Youma ein Seufzen entfloh:
"Lacrimosa-san ist besorgt um dich und meinte, ich solle nach dir sehen." Die halbe Wahrheit.
"Sie braucht nicht besorgt sein", antwortete Nocturn mit gerunzelter Stirn:
"Ich weiß, was ich tue."
"Was auch immer du da tust - die Dauer dieser Tätigkeit hat sie etwas überrascht." Nocturn antwortete nicht. Er starrte wieder Blue an, als würde er Youma damit auffordern wollen, ihn zu verlassen - aber so leicht ließ Youma sich nun nicht abwimmeln:
"Also...?"
"Einige Dinge benötigen ihre Zeit." Er sprach ungewöhnlich, wie Youma plötzlich bemerkte - ungewöhnlich... tonlos. Es lag keine Betonung in Nocturns Worten, denen er doch sonst eigentlich immer so unterschiedliche Klänge verlieh. Seine Stimme schien auch tiefer zu sein als sonst, weniger lebendig... als würde er im Schlaf mit ihm sprechen.
"Was ist es, was du hier tust?"
"Kannst du es dir nicht denken?" Nocturn sah ihn intensiv und ernst an und Youma, der eigentlich sofort eine schnippische Antwort geben wollte, schwieg - und dachte nach, dabei beobachtet von Nocturn, als könnte er plötzlich doch seine Gedanken lesen.
"Ich denke, du sammelst deine Magie; du konzentrierst sie auf etwas..." Youma wandte sich ab von Nocturn und sah zu dem ruhenden Halbdämon, der einfach nur tot aussah.
"... auf ihn nehme ich an."
"Richtig."
"Und dafür darfst du weder essen noch trinken?" Nocturn hob die Schultern ein wenig hoch:
"Es gibt keine Regeln. Aber mich irritiert mein Körper nur... er stört mich, ist eine Hinderung... also versetze ich ihn in einen schlafähnlichen Zustand, damit ich nur noch meinen Geist und meine Magie spüre."
"Sonderlich gesund ist das sicherlich nicht." Nocturn sah ihn wieder an; einige Sekunden nur still musternd, dann lächelte er plötzlich hohl:
"Sehe ich sonderlich gesund aus?"
"Du solltest vielleicht nicht noch magerer werden." Youma sah wieder zu Blue, ohne auf Nocturns Reaktion zu achten:
"Besonders nicht wegen diesem Halbdämon. Was tust du überhaupt mit ihm? Wozu brauchst du deine Magie?"
"Ich lese ihn." Youma stutzte. Was... was tat er?
"Im Normalzustand kann ich die Gedanken der Personen um mich herum lesen, die diesen Personen gerade durch den Kopf schießen. Wenn sie schlafen, kann ich ihre Träume lesen. Umso tiefer ihr Bewusstsein schläft, umso tiefer kann ich vordringen und ihren Geist ganz ungehindert erforschen. Das benötigt aber Zeit - und großen Magieaufwand..." Nocturn legte die Hände auf die Schulter und drehte sich, genau wie Youma, zu Blue herum:
"... dazu jemanden, der komplett willenlos ist. Das Unterbewusstsein eines jeglichen Wesens ist normalerweise blockiert, ganz tief vergraben, so dass weder man selbst und ganz gewiss niemand anders herankommt. Umso schwächer sowohl Geist als auch Körper jedoch sind, umso mehr dieser Blockaden stürzen in sich zusammen... und am Schwächsten ist jegliches Wesen kurz vor dem Tod. Ich habe Blue daher in diesem Zustand "festgefroren" sozusagen. Aber ich bin bald fertig." Youma, der plötzlich eine große Nervosität spürte, warf einen flüchtigen Blick zu Nocturn, der ihn jedoch nicht ansah:
"Ich kenne fast Blues gesamtes Leben. Es fehlen nur noch ein paar Tage, dann bin ich durch - wie ich ihn wecke, weiß ich eigentlich schon, das wusste ich die ganze Zeit schon um ehrlich zu sein. Oder anders gesagt: Ich hatte einen Verdacht, der sich bestätigt hat..." Nocturn setzte sich wieder:
"Aber wirklich, ich werde auf Blue achtgeben müssen, schon für Black. Black war mir wirklich über den Tod hinaus treu... das hätte ich nicht erwartet. Nein, das hatte ich wirklich nie erwartet." Mit diesen Worten driftete Nocturn wieder ab - und Youma entschloss sich dazu, dass es besser so war und dass er genug erfahren hatte, weshalb er ihm den Rücken zukehrte und ging.
Allerdings nicht ohne Nocturn einen letzten Blick zugeworfen zu haben:
Er war wirklich mächtiger, als Youma gedacht hatte.
"Das ist... Onii-chans Windklinge."
"Ja", antwortete Hizashi sachlich, aber ein wenig irritiert klingend, als hätte Green eine dumme Frage gestellt. Der Lehrer und Forscher konnte offensichtlich nicht verstehen, warum Green mit leicht geöffnetem Mund empor sah und das lange gezackte Schwert anstarrte, welches über Hizashis Schreibtisch in der Luft schwebte. Ein leichter Hauch ging durch das Büro und Green wurde klar, dass das Schwert nicht von alleine schwebte - es wurde von sanften Windböen in der Luft gehalten, die es umwirbelten. Sachte bewegte sich auch Greens Ponyhaare, von einem warmen Wind erfasst, wie eine laue Briese an einem Sommernachmittag - und trieb der Hikari, ohne dass sie es wollte oder kontrollieren konnte, die Tränen in die Augen.
Sie spürte es sofort und biss sich hart auf die Unterlippe - und zum Glück wurde sie von Hizashi abgelenkt, der sie darauf hinwies, dass das Schwert nicht der Grund war, weshalb er sie gerufen hatte. Darauf, dass Greens Augen plötzlich glasig geworden waren, reagierte er nicht.
"Was macht das Schwert hier?", fragte Green, die ignorierte, dass Hizashi das Thema zu irritieren schien. Aber wenn er nicht über Greys Schwert reden wollte, dann sollte er es vielleicht hier nicht so hängen lassen?!
"Sollte es nicht bei Grey sein?" Sie musste sich größte Mühe geben, ihre Stimme nicht zittern zu lassen.
"Dies ist keine Waffe, die einem einzelnen Wächter gehört. Es ist ein Familienerbstück und demnach gehört es nicht in einen Sarg." Huh? Aber Grey hatte doch... gar keine Erben.
"Aber die Waffe ist, wie die Asukas es wohl so emotional formulieren würden, "aufgebracht"." Green runzelte die Stirn, nach wie vor stehend und lieber die Windklinge ansehend, obwohl vor Hizashis Schreibtisch - mit grüner Jadeplatte - zwei Sessel standen.
"Was bedeutet das?"
"Was würdest du mit jemandem unternehmen, der "aufgebracht" ist? Beruhigen würde ich vorschlagen." Greens Mundwinkel zuckten ein wenig. Sie wusste schon, warum sie mit Hizashi nicht hatte reden wollen. Ihr Großvater war schon gut darin, ihre Fehler anzukreiden und sie mit den Dingen aufzuziehen, die sie nicht wusste, ohne es direkt zu sagen - der Tonfall an sich war ausreichend. Hizashi war darin auch sehr geübt...
"Wir reden hier von einer Waffe. Einem Gegenstand", erwiderte Green schnippisch und sah sofort in Hizashis schmalem Gesicht, dass er diese Antwort interessant fand.
"Oho? Ist dein Stab auch nur ein Gegenstand?" Green erwischte das schlechte Gewissen jäh, als diese spitzen Worte sie trafen. Das... hatte sie so nicht... Obwohl... doch, natürlich hatte sie es so gemeint, aber wenn er es so formulierte, dann...
"Ist unsere Waffe nicht viel eher unser bester Freund?" Hizashi faltete seine Finger und sah ebenfalls zur Windklinge empor:
"Der einzige, auf den wir uns immer verlassen können?" Green konnte es nicht verhindern: sie umschloss ganz automatisch ihr Glöckchen, welches in diesem Moment unter dem blauen Stoff ihrer Diplomatenuniform verborgen lag. Nur kurz - dann löste sie ihre Finger wieder von ihrem Hikari-Relikt.
"Und was geschieht nun mit Greys "bestem Freund"?" Hizashi sah weiterhin empor:
"Die Windklinge ist 1046 Jahre alt und seit Beginn in dem Besitz der Eien-Familie. Es ist eine Waffe, die aktiv sein und in den Händen eines Wächters liegen muss, um ihre Schärfe nicht zu verlieren. Daher wird die Waffe nun an jemanden übergeben, der nicht zur Eien-Familie gehört, bis das ungeborene Kind Grey-sans das kriegsfähige Alter erreicht hat."
"Ist es in diesen 1046 Jahren schon oft vorgenommen, dass das Schwert seinen Träger umgebracht hat?" Green stellte diese Frage leise, aber Hizashi hörte sie dennoch klar und deutlich und sein Lächeln wurde breiter. Was für interessante Fragen dieses Mädchen stellte...
"Nur zweimal."
"Und das gleich zweimal hintereinander."
"Kein Wunder, dass es aufgebracht ist, nicht wahr? Es weint richtig." Green, welche vorher noch Wärme in sich hatte aufkommen spüren, als sie die Waffe ansah, spürte nun Kälte und Bitterkeit. Die Waffe alleine konnte natürlich niemanden umbringen und sie konnte die Windklinge dafür nicht verantwortlich machen - sie war ja keine Person! - aber in diesem Moment war Green plötzlich so wütend, als könnte sie es.
"Und wer soll die Waffe beruhigen?" Hizashi war es nun, der die Stirn runzelte - aber lächeln tat er immer noch.
"Ich bin überrascht, dass du mich das fragst. Ich dachte, baldige Eheleute würden miteinander sprechen?" Green konnte ihm immer noch nicht so ganz folgen...
"Saiyon-san hat bereits einen Tag nach Greys Tod einen Antrag auf die Windklinge gestellt - und ihn bewilligt bekommen." Ein plötzlicher, großer Widerwille überkam Green und entstellte ihr Gesicht, ließ es schwarz und bläulich wirken, aber obwohl sie den Mund öffnete, um diesem Widerwillen freizulassen, sie bekam keinen Ton heraus.
"Wie formulierte er es noch mal... ah ja, er wünsche die Windklinge zu führen, weil er seine Hikari beschützen wolle."
Und das würde Saiyon. In jedem seiner festen Schritte lag dieser Wille; die Entschlossenheit seiner grünen Augen ward angefacht von diesem Streben. Er war viel zu früh, um die Windklinge von Hizashi abzuholen und vielleicht war es nicht möglich für ihn, sie jetzt schon zu bekommen, aber er konnte hören---- ja--- er konnte hören, dass sie ihn rief.
Hizashi konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen:
"... ist das nicht herzallerliebst, Green?"
Und in Paris öffnete Blue seine Augen.
"Sehe ich auch irgendwann mal noch Leistung von dir, Junge, die dich dazu berechtigt, so von Ri-Il-sama bevorzugt zu werden?!" Schon wieder hatte er ihn zur Seite genommen - eigentlich hatte Darius Silver eher am Kragen gepackt und ihn zur Seite geworfen. Sie waren etwas abseits vom Trainingsplatz, wo der zweite Kommandeur von Ri-Ils Horde gerade das Trainingskommando übernommen hatte. Der Holzboden tat weh, als Silver hart darauf landete und die roten Lampions über seinem Kopf schaukelten hin und her, als Darius mit dem Fuß neben ihm auftrat und natürlich nicht darauf wartete, bis Silver sich aufrichtete.
"Oder kannst du deinen Kopf nun nicht mehr zum Nachdenken benutzen, nun wo dein Brüderchen tot ist?"
"Mein Bruder ist nicht tot!", erwiderte Silver mit wütend funkelnden Augen, sich das Blut von den Lippen wischend.
"Er ist nicht tot!", wiederholte er noch einmal.
"Ob er tot ist oder nicht sollte nichts an deiner Kampfqualität ändern, Bursche." Nein, natürlich nicht - das fand Silver ja auch, aber das würde er Darius garantiert nicht sagen. Lieber sah er ihn trotzig an, denn ihm recht geben - nein. Das kam gar nicht in Frage, auch wenn er in diesem Punkt gar nicht so falsch lag. Silver wollte ja gute Resultate erzielen. Er wollte gut sein. So wie immer. Es sollte alles so wie immer sein. Aber... Blue... Es war schon einen Monat her, wie lange wollte Ri-Il denn noch--- nichts tun?! Einen Monat war Blue schon bei Nocturn und Ri-Il---- Ri-Il tat gar nichts!
"Lass ihn, Darius." Es war nicht Ri-Il, der Darius sofort von Silver ablenkte - es war die einzige andere Person, von der er Befehle entgegennahm: Mekare.
Sie kam gerade von einem Kunden - Silver hatte einen Blick dafür entwickelt - aber das hinderte sie nicht daran, Darius mit erhabener Entschlossenheit entgegenzutreten... was sie gar nicht zu tun brauchte, denn der oberste Kommandeur war ihr gegenüber zahm wie ein Lämmchen, das nur allzu gerne gestreichelt werden wollte.
"Mekare!" Er wurde sofort rot und hatte offensichtlich Mühe, ihr in die schwarzen Augen zu sehen. Silver grinste ein wenig, denn nur vor ihr sah man den eigentlich so strengen Dämon rot werden. Aber das konnte man ihm wohl kaum vorwerfen! Mekare war einfach eine umwerfende Frau. Sie hatte so schönes rotes Haar und genau die richtigen Ma---
"Nur weil du eifersüchtig bist auf Silver-kun musst du ihn nicht gleich drangsalieren, Darius."
"Eifersüchtig?! Auf so einen untrainierten Jungdämon?!" Untrainiert?! Silver hatte gerade noch ein wenig gegrinst, jetzt war ihm das Grinsen aber entgangen - er war nicht untrainiert!
"Es ist meine Aufgabe - meine Pflicht! - sicherzugehen, dass die Qualität, für die Ri-Il-samas Horde steht, aufrechterhalten wird - und die Resultate, die Silver im Moment erbringt, sind nicht ausreichend!" Er sprach ganz schön geschwollen, dachte Silver - wollte Darius da gerade bei Mekare punkten...? Na, so nicht! Ha, vielleicht sollte Silver ihm mal Tipps geben... obwohl... fand er, dass die beiden gut zusammenpassten...? Darius gehörte nicht gerade zu der Sorte "gutaussehender Dämon". Er war eher grober Natur; kurzes, zerzaustes Haar, das aussah wie Sand und meistens konnte man riechen, dass er das Training auch für sich selbst sehr ernst nahm... Mekare sah das Thema Hygiene genau wie Silver - sie war wichtig! - und solange er so roch, würde sie ihn nicht einmal in ihre Nähe lassen, ganz zu schweigen davon, dass keines der Hordenmitglieder mit den Mitgliedern des Bordells verkehren durfte. Nicht einmal wenn sie dafür bezahlen könnten.
"Wir sind im Krieg." Silver hatte die ganze Zeit nur mit halbem Ohr zugehört, während sie diskutierten, aber bei diesem Satz von Darius horchte er auf, als hätte der Kommandeur ihn angesprochen.
"Und wir dienen alle unserem Gebiet und Ri-Il-sama. Wir tun es jeder auf unserer Art und an der Art, wie Silver es im Moment tut..." Darius fixierte ihn:
"... sollte er dringend etwas ändern." Dann kehrte er mit festen Schritten - aber nicht ohne sich noch etwas unsicher von Mekare zu verabschieden - zum Trainingsplatz zurück, wobei er offensichtlich vergessen hatte, Silver mitzunehmen, der nun neben Mekare stehenblieb, die Darius nur kurz hinterher sah.
"Er hat recht, Silver-kun." Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte seine Haare... er liebte es, wenn sie das tat. Es war so angenehm.
"Ich weiß, dass du dir große Sorgen um Blue-kun machst. Das tue ich auch. Aber du musst Ri-Il vertrauen. Wenn er sagt, dass Blue aufwachen wird, dann wird er es tun. Ich kann verstehen, dass dich das Warten wahnsinnig macht, aber..." Sie zupfte ein wenig an seinen Haaren:
"An erster Stelle kommt immer unser Gebiet."
"Hizashi will mich sehen?" Green war so perplex, dass sie Reitzel die Frage noch einmal stellen musste:
"Hizashi?!" Noch nie war sie zu Hizashi gerufen worden. Er hatte nach dem einen Kampf, wo ihre Lichtmagie so explodiert war, einige für ihn ernüchternde Tests durchgeführt, aber das war das einzige Mal, dass sie mit ihrem uralten Vorfahren alleine gewesen war - und dieses Mal konnte es sich eigentlich nicht um irgendwelche Tests handeln, denn Green kam gerade von einer ganzen Reihe gesundheitlicher Untersuchungen, die sie alle für die Weihe hatte vollziehen müssen, wo sowohl ihr Körper als auch ihre Magie getestet worden war. Wollte Hizashi auch noch mal "das Licht in ihrem Blut" messen? Brauchten die Hikari einen eigenen Test? In Lights Namen nochmal, es waren 30 Ärzte anwesend gewesen! Reichte ihnen das nicht? Wenn Hizashi so erpicht darauf war, warum war er dann nicht anwesend gewesen und hatte die Tests geleitet anstatt Aores? Nicht, dass das irgendetwas besser gemacht hätte... ob man nun vor dem grimmigen Gesicht von Aores stand oder dem dauernden Lächeln von Hizashi. Beides war nicht schön.
Sie hatte sich schon darauf gefreut, in den Tempel zurückzukehren, aber sie hatte es nicht einmal geschafft, das Sanctuarian zu verlassen, ehe sie schon von Reitzel abgefangen worden war, der ihr die Nachricht überbracht hatte, dass Hizashi sie zu sich riefe. Jetzt.
"Ich fürchte es ist so." Er fürchtete es? Nun, es war wohl für niemanden schön von Hizashi zu einem Gespräch gerufen zu werden... Reitzel sah auch nicht gerade gut gelaunt aus, auch wenn er sich Mühe gab zu lächeln... und sich nicht anmerken zu lassen, dass er ein wenig zu lange im Diesseits gewesen war. Seine Hand flackerte - es waren immer zuerst die Hände, die anfingen zu verschwinden - was Green bemerkt hatte, obwohl Reitzel sie nach dem Händeschütteln hinter seinen Rücken gelegt hatte. Er sah etwas übermüdet aus - wenn Hikari das denn sein konnten - und seine hellen grauen Augen leuchteten nicht so freundlich wie bei ihrem letzten Treffen.
"Gut, dann... habe ich wohl keine andere Wahl als mich ins Jenseits zu begeben und zu sehen, was mein Urururgroßvater so von mir will." Sie hatte keine Lust darauf, denn eigentlich hatte sie diesen Nachmittag frei und wollte sich mit Firey und Pink treffen, aber Hizashi war genauso wenig ein Hikari, den man warten ließ, wie ihr Großvater - das wusste auch Green.
"Nein, nein, das ist nicht nötig." Reitzel zeigte mit dem Zeigefinger seiner linken Hand nach oben:
"Hizashi hat auch im Diesseits ein Büro, hier im achten Stock. Du sollst ihn da aufsuchen."
"Er hat hier ein Büro? Im Krankenhaus?" Er war doch Lehrer... und das Schulgebäude war ziemlich weit weg. Reitzel seufzte und Green ertappte sich dabei, wie sie seine weichen Locken ansah - sie sahen wirklich sehr fluffig aus. Wie ein Schaf... okay, das sollte sie vielleicht nicht über ihren Vorfahren denken, der obendrein auch noch ein Psychiater war und sie sicherlich sofort wieder durchschauen würde! Weggucken!
"Hizashi scheint es vorzuziehen, sich in einem Krankenhaus aufzuhalten." Sofort dachte Green an etwas anderes als Reitzels Locken: Hizashi, dieser verdammte Typ hatte sie doch nicht mehr alle! Wer mochte es denn gerne in einem Krankenhaus zu sein! Green war definitiv schon viel zu oft im Sanctuarian gewesen für ihren Geschmack und leider befürchtete sie, dass es in der Zukunft sicherlich noch weitere Besuche geben würde - und er mochte es, freiwillig hier zu sein?! Hoffentlich musste sie wenigstens vor der Weihe nicht mehr ins Sanctuarian... ihr Bein war nicht länger taub und sie musste diesen ekelhaften Trank nur noch zwei Tage trinken, dann war es vorüber. Für die Weihe musste sie fit sein... sie durfte auch nicht mehr an einer Schlacht teilnehmen oder sonst irgendwie kämpfen... kein Trainieren mehr mit ihrem Großvater... sie durfte sich nur noch auf ihre Weihe konzentrieren. Alleine der Gedanke. Ja, leider weckte alleine der Gedanke wieder ein taubes Gefühl in ihr, aber dieses Mal war es nicht ihr Bein. Nachdem sie am vorigen Tag mit ihrer Mutter dort unten gewesen war... gesehen hatte, was Inceres damals wiederfahren war... hatte sie ein mulmiges Gefühl.
"Auf Wiedersehen, Green."
"Oh, ja, auf Wiedersehen, Reitzel." Sie war zu sehr in Gedanken gewesen; Reitzel hatte sie geweckt... aber die Gedanken an die Weihe kehrten zurück, kaum dass sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, weshalb sie auch nicht bemerkte, dass der Psychiater ihr nachdenklich hinterhersah mit Sorge im Blick - einer Sorge, die ebenfalls der Weihe galt.
Aber es war zu spät.
Die Vorbereitungen hatten Fahrt aufgenommen und nichts konnte mehr rückgängig gemacht werden. Die Hikari sah Itzumi im Moment kaum noch, weil sie die ganze Zeit weg - ja einfach weg - war. Green hatte eine sehr schweigsame Ersatztempelwächterin erhalten, von der sie nie angesehen wurde, genauso wenig wie Saiyon es wurde. Auch Ryô hatte sie nicht mehr an Greys Grab gesehen... Sie hatte ihn gewählt, als denjenigen, der Itzumi zur Seite stehen sollte in den Vorbereitungen, als Itzumi sie vor vier Tagen gefragt hatte. Es sei Greens Wahl. Nur Itzumi stand fest, aber den anderen Tempelwächter durfte, nein, musste Green wählen. Sie hatte ohne Bedenken Ryô genommen, aber mittlerweile... nein, sie bereute nichts! Sie wollte die Weihe. Das gesamte Wächtertum, das geschmückt und herausgeputzt wurde, wollte die Weihe - und sie würde kommen.
Widerstrebend und nicht ohne ein Seufzen klopfte Green an der Tür ihres uralten Familienmitglieds, dem Ältesten aller Hikari... und dem Unheimlichsten ihrer Meinung nach.
"Komm herein, Green." Immer noch kein Suffix? Eigentlich war sie ja nicht diejenige, die auf eine solche Betitelung achtete, aber von Hizashi wollte sie eigentlich nicht so persönlich angesprochen werden, ganz egal ob sie mit ihm verwandt war oder nicht... Allgemein wollte sie eigentlich nicht so gerne mit ihm reden, also war die Devise - das Gespräch lieber schnell hinter sich bringen, weshalb sie durch die simple weiße Tür schritt, die mit Hizashis Namen gekennzeichnet war - ansonsten hätte sie das Büro sicherlich niemals gefunden!
Green versuchte, nicht allzu feindlich zu wirken und betrat das Büro, welches aus zwei aneinander anschließenden, kreisrunden Räumen bestand. Die Wände des ersten Kreises waren bedeckt mit Bücherregalen, die alle bis zur Decke ragten und alle mit Büchern bestückt waren, die denselben Einband hatten - ein dunkelgrünes Leder - aber nicht dieselbe Höhe und Dicke, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkte, als besäße Hizashi 2000-mal dasselbe Buch... doch die Werke, auf denen das Wappen der Hikari golden leuchtete, waren nur äußerlich einheitlich gebunden. Auf dem Parkettboden, gleich vor Greens Füßen, lag ein großer runder Teppich ebenfalls mit dem Wappen der Hikari - derselbe, den man auch bei ihrem Großvater fand - und die Bücherregale wurden eingesäumt von dunklen Säulen, die irgendwie verdächtig alt aussahen im grünen Licht der kugelförmigen Lampen, die an diesen befestigt waren. Nett sah dieser Raum gewiss nicht aus... genauso wenig wie der Hikari, der hinter dem vier Meter großen Schreibtisch saß und... Greens Gedanken verharrten sofort, als sie das sah, was über dem Schreibtisch in der Luft flog.
"Du hast mich sieben Minuten warten..."
"Ist das Greys Waffe?"
Youma stöhnte mühselig auf; ihm tat alles weh! Er hatte mehrere Kratzer im Gesicht und an den Armen, die alle höllisch brannten. Eigentlich alles nur oberflächliche Wunden, die aber dennoch alle so sehr schmerzten, als wäre es eine große Fleischwunde. Dennoch schämte er sich beinahe für das Aufstöhnen: bei seinen Mitdämonen heimste er sich damit jedenfalls keinen Respekt ein, sondern nur verhaltenes Lachen. Aber auch seine Knochen waren erschöpft; heute, so wie gestern... und morgen würden sie es wohl auch sein. Seine Ausdauer war schlecht, das wusste Youma: Lacrimosa und Nocturn nannten sie beide "lachhaft". Auch jetzt, denn Lacrimosa hatte sein Stöhnen vernommen, hatte sie eher einen tadelnden Blick für Youmas Leid übrig als Mitgefühl für den von Nocturn traktierten Dämon, der das Training zwar benötigte, welches Nocturn ihm gab, es aber sicherlich nicht begrüßte.
Sie standen in der Eingangshalle ihres eisigen Palastes; alleine, denn Nocturn war bereits wieder in Paris. Youma machte dort in der Eingangshalle keinen sonderlich eleganten Eindruck - so erschöpft wie er sich mit der behandschuhten Hand an die Eiswand gelegt abstützte. Als er allerdings bemerkte, dass Lacrimosa ihn beobachtete, zog er die Hand zurück und straffte etwas hüstelnd seinen Rücken - sein Jammern war peinlich genug.
"Du machst wirklich keine großen Fortschritte, Youma." Der Angesprochene verzog etwas beleidigt das Gesicht:
"Vielen Dank für diese motivierenden Worte." Lacrimosa lachte ein wenig in sich hinein, aber ihr Gesicht verblieb ernst:
"Ich soll dich nicht motivieren: dein Ziel an sich sollte Motivation genug sein. Ein so schwacher König wie du..."
"... ist in der Tat lachhaft, ich weiß, das sagt mein schrecklicher Lehrmeister mir oft genug", fiel Youma ihr ins Wort und schob sich etwas irritiert seine Haare hinter sein Ohr, dabei immer noch beobachtet von Lacrimosas wachsamen, gelben Augen. Eigentlich war "schwach" nicht das richtige Wort: schlecht war passender. "Schwach" war er nicht, denn er hielt sehr viele Treffer aus und seine Wunden heilten sehr schnell. Diese Kratzer, die er nun im Gesicht hatte und die Lacrimosa da oft gesehen hatte, waren meistens am nächsten Tag wieder gänzlich verschwunden, auch wenn Nocturn bei deren Training alles andere als zimperlich war und auch tiefe Kratzer hinterließ auf diesem hübschen Gesicht; das zu vernarben wahrlich ein Verbrechen sein würde. Aber Youma war wirklich schlecht im Parieren, in der Deckung, im Ausweichen, in der Technik... hoffnungslos überfordert mit Nocturn, dessen Angriffe schnell und zielsicher waren.
"Er gibt dir auch andere Tipps, aber du nimmst dir das nicht sonderlich zu Herzen." Youma schnaubte:
"Er ist ein Spielkind; ein wahnsinniges, schmerzliebendes Spielkind..." Ein tiefes, irritiertes Seufzen Lacrimosas unterbrach ihn und ließ seine Wangen beschämt erröten, als hätte er etwas Falsches getan. Ungeduldig fuhr die Herrin des Eises fort, irritiert mit der Hand gestikulierend:
"Und dein Lehrmeister, von dem du wirklich viel lernen könntest, Youma! Er ist ein sehr guter Kämpfer und du ein schlechter Schüler. Beim Kämpfen hat jeder seine eigene Art, um den Gegner zu töten... und Nocturns Art ist definitiv effektiver als deine. Alleine wie lange du brauchst, um mit deiner Sense auszuholen... in der Zeit hat dich jeder umgebracht, der auch nur ein bisschen was vom Töten versteht." Youma antwortete zuerst nicht, nahm die Kritik etwas verkniffen auf und wollte nicht erwidern, dass er schon viele getötet hatte und wer zu seinen Opfern gehörte... daraus einen Konkurrenzkampf zu machen fand er makaber.
"Ist das alles, was Sie mit mir besprechen wollten?" Lacrimosa ließ sich von Youmas pikiertem Tonfall nicht beeindrucken:
"Wenn du nicht bald deutliche Fortschritte machst, werden wir dieses Thema noch sehr oft haben, Youma - und Nocturn lange seinen Spaß. Aber ich habe keinen Spaß; Lerou ist eine Plage und die Schritte, in denen du Fortschritte machst sind so klein, dass ich im Moment nicht glaube, dass dein Weg dich jemals nach Lerenien-Sei führen wird. Jeden Tag sterben mehr Dämonen, mehr Kinder, während Lycram und Merrlius sich darüber prügeln, wer die meisten Wächter umgebracht hat!" Sie sah ihn durchbohrend an:
"Ich hoffe, das ist dir nicht egal?" Youma erwiderte ihren Blick standhaft... aber nicht so standhaft wie Lacrimosa, die fortfuhr:
"Aber das ist nicht das, was ich dir sagen wollte. Ich habe eigentlich nichts dagegen, wenn ihr hier trainiert, aber es wird dennoch in Zukunft nicht mehr stattfinden." Überrascht sah Youma sie an:
"Was? Weshalb?" Lacrimosa seufzte:
"Ich bin eine Fürstin mit politischer Verantwortung - das, was alle anderen nicht haben - und ich habe ab und zu Besuch von anderen Dämoninnen aus anderen Gebieten - Kommandeurinnen, Botschafterinnen - von denen ich nicht möchte, dass sie euch sehen. Wie sieht denn das aus, dass ich zwei Männer hier trainieren lasse? Obendrein zwei Männer, die Lerou im Moment jagen lässt, was du ja wohl hoffentlich nicht vergessen hast?" Nein, dachte Youma und wischte sich das Blut aus dem Gesicht, ohne den Blickkontakt abzubrechen: natürlich hatte er das nicht vergessen! Als Lacrimosa es ihm und Nocturn erzählt hatte, hatte sein sogenannter Partner sich großspurig darüber amüsiert, ohne den Ernst der Lage zu erkennen. Ja, vielleicht war Lerou dämlich und vielleicht war es keine akute Gefahr, aber es war dennoch alles andere als vorteilhaft, wenn die Fürsten darauf angesetzt waren sie zu jagen? Wie konnte man überhaupt darüber lachen? Vielleicht kam irgendeiner von ihnen auf die Idee, es tatsächlich zu tun? Nocturn hatte ihnen immerhin verraten, wo sie ihn finden konnten! Seitdem Youma erfahren hatte, dass Lerou sie jagen ließ um sie zu töten, hatte er noch schlechter geschlafen als zuvor: er konnte absolut nichts Positives oder Unterhaltsames daran finden. Aber Nocturn mangelte es mal wieder an der Weitsicht.
"Nein, mein Lieber, das geht nicht", fuhr Lacrimosa fort:
"Solange du nicht deutlich machst, dass du den Titel eines Königs verdient hast, möchte ich vermeiden, dass jemand glaubt, dass wir uns verbündet haben. Ihr müsst euch also einen anderen Ort suchen, um zu trainieren." Youma war nicht lange überrascht dies zu hören, immerhin... hatte sie recht. Es wäre schädlich für Lacrimosa, wenn man erfuhr, dass sie mit ihnen zusammenarbeitete. Aber wo sollten sie sonst trainieren? In der Menschenwelt? Youma war nicht heiß auf das Training mit Nocturn, nein, in der Tat hasste er es, aber er schloss sich Lacrimosa und Nocturns Meinung an; er benötigte es... und es musste fortgesetzt werden. Alleine schon weil Youma seinen stets grinsenden "Lehrmeister" endlich in die Knie zwingen wollte, damit dieses schreckliche Grinsen verschwand!
"In Zukunft werde ich daher euch besuchen kommen und nicht umgekehrt." Lacrimosa betrachtete ihre goldenen Blumenringe, während Youma nach wie vor noch am Grummeln und Zetern war, nun aber schnell schwieg und den Blickkontakt mit Lacrimosa wiederaufnahm.
"Du kannst Nocturn-kun ausrichten, dass ich ihm aber natürlich sein geliebtes Eis mitnehmen werde." Sie stöhnte und zwirbelte ihre Finger durch ihr langes, violettes Haar, das zur Abwechslung mal offen war und über ihre nackten Schultern fiel, die von einem hellblauen Pelz umrahmt waren. Sie trug wie eigentlich immer ein enganliegendes Kleid, welches jedoch weit ausfiel, mit einem glitzernden Schleier und goldenem Schmuck, der sie gut kleidete - und eindeutig ergaunerter Wächterschmuck war. Von dem was Youma bereits beobachtet hatte - und Klariette und Lacrimosa hatten es ihm auch gerne erzählt - nahmen sich Dämonen eher selten Blumen als Vorbild für ihren Schmuck. Es gab immerhin gar keine Blumen in der Dämonenwelt... Jedenfalls hatte Youma noch nie welche gesehen.
"In der Hoffnung, dass der Junge mal ein wenig zunimmt. Er ist wirklich schrecklich dürr." Youma musste ein wenig über diese Äußerung schmunzeln: Lacrimosa nannte deren Beziehung zwar eine "spezielle Freundschaft", aber manchmal kam sie ihm eher so vor, als sei sie Nocturns Mutter. Wie alt war sie eigentlich...?
"Ich glaube, im Moment würde er selbst das schmackhafteste Eis ablehnen." Lacrimosa horchte auf und sah ihn verwundert an, um eine Ausführung bittend:
"Er hat seit vier Wochen weder gegessen noch getrunken - jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Ich beobachte ihn ja nicht." Eigentlich erwartete Youma, dass die Eiskönigin ihn verwundert, ja, gar geschockt ansehen würde, denn Youma empfand das eigentlich als ziemlich verwunderlich und abnorm, aber sie runzelte nur sehr kritisch die Stirn:
"Nocturn-kun hat seit vier Wochen nichts zu sich genommen und er hat dich dennoch mit Leichtigkeit besiegt?" Diese Worte waren effektiver als jeder ihrer Eisspeere und sofort war Youma erstarrt, beschämt und zu keiner Antwort in der Lage.
"Du bist wirklich schwächer als ich dachte." Youma wurde rot, knirschte ein wenig mit den Zähnen - aber so richtig eine Ausrede fand er leider nicht, weshalb er fand, dass es der richtige Augenblick war, um sich zu verabschieden. Aber Lacrimosa hielt ihn auf, als er sich schon herumgedreht hatte:
"Behalte ihn im Auge. Egal wofür er es schon wieder macht, er ist bereits zu mager. Nocturn-kun muss gnädiger mit seinem Körper umgehen, ansonsten zerbricht er ihm noch, ganz gleich wie groß seine Magie ist." Youma konnte sich dieser Meinung nicht anschließen:
"Ich glaube nicht, dass man sich um Nocturn Sorgen zu machen braucht."
"Oh, da irrst du dich", antwortete sie ernst und ein wenig streng:
"Ausgerechnet um Nocturn-kun sollte man sich Sorgen machen."
Ja, aber doch nur weil dieser Wahnsinnige auf irgendwelche Irrgedanken kommen könnte und jemand anderem damit schaden könnte. Natürlich hatte Youma sich schon gewundert, als er bemerkt hatte, dass er deren Kaffeebestand alleine trank - Feullé trank nämlich keinen - und Feullé Youma auch mitgeteilt hatte, dass Nocturn nichts mehr zu sich nahm. Auch Feullé war besorgt, doch genauso wenig wie Lacrimosa schien sie verwundert zu sein - obwohl sie betonte, dass sie ihrem Vater vertraue. Nachdem Nocturn allerdings diesen Halbdämon mitgenommen hatte, fand sich Youma in dem Glauben bestätigt, dass man Nocturn und "vertrauen" nicht in einem Satz erwähnen konnte: wie Feullé ihm vertrauen konnte, war ihm auch ein Rätsel.
Aber ein Gutes hatte das Dasein des Halbdämons: seitdem er sich in deren Appartement befand, war es herrlich ruhig. Keine überwältigend dramatische Musik mehr, keine plötzlichen, lauten Selbstgespräche von Nocturn und kein ebenso lautes, französisches Geplapper seiner Mitbewohner. Es war ruhig. Einfach nur ruhig. Ein Genuss!
Im letzten Monat hatte Nocturn nur zwei Dinge getan: Youma trainiert - um die 4 Stunden am Tag - und den Rest der Zeit verbrachte er in seinem Atelier... an der Ruhestätte dieses komischen, schwachen Dämons, dessen Aura Youma schon gar nicht mehr spüren konnte.
Vier Wochen lang war es Youma egal gewesen, was Nocturn da drinnen tat. Er wollte mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Zu Beginn hatte er versucht, Nocturn die Idee, Blue für irgendetwas zu benutzen, auszureden, aber mittlerweile war Youma die Lust an dieser Diskussion vergangen, die ohnehin sinnlos erschien, denn der Dämon, über den Nocturn "wachte" oder was auch immer er tat... schien ohnehin nicht wieder aufzuwachen.
Aber trotzdem schien Nocturn es unglaublich interessant zu finden, den Jungen anzustarren, denn als Youma, durch Lacrimosas Worte dazu getrieben, die Tür zu seinem Atelier öffnete, fand er ihn wieder genau dies tun. Nocturn saß am Ende des langen Zimmers, wo wieder nur drei Kerzen an den Füßen der Statue brannten - ah, nein, neben Nocturn auf dem Boden - sehr sicher - brannte auch eine hohe Wachskerze, dort wo der Halbdämon lag und genauso bleich aussah wie vor einem Monat.
Der Junge schien sich überhaupt nicht geregt zu haben - als wäre die Zeit überhaupt nicht vergangen, als befänden sie sich an genau demselben Tag wie vor einem Monat. Aber es war nicht derselbe Tag: draußen regnete es und schwere Regentropfen trommelten an die Scheiben und... an Nocturn war etwas anders.
Youma bemerkte es sofort, als er das Zimmer betrat, nein, schon als er die Tür geöffnet hatte - er spürte... Nocturns Magie. Sie schien eingesetzt, nein, freigesetzt zu werden; die Luft um Nocturn herum war schier aufgeladen von seiner Magie und es würde Youma, der sich sofort angespannt hatte, nicht überraschen, wenn die Luft um ihn herum vibrieren würde.
Nocturn reagierte nicht, als Youma näher herantrat; auch nicht als er sich neben ihn hinstellte. Er wirkte... fast genauso tot wie der Junge, der vor ihnen lag. Nocturn blinzelte nicht; sein Starren war sehr intensiv, feurig und entschlossen, aber auch ruhend. Seine schwarzen Pupillen bewegten sich nicht; er starrte nur auf einen einzigen Punkt ohne sich zu regen - und das Zeichen unter seinem Auge... es leuchtete rot, als würde es brennen.
Plötzlich horchte Nocturn auf, als hätte Youma etwas getan oder gesagt, um auf sich aufmerksam zu machen; er sah ihn etwas alarmiert an, obwohl Youma tatsächlich absolut gar nichts getan hatte.
"Was machst du hier?"
"Ich könnte dich dasselbe fragen." Aber Nocturn schien nicht zu finden, dass er ihm eine Antwort schuldig war, sondern umgekehrt, weshalb Youma ein Seufzen entfloh:
"Lacrimosa-san ist besorgt um dich und meinte, ich solle nach dir sehen." Die halbe Wahrheit.
"Sie braucht nicht besorgt sein", antwortete Nocturn mit gerunzelter Stirn:
"Ich weiß, was ich tue."
"Was auch immer du da tust - die Dauer dieser Tätigkeit hat sie etwas überrascht." Nocturn antwortete nicht. Er starrte wieder Blue an, als würde er Youma damit auffordern wollen, ihn zu verlassen - aber so leicht ließ Youma sich nun nicht abwimmeln:
"Also...?"
"Einige Dinge benötigen ihre Zeit." Er sprach ungewöhnlich, wie Youma plötzlich bemerkte - ungewöhnlich... tonlos. Es lag keine Betonung in Nocturns Worten, denen er doch sonst eigentlich immer so unterschiedliche Klänge verlieh. Seine Stimme schien auch tiefer zu sein als sonst, weniger lebendig... als würde er im Schlaf mit ihm sprechen.
"Was ist es, was du hier tust?"
"Kannst du es dir nicht denken?" Nocturn sah ihn intensiv und ernst an und Youma, der eigentlich sofort eine schnippische Antwort geben wollte, schwieg - und dachte nach, dabei beobachtet von Nocturn, als könnte er plötzlich doch seine Gedanken lesen.
"Ich denke, du sammelst deine Magie; du konzentrierst sie auf etwas..." Youma wandte sich ab von Nocturn und sah zu dem ruhenden Halbdämon, der einfach nur tot aussah.
"... auf ihn nehme ich an."
"Richtig."
"Und dafür darfst du weder essen noch trinken?" Nocturn hob die Schultern ein wenig hoch:
"Es gibt keine Regeln. Aber mich irritiert mein Körper nur... er stört mich, ist eine Hinderung... also versetze ich ihn in einen schlafähnlichen Zustand, damit ich nur noch meinen Geist und meine Magie spüre."
"Sonderlich gesund ist das sicherlich nicht." Nocturn sah ihn wieder an; einige Sekunden nur still musternd, dann lächelte er plötzlich hohl:
"Sehe ich sonderlich gesund aus?"
"Du solltest vielleicht nicht noch magerer werden." Youma sah wieder zu Blue, ohne auf Nocturns Reaktion zu achten:
"Besonders nicht wegen diesem Halbdämon. Was tust du überhaupt mit ihm? Wozu brauchst du deine Magie?"
"Ich lese ihn." Youma stutzte. Was... was tat er?
"Im Normalzustand kann ich die Gedanken der Personen um mich herum lesen, die diesen Personen gerade durch den Kopf schießen. Wenn sie schlafen, kann ich ihre Träume lesen. Umso tiefer ihr Bewusstsein schläft, umso tiefer kann ich vordringen und ihren Geist ganz ungehindert erforschen. Das benötigt aber Zeit - und großen Magieaufwand..." Nocturn legte die Hände auf die Schulter und drehte sich, genau wie Youma, zu Blue herum:
"... dazu jemanden, der komplett willenlos ist. Das Unterbewusstsein eines jeglichen Wesens ist normalerweise blockiert, ganz tief vergraben, so dass weder man selbst und ganz gewiss niemand anders herankommt. Umso schwächer sowohl Geist als auch Körper jedoch sind, umso mehr dieser Blockaden stürzen in sich zusammen... und am Schwächsten ist jegliches Wesen kurz vor dem Tod. Ich habe Blue daher in diesem Zustand "festgefroren" sozusagen. Aber ich bin bald fertig." Youma, der plötzlich eine große Nervosität spürte, warf einen flüchtigen Blick zu Nocturn, der ihn jedoch nicht ansah:
"Ich kenne fast Blues gesamtes Leben. Es fehlen nur noch ein paar Tage, dann bin ich durch - wie ich ihn wecke, weiß ich eigentlich schon, das wusste ich die ganze Zeit schon um ehrlich zu sein. Oder anders gesagt: Ich hatte einen Verdacht, der sich bestätigt hat..." Nocturn setzte sich wieder:
"Aber wirklich, ich werde auf Blue achtgeben müssen, schon für Black. Black war mir wirklich über den Tod hinaus treu... das hätte ich nicht erwartet. Nein, das hatte ich wirklich nie erwartet." Mit diesen Worten driftete Nocturn wieder ab - und Youma entschloss sich dazu, dass es besser so war und dass er genug erfahren hatte, weshalb er ihm den Rücken zukehrte und ging.
Allerdings nicht ohne Nocturn einen letzten Blick zugeworfen zu haben:
Er war wirklich mächtiger, als Youma gedacht hatte.
"Das ist... Onii-chans Windklinge."
"Ja", antwortete Hizashi sachlich, aber ein wenig irritiert klingend, als hätte Green eine dumme Frage gestellt. Der Lehrer und Forscher konnte offensichtlich nicht verstehen, warum Green mit leicht geöffnetem Mund empor sah und das lange gezackte Schwert anstarrte, welches über Hizashis Schreibtisch in der Luft schwebte. Ein leichter Hauch ging durch das Büro und Green wurde klar, dass das Schwert nicht von alleine schwebte - es wurde von sanften Windböen in der Luft gehalten, die es umwirbelten. Sachte bewegte sich auch Greens Ponyhaare, von einem warmen Wind erfasst, wie eine laue Briese an einem Sommernachmittag - und trieb der Hikari, ohne dass sie es wollte oder kontrollieren konnte, die Tränen in die Augen.
Sie spürte es sofort und biss sich hart auf die Unterlippe - und zum Glück wurde sie von Hizashi abgelenkt, der sie darauf hinwies, dass das Schwert nicht der Grund war, weshalb er sie gerufen hatte. Darauf, dass Greens Augen plötzlich glasig geworden waren, reagierte er nicht.
"Was macht das Schwert hier?", fragte Green, die ignorierte, dass Hizashi das Thema zu irritieren schien. Aber wenn er nicht über Greys Schwert reden wollte, dann sollte er es vielleicht hier nicht so hängen lassen?!
"Sollte es nicht bei Grey sein?" Sie musste sich größte Mühe geben, ihre Stimme nicht zittern zu lassen.
"Dies ist keine Waffe, die einem einzelnen Wächter gehört. Es ist ein Familienerbstück und demnach gehört es nicht in einen Sarg." Huh? Aber Grey hatte doch... gar keine Erben.
"Aber die Waffe ist, wie die Asukas es wohl so emotional formulieren würden, "aufgebracht"." Green runzelte die Stirn, nach wie vor stehend und lieber die Windklinge ansehend, obwohl vor Hizashis Schreibtisch - mit grüner Jadeplatte - zwei Sessel standen.
"Was bedeutet das?"
"Was würdest du mit jemandem unternehmen, der "aufgebracht" ist? Beruhigen würde ich vorschlagen." Greens Mundwinkel zuckten ein wenig. Sie wusste schon, warum sie mit Hizashi nicht hatte reden wollen. Ihr Großvater war schon gut darin, ihre Fehler anzukreiden und sie mit den Dingen aufzuziehen, die sie nicht wusste, ohne es direkt zu sagen - der Tonfall an sich war ausreichend. Hizashi war darin auch sehr geübt...
"Wir reden hier von einer Waffe. Einem Gegenstand", erwiderte Green schnippisch und sah sofort in Hizashis schmalem Gesicht, dass er diese Antwort interessant fand.
"Oho? Ist dein Stab auch nur ein Gegenstand?" Green erwischte das schlechte Gewissen jäh, als diese spitzen Worte sie trafen. Das... hatte sie so nicht... Obwohl... doch, natürlich hatte sie es so gemeint, aber wenn er es so formulierte, dann...
"Ist unsere Waffe nicht viel eher unser bester Freund?" Hizashi faltete seine Finger und sah ebenfalls zur Windklinge empor:
"Der einzige, auf den wir uns immer verlassen können?" Green konnte es nicht verhindern: sie umschloss ganz automatisch ihr Glöckchen, welches in diesem Moment unter dem blauen Stoff ihrer Diplomatenuniform verborgen lag. Nur kurz - dann löste sie ihre Finger wieder von ihrem Hikari-Relikt.
"Und was geschieht nun mit Greys "bestem Freund"?" Hizashi sah weiterhin empor:
"Die Windklinge ist 1046 Jahre alt und seit Beginn in dem Besitz der Eien-Familie. Es ist eine Waffe, die aktiv sein und in den Händen eines Wächters liegen muss, um ihre Schärfe nicht zu verlieren. Daher wird die Waffe nun an jemanden übergeben, der nicht zur Eien-Familie gehört, bis das ungeborene Kind Grey-sans das kriegsfähige Alter erreicht hat."
"Ist es in diesen 1046 Jahren schon oft vorgenommen, dass das Schwert seinen Träger umgebracht hat?" Green stellte diese Frage leise, aber Hizashi hörte sie dennoch klar und deutlich und sein Lächeln wurde breiter. Was für interessante Fragen dieses Mädchen stellte...
"Nur zweimal."
"Und das gleich zweimal hintereinander."
"Kein Wunder, dass es aufgebracht ist, nicht wahr? Es weint richtig." Green, welche vorher noch Wärme in sich hatte aufkommen spüren, als sie die Waffe ansah, spürte nun Kälte und Bitterkeit. Die Waffe alleine konnte natürlich niemanden umbringen und sie konnte die Windklinge dafür nicht verantwortlich machen - sie war ja keine Person! - aber in diesem Moment war Green plötzlich so wütend, als könnte sie es.
"Und wer soll die Waffe beruhigen?" Hizashi war es nun, der die Stirn runzelte - aber lächeln tat er immer noch.
"Ich bin überrascht, dass du mich das fragst. Ich dachte, baldige Eheleute würden miteinander sprechen?" Green konnte ihm immer noch nicht so ganz folgen...
"Saiyon-san hat bereits einen Tag nach Greys Tod einen Antrag auf die Windklinge gestellt - und ihn bewilligt bekommen." Ein plötzlicher, großer Widerwille überkam Green und entstellte ihr Gesicht, ließ es schwarz und bläulich wirken, aber obwohl sie den Mund öffnete, um diesem Widerwillen freizulassen, sie bekam keinen Ton heraus.
"Wie formulierte er es noch mal... ah ja, er wünsche die Windklinge zu führen, weil er seine Hikari beschützen wolle."
Und das würde Saiyon. In jedem seiner festen Schritte lag dieser Wille; die Entschlossenheit seiner grünen Augen ward angefacht von diesem Streben. Er war viel zu früh, um die Windklinge von Hizashi abzuholen und vielleicht war es nicht möglich für ihn, sie jetzt schon zu bekommen, aber er konnte hören---- ja--- er konnte hören, dass sie ihn rief.
Hizashi konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen:
"... ist das nicht herzallerliebst, Green?"
Und in Paris öffnete Blue seine Augen.