Kapitel 107 - Verräterisches Herz
Green kannte ihre Rolle. Sie wusste ganz genau, dass sie als Verbindungsglied für ihre Elementarwächter diente, damit sie mit ihrem Element in Kontakt treten konnten so wie sie ihrem Element nah gewesen war. Wie es funktionierte wusste sie nicht, aber sie spürte, dass das Licht durch sie floss und eine Verbindung, eine Brücke aufbaute, die das Passieren und das Kommunizieren möglich machte. Ihre Hände waren immer noch ausgestreckt, ihre Augen geschlossen und ihre Haare wirbelten in einem sachten Magiestrom über ihren Kopf hinweg, begleitet von dem Leuchten der goldenen Riemen an ihrem Körper und in ihren Haaren. Es war ein schönes Gefühl, dies für ihre Elementarwächter tun zu können; es erfüllte sie auch in gewisser Weise mit Stolz, dass sie dies tun konnte. Man hatte immer mit dem Finger auf sie gezeigt, immer über sie getuschelt, sie nie akzeptiert... und trotz all der Abneigung, trotz all der Worte, dass sie weder Wächter noch Hikari war und kein Teil der Lichtfamilie sein durfte... erfüllte sie ihre Rolle in dieser Weihe genau wie die anderen Hikari vor ihr. Sie wollte es ihrem Großvater mit Stolz ins Gesicht sagen, mit einem triumphierenden "Guck!"...
Eine kleine Wölbung tauchte auf Greens eigentlich entspanntem Gesicht auf und sie befahl sich schnell, sich wieder zu besinnen, sich wieder gänzlich auf die Magie zu konzentrieren. Sie durfte jetzt nicht an ihren Großvater denken. Sie durfte auch nicht an ihre Familie oder an sich selbst denken. Sie war jetzt nicht "Green". Sie war einfach nur Licht. Das Licht, das leitete, das führte, das verband... und wenn sie sich ganz auf diese Magieströme konzentrierte, dann wollte sie auch eigentlich nichts anderes spüren, nichts anderes sein. Sie war so sehr mit ihrem Elementarwächtern verbunden, dass sie deren aufgewirbelte Gefühle spüren konnte wie ein fernes Echo. Wenn sie genau hinhörte, nein, wenn sie ihr Gefühl "hören" ließ, dann spürte sie sogar die Tränen Azuras, die ihr über die Wangen liefen, als sie ihre Mutter umarmte; Azuma, der von Izzerin getadelt wurde, Firey war... nervös? ... Shitaya nahm die stolzen Worte seines Vaters entgegen und versuchte nicht zu weinen, während Kaira...
Green spürte etwas in ihrem Herzen, als sie begann Worte zu hören. Die Verbindung war nun so stark geworden, dass sie nicht nur Worte, sondern auch Stimmen hörte. Sie sah das, was ihre Elementarwächter sahen nicht klar, aber die Stimmen und die Worte hörte Green immer deutlicher und... und... Nein... Nein... sie musste sich konzentrieren, sie musste sich entspannen... nicht hinhören... nicht...
"Ich hoffe, du bist nicht allzu sehr enttäuscht." Saiyon verstand diese Worte zunächst nicht. Er war gänzlich verwirrt und auch etwas befangen davon... Grey vor sich zu sehen. Genau wie sein Nachfolger schwebte er einige Zentimeter über der aufgewühlten Wasseroberfläche und seine schwarzen Haare wirbelten ebenso um ihn wie Saiyons es taten, die er immer noch mit der Hand bändigte, während er Grey mit leicht geöffnetem Mund anstarrte. Über diese Möglichkeit hatte er nie nachgedacht, aber hier war Grey. Unzweifelhaft derselbe, der vor zwei Monaten gestorben war. Er war in seine Uniform gekleidet, deren Umhang ebenfalls vom Wind getragen wurde, doch der starke Wind störte den Kaze nicht - er lächelte Saiyon immer noch an, freundlich und höflich wie er zu Lebzeiten gewesen war, aber auch mit einer Spur Melancholie. Obwohl Saiyon sich das Recht erkämpft hatte, sich einen Kaze und einen Elementarwächter nennen zu können, hatte er das Gefühl, dass dies ein verbotenes Treffen war. Ein Treffen, welches nicht ihm zustand.
"Warum..." Saiyon musste schlucken, so befangen war er.
"... sollte es mich enttäuschen, Euch zu sehen, Grey-sama?" Greys Lächeln verstärkte sich noch, nein, es war die Melancholie, die sich verstärkte.
"Ich denke, du hättest lieber mit deiner Mutter gesprochen." Saiyon musste noch einmal schlucken, denn auch darüber hatte er nicht nachgedacht.
"Sie ist sehr stolz auf dich und deinen Werdegang."
"Vielen Dank, das... freut mich." Das war nicht die Wahrheit: er log, denn er war einfach nur verwirrt und immer noch komisch befangen. Er war nicht enttäuscht darüber, seine Mutter nicht zu sehen und die Worte von Grey zu hören weckte auch keine Freude in ihm. Seine Eltern waren so früh gestorben, dass er sie nicht kannte. Er hatte ihr Gesicht in Akten gesehen, aber er sah sie nicht in seinen Erinnerungen, spürte nicht ihre Umarmungen, von denen Shitaya immer erzählte, noch hörte er ihre Wiegenlieder. Er kannte die Wächter nicht, die seine Eltern genannt wurden. Shitaya war... seine einzige Familie. Schon immer gewesen. Von ihm wollte er hören, dass er stolz auf ihn war: wenn er dies sagte - was er auch schon getan hatte - dann löste es Freude aus. Aber nicht hier, nicht jetzt. Saiyon hatte es geantwortet, weil er wusste, dass das von ihm erwartet wurde, doch scheinbar durchschaute Grey ihn, denn er lächelte immer noch sehr mitfühlend.
"Ich bin es nicht, der hier mit Euch sprechen sollte", begann Saiyon und versuchte ebenfalls höflich zu lächeln.
"Sondern Eure Schwester." Grey lächelte immer noch, doch in seine Augen trat Traurigkeit - Traurigkeit, die er jedoch nicht aussprechen wollte.
"Doch du bist der Kaze, der nach mir kommt, nicht..." Er zögerte ihren Namen zu sagen. Er musste sogar schlucken. Jetzt wirkte Grey kurzzeitig befangen.
"... meine Schwester."
"Sie vermisst Euch sehr." Warum fiel es Saiyon so viel einfacher plötzlich über Green zu sprechen, als über sich selbst?
"Euer Tod hat ein tiefes Loch in ihr hinterlassen, welches wohl niemand zu schließen vermag."
"Du bist ihr Getreuer...", erwiderte Grey nach einem kurzen Zögern mit demselben, traurigen Lächeln, während Saiyon ihm versicherte, dass es ihn sehr ehrte, diesen Titel dank Greys Segen tragen zu dürfen.
"... und ich habe dich ausgesucht, weil ich glaube, dass du sie trösten kannst."
"Ich gebe mein Bestes, Grey-sama, doch ich bin auch der Überzeugung, dass eine Hikari trauern darf. Auch ihre Tränen müssen fallen und sie hat Euch sehr geliebt." Grey gab sich größte Mühe immer noch zu lächeln, doch das Lächeln wurde ihm immer schwerer, bis es zu guter Letzt gänzlich verschwand. Seine leuchtend blauen Augen sahen in die aufgebrachten Wolken, ehe er sich ernst, nein, feierlich an Saiyon wandte:
"Du sagtest mir, dass du sie liebst. Sind diese Worte immer noch wahr?"
"Das sind sie, Grey-sama", versicherte Saiyon und legte seine Hand über sein Herz.
"Mein Herz kann nicht wanken. Wenn es sich verändert hat, dann nur, weil dessen Herzschlag noch mehr für Green schlägt." Grey deutete ein kleines Nicken an, doch sein Lächeln kehrte nicht zurück und Saiyon fragte sich, ob er seine Worte trotz des Nickens anzweifelte?
"Ich bin aufrichtig, Grey-sama."
"Das glaube ich dir. Ich kann es spüren. Nur lass mich dir eine Frage stellen..." Saiyon straffte seinen Rücken wie zum Test bereit.
"Ist Ihr Glück dein Glück?"
"Das ist es."
"Würdest du stets ihr Glück über das deines Herzens stellen?"
"Das würde ich."
"Und wenn Green wieder die Hand eines gewissen Halbdämons nehmen möchte, würdest du ihre Hand dann gehen lassen?"
Und die Antwort - tonlos, aber bissig - kam sofort:
"Warum sollte ich?"
Green wusste genau, dass sie nicht hinhören durfte.
Sie. Durfte. Nicht. Hin. Hören.
Sie musste den Schlüssel halten, die Magie durch sich strömen lassen und sich selbst vergessen. Aber sie konnte es nicht. Sie konnte ihr Herz nicht vergessen. Wie könnte sie auch! Es schrie! Es schrie so laut! Grey! Grey! Sie hörte seine Stimme! Sie sah seine Augen, sein Lächeln!
Ihre Hände um den Schlüssel zitterten.
Sie wollte zu ihm.
Sie wollte zu ihm!
Ihr Herz wollte zu ihm!
Das war die falsche Antwort, Saiyon wusste es sofort. Doch es war seine ehrliche Antwort gewesen, auch das war ihm sofort bewusst. Als Grey diese Frage gestellt hatte, hatte sich sein gesamter Körper versteift, als würde er angegriffen werden. Grey analysierte ihn genauestens und es war Saiyon bewusst, dass dieser seine abwehrende Körperhaltung durchschaut hatte - und sie missbilligte. Aber warum?!
"Ihr meint..." Jetzt fiel es Saiyon schwer, einen gewissen Namen auszusprechen, aber es gelang ihm, auch wenn der Name wie ein Schimpfwort klang.
"Blue." Grey antwortete nicht, aber sein Schweigen war Antwort genug, ebenso wie seine verurteilenden Augen. Aber wofür verurteilte er Saiyon?!
"Dieser Dämon hat Greens Herz zweimal zerrissen! Er hat Euch umgebracht!", rief Saiyon von Zorn übermannt.
"Warum sollte ich Green einem solchen Dämon überlassen? Und wie könnt Ihr... Er ist Euer Mörder!" Wieder schwieg Grey, aber dieses Mal übernahm Saiyon nicht das Reden. Er wartete und ließ sich, das spürte er genau, analysieren. Grey überlegte... er beurteilte Saiyon und seine Reaktion, die in seinen Augen falsch war.
Saiyon konnte das Schweigen nicht mehr aushalten:
"Ist er Euer Mörder?" Grey schlug die Augen nieder und antwortete, während er sie wieder öffnete:
"Nein." Saiyons grüne Augen weiteten sich verwirrt, aber Grey gab ihm keine Gelegenheit darauf zu antworten.
"Deine Antwort ist interessant, Saiyon. Der Dämon, den du Blue nennst, hat nämlich für Green auf sein eigenes Glück verzichtet. Ich habe es ebenfalls getan... ein wenig ironisch, dass derjenige, der sich als einziger Ihr Getreuer nennen darf, es nicht tut."
Green konnte nicht, sie konnte nicht, sie konnte einfach nicht! Nein! Sie wollte nicht!
Sie wollte zu Grey! Das war alles, was sie wollte! Das war alles, was wichtig war! Sie musste zu ihm, mit ihm reden, ihn sehen, ihn hören! Egal welches Tabu sie brach, ganz gleich, was passieren möge! Und möge die Welt zusammenbrechen---- sie musste zu Grey! Sie musste ihn sehen, noch ein letztes Mal bei ihm sein - alles andere war ganz und gar egal.
Kein einziger Gedanke war irgendwelchen Konsequenzen gewidmet, als Greens Finger den Elementschlüssel gehen ließen.
Nein, es war nicht ihr Körper, der sich vom Elementschlüssel löste - es war ihre Seele selbst, die es tat. Ihre Seele löste sich vom Stab, löste sich von ihrem Körper, überwand die Grenzen der Elemente; tat alles, was sie nicht durfte, nur um zu Grey zu gelangen. Sie rannte, flog, sauste und raste auf die Stimme ihres Bruders zu, beseelt von ihrem schreienden Herzen. Aufgewirbelte Farben zogen an ihr vorbei, Wirbel an Magie, Worte und Gefühle der anderen Elementträger, doch Green hörte und spürte nur ihren eigenen Wunsch, bei Grey sein zu wollen - nichts weiter, absolut nichts anderes als das. Jemand, oder etwas, schrie sie an, eine göttliche Kraft verurteilte sie und sie hatte das Gefühl, dass tausende Hände sich nach ihr ausstreckten, nach ihr griffen, sie packen wollten, sie aufhalten und bereits jetzt bestrafen wollten. Doch sie kamen nicht gegen Green an; nicht gegen Green und ihr schreiendes Herz.
"GREY!"
Ihre gesamte Seele schrie seinen Namen, so verzweifelt, so sehnsuchtsvoll, wie damals, als sie auf seinen Sarg eingeschlagen hatte und ihn angefleht hatte, ihr zu antworten, wieder aufzuwachen, wieder bei ihr zu sein, seinen schrecklichen Tod ungeschehen zu machen. Ihr zu verzeihen und wieder bei ihr zu sein... aber dieses Mal... dieses Mal wurde ihr Schrei gehört. Dieses Mal war da kein Schweigen. Kein Tod und keine Trauer. Die Tränen, die Green über die Wangen und über ihr gesamtes Gesicht liefen, fielen, weil Grey sie sah und sie anlächelte.
Eine starke Windböe packte die Haare Greens und hob sie und ihr weißes Kleid empor, so wie sämtliche dunkle Wolken vom aufgewirbelten Himmel gerissen wurden, als die beiden Geschwister in das unterschiedliche Blau des jeweils anderen sahen. Saiyon sah Green entsetzt und bestürzt an, aber Grey... Grey lächelte.
"Green", seufzte er mit dem Wind und Tränen kullerten von seinen Wangen.
"Wie schaffst du es nur immer wieder, alles, was unmöglich ist, möglich zu..." Weiter kam er nicht, denn da war Green auch schon durch das Wasser gerannt und hatte sich in einem Wirbel aus Haar und Tränen Grey in die Arme geworfen, die er für sie geöffnet hatte.
Green schrie seinen Namen in seine Uniform hinein, verschluckte sich in ihren Tränen, verschluckte sich an ihrem Atem und ihre Hände vergruben sich so verzweifelt und so inbrünstig in ihr, dass es ihm unter normalen Umständen sicherlich weh getan hätte. Doch da war kein Schmerz auf seinem Gesicht, als er dieses auf Greens Haare senke. Da war nur seliger Frieden.
"Was machst du für Sachen, Green..."
"M-M-mir egal! Mir ganz... ganz... egal!", schluchzte Green und verschluckte sich wieder an seinem Namen, denn die Tränen wollten nicht aufhören, ganz egal, wie beruhigend seine Hände auf ihrem Rücken sie auch streichelten.
"Ich liebe dich!", rief Green und da erst öffnete Grey die Augen.
"Ich liebe dich so so so sehr und ich war immer so ein Biest zu dir, immer so undankbar, dabei... dabei... hab ich dich so lieb und ich vermisse dich so schrecklich, Grey!" Sie wollte sich nicht von ihm lösen, aber sie sah empor zu ihm, mit ihrem verweinten, geröteten Gesicht voller Tränen.
"Ich hab dich immer geliebt." Grey musste sich Mühe geben zu lächeln, doch es war ihm nie schwerer gefallen, dies zu tun und gleichzeitig die Tränen zurückzuhalten.
"Du weißt selbst, dass das nicht stimmt." Green schüttelte den Kopf mit zusammengepressten Augen.
"Doch... doch, das hab ich... egal wie schlimm ich war... Immer... immer!"
"Oh, wenn du wüsstest..." Auch Greys Stimme begann brüchig zu werden, als Green ihre Augen öffnete und sein verweintes Spiegelbild sich in ihrem aufgelösten Blau spiegelte.
"... wie sehr ich dich stets geliebt habe." Er wischte ihr die Tränen von der Wange, doch es war eine vergeudete Geste, denn es kamen sofort neue.
"Auch wenn du sehr gut darin bis, ein Biest zu sein." Wieder rannten neue Tränen herunter, tropften auf die nun ruhige Wasseroberfläche.
"Es... es... tut mir Leid... bi-bitte verzeih mir, Onii-chan!"
"Es gibt nichts zu verzeihen. Ich war auch nicht immer fair in meiner Handhabung mit dir."
"Nicht... nicht für damals... okay, doch auch, aber... für jetzt. Dafür..." Ihre Finger krallten sich noch fester in ihn, als hätte sie Angst, dass er verschwinden könnte, wenn sie ihn nicht festhielt.
"... dass du hier bist. In deinem Element. Tot... tot bist." Greys Lächeln verschwand.
"Es ist nicht deine Schuld." Viele hatten dieselben Worte gesagt. Viele hatten es ihr einreden wollen. Ryô, ihre Mutter, Silence, Firey und Ciel. Niemandes Worte hatten sie erreicht.
Aber Greys taten es und Greens Tränen versiegten für einen Moment, als sich ihre Augen erstarrt in Ungläubigkeit weiteten.
"Wer auch immer dir etwas anderes einreden will..." Seine Hand an ihrer Wange war warm, als er ihr Gesicht zu seinem hob. Sie fühlte sich so... so... echt an. Nicht so als wäre er tot. Nicht so als wäre er irgendwo eine Leiche in einem schrecklichen Glassarg. Sondern als würde er leben. Als würde er leben und morgen würden sie zusammen einen Ausflug machen, wenn die Weihe vorüber war.
"... glaube ihnen nicht. Es ist nicht deine Schuld." Greens Lippen bebten. Sie versuchte es zu unterdrücken, aber egal wie fest sie auf ihre Lippen biss, sie konnte es nicht zurückhalten und mit einem weiteren Schrei seines Namens flüchtete sie sich zurück in seine warmen Arme, die er genauso inbrünstig um sie schlang, wie sie es tat. Sie wollte nirgendwo anders hin. Hier wollte sie bleiben. Hier bei Grey, in seinen Armen. Für immer. Für immer! Oh, was würde sie dafür tun! Alles! Alles! Einfach alles!
"Kannst du nicht mit mir kommen, Grey? Wieder... wieder leben? Nicht nur ich vermisse dich... auch Ryô tut es so schrecklich... wir brauchen dich! Und du wirst auch noch Vater!" Green spürte, wie Grey wieder seinen Kopf auf ihren legte. Sie spürte seine Wärme, sein Lächeln... einfach alles, was ihren Bruder ausmachte.
"Ich wünschte so sehr, dass ich "ja" sagen könnte, aber das kann ich leider nicht." Wärmend strich er ihr über den Rücken.
"Du musst es sein, die auf meinen Sohn oder meine Tochter Acht gibt und..." Green hörte wie sein Herz schmerzte, als er fortfuhr. Sie hörte das Brechen seiner Stimme.
"Pass auf Ryô auf. Bitte, Green. Er..." Greys Finger krallten sich fester in Greens Kleid.
"... darf nicht den Tod wählen, obwohl ich es getan habe. Ich war egoistisch... habe mich in Gefahr gebracht und nicht nur mein Leben riskiert... bitte..." Grey drückte Green von sich, um ihr fest in die Augen zu sehen:
"Lass nicht zu, dass er mir folgt!" Green schluckte mit bebenden Lippen; die Vorstellung Ryô könnte den Freitod wählen, zerriss ihr das ohnehin schon leidende Herz - zu sehr hatte sie ihn ins Herz geschlossen.
"Das werde ich." Green nickte und begab sich wieder in Grey Arme.
"Ich schwöre, ich werde nicht demselben Fluch zum Opfer fallen, der allen anderen das Vergessen aufgezwungen hat." Greens Hände legten sich wieder um Grey:
"Ich werde nichts vergessen. Absolut gar nichts! Kein einziges Wort! Und ich werde es Ryô erzählen, ja... ja, das werde ich. Ich passe auf ihn auf, das verspreche ich dir. Auch für ihn werde ich dich rächen!" Grey versteifte sich sofort, als Green diese Worte sagte, doch obwohl Green es gespürt hatte, überraschte sie seine Härte, als er sie an den Schultern packte und sie von sich schob.
"Nein, du darfst mich nicht rächen." Überrascht sah Green Grey an. Saiyon, der das Wiedersehen der Geschwister von Weitem beobachtete, sah Grey nicht überrascht an, sondern zerknirscht. Er verstand, was Grey meinte, anders als Green.
"Ich weiß, dass Rache eine Hikari nicht vorantreiben darf, aber ich werde es dennoch tun und ich werde es auch schaffen..."
"Nein!" Fest sah er der verwirrten Hikari in die Augen, die seine Härte nicht verstand. Doch etwas anderes begann sie mit wachsender Trauer zu verstehen - ihre Zeit hier begann abzulaufen. Das Wasser zu ihren Füßen war nicht länger ruhig und es begann dunkel um sie herum zu werden: Wasser und Wolken tobten empor, wirbelten und begehrten auf.
"Hör mir zu, Green...", begann er, nun mit etwas weicherer Stimme.
"... das ist nicht der Pfad, den du einschlagen darfst. Hör auf mich! Gary ist nicht dein Feind..." Green schüttelte verzweifelt den Kopf, als ein Zucken sie durchbebte.
"Rede nicht von ihm..."
"Ich muss. Ich weiß, es tut dir weh, aber auf diesem Pfad werden dir noch schlimmere Schmerzen bevorstehen, wenn du ihn bis zum Ende gehst! Erinnerst du dich an euren Kampf im Tempel, Green? Erinnerst du dich?"
"Ja, das tue ich, aber wieso... wieso ist das wichtig?" Green wollte nicht über Blue reden! Sie wollte auch nichts von Gary hören! Die Welt, die Magie, die Elemente... sie alle akzeptierten nicht, was Green hier tat. Sie wollten nicht, dass Green mit Grey sprach und ihre Wut über ihre Untat wuchs. Green spürte es genauso deutlich wie sie Greys Hände an ihren Armen spürte. Sie wollte ihn nicht so ernst sehen und über diese Themen sprechen. Sie wollte so lange in seinen Armen liegen, wie sie konnte, bis die Elemente ihre Wut über sie hereinbrechen ließen!
"Damals wurden deine Erinnerungen gelöscht. Gary hat deine Erinnerungen gelöscht, weil er nicht wollte, dass du dich daran erinnern kannst..." Ein vielfarbiger Blitz schlug unweit in ihrer Nähe ein und Wasser spritze über sie hinweg, ohne sie zu nässen. Sie befanden sich in Gefahr. Nein, Grey nicht. Aber Green... Green und ihre Elementarwächter.
"... dass er dein Leben gerettet hat." Nicht nur Greens Augen rissen auf, sondern auch Saiyons. Aber Greens waren sofort skeptisch und verwirrt.
"Warum sollte er mich retten...? Wir haben in dieser Nacht miteinander gekämpft... er... hat mich... gefoltert... Das macht keinen Sinn! Warum ist das überhaupt wichtig?!", rief Green verzweifelt und warf sich Grey wieder in die Arme, als drei weitere Blitze einschlugen.
"Rede nicht von ihm! Rede gar nicht mehr! Nimm mich in den Arm, halt mich, lass mich bei dir sein!" Der Wind bauschte auf, doch das war Green egal, so egal. Grey hielt sie, er drückte sie an sich, drückte sich selbst an sie, vergrub seine Hände in ihren Haaren und küsste ihre Haare, ihre Schläfe, ihre Stirn mit der gleichen Verzweiflung, die Green in sich spürte. Kurz sah sie in seine Augen. Den ewigen, blauen Himmel. Sie sah seine Tränen, die auf ihr Gesicht herabtropften, so nah, so nah, denn nur ein Hauch trennte sie noch voneinander.
"Bleib dir selbst treu, Green." Green wollte noch etwas antworten. Sie wollte seinen Namen schreien, doch da stieß Grey sie von sich weg und Saiyon in die Arme.
"Nimm sie! Bring sie zurück! Sie darf hier nicht bleiben!"
"Grey!" Green riss sich frei von Saiyon, doch als sie auf Grey zuspringen wollte, schlug ein Blitz genau zwischen ihnen ein. Green hörte die tosende Wut der Elemente - aller Elemente - in ihr, spürte wie sie an ihr zerrten, wie wütend sie auf sie waren und doch war der Zorn der Götter nicht so groß wie Greens Verzweiflung und ihr Schrei:
"GREY!" Saiyon hielt sie zurück, als Green sich nach ihrem Bruder ausstreckte. Sie riss ihren Arm beinahe los von ihrem Torso - oh, sie hätte es getan - und spreizte die Finger, doch Grey streckte sich nicht nach ihr aus. Er lächelte sie einfach nur an.
"Du hättest es nicht tun dürfen", flüsterte Grey und der Wind trug seine Stimme zu ihr.
"Die Rebellin hat - mal wieder - eine Sünde begangen..." Tränen rannten von seinem Gesicht herunter.
"... und ich bin so froh, dass du es getan hast."
"GREY!"
Der Schrei verklang. Das Lächeln verschwand. Ihr Bruder kehrte zu seinem Element zurück... und als Green in ihrem Körper zurück war, erschlug sie ein Faktum mit absoluter Härte.
Sie hatte die Weihe zum Scheitern verdammt.
Eine kleine Wölbung tauchte auf Greens eigentlich entspanntem Gesicht auf und sie befahl sich schnell, sich wieder zu besinnen, sich wieder gänzlich auf die Magie zu konzentrieren. Sie durfte jetzt nicht an ihren Großvater denken. Sie durfte auch nicht an ihre Familie oder an sich selbst denken. Sie war jetzt nicht "Green". Sie war einfach nur Licht. Das Licht, das leitete, das führte, das verband... und wenn sie sich ganz auf diese Magieströme konzentrierte, dann wollte sie auch eigentlich nichts anderes spüren, nichts anderes sein. Sie war so sehr mit ihrem Elementarwächtern verbunden, dass sie deren aufgewirbelte Gefühle spüren konnte wie ein fernes Echo. Wenn sie genau hinhörte, nein, wenn sie ihr Gefühl "hören" ließ, dann spürte sie sogar die Tränen Azuras, die ihr über die Wangen liefen, als sie ihre Mutter umarmte; Azuma, der von Izzerin getadelt wurde, Firey war... nervös? ... Shitaya nahm die stolzen Worte seines Vaters entgegen und versuchte nicht zu weinen, während Kaira...
Green spürte etwas in ihrem Herzen, als sie begann Worte zu hören. Die Verbindung war nun so stark geworden, dass sie nicht nur Worte, sondern auch Stimmen hörte. Sie sah das, was ihre Elementarwächter sahen nicht klar, aber die Stimmen und die Worte hörte Green immer deutlicher und... und... Nein... Nein... sie musste sich konzentrieren, sie musste sich entspannen... nicht hinhören... nicht...
"Ich hoffe, du bist nicht allzu sehr enttäuscht." Saiyon verstand diese Worte zunächst nicht. Er war gänzlich verwirrt und auch etwas befangen davon... Grey vor sich zu sehen. Genau wie sein Nachfolger schwebte er einige Zentimeter über der aufgewühlten Wasseroberfläche und seine schwarzen Haare wirbelten ebenso um ihn wie Saiyons es taten, die er immer noch mit der Hand bändigte, während er Grey mit leicht geöffnetem Mund anstarrte. Über diese Möglichkeit hatte er nie nachgedacht, aber hier war Grey. Unzweifelhaft derselbe, der vor zwei Monaten gestorben war. Er war in seine Uniform gekleidet, deren Umhang ebenfalls vom Wind getragen wurde, doch der starke Wind störte den Kaze nicht - er lächelte Saiyon immer noch an, freundlich und höflich wie er zu Lebzeiten gewesen war, aber auch mit einer Spur Melancholie. Obwohl Saiyon sich das Recht erkämpft hatte, sich einen Kaze und einen Elementarwächter nennen zu können, hatte er das Gefühl, dass dies ein verbotenes Treffen war. Ein Treffen, welches nicht ihm zustand.
"Warum..." Saiyon musste schlucken, so befangen war er.
"... sollte es mich enttäuschen, Euch zu sehen, Grey-sama?" Greys Lächeln verstärkte sich noch, nein, es war die Melancholie, die sich verstärkte.
"Ich denke, du hättest lieber mit deiner Mutter gesprochen." Saiyon musste noch einmal schlucken, denn auch darüber hatte er nicht nachgedacht.
"Sie ist sehr stolz auf dich und deinen Werdegang."
"Vielen Dank, das... freut mich." Das war nicht die Wahrheit: er log, denn er war einfach nur verwirrt und immer noch komisch befangen. Er war nicht enttäuscht darüber, seine Mutter nicht zu sehen und die Worte von Grey zu hören weckte auch keine Freude in ihm. Seine Eltern waren so früh gestorben, dass er sie nicht kannte. Er hatte ihr Gesicht in Akten gesehen, aber er sah sie nicht in seinen Erinnerungen, spürte nicht ihre Umarmungen, von denen Shitaya immer erzählte, noch hörte er ihre Wiegenlieder. Er kannte die Wächter nicht, die seine Eltern genannt wurden. Shitaya war... seine einzige Familie. Schon immer gewesen. Von ihm wollte er hören, dass er stolz auf ihn war: wenn er dies sagte - was er auch schon getan hatte - dann löste es Freude aus. Aber nicht hier, nicht jetzt. Saiyon hatte es geantwortet, weil er wusste, dass das von ihm erwartet wurde, doch scheinbar durchschaute Grey ihn, denn er lächelte immer noch sehr mitfühlend.
"Ich bin es nicht, der hier mit Euch sprechen sollte", begann Saiyon und versuchte ebenfalls höflich zu lächeln.
"Sondern Eure Schwester." Grey lächelte immer noch, doch in seine Augen trat Traurigkeit - Traurigkeit, die er jedoch nicht aussprechen wollte.
"Doch du bist der Kaze, der nach mir kommt, nicht..." Er zögerte ihren Namen zu sagen. Er musste sogar schlucken. Jetzt wirkte Grey kurzzeitig befangen.
"... meine Schwester."
"Sie vermisst Euch sehr." Warum fiel es Saiyon so viel einfacher plötzlich über Green zu sprechen, als über sich selbst?
"Euer Tod hat ein tiefes Loch in ihr hinterlassen, welches wohl niemand zu schließen vermag."
"Du bist ihr Getreuer...", erwiderte Grey nach einem kurzen Zögern mit demselben, traurigen Lächeln, während Saiyon ihm versicherte, dass es ihn sehr ehrte, diesen Titel dank Greys Segen tragen zu dürfen.
"... und ich habe dich ausgesucht, weil ich glaube, dass du sie trösten kannst."
"Ich gebe mein Bestes, Grey-sama, doch ich bin auch der Überzeugung, dass eine Hikari trauern darf. Auch ihre Tränen müssen fallen und sie hat Euch sehr geliebt." Grey gab sich größte Mühe immer noch zu lächeln, doch das Lächeln wurde ihm immer schwerer, bis es zu guter Letzt gänzlich verschwand. Seine leuchtend blauen Augen sahen in die aufgebrachten Wolken, ehe er sich ernst, nein, feierlich an Saiyon wandte:
"Du sagtest mir, dass du sie liebst. Sind diese Worte immer noch wahr?"
"Das sind sie, Grey-sama", versicherte Saiyon und legte seine Hand über sein Herz.
"Mein Herz kann nicht wanken. Wenn es sich verändert hat, dann nur, weil dessen Herzschlag noch mehr für Green schlägt." Grey deutete ein kleines Nicken an, doch sein Lächeln kehrte nicht zurück und Saiyon fragte sich, ob er seine Worte trotz des Nickens anzweifelte?
"Ich bin aufrichtig, Grey-sama."
"Das glaube ich dir. Ich kann es spüren. Nur lass mich dir eine Frage stellen..." Saiyon straffte seinen Rücken wie zum Test bereit.
"Ist Ihr Glück dein Glück?"
"Das ist es."
"Würdest du stets ihr Glück über das deines Herzens stellen?"
"Das würde ich."
"Und wenn Green wieder die Hand eines gewissen Halbdämons nehmen möchte, würdest du ihre Hand dann gehen lassen?"
Und die Antwort - tonlos, aber bissig - kam sofort:
"Warum sollte ich?"
Green wusste genau, dass sie nicht hinhören durfte.
Sie. Durfte. Nicht. Hin. Hören.
Sie musste den Schlüssel halten, die Magie durch sich strömen lassen und sich selbst vergessen. Aber sie konnte es nicht. Sie konnte ihr Herz nicht vergessen. Wie könnte sie auch! Es schrie! Es schrie so laut! Grey! Grey! Sie hörte seine Stimme! Sie sah seine Augen, sein Lächeln!
Ihre Hände um den Schlüssel zitterten.
Sie wollte zu ihm.
Sie wollte zu ihm!
Ihr Herz wollte zu ihm!
Das war die falsche Antwort, Saiyon wusste es sofort. Doch es war seine ehrliche Antwort gewesen, auch das war ihm sofort bewusst. Als Grey diese Frage gestellt hatte, hatte sich sein gesamter Körper versteift, als würde er angegriffen werden. Grey analysierte ihn genauestens und es war Saiyon bewusst, dass dieser seine abwehrende Körperhaltung durchschaut hatte - und sie missbilligte. Aber warum?!
"Ihr meint..." Jetzt fiel es Saiyon schwer, einen gewissen Namen auszusprechen, aber es gelang ihm, auch wenn der Name wie ein Schimpfwort klang.
"Blue." Grey antwortete nicht, aber sein Schweigen war Antwort genug, ebenso wie seine verurteilenden Augen. Aber wofür verurteilte er Saiyon?!
"Dieser Dämon hat Greens Herz zweimal zerrissen! Er hat Euch umgebracht!", rief Saiyon von Zorn übermannt.
"Warum sollte ich Green einem solchen Dämon überlassen? Und wie könnt Ihr... Er ist Euer Mörder!" Wieder schwieg Grey, aber dieses Mal übernahm Saiyon nicht das Reden. Er wartete und ließ sich, das spürte er genau, analysieren. Grey überlegte... er beurteilte Saiyon und seine Reaktion, die in seinen Augen falsch war.
Saiyon konnte das Schweigen nicht mehr aushalten:
"Ist er Euer Mörder?" Grey schlug die Augen nieder und antwortete, während er sie wieder öffnete:
"Nein." Saiyons grüne Augen weiteten sich verwirrt, aber Grey gab ihm keine Gelegenheit darauf zu antworten.
"Deine Antwort ist interessant, Saiyon. Der Dämon, den du Blue nennst, hat nämlich für Green auf sein eigenes Glück verzichtet. Ich habe es ebenfalls getan... ein wenig ironisch, dass derjenige, der sich als einziger Ihr Getreuer nennen darf, es nicht tut."
Green konnte nicht, sie konnte nicht, sie konnte einfach nicht! Nein! Sie wollte nicht!
Sie wollte zu Grey! Das war alles, was sie wollte! Das war alles, was wichtig war! Sie musste zu ihm, mit ihm reden, ihn sehen, ihn hören! Egal welches Tabu sie brach, ganz gleich, was passieren möge! Und möge die Welt zusammenbrechen---- sie musste zu Grey! Sie musste ihn sehen, noch ein letztes Mal bei ihm sein - alles andere war ganz und gar egal.
Kein einziger Gedanke war irgendwelchen Konsequenzen gewidmet, als Greens Finger den Elementschlüssel gehen ließen.
Nein, es war nicht ihr Körper, der sich vom Elementschlüssel löste - es war ihre Seele selbst, die es tat. Ihre Seele löste sich vom Stab, löste sich von ihrem Körper, überwand die Grenzen der Elemente; tat alles, was sie nicht durfte, nur um zu Grey zu gelangen. Sie rannte, flog, sauste und raste auf die Stimme ihres Bruders zu, beseelt von ihrem schreienden Herzen. Aufgewirbelte Farben zogen an ihr vorbei, Wirbel an Magie, Worte und Gefühle der anderen Elementträger, doch Green hörte und spürte nur ihren eigenen Wunsch, bei Grey sein zu wollen - nichts weiter, absolut nichts anderes als das. Jemand, oder etwas, schrie sie an, eine göttliche Kraft verurteilte sie und sie hatte das Gefühl, dass tausende Hände sich nach ihr ausstreckten, nach ihr griffen, sie packen wollten, sie aufhalten und bereits jetzt bestrafen wollten. Doch sie kamen nicht gegen Green an; nicht gegen Green und ihr schreiendes Herz.
"GREY!"
Ihre gesamte Seele schrie seinen Namen, so verzweifelt, so sehnsuchtsvoll, wie damals, als sie auf seinen Sarg eingeschlagen hatte und ihn angefleht hatte, ihr zu antworten, wieder aufzuwachen, wieder bei ihr zu sein, seinen schrecklichen Tod ungeschehen zu machen. Ihr zu verzeihen und wieder bei ihr zu sein... aber dieses Mal... dieses Mal wurde ihr Schrei gehört. Dieses Mal war da kein Schweigen. Kein Tod und keine Trauer. Die Tränen, die Green über die Wangen und über ihr gesamtes Gesicht liefen, fielen, weil Grey sie sah und sie anlächelte.
Eine starke Windböe packte die Haare Greens und hob sie und ihr weißes Kleid empor, so wie sämtliche dunkle Wolken vom aufgewirbelten Himmel gerissen wurden, als die beiden Geschwister in das unterschiedliche Blau des jeweils anderen sahen. Saiyon sah Green entsetzt und bestürzt an, aber Grey... Grey lächelte.
"Green", seufzte er mit dem Wind und Tränen kullerten von seinen Wangen.
"Wie schaffst du es nur immer wieder, alles, was unmöglich ist, möglich zu..." Weiter kam er nicht, denn da war Green auch schon durch das Wasser gerannt und hatte sich in einem Wirbel aus Haar und Tränen Grey in die Arme geworfen, die er für sie geöffnet hatte.
Green schrie seinen Namen in seine Uniform hinein, verschluckte sich in ihren Tränen, verschluckte sich an ihrem Atem und ihre Hände vergruben sich so verzweifelt und so inbrünstig in ihr, dass es ihm unter normalen Umständen sicherlich weh getan hätte. Doch da war kein Schmerz auf seinem Gesicht, als er dieses auf Greens Haare senke. Da war nur seliger Frieden.
"Was machst du für Sachen, Green..."
"M-M-mir egal! Mir ganz... ganz... egal!", schluchzte Green und verschluckte sich wieder an seinem Namen, denn die Tränen wollten nicht aufhören, ganz egal, wie beruhigend seine Hände auf ihrem Rücken sie auch streichelten.
"Ich liebe dich!", rief Green und da erst öffnete Grey die Augen.
"Ich liebe dich so so so sehr und ich war immer so ein Biest zu dir, immer so undankbar, dabei... dabei... hab ich dich so lieb und ich vermisse dich so schrecklich, Grey!" Sie wollte sich nicht von ihm lösen, aber sie sah empor zu ihm, mit ihrem verweinten, geröteten Gesicht voller Tränen.
"Ich hab dich immer geliebt." Grey musste sich Mühe geben zu lächeln, doch es war ihm nie schwerer gefallen, dies zu tun und gleichzeitig die Tränen zurückzuhalten.
"Du weißt selbst, dass das nicht stimmt." Green schüttelte den Kopf mit zusammengepressten Augen.
"Doch... doch, das hab ich... egal wie schlimm ich war... Immer... immer!"
"Oh, wenn du wüsstest..." Auch Greys Stimme begann brüchig zu werden, als Green ihre Augen öffnete und sein verweintes Spiegelbild sich in ihrem aufgelösten Blau spiegelte.
"... wie sehr ich dich stets geliebt habe." Er wischte ihr die Tränen von der Wange, doch es war eine vergeudete Geste, denn es kamen sofort neue.
"Auch wenn du sehr gut darin bis, ein Biest zu sein." Wieder rannten neue Tränen herunter, tropften auf die nun ruhige Wasseroberfläche.
"Es... es... tut mir Leid... bi-bitte verzeih mir, Onii-chan!"
"Es gibt nichts zu verzeihen. Ich war auch nicht immer fair in meiner Handhabung mit dir."
"Nicht... nicht für damals... okay, doch auch, aber... für jetzt. Dafür..." Ihre Finger krallten sich noch fester in ihn, als hätte sie Angst, dass er verschwinden könnte, wenn sie ihn nicht festhielt.
"... dass du hier bist. In deinem Element. Tot... tot bist." Greys Lächeln verschwand.
"Es ist nicht deine Schuld." Viele hatten dieselben Worte gesagt. Viele hatten es ihr einreden wollen. Ryô, ihre Mutter, Silence, Firey und Ciel. Niemandes Worte hatten sie erreicht.
Aber Greys taten es und Greens Tränen versiegten für einen Moment, als sich ihre Augen erstarrt in Ungläubigkeit weiteten.
"Wer auch immer dir etwas anderes einreden will..." Seine Hand an ihrer Wange war warm, als er ihr Gesicht zu seinem hob. Sie fühlte sich so... so... echt an. Nicht so als wäre er tot. Nicht so als wäre er irgendwo eine Leiche in einem schrecklichen Glassarg. Sondern als würde er leben. Als würde er leben und morgen würden sie zusammen einen Ausflug machen, wenn die Weihe vorüber war.
"... glaube ihnen nicht. Es ist nicht deine Schuld." Greens Lippen bebten. Sie versuchte es zu unterdrücken, aber egal wie fest sie auf ihre Lippen biss, sie konnte es nicht zurückhalten und mit einem weiteren Schrei seines Namens flüchtete sie sich zurück in seine warmen Arme, die er genauso inbrünstig um sie schlang, wie sie es tat. Sie wollte nirgendwo anders hin. Hier wollte sie bleiben. Hier bei Grey, in seinen Armen. Für immer. Für immer! Oh, was würde sie dafür tun! Alles! Alles! Einfach alles!
"Kannst du nicht mit mir kommen, Grey? Wieder... wieder leben? Nicht nur ich vermisse dich... auch Ryô tut es so schrecklich... wir brauchen dich! Und du wirst auch noch Vater!" Green spürte, wie Grey wieder seinen Kopf auf ihren legte. Sie spürte seine Wärme, sein Lächeln... einfach alles, was ihren Bruder ausmachte.
"Ich wünschte so sehr, dass ich "ja" sagen könnte, aber das kann ich leider nicht." Wärmend strich er ihr über den Rücken.
"Du musst es sein, die auf meinen Sohn oder meine Tochter Acht gibt und..." Green hörte wie sein Herz schmerzte, als er fortfuhr. Sie hörte das Brechen seiner Stimme.
"Pass auf Ryô auf. Bitte, Green. Er..." Greys Finger krallten sich fester in Greens Kleid.
"... darf nicht den Tod wählen, obwohl ich es getan habe. Ich war egoistisch... habe mich in Gefahr gebracht und nicht nur mein Leben riskiert... bitte..." Grey drückte Green von sich, um ihr fest in die Augen zu sehen:
"Lass nicht zu, dass er mir folgt!" Green schluckte mit bebenden Lippen; die Vorstellung Ryô könnte den Freitod wählen, zerriss ihr das ohnehin schon leidende Herz - zu sehr hatte sie ihn ins Herz geschlossen.
"Das werde ich." Green nickte und begab sich wieder in Grey Arme.
"Ich schwöre, ich werde nicht demselben Fluch zum Opfer fallen, der allen anderen das Vergessen aufgezwungen hat." Greens Hände legten sich wieder um Grey:
"Ich werde nichts vergessen. Absolut gar nichts! Kein einziges Wort! Und ich werde es Ryô erzählen, ja... ja, das werde ich. Ich passe auf ihn auf, das verspreche ich dir. Auch für ihn werde ich dich rächen!" Grey versteifte sich sofort, als Green diese Worte sagte, doch obwohl Green es gespürt hatte, überraschte sie seine Härte, als er sie an den Schultern packte und sie von sich schob.
"Nein, du darfst mich nicht rächen." Überrascht sah Green Grey an. Saiyon, der das Wiedersehen der Geschwister von Weitem beobachtete, sah Grey nicht überrascht an, sondern zerknirscht. Er verstand, was Grey meinte, anders als Green.
"Ich weiß, dass Rache eine Hikari nicht vorantreiben darf, aber ich werde es dennoch tun und ich werde es auch schaffen..."
"Nein!" Fest sah er der verwirrten Hikari in die Augen, die seine Härte nicht verstand. Doch etwas anderes begann sie mit wachsender Trauer zu verstehen - ihre Zeit hier begann abzulaufen. Das Wasser zu ihren Füßen war nicht länger ruhig und es begann dunkel um sie herum zu werden: Wasser und Wolken tobten empor, wirbelten und begehrten auf.
"Hör mir zu, Green...", begann er, nun mit etwas weicherer Stimme.
"... das ist nicht der Pfad, den du einschlagen darfst. Hör auf mich! Gary ist nicht dein Feind..." Green schüttelte verzweifelt den Kopf, als ein Zucken sie durchbebte.
"Rede nicht von ihm..."
"Ich muss. Ich weiß, es tut dir weh, aber auf diesem Pfad werden dir noch schlimmere Schmerzen bevorstehen, wenn du ihn bis zum Ende gehst! Erinnerst du dich an euren Kampf im Tempel, Green? Erinnerst du dich?"
"Ja, das tue ich, aber wieso... wieso ist das wichtig?" Green wollte nicht über Blue reden! Sie wollte auch nichts von Gary hören! Die Welt, die Magie, die Elemente... sie alle akzeptierten nicht, was Green hier tat. Sie wollten nicht, dass Green mit Grey sprach und ihre Wut über ihre Untat wuchs. Green spürte es genauso deutlich wie sie Greys Hände an ihren Armen spürte. Sie wollte ihn nicht so ernst sehen und über diese Themen sprechen. Sie wollte so lange in seinen Armen liegen, wie sie konnte, bis die Elemente ihre Wut über sie hereinbrechen ließen!
"Damals wurden deine Erinnerungen gelöscht. Gary hat deine Erinnerungen gelöscht, weil er nicht wollte, dass du dich daran erinnern kannst..." Ein vielfarbiger Blitz schlug unweit in ihrer Nähe ein und Wasser spritze über sie hinweg, ohne sie zu nässen. Sie befanden sich in Gefahr. Nein, Grey nicht. Aber Green... Green und ihre Elementarwächter.
"... dass er dein Leben gerettet hat." Nicht nur Greens Augen rissen auf, sondern auch Saiyons. Aber Greens waren sofort skeptisch und verwirrt.
"Warum sollte er mich retten...? Wir haben in dieser Nacht miteinander gekämpft... er... hat mich... gefoltert... Das macht keinen Sinn! Warum ist das überhaupt wichtig?!", rief Green verzweifelt und warf sich Grey wieder in die Arme, als drei weitere Blitze einschlugen.
"Rede nicht von ihm! Rede gar nicht mehr! Nimm mich in den Arm, halt mich, lass mich bei dir sein!" Der Wind bauschte auf, doch das war Green egal, so egal. Grey hielt sie, er drückte sie an sich, drückte sich selbst an sie, vergrub seine Hände in ihren Haaren und küsste ihre Haare, ihre Schläfe, ihre Stirn mit der gleichen Verzweiflung, die Green in sich spürte. Kurz sah sie in seine Augen. Den ewigen, blauen Himmel. Sie sah seine Tränen, die auf ihr Gesicht herabtropften, so nah, so nah, denn nur ein Hauch trennte sie noch voneinander.
"Bleib dir selbst treu, Green." Green wollte noch etwas antworten. Sie wollte seinen Namen schreien, doch da stieß Grey sie von sich weg und Saiyon in die Arme.
"Nimm sie! Bring sie zurück! Sie darf hier nicht bleiben!"
"Grey!" Green riss sich frei von Saiyon, doch als sie auf Grey zuspringen wollte, schlug ein Blitz genau zwischen ihnen ein. Green hörte die tosende Wut der Elemente - aller Elemente - in ihr, spürte wie sie an ihr zerrten, wie wütend sie auf sie waren und doch war der Zorn der Götter nicht so groß wie Greens Verzweiflung und ihr Schrei:
"GREY!" Saiyon hielt sie zurück, als Green sich nach ihrem Bruder ausstreckte. Sie riss ihren Arm beinahe los von ihrem Torso - oh, sie hätte es getan - und spreizte die Finger, doch Grey streckte sich nicht nach ihr aus. Er lächelte sie einfach nur an.
"Du hättest es nicht tun dürfen", flüsterte Grey und der Wind trug seine Stimme zu ihr.
"Die Rebellin hat - mal wieder - eine Sünde begangen..." Tränen rannten von seinem Gesicht herunter.
"... und ich bin so froh, dass du es getan hast."
"GREY!"
Der Schrei verklang. Das Lächeln verschwand. Ihr Bruder kehrte zu seinem Element zurück... und als Green in ihrem Körper zurück war, erschlug sie ein Faktum mit absoluter Härte.
Sie hatte die Weihe zum Scheitern verdammt.