Kapitel 87 - Golden ruht es im kahlem Raum
Wie ein Geist lag Inceres in der Mitte seiner Bücher-Kathedrale, umring von Büchertürmen, die einen großen Kreis um ihn bildeten. Ecui und Acui waren fern. Er war alleine; alleine lag er auf dem Boden, erhellt von dem blauen Licht, welches durch die Decke sachte herunter strahlte und ihn badete, blau und golden zugleich... und Inceres, obwohl er keine Flügel hatte, wie einen farbenprächtigen Engel wirken ließ. Einen Steinengel, Teil der Ornamente des Bodens, die sich um ihn herum rankten mit ihren dünnen Armen und ihrem blütenreichen Segen und dem weit ausgebreiteten Flügelschlag der gezeichneten Vögel.
Er bewegte sich nicht. Seine starrenden, blauen Augen blinzelten nicht. Er sah zur Decke, gänzlich ohne jede Regung.
"Ich habe einen Fehler begangen."
Aber Inceres konnte nichts mehr daran ändern. Die Weihe war nicht mehr aufzuhalten.
Die Vorbereitungen für dieses Fest aller Feste begannen schon am nächsten Tag. Früh am Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen gerade den Tempel berührten, hatte Green sich leise aus dem Bett gestohlen, um Saiyon nicht zu wecken. Ebenso leise zog sie sich um und kleidete sich in ein dunkelblaues Kleid mit hell leuchtenden einem Sternenhimmel gleichenden Verzierungen, auf welchem ihr Glöckchen deutlich hervorstach, verschwand kurz in deren Badezimmer und ließ auch schon deren Gemach hinter sich, um schnellen Schrittes durch die fast stillen Korridore des Tempels zu eilen. Die einzigen, welche so früh am Morgen schon unterwegs waren, waren fleißige Tempelwächter und natürlich das Wachpersonal, darauf wartend abgelöst zu werden und sich nach einer Nachtschicht ins Bett zu begeben. Sie begrüßten Green alle und versuchten, ihre Neugierde zu zügeln; aber mehr als einmal wurde ihr hinterhergesehen... was hatte sie denn so früh am Morgen zu erledigen?
Sie musste sich mit ihrer Mutter treffen. Was für eine ungewöhnliche Zeit, um sich mit seiner Mutter zu treffen; es war noch nicht einmal vier Uhr morgens. Aber es war auch kein gewöhnliches Treffen... Es war ein Treffen, das zu den Vorbereitungen für die Weihe gehörte.
Schon von Weitem konnte Green die Aura ihrer Mutter spüren. Was für eine enorme Aura sie besaß! Sie konnte gut nachvollziehen, warum die Dämonen eben diese Aura fürchteten: es war, als würde die Reinheit dieser Aura alles durchdringen, alles durchsieben und Green wusste, dass eben diese Reinheit Wonne in ihr auslösen sollte... aber das tat sie nicht, viel eher das Gegenteil... man spürte seinen eigenen Schatten dadurch doch nur noch deutlicher... aber vielleicht würde damit nächste Woche Schluss sein - vielleicht würde ihre Aura dann ja auch gewachsen sein?
"Es ist wirklich merkwürdig deine Aura zu spüren, Mutter", begann Green das Gespräch, als sie beim nordöstlichen Teleportationspunkt ankam; dem verabredeten Treffpunkt. Als Green sich ihrer Mutter näherte sah White, die in Gedanken gewesen war, auf und schon beim ersten Blickwechsel wurde ihrer Tochter sofort bewusst, dass sie die Reaktion auf ihre durchgeprügelte Weihe unterschätzt hatte. White war sehr wohl wütend auf sie und es schien für sie auch nicht einfach nur "irgendein" Verstoß gegen das Wort ihrer Mutter zu sein. Obwohl White nichts sagte, um ihrer Missgunst Luft zu machen und sie auch gerade begrüßen wollte, ging Green sofort in Verteidigungsposition:
"Was habt ihr nur alle dagegen, dass ich die Weihe vollziehe!? Du hast sie doch auch gemacht!" Green wartete mit dem Fortfahren, bis sie vor ihrer Mutter angekommen war, welche bis jetzt an einem der vielen großen Fenstern gestanden hatte.
"Und du kannst mir nicht sagen, dass es dir um meine Augenfarbe geht."
"Ich mag die Farbe deiner Augen sehr", war das erste, was White an diesem Morgen zu ihrer Tochter sagte und womit sie Green auch sofort zum Schweigen brachte - und ihren Widerwillen besänftigte, denn für einen kurzen Augenblick wurden die Wangen ihrer Tochter sogar leicht rot. Green hatte eigentlich nie sonderlich darüber nachgedacht, ob White die Augen ihrer Tochter mochte, denn für sie war klar gewesen, dass es eigentlich nicht der Fall sein konnte, immerhin waren ihre Augen eine weitere Sache, die sie voneinander unterschied... Sie waren zwar blau... aber das war nicht dasselbe Blau wie das von Kanori.
"Ich mache mir Sorgen um dich, mein Mädchen."
"Aber du hast die Weihe auch gemacht", wiederholte Green, wenn auch in einem anderen Tonfall. Schweigend wandte White ihren Blick aus dem Fenster und antwortete leise:
"Ja, das habe ich..." Die Angesprochene legte den Kopf schief, obwohl sie bei Whites stillem Tonfall nicht einmal beurteilen konnte, ob die Worte wirklich für sie gemeint waren. Sie sah ihre Mutter verwundert, aber auch besorgt an, was White wohl aus den Augenwinkeln bemerkte, denn sie wandte sich wieder zu ihr und fragte sie nun direkt, warum sie die Weihe unbedingt vollführen wollte.
"Weil ich besser werden will; stärker und mächtiger. Ich kann wohl kaum hoffen, so eine Aura wie du zu erhalten, aber ich will eine Hikari werden, für die sich niemand opfern muss." Wort für Wort hatte sich der Blick Greens gefestigt und die folgenden Worte waren Worte der Entschlossenheit:
"Ich will einfach nicht, dass noch mehr sterben müssen, die ich liebe." Aber das war nicht die ganze Wahrheit und das wusste ihre Mutter. Sie wollte die Weihe auch mit allen Mitteln durchführen, um ihrer Rache an Blue näherzukommen und vielleicht nahm sie auch deshalb den Preis in Kauf, ihre auffallende Augenfarbe ein für alle Mal zu verlieren, um nun vollends mit "Green Najotake" abzuschließen.
"Das kannst du doch verstehen, oder, Mutter?"
"Natürlich kann ich das."
"Dann musst du doch auf meiner Seite sein." Sie war immer auf der Seite ihrer Tochter, aber... das Gefühl, der Drang, die Weihe verhindern zu wollen, schnürte ihr die Kehle zu. Wenn Green vollends mit "Green Najotake" abschloss... wer wäre sie dann?
Mittlerweile war Green natürlich schon oft in der Zentrale von Sanctu Ele'saces gewesen; alle Räume und Gänge kannte sie gewiss nicht, aber im Groben kannte sie das Gebäude schon. Im Gegensatz zu anderen Teilen der Insel und der Zentrale Min Intarsiers war das Gebäude von der großen Schlacht vollkommen verschont geblieben: den Dämonen war es nicht gelungen, so weit vorzudringen. Wenn man sich nur in den hohen, schön bemalten Gängen der Zentrale aufhielt, so konnte man den Angriff vor nur knapp einer Woche fast vergessen; samt der Zerstörung, welche auch auf dieser Insel stattgefunden hatte.
Auch hier war die morgendliche Ruhe noch nicht besiegt worden, weshalb sie auch niemanden auf ihrem Weg durch die Zentrale trafen und ungehindert zu einer... Sackgasse gelangten. Es war ein halbrunder Raum mit großen Glastüren zu beiden Seiten, welche hinausführten zu den Gärten, aber da Green sich nicht vorstellen konnte, dass diese ihr Ziel sein würden, war sie recht verwirrt in einer Sackgasse zu stehen. Das einzige, was es in diesem Raum gab, war ein großes steinernes Fresko direkt vor ihr... es leuchtete matt in dem gelben Licht der von der Decke herabhängenden Kugelbeleuchtung und ließ die steinernen Gesichter der zwei Hikari etwas... nun, sehr alt aussehen. Ein Mann und eine Frau... Das Fresko erinnerte Green an die Eingangstür zum Jenseits. Genau wie diese Hikari wurden auch hier die jeweiligen Waffen über Kreuz gehalten, um den Eingang zu verschließen... Moment! War das etwa auch eine Tür?
Gerade eben hatten White und Green noch über das harte Training mit Shaginai gesprochen - aber nun schwieg White und ihre Tochter tat es ihr gleich, auch wenn sie nicht wusste, warum sie nun schweigen musste... oder warum ihre Mutter aus den großen Fenstern hinaus in den Himmel sah. Der Himmel war trüb und blau, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen... ah, doch - genau in dem Moment, als White hinaussah, erwachte die Sonne, lugte hervor hinter den tiefliegenden Wolken, als hätte White sie aufgeweckt.
White begrüßte sie mit einem leichten Senken des Kopfes - was Green sehr verwirrte - und wandte sich dann wieder dem Kunstwerk zu, als wäre es eine lebende Person: eine lebende Person, die nur darauf gewartet hatte, dass White ihr Wort an sie richtete... was sie auch tat:
"Es ist wieder so weit." Diese simplen Worte klangen absolut nicht wie eine Zauberformel, sondern eher als würde ihre Mutter mit einem anderen Wächter reden; mit einer lebenden, atmenden Person - und genau so reagierte das augenscheinliche Fresko auch, welches genau wie das im Jenseits tatsächlich keines war: es war eine Pforte, welche sich mit Ächzen und Krächzen öffnete, nachdem beide Hikari ihre Waffen zurückgezogen hatten und somit den Weg freigaben, ja, sie beinahe willkommen hießen.
Obwohl Green bereits oft gesehen hatte, dass die Welt der Wächter eine Welt war, die von Magie dominiert wurde und Steintüren die sich von selbst öffneten waren weiß Gott nicht das magischte gewesen was sie je gesehen hatte, staunte sie mit offenen Mund, als die massive Forte den Weg für sie freigab. White dagegen... sie war tot ernst.
Green schloss den Mund auch schnell wieder, denn das, was das Felsentor freigab, sah alles andere als einladend aus. Es glich einem schwarzen Loch, in welches abgenutzte Steinstufen hinab führten; nur die ersten Stufen waren sichtbar, die anderen verschwanden im dunklen Nichts. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor diesem Loch zu stehen: nichts war von dort unten zu hören und doch war es, als würde die Stille selbst emporsteigen und alles in sich verschlingen. Green starrte hinein, mit bebenden Herzen - aber Schlucken musste sie nicht.
"Du reagierst gelassener als ich damals. Ich glaubte, mein Vater würde mich dort unten einsperren wollen... Er musste mich regelrecht nach unten zerren." Froh darüber, dass ihre Mutter die Stille brach, wandte Green sich fast schon erleichtert ein Gespräch anfangen zu können an sie:
"Du wolltest nicht geweiht werden?"
"Nein, ich hatte zu große Furcht. Aber jetzt weiß ich, wie wichtig sie ist." Green sah White kurz an, dann wieder in die Dunkelheit hinab:
"Und doch willst du nicht, dass ich sie mache."
"In der Tat, das möchte ich nicht." White löste ihren Blick von der Dunkelheit und sah Green in die Augen:
"Aber ich sehe in deinem Blick, dass du dich entschlossen hast." Green nickte.
"Das habe ich." Und mit diesen Worten, als hätten sie es abgemacht, setzten sie beide gleichzeitig einen Fuß auf die oberste Treppenstufe - und Green atmete auf, denn Abertausende von kleinen Fackeln sprangen plötzlich aus der Wand hervor und erleuchteten die Treppenstufen, welche die beiden Hikari nach unten bringen würden. Auch wenn Green das Ende nicht sehen konnte, wirkte es doch mit Licht gleich um einiges angenehmer.
"Das ist der "Pfad der Dunkelheit"", begann White, während sie und Green die schmalen Treppenstufen nach unten gingen, darauf bedacht nicht zu stürzen. Ihre Mutter wartete mit dem Fortfahren, bis die steinerne Tür sich hinter ihnen mit dem gleichen Getöse wieder geschlossen hatte und erklärte dann:
"In der Nacht zur Weihe musst du diesen Pfad alleine bestreiten, Green. Alleine und ohne, dass er erhellt wird. Er ist nur erhellt, weil ich, eine geweihte Hikari, dir den Weg zeige. Die Tradition besagt, dass die letzte geweihte Hikari dem neuen Hikari den Weg zeigen muss." Kein besonders schöner Gedanke, aber keiner der Green erschrak; auch wenn der Weg eng war und die Treppenstufen alt und die Decke niedrig war, hatte sie ihr Licht... und darauf ging das Ganze sicherlich auch hinaus? Sie musste die Dunkelheit mit ihrem Licht erhellen - und selbst für sie war das kein Problem.
"Das krieg ich schon hin." Irgendwie hatte sie plötzlich etwas Mitleid mit ihrer Mutter... den Schacht erhellen konnte White natürlich, aber auch erhellt wirkte der nach unten gehende Weg bedrohlich und verschlingend. Wie hatte er da auf die nur 11-jährige White gewirkt, die diesen Schacht ganz alleine durchquert hatte?
Ihrer Mutter war schon sehr früh... sehr viel aufgebürdet worden.
Mutter und Tochter sprachen nicht miteinander: nicht, weil sie es nicht wollten, sondern weil dieser merkwürdige Ort sie regelrecht daran hinderte. Die Stille war so bedrückend und einschließend, als würde die Stille selbst ihre Hände auf deren Münder legen; selbst das Atmen fiel Green schwer. Auch als die Treppenstufen aufhörten und sie nun durch einen ebenen Korridor gingen, wechselten sie kein Wort miteinander. White sah mit etwas bedrücktem Gesicht nach vorne; Green betrachtete die Wände beim Vorbeigehen.
Es waren keine normalen Steinwände, wie Green zuerst angenommen hatte. Die Oberfläche war nicht rau, sondern glatt, als wäre die Wand von einer dünnen Glasschicht überzogen... doch es konnte kein Glas sein, denn das Licht der Fackeln wurde nicht reflektiert. Warm war die Wand obendrein und als Green ihren Blick über die Wandmalereien schweifen ließ, welche sie an Hieroglyphen erinnerten, wirkte es beinahe so, als würden die kleinen Bilder sich bewegen... sie glühten von Innen heraus... und das merkwürdige Material der Wand brachte die doch noch sehr gut erhaltene Farbe der Bilder zum Vibrieren, wodurch der unheimliche Effekt geschaffen wurde, dass die kleinen Figuren sich bewegten... atmeten.
White war stehen geblieben als sie bemerkte, dass ihre Tochter sich die Wände besah und war wieder einmal beeindruckt davon, wie ruhig Green war. White hatte den Wänden damals keinerlei Beachtung geschenkt, sondern war fast panisch hinter Shaginai hergerannt, welcher so schnell gegangen war, dass White mit ihren kleinen Füßchen drei Schritte für einen seiner hatte nehmen müssen. Als sie alleine hier heruntermusste, war sie so schnell gegangen, wie sie konnte. Wahrscheinlich war es der Altersunterschied... aber wenn sie zurück dachte, dann hatte auch ihr Vater nervös gewirkt - und die Male, die Shaginai nervös war, konnte White an einer Hand abzählen. Aber Green... die doch eigentlich selten Interesse an der Geschichte der Wächter und ihrer Kultur zeigte... schien in diesem Moment richtig in den Bann gezogen zu sein.
Green starrte tatsächlich, gebannt wie nie, die Wandmalereien an. Sie bestanden aus sehr simplen Strichen und waren auf Grund ihrer Einfachheit teilweise recht schwer zu identifizieren, doch als Green eine kleine schwarze Figur bemerkte, die einen langen, schmalen Gegenstand besaß, da musste sie schmunzeln: sollte das Youma darstellen? Und die weißglühenden Figuren mit den Glorien... vielleicht Hikaru und Light? Ja, es mussten die beiden sein, was bedeutete, dass diese Wandmalereien die alten Tage in Aeterniem und die damit verbundene Tragödie und den ersten Krieg zeigten...
Mit simplen Pinselstrichen dargestellt tötete die eine schwarze Figur eine andere und daraufhin Light, nun mit vereinfachten Flügeln dargestellt. Die Figur von Youma verschwand daraufhin und wie Green stirnrunzelnd feststellte sah es ganz danach aus, als würde Light in seiner Sterbensminute Hikaru seine Engelsflügel überreichen - warum hatte Green sofort das Gefühl, dass das unmöglich wahr sein konnte?
Hikaru, ausgerüstet mit den Flügeln Lights und an ihrer Seite die anderen Elementgottheiten in ihrer jeweiligen Farbe, stieß viele kleine schwarze Pünktchen aus. Wahrscheinlich diejenigen, die entweder das Kind einer Wächter- und Dämonenbeziehung waren oder gar die Wächter, die solche Kinder zur Welt gebracht hatten; oder Dämonen schlichtweg nicht als ihre Feinde ansahen und somit gegen Hikaru und ihre neue Weltansicht waren...? Es war schwer zu sagen. Es konnten nicht die Dämonen an sich sein, denn diese wurden mit Hörnern dargestellt - rot und schwarz zugleich leuchtend. Nachdem diese verbannt wurden, wurde die einst unsichtbare Grenze zwischen den Gebieten der Dämonen und der Wächter sichtbar gemacht; Eternia und die anderen Gebiete der Wächter wurden abgeschottet und daraufhin folgten viele sehr deutlich dargestellte Bilder, wie Hikaru ihre Machtposition festigte.
Bilder, die sie mit einem großen Buch zeigten - wohl das Regelbuch? - welches die kleine Figur strahlend über sich selbst hielt: die Gottheiten und deren Nachfahren knieten sich vor ihr nieder, wie es auch wenige Bilder weiter zwei absolut identische Figuren taten. Auch wenn sie kaum Merkmale besaßen wusste Green sofort, dass es sich bei den beiden sich vor Hikarus strahlender Glorie in den Staub werfenden Wächter nur um Ecui und Acui handeln konnte. Green runzelte die Stirn - sie wusste gar nicht, dass Ecui und Acui sie so sehr verehrten... aber Moment. Inceres hatte doch mal erwähnt, dass sie gar nicht seine Tempelwächter waren... sondern Hikarus?
Hikaru stellte sich hier wirklich im besten Licht da. Ihre Flügel, welche ja eigentlich Light gehörten, schienen mit jeder heiligen Tat zu wachsen, genau wie ihre Glorie immer weiter wuchs. Jedes der vielen Bilder schien Hikarus Heiligkeit untermalen zu wollen und wenn Green nicht mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hätte, was Hikaru alles getan und anderen angetan hatte, dann wäre sie jetzt wohl davon überzeugt gewesen, dass Hikaru die heiligste, reinste und gütigste Hikari gewesen war. Sie heilte Verletzte, stand Sterbenden bei, führte den auch hier gezeigten Krieg mit erhobenem Haupt und gebar beziehungsweise erschuf ihre Kinder - und das alles stets mit dem Beistand von Hikari-kami-sama und Light, welche sie auf ihrem Weg begleiteten, genauso wie die Hikari heute ebenfalls davon überzeugt waren, dass ihre Wege und Taten von ihnen unterstützt und geleitet wurden.
Green wusste nicht, wie sie das Gefühl beschreiben sollte, welches sich in ihr ausbreitete - war sie von diesen Lügen angewidert? Light und die Lichtgöttin begleiteten Hikaru garantiert nicht mit einem Lächeln! Ganz sicher nicht. Ob Hikaru das selbst geglaubt hatte? Oder hatte sie es glauben wollen?
Green hatte keine Gelegenheit mehr darüber nachzudenken, denn der Gang kam zu einem Ende und damit erblickte Green nun auch das letzte Bild: ein Bild, welches Hikaru und höchstwahrscheinlich den namenlosen Dämonenherrscher in einem letzten Kampf zeigte, der entweder unentschieden ausging oder den Hikaru gewann - das konnte Green nicht klar ausmachen. Danach verschwand Hikaru... und da, der letzte strahlende Punkt... das war wohl Inceres. Das letzte Glied der Geschichte, nachdem alle anderen gefallen waren...
Aber nun musste Green wieder auftauchen, wieder in das "Jetzt" zurückkehren, denn der nächste Raum, in den sie nun gelangten, erhellte sich, als White voranging. Alle Lichtfackeln, die zuvor noch den Gang erhellt hatten, sammelten sich, taten sich zu einer großen Lichtkugel zusammen und schossen an Green vorbei, um gegen die weit entfernte Deckenwölbung zu prallen und in lauter kleine Lichtkugeln zu zerspringen, die in der Luft hängen blieben und eine riesige, kahle Halle in gedämpftes Licht tauchten.
Green erschrak.
Sie erschrak fürchterlich. Sie hätte geschrien, wäre ihre Stimme nicht plötzlich weg gewesen. Sie wusste nicht was es war, denn die Halle war absolut unscheinbar: die Wände waren kahl, kaum dekoriert, nur der Boden war es, wo sich verschnörkelte Verzierungen um 10 Podeste schlängelten, die alle ihren Knotenpunkt in einem Podest in der Mitte hatten - aber irgendetwas war da. Irgendwas, was Green zusammenfahren ließ, als würde diese Halle sie in sich hineinziehen, aufsaugen wollen. Die Halle selbst schien zu atmen, zu schreien...
Irgendetwas... irgendetwas in ihrem Körper oder ihrer Seele oder gar ihr Element - sie wusste es nicht, sagte ihr, dass sie hier nicht sein sollte, fragte sie förmlich "Was suchst du hier? Warum bist du schon wieder hier? Hast du nichts aus dem ersten Mal gelernt?" - denn ja, sie war dort noch nie gewesen, das wusste sie ganz genau und doch war das Gefühl der Wiedererkennung so überwältigend und so warnend, dass der Angstschweiß auf Greens Haut ausbrach.
Auch White bemerkte die plötzliche Veränderung in ihrer Tochter - und war darüber überrascht. Der enge und beklemmende Gang hatte keinen Eindruck auf Green hinterlassen, aber diese Halle tat es? Wie konnte das sein? White fühlte sich hier auch nicht wohl, aber deutlich wohler als im Gang - aber Green schien förmlich in sich zusammenzuschrumpfen; sie verkrampfte sich, schien im Begriff zu sein, ohnmächtig in die Knie zu gehen.
"Green?" Ihre Tochter reagierte nicht; sie schien sie gar nicht zu hören.
"Green!" Erst da, als die Stimme ihrer Mutter durch den gigantischen Raum hallte, wachte Green auf, die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter nun ebenfalls bemerkend.
"Green, du musst die Weihe nicht durchführen. Es ist immer noch nicht zu spät alles abzubrechen", flüsterte White leise die Hand von Greens Schulter lösend, um diese an ihre Wange zu legen, welche auffällig kalt war - aber es war auch nicht sonderlich warm, wo sie nun waren.
"Ist... schon gut", antwortete Green, schluckte und festigte ihre Stimme wieder:
"Ich war einfach kurz weggetreten. Das ist alles. Findet... findet hier die Weihe statt?" Besorgt sah White ihre Tochter an und wandte sich erst nach einigen Momenten von ihr ab, als fürchtete sie, Green würde umkippen.
"Ja, das hier ist die Halle, in der du geweiht werden wirst. Deine Elementarwächter werden auf den äußeren Podesten stehen und du auf dem mittleren. Mehr kann ich dir vom eigentlichen Ablauf nicht berichten; da wird Itzumi-san dich einführen."
"Wie erfreulich", antwortete Green säuerlich, da sie sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass Itzumi so eine bedeutsame Rolle in ihrer Weihe spielen sollte.
"Und das... da hinten?" Begleitet von dieser Frage streckte die Hikari den Arm aus und zeigte auf eine große Doppeltür am Ende der Halle, welche beinahe nicht auffiel, da diese perfekt überging in die steinerne Wand.
"Dort werden wir uns jetzt hinbegeben. Es ist der Raum, wo du für die Weihe vorbereitet wirst." Green folgte ihrer Mutter quer durch die Halle, doch konnte nicht drum herum kommen, sich mit skeptischer Neugierde umzusehen - was gab es hier nur, was sie so beunruhigte?
Die steinernen Türen öffneten sich, ohne dass White dazu beitrug und Mutter und Tochter traten in einen weitaus kleineren Raum. Dieser war auch nicht grau wie der andere, sondern aus einem bräunlich, sanft in sich leuchtenden Stein gehauen. Vor den beiden erstreckte sich ein großes im Boden eingelassenes Becken; zu hygienischen Zwecken wie Green vermutete, obwohl sie keinen Ablauf oder Wasserhahn erkennen konnte.
Viel interessanter war jedoch das einzige Kunstwerk in diesem Raum: genau hinter dem Becken stand eine lebensgroße Statue. Sie besaß keine persönlichen Züge, kein Gesicht - es war nicht einmal möglich das Geschlecht auszumachen. Lange beschäftigte Green sich nicht mit dem Gesicht der Statue; die Schmuckstücke, mit der die Statue geschmückt waren, fand sie sofort viel interessanter.
Die senkrecht vom Kopf abstehenden Zöpfe wurden zusammengehalten von kleinen goldenen Ringen; die gleichen, die um die Ellenbogen lagen sowie um den Hals als auch um die Taille.
"Wow! Ist das massives Gold?", fragte Green sichtlich beeindruckt und sprang sofort in das leere Becken hinein, um sich die Statue von Nahem anzusehen, während White am Rand stehenblieb.
"Nein, das ist ein goldähnliches Material. Es ist ein Material, welches in Aeterniem für Waffen benutzt wurde, da es Magie leitet. Die mächtigsten Waffen wurden daraus geschmiedet."
"Ich hoffe, es ist nicht so schwer wie Gold, ansonsten werde ich mich ja gar nicht bewegen können! Und wie eigenartig, es ist ganz warm! Ich muss sie doch sicherlich genauso tragen wie diese Statue, oder?" Von Greens plötzlichem Enthusiasmus ein wenig verwundert gab White ihr erst nach einem kurzen Zögern Zustimmung; ihre Tochter war wirklich wandelfähig.
"Darf ich sie mal anprobieren? Würde mich ja interessieren, wie schwer die jetzt sind..."
"Also eigentlich..."
Dann geschah es.
In dem Moment, als Green ihre Finger nach dem um den Hals liegenden Reif ausstreckte, kehrte das warnende Gefühl zurück; dieses Mal jedoch so überwältigend, dass Green schwarz vor Augen wurde.
Alles war schwarz. Verschwommen. Kaum greifbar oder erkennbar. Bilder zuckten vorbei. Bilder. Unerkennbar. Ein Kind. Große, weiße Augen. Mutter!
"Achtet darauf, dass kein einziger Tropfen seines heiligen Blutes verschüttet wird. Kein einziger darf vergossen werden."
Es tat weh. Die goldenen Ketten waren viel zu fest angezogen; viel fester als früher. Die Hände wurden taub. Kopfschmerzen. Atemnot.
"Er wird schreien. In seiner Todesangst wird er euch sicherlich befehlen, ihn zu befreien."
Diese Ketten. Sie waren anders als die, die er sonst tragen musste. Etwas lauerte in ihnen. Etwas, was in wenigen Sekunden herauskommen würde.
"Wir dienen nur Euch."
Es wurde immer enger. Er konnte seine zuckenden Finger nicht mehr spüren. Sie nicht mehr bewegen. Er spürte nicht, wie Tränen aus seinen Augen herausgequetscht wurden.
"Und wenn ihr fertig seid..."
Er spürte auch nicht, wie die andere kleine Gestalt seine Tränen wegwischte. Nichts durfte sein Gesicht entweihen. Nicht einmal seine eigene verzweifelte Trauer. Sein Schmerz, seine Todesangst.
"...Werden wir uns töten, wie es Euer Wunsch ist, Hikari-sama."
Stille. Die Ketten zogen sich nicht enger. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Was auch immer in den Ketten verborgen lag, es würde sich gleich zeigen. Sein Blut. Es würde sein Blut verlangen. Aber die kleine Hand lag immer noch an seinem Gesicht, hielt ihn fest, forderte, dass er sie ansah.
"Sieh mich an. Sieh nur mich an und denke immerzu daran, dass ich dich liebe. Und deshalb musst du jetzt artig sein. Denk immer an die Liebe deiner Mutter und sei artig. Sei ein artiges Kind und sieh mich an; sieh immer nur mich an und denke immer an meine Liebe."
Und dann küsste sie ihn. Zuerst auf die Stirn. Dann seine Wangen. Erst links, dann rechts.
Und zuletzt sein Glöckchen.
"Vergiss es niemals."
White hatte die Schultern ihrer Tochter gepackt und riss sie rückwärts. Mit einem dröhnenden "KLONK" stürzte der goldene Reif für den Hals auf den Boden und wurde mit entsetzten, ängstlichen Augen von Green angestarrt. Sie hörte die Worte ihrer Mutter nicht, welche wahrscheinlich versuchte, sie zu erreichen, zu erfahren, was passiert war, was sie gesehen hatte. Doch auch ohne die Worte ihrer Mutter zu verstehen, wusste Green, dass das, was eben geschehen war, nicht so sein sollte und keine übliche Reaktion war.
Sie hatte Inceres gesehen. Nein, noch viel mehr - sie war selbst Inceres gewesen. Und die Angst, welche sie nun in sich spürte, als sie sich bückte und eigentlich den Reifen aufsammeln wollte, sich aber nicht traute, ihn noch einmal zu berühren, war nicht ihre eigene. Es war Inceres'.
Mit bangem Blick sah Green empor, sah die anderen Reifen an, welche doch so harmlos aussahen. Aber sie waren nicht harmlos. Green wusste nicht wie, aber mit diesen Reifen war Inceres getötet worden. Nein, er war nicht getötet worden. Er war geopfert worden.
War das der Grund, weshalb er nicht wollte, dass sie die Weihe vollzog?
Er bewegte sich nicht. Seine starrenden, blauen Augen blinzelten nicht. Er sah zur Decke, gänzlich ohne jede Regung.
"Ich habe einen Fehler begangen."
Aber Inceres konnte nichts mehr daran ändern. Die Weihe war nicht mehr aufzuhalten.
Die Vorbereitungen für dieses Fest aller Feste begannen schon am nächsten Tag. Früh am Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen gerade den Tempel berührten, hatte Green sich leise aus dem Bett gestohlen, um Saiyon nicht zu wecken. Ebenso leise zog sie sich um und kleidete sich in ein dunkelblaues Kleid mit hell leuchtenden einem Sternenhimmel gleichenden Verzierungen, auf welchem ihr Glöckchen deutlich hervorstach, verschwand kurz in deren Badezimmer und ließ auch schon deren Gemach hinter sich, um schnellen Schrittes durch die fast stillen Korridore des Tempels zu eilen. Die einzigen, welche so früh am Morgen schon unterwegs waren, waren fleißige Tempelwächter und natürlich das Wachpersonal, darauf wartend abgelöst zu werden und sich nach einer Nachtschicht ins Bett zu begeben. Sie begrüßten Green alle und versuchten, ihre Neugierde zu zügeln; aber mehr als einmal wurde ihr hinterhergesehen... was hatte sie denn so früh am Morgen zu erledigen?
Sie musste sich mit ihrer Mutter treffen. Was für eine ungewöhnliche Zeit, um sich mit seiner Mutter zu treffen; es war noch nicht einmal vier Uhr morgens. Aber es war auch kein gewöhnliches Treffen... Es war ein Treffen, das zu den Vorbereitungen für die Weihe gehörte.
Schon von Weitem konnte Green die Aura ihrer Mutter spüren. Was für eine enorme Aura sie besaß! Sie konnte gut nachvollziehen, warum die Dämonen eben diese Aura fürchteten: es war, als würde die Reinheit dieser Aura alles durchdringen, alles durchsieben und Green wusste, dass eben diese Reinheit Wonne in ihr auslösen sollte... aber das tat sie nicht, viel eher das Gegenteil... man spürte seinen eigenen Schatten dadurch doch nur noch deutlicher... aber vielleicht würde damit nächste Woche Schluss sein - vielleicht würde ihre Aura dann ja auch gewachsen sein?
"Es ist wirklich merkwürdig deine Aura zu spüren, Mutter", begann Green das Gespräch, als sie beim nordöstlichen Teleportationspunkt ankam; dem verabredeten Treffpunkt. Als Green sich ihrer Mutter näherte sah White, die in Gedanken gewesen war, auf und schon beim ersten Blickwechsel wurde ihrer Tochter sofort bewusst, dass sie die Reaktion auf ihre durchgeprügelte Weihe unterschätzt hatte. White war sehr wohl wütend auf sie und es schien für sie auch nicht einfach nur "irgendein" Verstoß gegen das Wort ihrer Mutter zu sein. Obwohl White nichts sagte, um ihrer Missgunst Luft zu machen und sie auch gerade begrüßen wollte, ging Green sofort in Verteidigungsposition:
"Was habt ihr nur alle dagegen, dass ich die Weihe vollziehe!? Du hast sie doch auch gemacht!" Green wartete mit dem Fortfahren, bis sie vor ihrer Mutter angekommen war, welche bis jetzt an einem der vielen großen Fenstern gestanden hatte.
"Und du kannst mir nicht sagen, dass es dir um meine Augenfarbe geht."
"Ich mag die Farbe deiner Augen sehr", war das erste, was White an diesem Morgen zu ihrer Tochter sagte und womit sie Green auch sofort zum Schweigen brachte - und ihren Widerwillen besänftigte, denn für einen kurzen Augenblick wurden die Wangen ihrer Tochter sogar leicht rot. Green hatte eigentlich nie sonderlich darüber nachgedacht, ob White die Augen ihrer Tochter mochte, denn für sie war klar gewesen, dass es eigentlich nicht der Fall sein konnte, immerhin waren ihre Augen eine weitere Sache, die sie voneinander unterschied... Sie waren zwar blau... aber das war nicht dasselbe Blau wie das von Kanori.
"Ich mache mir Sorgen um dich, mein Mädchen."
"Aber du hast die Weihe auch gemacht", wiederholte Green, wenn auch in einem anderen Tonfall. Schweigend wandte White ihren Blick aus dem Fenster und antwortete leise:
"Ja, das habe ich..." Die Angesprochene legte den Kopf schief, obwohl sie bei Whites stillem Tonfall nicht einmal beurteilen konnte, ob die Worte wirklich für sie gemeint waren. Sie sah ihre Mutter verwundert, aber auch besorgt an, was White wohl aus den Augenwinkeln bemerkte, denn sie wandte sich wieder zu ihr und fragte sie nun direkt, warum sie die Weihe unbedingt vollführen wollte.
"Weil ich besser werden will; stärker und mächtiger. Ich kann wohl kaum hoffen, so eine Aura wie du zu erhalten, aber ich will eine Hikari werden, für die sich niemand opfern muss." Wort für Wort hatte sich der Blick Greens gefestigt und die folgenden Worte waren Worte der Entschlossenheit:
"Ich will einfach nicht, dass noch mehr sterben müssen, die ich liebe." Aber das war nicht die ganze Wahrheit und das wusste ihre Mutter. Sie wollte die Weihe auch mit allen Mitteln durchführen, um ihrer Rache an Blue näherzukommen und vielleicht nahm sie auch deshalb den Preis in Kauf, ihre auffallende Augenfarbe ein für alle Mal zu verlieren, um nun vollends mit "Green Najotake" abzuschließen.
"Das kannst du doch verstehen, oder, Mutter?"
"Natürlich kann ich das."
"Dann musst du doch auf meiner Seite sein." Sie war immer auf der Seite ihrer Tochter, aber... das Gefühl, der Drang, die Weihe verhindern zu wollen, schnürte ihr die Kehle zu. Wenn Green vollends mit "Green Najotake" abschloss... wer wäre sie dann?
Mittlerweile war Green natürlich schon oft in der Zentrale von Sanctu Ele'saces gewesen; alle Räume und Gänge kannte sie gewiss nicht, aber im Groben kannte sie das Gebäude schon. Im Gegensatz zu anderen Teilen der Insel und der Zentrale Min Intarsiers war das Gebäude von der großen Schlacht vollkommen verschont geblieben: den Dämonen war es nicht gelungen, so weit vorzudringen. Wenn man sich nur in den hohen, schön bemalten Gängen der Zentrale aufhielt, so konnte man den Angriff vor nur knapp einer Woche fast vergessen; samt der Zerstörung, welche auch auf dieser Insel stattgefunden hatte.
Auch hier war die morgendliche Ruhe noch nicht besiegt worden, weshalb sie auch niemanden auf ihrem Weg durch die Zentrale trafen und ungehindert zu einer... Sackgasse gelangten. Es war ein halbrunder Raum mit großen Glastüren zu beiden Seiten, welche hinausführten zu den Gärten, aber da Green sich nicht vorstellen konnte, dass diese ihr Ziel sein würden, war sie recht verwirrt in einer Sackgasse zu stehen. Das einzige, was es in diesem Raum gab, war ein großes steinernes Fresko direkt vor ihr... es leuchtete matt in dem gelben Licht der von der Decke herabhängenden Kugelbeleuchtung und ließ die steinernen Gesichter der zwei Hikari etwas... nun, sehr alt aussehen. Ein Mann und eine Frau... Das Fresko erinnerte Green an die Eingangstür zum Jenseits. Genau wie diese Hikari wurden auch hier die jeweiligen Waffen über Kreuz gehalten, um den Eingang zu verschließen... Moment! War das etwa auch eine Tür?
Gerade eben hatten White und Green noch über das harte Training mit Shaginai gesprochen - aber nun schwieg White und ihre Tochter tat es ihr gleich, auch wenn sie nicht wusste, warum sie nun schweigen musste... oder warum ihre Mutter aus den großen Fenstern hinaus in den Himmel sah. Der Himmel war trüb und blau, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen... ah, doch - genau in dem Moment, als White hinaussah, erwachte die Sonne, lugte hervor hinter den tiefliegenden Wolken, als hätte White sie aufgeweckt.
White begrüßte sie mit einem leichten Senken des Kopfes - was Green sehr verwirrte - und wandte sich dann wieder dem Kunstwerk zu, als wäre es eine lebende Person: eine lebende Person, die nur darauf gewartet hatte, dass White ihr Wort an sie richtete... was sie auch tat:
"Es ist wieder so weit." Diese simplen Worte klangen absolut nicht wie eine Zauberformel, sondern eher als würde ihre Mutter mit einem anderen Wächter reden; mit einer lebenden, atmenden Person - und genau so reagierte das augenscheinliche Fresko auch, welches genau wie das im Jenseits tatsächlich keines war: es war eine Pforte, welche sich mit Ächzen und Krächzen öffnete, nachdem beide Hikari ihre Waffen zurückgezogen hatten und somit den Weg freigaben, ja, sie beinahe willkommen hießen.
Obwohl Green bereits oft gesehen hatte, dass die Welt der Wächter eine Welt war, die von Magie dominiert wurde und Steintüren die sich von selbst öffneten waren weiß Gott nicht das magischte gewesen was sie je gesehen hatte, staunte sie mit offenen Mund, als die massive Forte den Weg für sie freigab. White dagegen... sie war tot ernst.
Green schloss den Mund auch schnell wieder, denn das, was das Felsentor freigab, sah alles andere als einladend aus. Es glich einem schwarzen Loch, in welches abgenutzte Steinstufen hinab führten; nur die ersten Stufen waren sichtbar, die anderen verschwanden im dunklen Nichts. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor diesem Loch zu stehen: nichts war von dort unten zu hören und doch war es, als würde die Stille selbst emporsteigen und alles in sich verschlingen. Green starrte hinein, mit bebenden Herzen - aber Schlucken musste sie nicht.
"Du reagierst gelassener als ich damals. Ich glaubte, mein Vater würde mich dort unten einsperren wollen... Er musste mich regelrecht nach unten zerren." Froh darüber, dass ihre Mutter die Stille brach, wandte Green sich fast schon erleichtert ein Gespräch anfangen zu können an sie:
"Du wolltest nicht geweiht werden?"
"Nein, ich hatte zu große Furcht. Aber jetzt weiß ich, wie wichtig sie ist." Green sah White kurz an, dann wieder in die Dunkelheit hinab:
"Und doch willst du nicht, dass ich sie mache."
"In der Tat, das möchte ich nicht." White löste ihren Blick von der Dunkelheit und sah Green in die Augen:
"Aber ich sehe in deinem Blick, dass du dich entschlossen hast." Green nickte.
"Das habe ich." Und mit diesen Worten, als hätten sie es abgemacht, setzten sie beide gleichzeitig einen Fuß auf die oberste Treppenstufe - und Green atmete auf, denn Abertausende von kleinen Fackeln sprangen plötzlich aus der Wand hervor und erleuchteten die Treppenstufen, welche die beiden Hikari nach unten bringen würden. Auch wenn Green das Ende nicht sehen konnte, wirkte es doch mit Licht gleich um einiges angenehmer.
"Das ist der "Pfad der Dunkelheit"", begann White, während sie und Green die schmalen Treppenstufen nach unten gingen, darauf bedacht nicht zu stürzen. Ihre Mutter wartete mit dem Fortfahren, bis die steinerne Tür sich hinter ihnen mit dem gleichen Getöse wieder geschlossen hatte und erklärte dann:
"In der Nacht zur Weihe musst du diesen Pfad alleine bestreiten, Green. Alleine und ohne, dass er erhellt wird. Er ist nur erhellt, weil ich, eine geweihte Hikari, dir den Weg zeige. Die Tradition besagt, dass die letzte geweihte Hikari dem neuen Hikari den Weg zeigen muss." Kein besonders schöner Gedanke, aber keiner der Green erschrak; auch wenn der Weg eng war und die Treppenstufen alt und die Decke niedrig war, hatte sie ihr Licht... und darauf ging das Ganze sicherlich auch hinaus? Sie musste die Dunkelheit mit ihrem Licht erhellen - und selbst für sie war das kein Problem.
"Das krieg ich schon hin." Irgendwie hatte sie plötzlich etwas Mitleid mit ihrer Mutter... den Schacht erhellen konnte White natürlich, aber auch erhellt wirkte der nach unten gehende Weg bedrohlich und verschlingend. Wie hatte er da auf die nur 11-jährige White gewirkt, die diesen Schacht ganz alleine durchquert hatte?
Ihrer Mutter war schon sehr früh... sehr viel aufgebürdet worden.
Mutter und Tochter sprachen nicht miteinander: nicht, weil sie es nicht wollten, sondern weil dieser merkwürdige Ort sie regelrecht daran hinderte. Die Stille war so bedrückend und einschließend, als würde die Stille selbst ihre Hände auf deren Münder legen; selbst das Atmen fiel Green schwer. Auch als die Treppenstufen aufhörten und sie nun durch einen ebenen Korridor gingen, wechselten sie kein Wort miteinander. White sah mit etwas bedrücktem Gesicht nach vorne; Green betrachtete die Wände beim Vorbeigehen.
Es waren keine normalen Steinwände, wie Green zuerst angenommen hatte. Die Oberfläche war nicht rau, sondern glatt, als wäre die Wand von einer dünnen Glasschicht überzogen... doch es konnte kein Glas sein, denn das Licht der Fackeln wurde nicht reflektiert. Warm war die Wand obendrein und als Green ihren Blick über die Wandmalereien schweifen ließ, welche sie an Hieroglyphen erinnerten, wirkte es beinahe so, als würden die kleinen Bilder sich bewegen... sie glühten von Innen heraus... und das merkwürdige Material der Wand brachte die doch noch sehr gut erhaltene Farbe der Bilder zum Vibrieren, wodurch der unheimliche Effekt geschaffen wurde, dass die kleinen Figuren sich bewegten... atmeten.
White war stehen geblieben als sie bemerkte, dass ihre Tochter sich die Wände besah und war wieder einmal beeindruckt davon, wie ruhig Green war. White hatte den Wänden damals keinerlei Beachtung geschenkt, sondern war fast panisch hinter Shaginai hergerannt, welcher so schnell gegangen war, dass White mit ihren kleinen Füßchen drei Schritte für einen seiner hatte nehmen müssen. Als sie alleine hier heruntermusste, war sie so schnell gegangen, wie sie konnte. Wahrscheinlich war es der Altersunterschied... aber wenn sie zurück dachte, dann hatte auch ihr Vater nervös gewirkt - und die Male, die Shaginai nervös war, konnte White an einer Hand abzählen. Aber Green... die doch eigentlich selten Interesse an der Geschichte der Wächter und ihrer Kultur zeigte... schien in diesem Moment richtig in den Bann gezogen zu sein.
Green starrte tatsächlich, gebannt wie nie, die Wandmalereien an. Sie bestanden aus sehr simplen Strichen und waren auf Grund ihrer Einfachheit teilweise recht schwer zu identifizieren, doch als Green eine kleine schwarze Figur bemerkte, die einen langen, schmalen Gegenstand besaß, da musste sie schmunzeln: sollte das Youma darstellen? Und die weißglühenden Figuren mit den Glorien... vielleicht Hikaru und Light? Ja, es mussten die beiden sein, was bedeutete, dass diese Wandmalereien die alten Tage in Aeterniem und die damit verbundene Tragödie und den ersten Krieg zeigten...
Mit simplen Pinselstrichen dargestellt tötete die eine schwarze Figur eine andere und daraufhin Light, nun mit vereinfachten Flügeln dargestellt. Die Figur von Youma verschwand daraufhin und wie Green stirnrunzelnd feststellte sah es ganz danach aus, als würde Light in seiner Sterbensminute Hikaru seine Engelsflügel überreichen - warum hatte Green sofort das Gefühl, dass das unmöglich wahr sein konnte?
Hikaru, ausgerüstet mit den Flügeln Lights und an ihrer Seite die anderen Elementgottheiten in ihrer jeweiligen Farbe, stieß viele kleine schwarze Pünktchen aus. Wahrscheinlich diejenigen, die entweder das Kind einer Wächter- und Dämonenbeziehung waren oder gar die Wächter, die solche Kinder zur Welt gebracht hatten; oder Dämonen schlichtweg nicht als ihre Feinde ansahen und somit gegen Hikaru und ihre neue Weltansicht waren...? Es war schwer zu sagen. Es konnten nicht die Dämonen an sich sein, denn diese wurden mit Hörnern dargestellt - rot und schwarz zugleich leuchtend. Nachdem diese verbannt wurden, wurde die einst unsichtbare Grenze zwischen den Gebieten der Dämonen und der Wächter sichtbar gemacht; Eternia und die anderen Gebiete der Wächter wurden abgeschottet und daraufhin folgten viele sehr deutlich dargestellte Bilder, wie Hikaru ihre Machtposition festigte.
Bilder, die sie mit einem großen Buch zeigten - wohl das Regelbuch? - welches die kleine Figur strahlend über sich selbst hielt: die Gottheiten und deren Nachfahren knieten sich vor ihr nieder, wie es auch wenige Bilder weiter zwei absolut identische Figuren taten. Auch wenn sie kaum Merkmale besaßen wusste Green sofort, dass es sich bei den beiden sich vor Hikarus strahlender Glorie in den Staub werfenden Wächter nur um Ecui und Acui handeln konnte. Green runzelte die Stirn - sie wusste gar nicht, dass Ecui und Acui sie so sehr verehrten... aber Moment. Inceres hatte doch mal erwähnt, dass sie gar nicht seine Tempelwächter waren... sondern Hikarus?
Hikaru stellte sich hier wirklich im besten Licht da. Ihre Flügel, welche ja eigentlich Light gehörten, schienen mit jeder heiligen Tat zu wachsen, genau wie ihre Glorie immer weiter wuchs. Jedes der vielen Bilder schien Hikarus Heiligkeit untermalen zu wollen und wenn Green nicht mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hätte, was Hikaru alles getan und anderen angetan hatte, dann wäre sie jetzt wohl davon überzeugt gewesen, dass Hikaru die heiligste, reinste und gütigste Hikari gewesen war. Sie heilte Verletzte, stand Sterbenden bei, führte den auch hier gezeigten Krieg mit erhobenem Haupt und gebar beziehungsweise erschuf ihre Kinder - und das alles stets mit dem Beistand von Hikari-kami-sama und Light, welche sie auf ihrem Weg begleiteten, genauso wie die Hikari heute ebenfalls davon überzeugt waren, dass ihre Wege und Taten von ihnen unterstützt und geleitet wurden.
Green wusste nicht, wie sie das Gefühl beschreiben sollte, welches sich in ihr ausbreitete - war sie von diesen Lügen angewidert? Light und die Lichtgöttin begleiteten Hikaru garantiert nicht mit einem Lächeln! Ganz sicher nicht. Ob Hikaru das selbst geglaubt hatte? Oder hatte sie es glauben wollen?
Green hatte keine Gelegenheit mehr darüber nachzudenken, denn der Gang kam zu einem Ende und damit erblickte Green nun auch das letzte Bild: ein Bild, welches Hikaru und höchstwahrscheinlich den namenlosen Dämonenherrscher in einem letzten Kampf zeigte, der entweder unentschieden ausging oder den Hikaru gewann - das konnte Green nicht klar ausmachen. Danach verschwand Hikaru... und da, der letzte strahlende Punkt... das war wohl Inceres. Das letzte Glied der Geschichte, nachdem alle anderen gefallen waren...
Aber nun musste Green wieder auftauchen, wieder in das "Jetzt" zurückkehren, denn der nächste Raum, in den sie nun gelangten, erhellte sich, als White voranging. Alle Lichtfackeln, die zuvor noch den Gang erhellt hatten, sammelten sich, taten sich zu einer großen Lichtkugel zusammen und schossen an Green vorbei, um gegen die weit entfernte Deckenwölbung zu prallen und in lauter kleine Lichtkugeln zu zerspringen, die in der Luft hängen blieben und eine riesige, kahle Halle in gedämpftes Licht tauchten.
Green erschrak.
Sie erschrak fürchterlich. Sie hätte geschrien, wäre ihre Stimme nicht plötzlich weg gewesen. Sie wusste nicht was es war, denn die Halle war absolut unscheinbar: die Wände waren kahl, kaum dekoriert, nur der Boden war es, wo sich verschnörkelte Verzierungen um 10 Podeste schlängelten, die alle ihren Knotenpunkt in einem Podest in der Mitte hatten - aber irgendetwas war da. Irgendwas, was Green zusammenfahren ließ, als würde diese Halle sie in sich hineinziehen, aufsaugen wollen. Die Halle selbst schien zu atmen, zu schreien...
Irgendetwas... irgendetwas in ihrem Körper oder ihrer Seele oder gar ihr Element - sie wusste es nicht, sagte ihr, dass sie hier nicht sein sollte, fragte sie förmlich "Was suchst du hier? Warum bist du schon wieder hier? Hast du nichts aus dem ersten Mal gelernt?" - denn ja, sie war dort noch nie gewesen, das wusste sie ganz genau und doch war das Gefühl der Wiedererkennung so überwältigend und so warnend, dass der Angstschweiß auf Greens Haut ausbrach.
Auch White bemerkte die plötzliche Veränderung in ihrer Tochter - und war darüber überrascht. Der enge und beklemmende Gang hatte keinen Eindruck auf Green hinterlassen, aber diese Halle tat es? Wie konnte das sein? White fühlte sich hier auch nicht wohl, aber deutlich wohler als im Gang - aber Green schien förmlich in sich zusammenzuschrumpfen; sie verkrampfte sich, schien im Begriff zu sein, ohnmächtig in die Knie zu gehen.
"Green?" Ihre Tochter reagierte nicht; sie schien sie gar nicht zu hören.
"Green!" Erst da, als die Stimme ihrer Mutter durch den gigantischen Raum hallte, wachte Green auf, die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter nun ebenfalls bemerkend.
"Green, du musst die Weihe nicht durchführen. Es ist immer noch nicht zu spät alles abzubrechen", flüsterte White leise die Hand von Greens Schulter lösend, um diese an ihre Wange zu legen, welche auffällig kalt war - aber es war auch nicht sonderlich warm, wo sie nun waren.
"Ist... schon gut", antwortete Green, schluckte und festigte ihre Stimme wieder:
"Ich war einfach kurz weggetreten. Das ist alles. Findet... findet hier die Weihe statt?" Besorgt sah White ihre Tochter an und wandte sich erst nach einigen Momenten von ihr ab, als fürchtete sie, Green würde umkippen.
"Ja, das hier ist die Halle, in der du geweiht werden wirst. Deine Elementarwächter werden auf den äußeren Podesten stehen und du auf dem mittleren. Mehr kann ich dir vom eigentlichen Ablauf nicht berichten; da wird Itzumi-san dich einführen."
"Wie erfreulich", antwortete Green säuerlich, da sie sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass Itzumi so eine bedeutsame Rolle in ihrer Weihe spielen sollte.
"Und das... da hinten?" Begleitet von dieser Frage streckte die Hikari den Arm aus und zeigte auf eine große Doppeltür am Ende der Halle, welche beinahe nicht auffiel, da diese perfekt überging in die steinerne Wand.
"Dort werden wir uns jetzt hinbegeben. Es ist der Raum, wo du für die Weihe vorbereitet wirst." Green folgte ihrer Mutter quer durch die Halle, doch konnte nicht drum herum kommen, sich mit skeptischer Neugierde umzusehen - was gab es hier nur, was sie so beunruhigte?
Die steinernen Türen öffneten sich, ohne dass White dazu beitrug und Mutter und Tochter traten in einen weitaus kleineren Raum. Dieser war auch nicht grau wie der andere, sondern aus einem bräunlich, sanft in sich leuchtenden Stein gehauen. Vor den beiden erstreckte sich ein großes im Boden eingelassenes Becken; zu hygienischen Zwecken wie Green vermutete, obwohl sie keinen Ablauf oder Wasserhahn erkennen konnte.
Viel interessanter war jedoch das einzige Kunstwerk in diesem Raum: genau hinter dem Becken stand eine lebensgroße Statue. Sie besaß keine persönlichen Züge, kein Gesicht - es war nicht einmal möglich das Geschlecht auszumachen. Lange beschäftigte Green sich nicht mit dem Gesicht der Statue; die Schmuckstücke, mit der die Statue geschmückt waren, fand sie sofort viel interessanter.
Die senkrecht vom Kopf abstehenden Zöpfe wurden zusammengehalten von kleinen goldenen Ringen; die gleichen, die um die Ellenbogen lagen sowie um den Hals als auch um die Taille.
"Wow! Ist das massives Gold?", fragte Green sichtlich beeindruckt und sprang sofort in das leere Becken hinein, um sich die Statue von Nahem anzusehen, während White am Rand stehenblieb.
"Nein, das ist ein goldähnliches Material. Es ist ein Material, welches in Aeterniem für Waffen benutzt wurde, da es Magie leitet. Die mächtigsten Waffen wurden daraus geschmiedet."
"Ich hoffe, es ist nicht so schwer wie Gold, ansonsten werde ich mich ja gar nicht bewegen können! Und wie eigenartig, es ist ganz warm! Ich muss sie doch sicherlich genauso tragen wie diese Statue, oder?" Von Greens plötzlichem Enthusiasmus ein wenig verwundert gab White ihr erst nach einem kurzen Zögern Zustimmung; ihre Tochter war wirklich wandelfähig.
"Darf ich sie mal anprobieren? Würde mich ja interessieren, wie schwer die jetzt sind..."
"Also eigentlich..."
Dann geschah es.
In dem Moment, als Green ihre Finger nach dem um den Hals liegenden Reif ausstreckte, kehrte das warnende Gefühl zurück; dieses Mal jedoch so überwältigend, dass Green schwarz vor Augen wurde.
Alles war schwarz. Verschwommen. Kaum greifbar oder erkennbar. Bilder zuckten vorbei. Bilder. Unerkennbar. Ein Kind. Große, weiße Augen. Mutter!
"Achtet darauf, dass kein einziger Tropfen seines heiligen Blutes verschüttet wird. Kein einziger darf vergossen werden."
Es tat weh. Die goldenen Ketten waren viel zu fest angezogen; viel fester als früher. Die Hände wurden taub. Kopfschmerzen. Atemnot.
"Er wird schreien. In seiner Todesangst wird er euch sicherlich befehlen, ihn zu befreien."
Diese Ketten. Sie waren anders als die, die er sonst tragen musste. Etwas lauerte in ihnen. Etwas, was in wenigen Sekunden herauskommen würde.
"Wir dienen nur Euch."
Es wurde immer enger. Er konnte seine zuckenden Finger nicht mehr spüren. Sie nicht mehr bewegen. Er spürte nicht, wie Tränen aus seinen Augen herausgequetscht wurden.
"Und wenn ihr fertig seid..."
Er spürte auch nicht, wie die andere kleine Gestalt seine Tränen wegwischte. Nichts durfte sein Gesicht entweihen. Nicht einmal seine eigene verzweifelte Trauer. Sein Schmerz, seine Todesangst.
"...Werden wir uns töten, wie es Euer Wunsch ist, Hikari-sama."
Stille. Die Ketten zogen sich nicht enger. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Was auch immer in den Ketten verborgen lag, es würde sich gleich zeigen. Sein Blut. Es würde sein Blut verlangen. Aber die kleine Hand lag immer noch an seinem Gesicht, hielt ihn fest, forderte, dass er sie ansah.
"Sieh mich an. Sieh nur mich an und denke immerzu daran, dass ich dich liebe. Und deshalb musst du jetzt artig sein. Denk immer an die Liebe deiner Mutter und sei artig. Sei ein artiges Kind und sieh mich an; sieh immer nur mich an und denke immer an meine Liebe."
Und dann küsste sie ihn. Zuerst auf die Stirn. Dann seine Wangen. Erst links, dann rechts.
Und zuletzt sein Glöckchen.
"Vergiss es niemals."
White hatte die Schultern ihrer Tochter gepackt und riss sie rückwärts. Mit einem dröhnenden "KLONK" stürzte der goldene Reif für den Hals auf den Boden und wurde mit entsetzten, ängstlichen Augen von Green angestarrt. Sie hörte die Worte ihrer Mutter nicht, welche wahrscheinlich versuchte, sie zu erreichen, zu erfahren, was passiert war, was sie gesehen hatte. Doch auch ohne die Worte ihrer Mutter zu verstehen, wusste Green, dass das, was eben geschehen war, nicht so sein sollte und keine übliche Reaktion war.
Sie hatte Inceres gesehen. Nein, noch viel mehr - sie war selbst Inceres gewesen. Und die Angst, welche sie nun in sich spürte, als sie sich bückte und eigentlich den Reifen aufsammeln wollte, sich aber nicht traute, ihn noch einmal zu berühren, war nicht ihre eigene. Es war Inceres'.
Mit bangem Blick sah Green empor, sah die anderen Reifen an, welche doch so harmlos aussahen. Aber sie waren nicht harmlos. Green wusste nicht wie, aber mit diesen Reifen war Inceres getötet worden. Nein, er war nicht getötet worden. Er war geopfert worden.
War das der Grund, weshalb er nicht wollte, dass sie die Weihe vollzog?