Kapitel 105 - Gefangen
Leichte, beschwingte Schritte über dem dunklen Boden, den ihre Füße erhellten. Schritte, wie sanfte Blüten, die die glatte Wasseroberfläche berührten. Das lange, weiße Gewand schlängelte hinter ihr über den Boden wie ein Schleier. Ein Brautschleier. Auf die Wandmalereien, die sie bei ihrem ersten Besuch so genau betrachtet hatte, achtete sie nicht mehr. Ihr Schatten war hell und erleuchtete die Dunkelheit, gab den Gesichtern der Malereien Licht; ließ ihre Schwingen erstrahlen. Doch die Augen des Wesens, welches zu schlafen schien, waren dunkel. Das Blau kaum zu erkennen in der Tiefe ihrer Augen.
Der gigantisch große Raum, der sie vor ein paar Tagen noch zu erschrecken hatte vermocht, hinterließ nicht einmal den kleinsten Widerhall in ihr. Sie sah ihn nicht. Sie hörte seine bedrückende Stille nicht und ihr Herz erschrak nicht. Die Halle lag im Halbdunkel wie auch schon bei ihrem ersten Besuch. Keine Fenster. Keine Lichtquelle. Doch der verzierte Boden selbst war sachte erhellt, als hätte die viele Magie, die in diesen Raum freigesetzt worden war, den Boden selbst aufgeladen. Die Luft war kalt, abgestanden und alt. Eine gigantische Zeremonienhalle; gemacht für die Hikari und ihre Elementarwächter.
Geräuschlos schloss sich die Pforte hinter der Hikari, als ihre Füße sie in die Mitte der Halle gebracht hatten und sie Ryô und Itzumi gegenüberstand, die in lange, aufwendig dekorierte Gewänder gehüllt waren. Beide verneigten sich tief vor ihrer Hikari, eins mit dieser Halle, eins mit der Zeremonie. Niemand sagte etwas oder löste einen Laut aus - die heilige Stille wurde gewahrt, auch als die beiden Tempelwächter sie in den kleinen Raum führten, der an die Halle anschloss. Sie rührte sich nicht. Ließ sich führen wie eine Puppe und folgte gehorsam wie eine solche, als ihr das Gewand abgestrichen wurde und eine der Hände der Zwillinge sie in das weiße Wasser hinabführte, welches in das Becken gefüllt worden war. Das Wasser war lauwarm. Die Luft kalt und klamm. Der Raum war dunkel. Nur sie selbst leuchtete matt, während Ryô ihre Finger wusch und Itzumi ihre Haare. Ihr gesamter Körper wurde mit äußerstem Pflichtbewusstsein gesäubert, ohne dass sich die Augen der Hikari veränderten oder etwas gesagt wurde. Nur das Plätschern des weißen Wassers war zu hören; hallte wider an den steinernen Wänden, begleitete das Starren der dunklen, blauen Augen, die genauso starr waren wie die Augen der geschlechtslosen Hikaristatue vor ihr, am Rande des Beckens, die den goldenen Schmuck trug, der sich bald um ihre eigenen Gelenke legen würde.
Als hätte die Statue mit ihr gesprochen, hob die Hikari mit den dunklen Augen plötzlich, aber langsam den Kopf. Die Bewegungen der beiden Tempelwächter erstarrten und ihre Hände blieben hängen in der Luft, als hätte eine einzelne Bewegung der Hikari dafür gesorgt, dass die Zeit stehen blieb. Dabei tat sie nichts anderes als den goldenen Schmuck anzusehen. Einen Goldreif um die Hüfte. Einen für ihre Ellenbogen und zwei für ihre Haare... und den schwersten und dicksten für ihren Hals.
Langsam atmete Green aus, doch ihr Atem zitterte.
Geweiht zu werden bedeutete nicht länger zu den Herkömmlichen zu gehören. Kein Mensch, beziehungsweise kein Wächter mehr zu sein. Man würde zu einem Wesen für die Götter; einem leibhaftigen Geschenk für diese. Freigestellt für diese, getrennt von allen anderen. Man wurde so heilig wie es ging, ohne dass man selbst zu einem Gott wurde.
Das war jedenfalls das, was Tinami über die Weihe und ihre Bedeutung herausgefunden hatte - nicht in den Büchern der Wächter, sondern in den Werken der Menschen, denn auch sie war neugierig gewesen... auch sie hatte nach mehr Wissen verlangt, obwohl sie selbst... nicht mehr zu diesen heiligen Wesen gehörte. Shitaya hatte ihren Platz eingenommen und würde an ihrer statt den Göttern zum Geschenk gemacht werden, an der Seite der anderen Elementarwächter, an der Seite Kairas... die dann eine geweihte, heilige Toki wurde.
Tinami war nicht traurig darüber nicht länger teilzunehmen. Nicht der Weihe selbst wegen - aber sie hätte gerne... dazugehört. Sie wäre lieber zwischen den Elementarwächtern gewesen, anstatt in der Menge der anderen Wächter zu stehen, der herkömmlichen, die am Rand der Straße des Lichtes auf Sanctu Ele’Saces standen. Alle hielten sie eine einzelne, weiße Kerze in der Hand, in diesen frühen Morgenstunden, wo die Sonne noch nicht aufgegangen war und der Himmel sich nur leicht dunkelblau gefärbt hatte. Der Unglücksbringer - der Mond - war verschwunden und wenn die Elementarwächter den Turm der Reinheit erreicht hatten, dann würde die Sonne aufgehen und sie in den ersten Morgenstrahlen baden. Es wehte ein leichter Wind und die kleinen Glöckchen, die mit einem weißen Band an den Kerzen befestigt waren, klirrten, so wie die kleine Flamme im Wind flackerte, als die elf Elementarwächter am Ende der Straße auftauchten wie eine Erscheinung aus einem Traum.
Automatisch hielt Tinami die Luft an und ihr Herz verzog sich, als sie Kaira an der Spitze ausmachte. Ernst und unbeirrbar wie ein Felsen in der Brandung. Die weißen Lichtblüten, die sie im Haar trug und die nur auf Serenitias blühten, sahen sehr unpassend aus, wie sie sich um ihren Hinterkopf schlängelten, hinein geflochten in ihr Haar und matt leuchtend, als wohnten Glühwürmchen in ihnen. Unpassender Schmuck für Kaira. Aber so beschrieb es die Tradition.
Hinter ihr Shitaya. Dann Saiyon. Beides Elementarwächter, die nicht zum "Kern" gehörten, doch danach fragten die Weihe und die Traditionen nicht. Firey folgte Saiyon, dann Pink, Ilang und Azura, gefolgt von Yuuki und am Schluss Azuma. Alle mit den gleichen Blumen im Haar, alle gekleidet in das gleiche, simple weiße Gewand, welches gebraucht aussah, als hätte es eine Zeitreise hinter sich. Um ihren Hals und ihre Gelenke waren Bänder geschlungen, die im matten Licht in der jeweiligen Elementfarbe leuchteten.
Ein hübscher, friedlicher, aber auch sehr ernster Anblick, begleitet von den sanften Gesängen der anderen Wächter, die alle im Chor sangen zu einer Melodie, die in ihrem Herzen erklang. Auch Tinami sang... aber sie spürte kaum, dass sie die Lippen bewegte.
Angespannt und doch ruhig war Firey, als sie gemeinsam mit den anderen Elementarwächtern vor die zwölf auserwählten Hikari trat, wo sie sich vor den Vertretern des Lichts verneigten, ehe einer nach dem anderen vor den Hikari auf die Knie ging. Sämtliche Sorge und jede Angst war aus ihrem Sein verschwunden. Die Weihe würde geschehen, so wie es vorherbestimmt war. So wie es sein sollte. Sie dachte an Green, doch auch dieser Gedanke war ohne Kümmernis. Sie würde sie bald wiedersehen, um mit ihr zusammen geweiht zu werden.
Die anderen Wächter sangen immer noch im Einklang mit den Glöckchen und erfüllten den runden Platz am Ende der Straße des Lichts mit einem einheitlichen, heiligen Gesang, einem Lied, welches nur zur Weihe gesungen wurde. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch der Himmel erhellte sich mehr und mehr und die ersten Sonnenstrahlen würden in wenigen Minuten auf die Glöckchen der zwölf Hikari scheinen, die ihre Relikte nicht wie sonst verborgen trugen, sondern für jeden sichtbar auf ihrer Brust, oberhalb ihrer Uniform.
Zwölf Hikari, einer für jeden anwesenden Wächter, auserwählt wegen ihren Qualitäten, ihrer Demut und ihrer Hingabe zum Licht - und ihres zweiten Elementes und so war es Shaginai, der vor Firey stand, da seine Mutter eine Feuerwächterin gewesen war.
Golden erstrahlte der östliche Horizont und bildete eine gerade Linie über den Wolken, denen das Sonnenlicht goldene Kronen aufsetzte und die Glöckchen der zwölf Hikari erstrahlten im hellen Glanz, als die Sonnenstrahlen den Platz berührten. Sie traten vor und Firey spürte Shaginais Hand auf ihrem Kopf, während sie selbst diesen immer noch gesenkt hielt. Links neben ihr stand Pink, vor welche White getreten war und rechts von ihr Yuuki, der von Hizashi gesegnet werden würde - mehr als deren Füße konnte Firey jedoch nicht sehen, denn sie wagte es nicht den Kopf zu drehen. Als der Gesang verstummte, war es als würde das gesamte Wächtertum auf einmal die Luft anhalten. Auch Firey tat es - der Moment war zu feierlich, um es nicht zu tun.
"Das Licht segnet dich", ertönten zwölf ernste Hikaristimmen gleichzeitig wie im Chor.
"Das Licht segnet dich und erleuchtet deinen Weg. Es stehe dir bei und führet dich heim zum Herzen deines Gottes. Mögest du weise, gestärkt und von Mut erfüllt deinen Weg zu uns zurückfinden, um den ewigen Kampf fortzuführen, in der Hoffnung, dessen Ewigkeit zu beenden. Das Licht segnet dich und erleuchtet dich." Firey wusste nicht, wie ihr geschah. Sie wusste nicht, wieso sie es tat, noch wo diese Worte herstammten, woher sie wusste, was sie zu antworten hatte, aber sie öffnete den Mund, genau wie die anderen Elementarwächter und antwortete dasselbe wie sie mit Inbrunst:
"Das Licht segnet mich und erleuchtet meinen Weg!" Eine Hitze klomm in ihrem Inneren und auch ihr Kopf wurde merklich warm, dort wo Shaginais Hand lag, ehe er sie wegzog und sie sich zusammen mit den anderen Elementarwächtern wieder erhob. Die Flamme, die Shaginais Worte in ihr geweckt hatte, brannte immer noch in ihrem Inneren und erfüllte ihren Körper, ihre Seele. Es war beängstigend und beruhigend zugleich.
Die zwölf Hikari erhoben wieder die Stimme, ebenso wie ihre Hände, die sie sich über ihr Herz legten - eine Geste, die für alle Wächter Gang und Gebe war und Demut vor dem Licht zeigte, doch für die Hikari war dies keine gewohnte Bewegung. In diesem Moment waren auch sie Diener der Götter, anstatt ihre Botschafter.
"Für die Hoffnung auf Frieden." Und alle Wächter, nicht nur die Elementarwächter, antworteten mit der flachen Hand auf ihren Herzen:
"Für die Hoffnung auf Frieden!"
Die Zeit Green wiederzusehen war gekommen.
Das sollte nicht Saiyons erster Gedanke sein, aber das war er, auch wenn er sich dafür schämen sollte. Sein Herz schlug wie ein wild aufgebrachter Sturm, aber es war nicht das Herzklopfen eines Verlobten, der es nicht abwarten konnte, seine Geliebte wiederzusehen - sein Element erfüllte sein Innerstes und machte ihn unruhig, so sehr, dass er sich am liebsten in die Lüfte geschwungen hätte, um zum Turm zu fliegen; um zu Green zu gelangen. Er wusste, dass er eigentlich keinen Grund hatte, um sie besorgt zu sein, aber sie war im Vorfeld so nervös gewesen, dass diese Nervosität sich wohl auf ihn übertragen hatte.
Seine Mitwächter hatten ihren Gesang wieder aufgenommen, als Azura sich als erstes von den Elementarwächtern löste. Sie verneigte sich noch ein letztes Mal vor Adir, dem Vertreter ihrer Göttin, und schritt dann über den großen, steinernen Platz hin zu einer Plattform, die direkt am Platz anschloss. Saiyon hatte der Plattform nie viel Beachtung geschenkt; hatte geglaubt, dass es sich um eine normale Aussichtsplattform handelte, von denen es viele gab auf ihren Inseln, aber als Azura die niedrigen Stufen erklomm, um empor zu gelangen, sah Saiyon, dass die Kugeln, die links und rechts von Engeln aus Stein gehalten wurden, blau aufleuchteten. Eigentlich waren dies normale Lampen, die die Nacht erhellten - oder die sich dort treffenden Liebenden, denn Saiyon wusste von seinem Bruder, dass dies ein beliebter Treffpunkt für Paare war... sollte Glück bringen... Von dort aus hatte man eine wunderschöne Aussicht über Sanctu Ele’Saces, über dessen großen See, die Häuser und die Straßen, ihr Leben. Jetzt war das kein Aussichtspunkt mehr, sondern... Saiyon blinzelte, als sich alte Schriftzeichen in Edou unter Azuras Füßen bildeten und sie verschwand - ein Teleportationspunkt?
Ilang trat als nächstes vor. Unbeirrt und schnellen Schrittes, nachdem sie sich vor Mary vorbeugt hatte, als wolle sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Saiyon fand sie etwas respektlos... es war immerhin für sie alle ein großer Tag; die größte Ehre, die ihnen jemals zuteilwerden würde. Vielleicht machte ihr ja bereits die Schwangerschaft zu schaffen...? Säil war unerträglich gewesen, als sie schwanger gewesen war.
Dieses Mal leuchteten die Kugeln grün und da Saiyon nun ohne zu blinzeln auf Ilangs Rücken starrte, sah er, dass der Boden unter ihren Füßen kurz grün aufleuchtete, ehe Ilang verschwand, um von Shitaya gefolgt zu werden. Für Neid war kein Platz mehr in Saiyons Herzen, aber es war beispielslos ehrenhaft, wie Shitaya sich würdevoll vor einer Hikari verneigte, die Saiyon zugegeben nicht kannte. Er richtete sich wieder auf und in seiner gesamten Haltung, in seinem Blick lag nichts anderes als Entschlossenheit und Würde und nichts ließ irgendeinen Zweifel daran offen, dass er Großes vollbringen würde für seine Hikari und das Wächtertum. Beinahe war Saiyon, als könnte er die weiblichen Wächter weit hinter sich aufseufzen hören und Säil frohlocken - ja, das war ihr Mann!
Kaira, die Shitaya folgte, ließ sämtliches Seufzen vergehen und man schwieg in Ehrfurcht vor ihrer Stärke, die in jeder ihrer Bewegungen lag. Auch sie würde Großes vollbringen, nur würde man ihr lieber nicht zu nahekommen - und ganz sicherlich nicht im Weg stehen wollen. Ihre Schritte waren fest, ebenso wie ihr Blick, der auf ihr Ziel gerichtet war stärker zu werden. Sie war ein Vorbild für sie alle.
Nach Kaira war es Azuma, der die Stufen erklomm, welcher tatsächlich etwas nervös wirkte... und dann war endlich Saiyon an der Reihe, der sein Herz rauschen hörte, als wären ihm Flügel gewachsen. Er trat vor, als Azuma verschwunden war und verbeugte sich vor der Vertreterin seines Elementes, Iluri, die ihm noch ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Konnte sie spüren, dass er ebenfalls ein wenig nervös war...? Wenn ja, dann schämte Saiyon sich dafür. Er durfte nicht nervös sein. Seine Göttin war bei ihm.
Das Gefühl der Scham verschwand, als Saiyon auf die Plattform zusteuerte und nichts anderes hören konnte außer dem Gesang seiner Mitwächter und dem Schlagen seines Herzens. Der Wind wehte kühl über den Platz und Saiyon schloss die Augen, als seine Haare vom Wind gekräuselt wurden. Es war ein heiliger Moment... ein Moment, für den er dankbar war... für den er Green dankbar war. Wäre sie nicht in sein Leben getreten... er wäre nicht hier, würde nicht diese Stufen erklimmen, sondern wäre einer der vielen singenden Wächter, ohne jemals wieder sein Element spüren zu können, ohne jemals... diese Flügel im Herzen gespürt zu haben.
Mit dem Gedanken an Green und die Liebe im Herzen für sie, verschwand Saiyon - und nun war es Firey, die schlucken musste. Nur noch Yuuki, dann war sie an der Reihe, sie, die plötzlich daran zweifelte, ob sie sich überhaupt verneigen konnte, so wie Yuuki es gerade vor Hizashi tat. Unbeirrt und ohne auch nur den Hauch von Nervosität zu zeigen, ging Yuuki über den Platz, doch Firey sah nicht Yuukis sich entfernenden Rücken an, sondern Hizashi. Er lächelte komisch... als wäre die Weihe sein persönliches Freudenfest.
Purpur leuchteten die Kugeln auf, dann war auch Yuuki verschwunden... und Firey war an der Reihe. Sie verneigte sich in Hast, erhaschte kurz Shaginais strengen Blick - hatte er gerade die Augenbraue gehoben? - dann hatte sie ihm auch schon eilig den Rücken zugekehrt und plötzlich vergaß sie Shaginais Titanaugen und Hizashis falsches Lächeln.
Da war nur noch der Gesang und die lodernde Flamme in ihrem Inneren, die sie nach vorne trug. Der Höhepunkt der Weihe war gekommen... sie würde zu einer richtigen Wächterin werden, einer richtigen Hii. Würde sie Hirey wiedersehen? Würde er stolz sein?
Und was... dann?
Firey verschwand ebenfalls und zurück blieb die letzte Elementarwächterin: Pink. Die einzige Elementarwächterin, die zögerte. Die einzige, in deren rotumrandeten Augen Angst war und deren weiße Blumen in ihren geflochtenen Haaren aussahen, als würden sie dort auf dem Platz verdorren, anstatt zu erleuchten.
Niemand sah ihr an, dass sie abgenommen hatte, dass sie krank war, aber jeder sah ihr ihre Angst an. Pink stand mit dem Rücken zu den anderen Wächtern, die sich aber dennoch unauffällig reckten und streckten, um zu sehen, warum es nicht weiterging, während einige der Hikari, die Pink ganz in Augenschein nehmen konnten, die Stirn runzelten, aber versuchten es nicht zu auffällig zu tun, um ihren Untertanen keinen Grund zu geben, um noch mit dem Tuscheln anzufangen. Doch die Gedanken waren bereits in Gang gesetzt:
Eigentlich sollte niemand Angst haben...? Was war mit dem zitternden Mädchen los? War das nicht Shaginais Enkelin? Warum bewegte sie sich nicht? Es zitterte, das arme Mädchen! Es zitterte am ganzen Körper!
Shaginai zitterte nicht, auch wenn er Pink ebenso anstarrte wie seine Mithikari es taten, aber eine Frage ließ auch ihn Beklemmnis verspüren - war das fahrlässig? War das ein Fehler? Pink bewegte sich immer noch nicht. Mit glasigen Augen starrte sie ins Nichts. Sie war nicht bereit. Sie war nicht gesund. Die Weihe konnte nicht mehr abgebrochen werden, aber wenn eine Elementarwächterin fehlte...
In dem Moment überraschte Pink sie alle, denn obwohl sie vor Schreck wie gelähmt war, verneigte sie sich steif und voller Bange vor ihrer Tante. White sah den gesenkten Kopf und die hochgezogenen Schultern ihrer Nichte besorgt an und warf auch einen zweifelnden Blick an Shaginai, als Pink sich nicht wieder erhob. Sie bat um Hilfe. Sie flehte darum. Schon seit einer Weile hatte Shaginai einen Verdacht gehabt: den Verdacht, dass Pink sehr wohl wusste, dass ein Dämon sich in ihr eingenistet hatte; ein Verdacht, der sich nun bestätigte. Sie konnte nicht gegen ihn ankämpfen. Sie konnte es niemandem sagen. Sie war in sich selbst gefangen. Genauso gefangen... wie ihre Mutter.
Dem gesamten Wächtertum schien der Atem zu stocken, als White plötzlich handelte - und auch Shaginai erstarrte. Befürchtend, dass White die Weihe abbrechen würde, wollte er sie aufhalten, aber da sah er, wie auch die anderen Hikari und Wächter, wie White die Hand nach Pink ausstreckte, ihr Gesicht sanft hob und ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte.
Mary wollte beinahe vor Erleichterung aufjauchzen - das war das Beste, was White hätte tun können, um die verwirrten Wächter zu beruhigen und abzulenken, die wieder einmal absolut in ihrer Begeisterung für White aufgingen. Eine bessere Ablenkung hätte sie ihnen nicht geben können. White sorgte sich um ihre Nichte! Um das arme, arme Mädchen, das einfach noch zu klein war, wie rührend... Hach, es konnte manchmal so einfach sein.
Aber White dachte nicht an die Wächter oder daran, was über sie gesagt wurde. Sie dachte an Pink, der sie über den Kopf streichelte, während sie leise ihre Worte an sie richtete:
"Deine Mutter ist bei dir, Pink. Sie beschützt dich mit ihrer Liebe auf all deinen Wegen. Hab keine Angst... du bist nicht allein." Pink hob verwirrt den Kopf, aber als eine Träne aus ihren Augen kullerte, nickte sie und... ging endlich denselben Weg wie die anderen Elementarwächter. Ihre Schritte waren etwas unsicherer, sie ging langsamer... aber sie erreichte das Podium. Die Kugeln leuchteten im matten Rosa und das Siegel bildete sich endlich unter ihren Füßen... Shaginais Augen verengten sich - aber dann verschwand Pink wie die anderen vor ihr.
Die Gesänge wurden fortgesetzt und niemand hörte, wie White sich an ihren Vater richtete, als sie sich zu ihm stellte, genau wie er in die aufgehende Sonne hineinblickend, die nun über dem Podium schien.
"Sobald die Weihe vorüber ist, müssen wir miteinander reden, Vater."
Dann gingen alle 12 Hikari vor dem Sonnenlicht auf die Knie und beteten, so wie es der Brauch besagte.
Als Saiyon die Augen öffnete, fand er sich ganz alleine in einem kahlen Raum wieder, in welchem sich nichts anderes befand außer einem in den Boden eingelassenen leeren Becken. Der gesamte Raum, komplett schmucklos in seiner Aufmachung, war aus Stein. Auch die Tür am anderen Ende des Raumes war aus Stein. Saiyon wusste nicht, was er tun sollte, aber er glaubte nicht, dass es seine Aufgabe war, durch diese Tür zu gehen... nicht ohne, dass das Becken für etwas genutzt wurde.
Das Becken zu sehen behagte Saiyon nicht. Es sah aus wie das Becken auf Serenitias, in welchem die sterblichen Überreste seiner Mitwächter zu ihren Elementen zurückkehrten, nur in viel kleinerer Ausführung. Er musste keine Angst haben, das wusste er, aber der Vergleich war unbehaglich.
"Ich bitte Euch darum Euch zu entkleiden, Kaze-sama." Saiyon, überraschter als er es sein sollte, fuhr herum und sah Ryô hinter sich stehen. Komplett überrumpelt hätte Saiyon schwören können, dass er eben noch gänzlich alleine gewesen war. Der Tempelwächter musste sich hinein teleportiert haben, aber... er sah aus, als hätte er schon die gesamte Zeit dort gestanden, mit einem abwartenden Blick in den leeren Bernsteinaugen. Seine Kleidung war auffällig verziert und es war wohl das erste Mal in Saiyons gesamtem Leben, dass er sich schäbig vorkam im Vergleich mit einem Tempelwächter, denn während er nur ein simples, weites Gewand trug ohne jeglichen Schmuck, war Ryôs weites Gewand mit einer großen Sonne bestickt, bestand aus verschiedenen Stofflagen in Gold und feinem, hellen Blau, wie der Morgentau. Um seinen Hals und um seine Hüfte lagen goldene Ringe... die Rollen schienen vertauscht zu sein.
"Ich bitte Euch darum Euch zu entkleiden, Kaze-sama", wiederholte Ryô noch einmal und nun bemerkte Saiyon auch, dass etwas Eigenartiges mit seiner Stimme passiert war. Ryô war zwar nicht seiner oder Greens Tempelwächter, aber er hatte Green dennoch das ein oder andere Mal angesprochen... und Saiyon könnte schwören, dass er eine andere, sanftere Stimme hatte.
Doch er folgte seiner Aufforderung und entkleidete sich gänzlich, ehe er, von einer Geste Ryôs darauf hingewiesen, in das Becken hinabstieg. Ryô, hinter Saiyon bleibend, machte sich daran, das Haarband aus Saiyons Haaren zu entfernen, damit seine Haare lose über seine Schultern fallen konnten, ebenso wie die Blüten, die funkelnd in das Becken hinabregneten. Den Sinn dahinter verstand Saiyon nicht, doch er stelle auch keine Fragen. Er senkte den Kopf, als er im Schein der Fackeln sah, dass Ryô einen Krug über ihn hob. Ohne Aufforderung begab Saiyon sich in die Hocke und das Wasser floss über seinen Rücken. Zuerst leerte er einen Krug bis zum letzten Tropfen, dann den zweiten. Saiyon schloss die Augen, leise atmend...
... während Firey sich schrecklich darum bemühen musste, nicht zu schreien. Auch dieses Wasser, von Itzumi über sie geschüttet, schmerzte wie tausend Messerstiche an ihrer Kehle. Itzumi nahm darauf keine Rücksicht. Sie leerte einen Krug nach dem anderen über ihr, genauso wie sie ihre Haare geöffnet hatte. Sie reagierte nicht auf Firey, die, anders als Saiyon, schon gefragt hatte, warum sie ihren Zopf öffnen musste.
Sie biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu, anstatt auf die leuchtenden, weißen Blüten zu starren. Sie musste durchhalten... sie musste standhaft bleiben... für Green und für sich selbst...
Das beschwor sie sich immer wieder; Tropfen für Tropfen, der in das Becken hineinlief, solange bis alle Körper der Elementarwächter gereinigt und geläutert worden waren.
Sie musste durchhalten... sie musste... sie musste...
Green schrie nicht. Sie senkte den Kopf, ganz allein gelassen in ihrer Kammer und summte dieselbe Melodie, die Inceres in diesem Moment im Jenseits summte. Ihre Augen waren halb geschlossen, genau wie seine. Das Blau ihrer Augen schien zu leuchten: tief und dunkel wurden sie manchmal genannt, doch heute strahlten sie, als hätte man ein Licht in ihnen entzündet. Green kannte die Melodie nicht, die an den Steinwänden der Kammer widerhallte. Es klang wie ein Wiegenlied... ein altes, längst nicht mehr gesungenes Wiegenlied aus einer vergangenen Zeit, mit Liebe und... Erwartung der Mutter an das Kind gesungen.
... ich spüre dich, Inceres. Du hast mich also nicht verlassen?
... wie könnte ich. Ich sagte es bereits zuvor - nichts ist wahrer als meine Liebe zu dir.
Green schloss sachte die Augen, doch öffnete sie gleich wieder, als sie Inceres’ Stimme hörte.
... es ist Zeit, Green.
... ich weiß, Inceres.
... ich werde dich nun verlassen.
... nicht auf immer, hoffe ich?
... niemals.
Green lächelte und sie wusste genau, dass Inceres es ebenfalls tat.
... du bist ein Teil von mir.
... und ich ein Teil von dir.
... wir sind eins.
Die Haare der zu weihenden Hikari waren bereits hochgebunden worden. Gold glänzte in ihnen. Sie trug die goldenen Armreifen über ihren Ellenbogen und den schweren Reif um ihre Taille. Es fehlte nur noch der Reif, der um ihren Hals liegen sollte, den sie mit beiden Händen festhielt. Er war schwer, warm und voller Gravuren, die unter ihren Fingern leuchteten.
... hab keine Angst, Inceres.
Green lächelte, dabei waren es ihre eigenen Finger, die etwas zitterten, als sie den goldenen Reif emporhoben.
... wir werden immer eins bleiben.
... das weiß ich, mein Schmetterling.
Dennoch hatte er Angst. Angst, dass... dies seine letzten Worte waren, die er mit seinem Schmetterling austauschte, so wie er immer Angst gehabt hatte... dass der blaue Schmetterling nicht zum Fenster zurückkehrte, wo Inceres ihn immer beobachtet hatte. Jeden Tag hatte er Angst gehabt in seiner Gefangenschaft; jeden Tag gehofft, dass der Schmetterling wieder zurückkehren würde... und Hoffnung wurde so leicht zu Angst.
Was für eine Ironie, dachte Inceres und schloss die Augen, als das Schnappen des letzten Ringes in seiner Seele widerbebte, dass ausgerechnet sie... das Licht der Hoffnung war.
Für wen war sie die Hoffnung?
Für sich selbst? Für das Wächtertum? Für... ihn?
Oder...
Green erhob sich. Ihre Finger zitterten nicht mehr. Das Wiegenlied war verstummt und Inceres’ Worte ebenfalls. Sie atmete ein, drehte sich herum zur niedrigen Flügeltür und atmete aus. Barfuß trugen ihre Füße sie über den blanken Stein, bis zur Tür, auf die sie beide Hände flach legte. Ein leichter Stoß genügte und beide Türen öffneten sich mit einem tiefen Donnergrollen.
Sie war wieder in der großen Halle angekommen, welche sie bei ihrem ersten Besuch so entsetzt hatte. Jetzt war jegliches Entsetzen von ihr genommen worden. Sie war hier, hier wo sie geweiht werden würde; sie war genau dort, wo sie hingehörte.
Ryô und Itzumi, links und rechts neben der Tür, gingen auf die Knie, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Vor ihr, auf sie wartend, standen ihre Elementarwächter, jeder auf einer kleinen, runden Plattform aus Stein, im Kreis rund um das Podest, auf welches Green steigen musste. Sie alle trugen lange Gewänder in hellem Weiß mit Bändern um den Hals, um die Hüfte und um die Handgelenke herum, die in ihren Elementfarben gehalten waren. Die Haare aller waren offen; nur Greens waren zu zwei langen Zöpfen gebunden, die von den goldenen Riemen gehalten wurden.
Sie sahen Green an und Green sah sie an; eine Hikari und ihre Elementarwächter und trotz aller Diskrepanzen hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, dass sie alle miteinander verbunden waren. Sie fand Firey, ihre braunen Augen und lächelte, genau wie sie es tat.
Als Green zu gehen begann und das Kleid über den Boden schleifte, gingen zuerst Shitaya und Kaira auf die Knie, dann folgten die anderen ihr, einer nach dem anderen... und Green... sie musste an Grey denken. Sie hätte ihn so gerne unter ihnen gesehen. Sie hätte auch ihm so gerne ein Lächeln geschenkt.
Aber jetzt durfte sie nicht mehr an Grey denken. Nicht jetzt, wo sie das Podest bestieg, die Rillen der magischen Zeichen unter ihren Füßen spürend. Jetzt musste sie hier sein. Hier bei ihren Elementarwächtern und bei ihrem Element - und das war sie. Noch nie zuvor fühlte sie sich so sehr wie eine Wächterin, wie eine Hikari, wie jetzt.
Sie lächelte mit geschlossenen Augen, als alle, auch sie, den Atem anhielten.
Sie öffnete ihre blauen Augen und verkündete die Worte, die wie ein Trommelschlag in der Halle widerhallten.
"Lasst die Weihe beginnen!"
Der gigantisch große Raum, der sie vor ein paar Tagen noch zu erschrecken hatte vermocht, hinterließ nicht einmal den kleinsten Widerhall in ihr. Sie sah ihn nicht. Sie hörte seine bedrückende Stille nicht und ihr Herz erschrak nicht. Die Halle lag im Halbdunkel wie auch schon bei ihrem ersten Besuch. Keine Fenster. Keine Lichtquelle. Doch der verzierte Boden selbst war sachte erhellt, als hätte die viele Magie, die in diesen Raum freigesetzt worden war, den Boden selbst aufgeladen. Die Luft war kalt, abgestanden und alt. Eine gigantische Zeremonienhalle; gemacht für die Hikari und ihre Elementarwächter.
Geräuschlos schloss sich die Pforte hinter der Hikari, als ihre Füße sie in die Mitte der Halle gebracht hatten und sie Ryô und Itzumi gegenüberstand, die in lange, aufwendig dekorierte Gewänder gehüllt waren. Beide verneigten sich tief vor ihrer Hikari, eins mit dieser Halle, eins mit der Zeremonie. Niemand sagte etwas oder löste einen Laut aus - die heilige Stille wurde gewahrt, auch als die beiden Tempelwächter sie in den kleinen Raum führten, der an die Halle anschloss. Sie rührte sich nicht. Ließ sich führen wie eine Puppe und folgte gehorsam wie eine solche, als ihr das Gewand abgestrichen wurde und eine der Hände der Zwillinge sie in das weiße Wasser hinabführte, welches in das Becken gefüllt worden war. Das Wasser war lauwarm. Die Luft kalt und klamm. Der Raum war dunkel. Nur sie selbst leuchtete matt, während Ryô ihre Finger wusch und Itzumi ihre Haare. Ihr gesamter Körper wurde mit äußerstem Pflichtbewusstsein gesäubert, ohne dass sich die Augen der Hikari veränderten oder etwas gesagt wurde. Nur das Plätschern des weißen Wassers war zu hören; hallte wider an den steinernen Wänden, begleitete das Starren der dunklen, blauen Augen, die genauso starr waren wie die Augen der geschlechtslosen Hikaristatue vor ihr, am Rande des Beckens, die den goldenen Schmuck trug, der sich bald um ihre eigenen Gelenke legen würde.
Als hätte die Statue mit ihr gesprochen, hob die Hikari mit den dunklen Augen plötzlich, aber langsam den Kopf. Die Bewegungen der beiden Tempelwächter erstarrten und ihre Hände blieben hängen in der Luft, als hätte eine einzelne Bewegung der Hikari dafür gesorgt, dass die Zeit stehen blieb. Dabei tat sie nichts anderes als den goldenen Schmuck anzusehen. Einen Goldreif um die Hüfte. Einen für ihre Ellenbogen und zwei für ihre Haare... und den schwersten und dicksten für ihren Hals.
Langsam atmete Green aus, doch ihr Atem zitterte.
Geweiht zu werden bedeutete nicht länger zu den Herkömmlichen zu gehören. Kein Mensch, beziehungsweise kein Wächter mehr zu sein. Man würde zu einem Wesen für die Götter; einem leibhaftigen Geschenk für diese. Freigestellt für diese, getrennt von allen anderen. Man wurde so heilig wie es ging, ohne dass man selbst zu einem Gott wurde.
Das war jedenfalls das, was Tinami über die Weihe und ihre Bedeutung herausgefunden hatte - nicht in den Büchern der Wächter, sondern in den Werken der Menschen, denn auch sie war neugierig gewesen... auch sie hatte nach mehr Wissen verlangt, obwohl sie selbst... nicht mehr zu diesen heiligen Wesen gehörte. Shitaya hatte ihren Platz eingenommen und würde an ihrer statt den Göttern zum Geschenk gemacht werden, an der Seite der anderen Elementarwächter, an der Seite Kairas... die dann eine geweihte, heilige Toki wurde.
Tinami war nicht traurig darüber nicht länger teilzunehmen. Nicht der Weihe selbst wegen - aber sie hätte gerne... dazugehört. Sie wäre lieber zwischen den Elementarwächtern gewesen, anstatt in der Menge der anderen Wächter zu stehen, der herkömmlichen, die am Rand der Straße des Lichtes auf Sanctu Ele’Saces standen. Alle hielten sie eine einzelne, weiße Kerze in der Hand, in diesen frühen Morgenstunden, wo die Sonne noch nicht aufgegangen war und der Himmel sich nur leicht dunkelblau gefärbt hatte. Der Unglücksbringer - der Mond - war verschwunden und wenn die Elementarwächter den Turm der Reinheit erreicht hatten, dann würde die Sonne aufgehen und sie in den ersten Morgenstrahlen baden. Es wehte ein leichter Wind und die kleinen Glöckchen, die mit einem weißen Band an den Kerzen befestigt waren, klirrten, so wie die kleine Flamme im Wind flackerte, als die elf Elementarwächter am Ende der Straße auftauchten wie eine Erscheinung aus einem Traum.
Automatisch hielt Tinami die Luft an und ihr Herz verzog sich, als sie Kaira an der Spitze ausmachte. Ernst und unbeirrbar wie ein Felsen in der Brandung. Die weißen Lichtblüten, die sie im Haar trug und die nur auf Serenitias blühten, sahen sehr unpassend aus, wie sie sich um ihren Hinterkopf schlängelten, hinein geflochten in ihr Haar und matt leuchtend, als wohnten Glühwürmchen in ihnen. Unpassender Schmuck für Kaira. Aber so beschrieb es die Tradition.
Hinter ihr Shitaya. Dann Saiyon. Beides Elementarwächter, die nicht zum "Kern" gehörten, doch danach fragten die Weihe und die Traditionen nicht. Firey folgte Saiyon, dann Pink, Ilang und Azura, gefolgt von Yuuki und am Schluss Azuma. Alle mit den gleichen Blumen im Haar, alle gekleidet in das gleiche, simple weiße Gewand, welches gebraucht aussah, als hätte es eine Zeitreise hinter sich. Um ihren Hals und ihre Gelenke waren Bänder geschlungen, die im matten Licht in der jeweiligen Elementfarbe leuchteten.
Ein hübscher, friedlicher, aber auch sehr ernster Anblick, begleitet von den sanften Gesängen der anderen Wächter, die alle im Chor sangen zu einer Melodie, die in ihrem Herzen erklang. Auch Tinami sang... aber sie spürte kaum, dass sie die Lippen bewegte.
Angespannt und doch ruhig war Firey, als sie gemeinsam mit den anderen Elementarwächtern vor die zwölf auserwählten Hikari trat, wo sie sich vor den Vertretern des Lichts verneigten, ehe einer nach dem anderen vor den Hikari auf die Knie ging. Sämtliche Sorge und jede Angst war aus ihrem Sein verschwunden. Die Weihe würde geschehen, so wie es vorherbestimmt war. So wie es sein sollte. Sie dachte an Green, doch auch dieser Gedanke war ohne Kümmernis. Sie würde sie bald wiedersehen, um mit ihr zusammen geweiht zu werden.
Die anderen Wächter sangen immer noch im Einklang mit den Glöckchen und erfüllten den runden Platz am Ende der Straße des Lichts mit einem einheitlichen, heiligen Gesang, einem Lied, welches nur zur Weihe gesungen wurde. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch der Himmel erhellte sich mehr und mehr und die ersten Sonnenstrahlen würden in wenigen Minuten auf die Glöckchen der zwölf Hikari scheinen, die ihre Relikte nicht wie sonst verborgen trugen, sondern für jeden sichtbar auf ihrer Brust, oberhalb ihrer Uniform.
Zwölf Hikari, einer für jeden anwesenden Wächter, auserwählt wegen ihren Qualitäten, ihrer Demut und ihrer Hingabe zum Licht - und ihres zweiten Elementes und so war es Shaginai, der vor Firey stand, da seine Mutter eine Feuerwächterin gewesen war.
Golden erstrahlte der östliche Horizont und bildete eine gerade Linie über den Wolken, denen das Sonnenlicht goldene Kronen aufsetzte und die Glöckchen der zwölf Hikari erstrahlten im hellen Glanz, als die Sonnenstrahlen den Platz berührten. Sie traten vor und Firey spürte Shaginais Hand auf ihrem Kopf, während sie selbst diesen immer noch gesenkt hielt. Links neben ihr stand Pink, vor welche White getreten war und rechts von ihr Yuuki, der von Hizashi gesegnet werden würde - mehr als deren Füße konnte Firey jedoch nicht sehen, denn sie wagte es nicht den Kopf zu drehen. Als der Gesang verstummte, war es als würde das gesamte Wächtertum auf einmal die Luft anhalten. Auch Firey tat es - der Moment war zu feierlich, um es nicht zu tun.
"Das Licht segnet dich", ertönten zwölf ernste Hikaristimmen gleichzeitig wie im Chor.
"Das Licht segnet dich und erleuchtet deinen Weg. Es stehe dir bei und führet dich heim zum Herzen deines Gottes. Mögest du weise, gestärkt und von Mut erfüllt deinen Weg zu uns zurückfinden, um den ewigen Kampf fortzuführen, in der Hoffnung, dessen Ewigkeit zu beenden. Das Licht segnet dich und erleuchtet dich." Firey wusste nicht, wie ihr geschah. Sie wusste nicht, wieso sie es tat, noch wo diese Worte herstammten, woher sie wusste, was sie zu antworten hatte, aber sie öffnete den Mund, genau wie die anderen Elementarwächter und antwortete dasselbe wie sie mit Inbrunst:
"Das Licht segnet mich und erleuchtet meinen Weg!" Eine Hitze klomm in ihrem Inneren und auch ihr Kopf wurde merklich warm, dort wo Shaginais Hand lag, ehe er sie wegzog und sie sich zusammen mit den anderen Elementarwächtern wieder erhob. Die Flamme, die Shaginais Worte in ihr geweckt hatte, brannte immer noch in ihrem Inneren und erfüllte ihren Körper, ihre Seele. Es war beängstigend und beruhigend zugleich.
Die zwölf Hikari erhoben wieder die Stimme, ebenso wie ihre Hände, die sie sich über ihr Herz legten - eine Geste, die für alle Wächter Gang und Gebe war und Demut vor dem Licht zeigte, doch für die Hikari war dies keine gewohnte Bewegung. In diesem Moment waren auch sie Diener der Götter, anstatt ihre Botschafter.
"Für die Hoffnung auf Frieden." Und alle Wächter, nicht nur die Elementarwächter, antworteten mit der flachen Hand auf ihren Herzen:
"Für die Hoffnung auf Frieden!"
Die Zeit Green wiederzusehen war gekommen.
Das sollte nicht Saiyons erster Gedanke sein, aber das war er, auch wenn er sich dafür schämen sollte. Sein Herz schlug wie ein wild aufgebrachter Sturm, aber es war nicht das Herzklopfen eines Verlobten, der es nicht abwarten konnte, seine Geliebte wiederzusehen - sein Element erfüllte sein Innerstes und machte ihn unruhig, so sehr, dass er sich am liebsten in die Lüfte geschwungen hätte, um zum Turm zu fliegen; um zu Green zu gelangen. Er wusste, dass er eigentlich keinen Grund hatte, um sie besorgt zu sein, aber sie war im Vorfeld so nervös gewesen, dass diese Nervosität sich wohl auf ihn übertragen hatte.
Seine Mitwächter hatten ihren Gesang wieder aufgenommen, als Azura sich als erstes von den Elementarwächtern löste. Sie verneigte sich noch ein letztes Mal vor Adir, dem Vertreter ihrer Göttin, und schritt dann über den großen, steinernen Platz hin zu einer Plattform, die direkt am Platz anschloss. Saiyon hatte der Plattform nie viel Beachtung geschenkt; hatte geglaubt, dass es sich um eine normale Aussichtsplattform handelte, von denen es viele gab auf ihren Inseln, aber als Azura die niedrigen Stufen erklomm, um empor zu gelangen, sah Saiyon, dass die Kugeln, die links und rechts von Engeln aus Stein gehalten wurden, blau aufleuchteten. Eigentlich waren dies normale Lampen, die die Nacht erhellten - oder die sich dort treffenden Liebenden, denn Saiyon wusste von seinem Bruder, dass dies ein beliebter Treffpunkt für Paare war... sollte Glück bringen... Von dort aus hatte man eine wunderschöne Aussicht über Sanctu Ele’Saces, über dessen großen See, die Häuser und die Straßen, ihr Leben. Jetzt war das kein Aussichtspunkt mehr, sondern... Saiyon blinzelte, als sich alte Schriftzeichen in Edou unter Azuras Füßen bildeten und sie verschwand - ein Teleportationspunkt?
Ilang trat als nächstes vor. Unbeirrt und schnellen Schrittes, nachdem sie sich vor Mary vorbeugt hatte, als wolle sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Saiyon fand sie etwas respektlos... es war immerhin für sie alle ein großer Tag; die größte Ehre, die ihnen jemals zuteilwerden würde. Vielleicht machte ihr ja bereits die Schwangerschaft zu schaffen...? Säil war unerträglich gewesen, als sie schwanger gewesen war.
Dieses Mal leuchteten die Kugeln grün und da Saiyon nun ohne zu blinzeln auf Ilangs Rücken starrte, sah er, dass der Boden unter ihren Füßen kurz grün aufleuchtete, ehe Ilang verschwand, um von Shitaya gefolgt zu werden. Für Neid war kein Platz mehr in Saiyons Herzen, aber es war beispielslos ehrenhaft, wie Shitaya sich würdevoll vor einer Hikari verneigte, die Saiyon zugegeben nicht kannte. Er richtete sich wieder auf und in seiner gesamten Haltung, in seinem Blick lag nichts anderes als Entschlossenheit und Würde und nichts ließ irgendeinen Zweifel daran offen, dass er Großes vollbringen würde für seine Hikari und das Wächtertum. Beinahe war Saiyon, als könnte er die weiblichen Wächter weit hinter sich aufseufzen hören und Säil frohlocken - ja, das war ihr Mann!
Kaira, die Shitaya folgte, ließ sämtliches Seufzen vergehen und man schwieg in Ehrfurcht vor ihrer Stärke, die in jeder ihrer Bewegungen lag. Auch sie würde Großes vollbringen, nur würde man ihr lieber nicht zu nahekommen - und ganz sicherlich nicht im Weg stehen wollen. Ihre Schritte waren fest, ebenso wie ihr Blick, der auf ihr Ziel gerichtet war stärker zu werden. Sie war ein Vorbild für sie alle.
Nach Kaira war es Azuma, der die Stufen erklomm, welcher tatsächlich etwas nervös wirkte... und dann war endlich Saiyon an der Reihe, der sein Herz rauschen hörte, als wären ihm Flügel gewachsen. Er trat vor, als Azuma verschwunden war und verbeugte sich vor der Vertreterin seines Elementes, Iluri, die ihm noch ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Konnte sie spüren, dass er ebenfalls ein wenig nervös war...? Wenn ja, dann schämte Saiyon sich dafür. Er durfte nicht nervös sein. Seine Göttin war bei ihm.
Das Gefühl der Scham verschwand, als Saiyon auf die Plattform zusteuerte und nichts anderes hören konnte außer dem Gesang seiner Mitwächter und dem Schlagen seines Herzens. Der Wind wehte kühl über den Platz und Saiyon schloss die Augen, als seine Haare vom Wind gekräuselt wurden. Es war ein heiliger Moment... ein Moment, für den er dankbar war... für den er Green dankbar war. Wäre sie nicht in sein Leben getreten... er wäre nicht hier, würde nicht diese Stufen erklimmen, sondern wäre einer der vielen singenden Wächter, ohne jemals wieder sein Element spüren zu können, ohne jemals... diese Flügel im Herzen gespürt zu haben.
Mit dem Gedanken an Green und die Liebe im Herzen für sie, verschwand Saiyon - und nun war es Firey, die schlucken musste. Nur noch Yuuki, dann war sie an der Reihe, sie, die plötzlich daran zweifelte, ob sie sich überhaupt verneigen konnte, so wie Yuuki es gerade vor Hizashi tat. Unbeirrt und ohne auch nur den Hauch von Nervosität zu zeigen, ging Yuuki über den Platz, doch Firey sah nicht Yuukis sich entfernenden Rücken an, sondern Hizashi. Er lächelte komisch... als wäre die Weihe sein persönliches Freudenfest.
Purpur leuchteten die Kugeln auf, dann war auch Yuuki verschwunden... und Firey war an der Reihe. Sie verneigte sich in Hast, erhaschte kurz Shaginais strengen Blick - hatte er gerade die Augenbraue gehoben? - dann hatte sie ihm auch schon eilig den Rücken zugekehrt und plötzlich vergaß sie Shaginais Titanaugen und Hizashis falsches Lächeln.
Da war nur noch der Gesang und die lodernde Flamme in ihrem Inneren, die sie nach vorne trug. Der Höhepunkt der Weihe war gekommen... sie würde zu einer richtigen Wächterin werden, einer richtigen Hii. Würde sie Hirey wiedersehen? Würde er stolz sein?
Und was... dann?
Firey verschwand ebenfalls und zurück blieb die letzte Elementarwächterin: Pink. Die einzige Elementarwächterin, die zögerte. Die einzige, in deren rotumrandeten Augen Angst war und deren weiße Blumen in ihren geflochtenen Haaren aussahen, als würden sie dort auf dem Platz verdorren, anstatt zu erleuchten.
Niemand sah ihr an, dass sie abgenommen hatte, dass sie krank war, aber jeder sah ihr ihre Angst an. Pink stand mit dem Rücken zu den anderen Wächtern, die sich aber dennoch unauffällig reckten und streckten, um zu sehen, warum es nicht weiterging, während einige der Hikari, die Pink ganz in Augenschein nehmen konnten, die Stirn runzelten, aber versuchten es nicht zu auffällig zu tun, um ihren Untertanen keinen Grund zu geben, um noch mit dem Tuscheln anzufangen. Doch die Gedanken waren bereits in Gang gesetzt:
Eigentlich sollte niemand Angst haben...? Was war mit dem zitternden Mädchen los? War das nicht Shaginais Enkelin? Warum bewegte sie sich nicht? Es zitterte, das arme Mädchen! Es zitterte am ganzen Körper!
Shaginai zitterte nicht, auch wenn er Pink ebenso anstarrte wie seine Mithikari es taten, aber eine Frage ließ auch ihn Beklemmnis verspüren - war das fahrlässig? War das ein Fehler? Pink bewegte sich immer noch nicht. Mit glasigen Augen starrte sie ins Nichts. Sie war nicht bereit. Sie war nicht gesund. Die Weihe konnte nicht mehr abgebrochen werden, aber wenn eine Elementarwächterin fehlte...
In dem Moment überraschte Pink sie alle, denn obwohl sie vor Schreck wie gelähmt war, verneigte sie sich steif und voller Bange vor ihrer Tante. White sah den gesenkten Kopf und die hochgezogenen Schultern ihrer Nichte besorgt an und warf auch einen zweifelnden Blick an Shaginai, als Pink sich nicht wieder erhob. Sie bat um Hilfe. Sie flehte darum. Schon seit einer Weile hatte Shaginai einen Verdacht gehabt: den Verdacht, dass Pink sehr wohl wusste, dass ein Dämon sich in ihr eingenistet hatte; ein Verdacht, der sich nun bestätigte. Sie konnte nicht gegen ihn ankämpfen. Sie konnte es niemandem sagen. Sie war in sich selbst gefangen. Genauso gefangen... wie ihre Mutter.
Dem gesamten Wächtertum schien der Atem zu stocken, als White plötzlich handelte - und auch Shaginai erstarrte. Befürchtend, dass White die Weihe abbrechen würde, wollte er sie aufhalten, aber da sah er, wie auch die anderen Hikari und Wächter, wie White die Hand nach Pink ausstreckte, ihr Gesicht sanft hob und ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte.
Mary wollte beinahe vor Erleichterung aufjauchzen - das war das Beste, was White hätte tun können, um die verwirrten Wächter zu beruhigen und abzulenken, die wieder einmal absolut in ihrer Begeisterung für White aufgingen. Eine bessere Ablenkung hätte sie ihnen nicht geben können. White sorgte sich um ihre Nichte! Um das arme, arme Mädchen, das einfach noch zu klein war, wie rührend... Hach, es konnte manchmal so einfach sein.
Aber White dachte nicht an die Wächter oder daran, was über sie gesagt wurde. Sie dachte an Pink, der sie über den Kopf streichelte, während sie leise ihre Worte an sie richtete:
"Deine Mutter ist bei dir, Pink. Sie beschützt dich mit ihrer Liebe auf all deinen Wegen. Hab keine Angst... du bist nicht allein." Pink hob verwirrt den Kopf, aber als eine Träne aus ihren Augen kullerte, nickte sie und... ging endlich denselben Weg wie die anderen Elementarwächter. Ihre Schritte waren etwas unsicherer, sie ging langsamer... aber sie erreichte das Podium. Die Kugeln leuchteten im matten Rosa und das Siegel bildete sich endlich unter ihren Füßen... Shaginais Augen verengten sich - aber dann verschwand Pink wie die anderen vor ihr.
Die Gesänge wurden fortgesetzt und niemand hörte, wie White sich an ihren Vater richtete, als sie sich zu ihm stellte, genau wie er in die aufgehende Sonne hineinblickend, die nun über dem Podium schien.
"Sobald die Weihe vorüber ist, müssen wir miteinander reden, Vater."
Dann gingen alle 12 Hikari vor dem Sonnenlicht auf die Knie und beteten, so wie es der Brauch besagte.
Als Saiyon die Augen öffnete, fand er sich ganz alleine in einem kahlen Raum wieder, in welchem sich nichts anderes befand außer einem in den Boden eingelassenen leeren Becken. Der gesamte Raum, komplett schmucklos in seiner Aufmachung, war aus Stein. Auch die Tür am anderen Ende des Raumes war aus Stein. Saiyon wusste nicht, was er tun sollte, aber er glaubte nicht, dass es seine Aufgabe war, durch diese Tür zu gehen... nicht ohne, dass das Becken für etwas genutzt wurde.
Das Becken zu sehen behagte Saiyon nicht. Es sah aus wie das Becken auf Serenitias, in welchem die sterblichen Überreste seiner Mitwächter zu ihren Elementen zurückkehrten, nur in viel kleinerer Ausführung. Er musste keine Angst haben, das wusste er, aber der Vergleich war unbehaglich.
"Ich bitte Euch darum Euch zu entkleiden, Kaze-sama." Saiyon, überraschter als er es sein sollte, fuhr herum und sah Ryô hinter sich stehen. Komplett überrumpelt hätte Saiyon schwören können, dass er eben noch gänzlich alleine gewesen war. Der Tempelwächter musste sich hinein teleportiert haben, aber... er sah aus, als hätte er schon die gesamte Zeit dort gestanden, mit einem abwartenden Blick in den leeren Bernsteinaugen. Seine Kleidung war auffällig verziert und es war wohl das erste Mal in Saiyons gesamtem Leben, dass er sich schäbig vorkam im Vergleich mit einem Tempelwächter, denn während er nur ein simples, weites Gewand trug ohne jeglichen Schmuck, war Ryôs weites Gewand mit einer großen Sonne bestickt, bestand aus verschiedenen Stofflagen in Gold und feinem, hellen Blau, wie der Morgentau. Um seinen Hals und um seine Hüfte lagen goldene Ringe... die Rollen schienen vertauscht zu sein.
"Ich bitte Euch darum Euch zu entkleiden, Kaze-sama", wiederholte Ryô noch einmal und nun bemerkte Saiyon auch, dass etwas Eigenartiges mit seiner Stimme passiert war. Ryô war zwar nicht seiner oder Greens Tempelwächter, aber er hatte Green dennoch das ein oder andere Mal angesprochen... und Saiyon könnte schwören, dass er eine andere, sanftere Stimme hatte.
Doch er folgte seiner Aufforderung und entkleidete sich gänzlich, ehe er, von einer Geste Ryôs darauf hingewiesen, in das Becken hinabstieg. Ryô, hinter Saiyon bleibend, machte sich daran, das Haarband aus Saiyons Haaren zu entfernen, damit seine Haare lose über seine Schultern fallen konnten, ebenso wie die Blüten, die funkelnd in das Becken hinabregneten. Den Sinn dahinter verstand Saiyon nicht, doch er stelle auch keine Fragen. Er senkte den Kopf, als er im Schein der Fackeln sah, dass Ryô einen Krug über ihn hob. Ohne Aufforderung begab Saiyon sich in die Hocke und das Wasser floss über seinen Rücken. Zuerst leerte er einen Krug bis zum letzten Tropfen, dann den zweiten. Saiyon schloss die Augen, leise atmend...
... während Firey sich schrecklich darum bemühen musste, nicht zu schreien. Auch dieses Wasser, von Itzumi über sie geschüttet, schmerzte wie tausend Messerstiche an ihrer Kehle. Itzumi nahm darauf keine Rücksicht. Sie leerte einen Krug nach dem anderen über ihr, genauso wie sie ihre Haare geöffnet hatte. Sie reagierte nicht auf Firey, die, anders als Saiyon, schon gefragt hatte, warum sie ihren Zopf öffnen musste.
Sie biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu, anstatt auf die leuchtenden, weißen Blüten zu starren. Sie musste durchhalten... sie musste standhaft bleiben... für Green und für sich selbst...
Das beschwor sie sich immer wieder; Tropfen für Tropfen, der in das Becken hineinlief, solange bis alle Körper der Elementarwächter gereinigt und geläutert worden waren.
Sie musste durchhalten... sie musste... sie musste...
Green schrie nicht. Sie senkte den Kopf, ganz allein gelassen in ihrer Kammer und summte dieselbe Melodie, die Inceres in diesem Moment im Jenseits summte. Ihre Augen waren halb geschlossen, genau wie seine. Das Blau ihrer Augen schien zu leuchten: tief und dunkel wurden sie manchmal genannt, doch heute strahlten sie, als hätte man ein Licht in ihnen entzündet. Green kannte die Melodie nicht, die an den Steinwänden der Kammer widerhallte. Es klang wie ein Wiegenlied... ein altes, längst nicht mehr gesungenes Wiegenlied aus einer vergangenen Zeit, mit Liebe und... Erwartung der Mutter an das Kind gesungen.
... ich spüre dich, Inceres. Du hast mich also nicht verlassen?
... wie könnte ich. Ich sagte es bereits zuvor - nichts ist wahrer als meine Liebe zu dir.
Green schloss sachte die Augen, doch öffnete sie gleich wieder, als sie Inceres’ Stimme hörte.
... es ist Zeit, Green.
... ich weiß, Inceres.
... ich werde dich nun verlassen.
... nicht auf immer, hoffe ich?
... niemals.
Green lächelte und sie wusste genau, dass Inceres es ebenfalls tat.
... du bist ein Teil von mir.
... und ich ein Teil von dir.
... wir sind eins.
Die Haare der zu weihenden Hikari waren bereits hochgebunden worden. Gold glänzte in ihnen. Sie trug die goldenen Armreifen über ihren Ellenbogen und den schweren Reif um ihre Taille. Es fehlte nur noch der Reif, der um ihren Hals liegen sollte, den sie mit beiden Händen festhielt. Er war schwer, warm und voller Gravuren, die unter ihren Fingern leuchteten.
... hab keine Angst, Inceres.
Green lächelte, dabei waren es ihre eigenen Finger, die etwas zitterten, als sie den goldenen Reif emporhoben.
... wir werden immer eins bleiben.
... das weiß ich, mein Schmetterling.
Dennoch hatte er Angst. Angst, dass... dies seine letzten Worte waren, die er mit seinem Schmetterling austauschte, so wie er immer Angst gehabt hatte... dass der blaue Schmetterling nicht zum Fenster zurückkehrte, wo Inceres ihn immer beobachtet hatte. Jeden Tag hatte er Angst gehabt in seiner Gefangenschaft; jeden Tag gehofft, dass der Schmetterling wieder zurückkehren würde... und Hoffnung wurde so leicht zu Angst.
Was für eine Ironie, dachte Inceres und schloss die Augen, als das Schnappen des letzten Ringes in seiner Seele widerbebte, dass ausgerechnet sie... das Licht der Hoffnung war.
Für wen war sie die Hoffnung?
Für sich selbst? Für das Wächtertum? Für... ihn?
Oder...
Green erhob sich. Ihre Finger zitterten nicht mehr. Das Wiegenlied war verstummt und Inceres’ Worte ebenfalls. Sie atmete ein, drehte sich herum zur niedrigen Flügeltür und atmete aus. Barfuß trugen ihre Füße sie über den blanken Stein, bis zur Tür, auf die sie beide Hände flach legte. Ein leichter Stoß genügte und beide Türen öffneten sich mit einem tiefen Donnergrollen.
Sie war wieder in der großen Halle angekommen, welche sie bei ihrem ersten Besuch so entsetzt hatte. Jetzt war jegliches Entsetzen von ihr genommen worden. Sie war hier, hier wo sie geweiht werden würde; sie war genau dort, wo sie hingehörte.
Ryô und Itzumi, links und rechts neben der Tür, gingen auf die Knie, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Vor ihr, auf sie wartend, standen ihre Elementarwächter, jeder auf einer kleinen, runden Plattform aus Stein, im Kreis rund um das Podest, auf welches Green steigen musste. Sie alle trugen lange Gewänder in hellem Weiß mit Bändern um den Hals, um die Hüfte und um die Handgelenke herum, die in ihren Elementfarben gehalten waren. Die Haare aller waren offen; nur Greens waren zu zwei langen Zöpfen gebunden, die von den goldenen Riemen gehalten wurden.
Sie sahen Green an und Green sah sie an; eine Hikari und ihre Elementarwächter und trotz aller Diskrepanzen hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, dass sie alle miteinander verbunden waren. Sie fand Firey, ihre braunen Augen und lächelte, genau wie sie es tat.
Als Green zu gehen begann und das Kleid über den Boden schleifte, gingen zuerst Shitaya und Kaira auf die Knie, dann folgten die anderen ihr, einer nach dem anderen... und Green... sie musste an Grey denken. Sie hätte ihn so gerne unter ihnen gesehen. Sie hätte auch ihm so gerne ein Lächeln geschenkt.
Aber jetzt durfte sie nicht mehr an Grey denken. Nicht jetzt, wo sie das Podest bestieg, die Rillen der magischen Zeichen unter ihren Füßen spürend. Jetzt musste sie hier sein. Hier bei ihren Elementarwächtern und bei ihrem Element - und das war sie. Noch nie zuvor fühlte sie sich so sehr wie eine Wächterin, wie eine Hikari, wie jetzt.
Sie lächelte mit geschlossenen Augen, als alle, auch sie, den Atem anhielten.
Sie öffnete ihre blauen Augen und verkündete die Worte, die wie ein Trommelschlag in der Halle widerhallten.
"Lasst die Weihe beginnen!"