Kapitel 103 - In der Halle des Todes
Stille und helles, weißes Licht.
Da war nichts mehr. Keine einzige Farbe, kein Wirbel, kein Strom, der Green erfassen oder ihr etwas hätte zeigen können. Sie schwebte im hellen Nichts und als sie ihre Stimme erhob, um wieder nach Light zu rufen, folgte keine Antwort. Nur die Gewissheit, dass ihre Stimme zitterte... dass sie Angst hatte. Was war geschehen? Was hatte sie da gerade gesehen? Etwa... Luzifers Tod? Da war helles, nein, grelles Licht gewesen, so grell, dass es selbst Green in den Augen gestochen hatte - ein helleres, kälteres Licht hatte sie noch nie gesehen, noch nie... gespürt... Moment, gespürt?
Green war verwirrt. Und panisch. Etwas war nicht richtig, nicht so wie es sein sollte. Hatte sie das sehen sollen? Luzifers Tod? Nein, Moment, er... er konnte doch da noch gar nicht gestorben sein, denn zu der Zeit waren Silence und Youma noch gar nicht gezeugt... Aber was war das gewesen? Eine Erinnerung, ja, aber... sie hatte sich anders angefühlt... klarer... kälter... naher... Ihre Brust schmerzte immer noch und sie wollte ihr Glöckchen nehmen, aber es war nicht da.
"Light, bitte, wo..." Green verstummte sofort, als sie jemanden flackernd vor sich sah. Weit, weit weg im Licht stehend. Eine weiße Person, genauso weiß wie Light, aber viel kleiner... Green kniff die Augen zusammen.
"Ince...res?"
"Das ist nicht möglich." Ein Schrecken jagte ihr durch das gesamte Sein, als sie plötzlich Lights Stimme hinter sich hörte und tatsächlich sah sie ihn auch weit, weit weg von sich stehen - aber trotz des Abstands hörte sie seine Stimme dennoch deutlich. Eine Stimme, die hart war. Da lag keine Freundlichkeit mehr in ihr, keine Wärme. Sie war aus Stein, eiskaltem Stein:
"Ich habe alle Zeit, die mir gegeben wurde, dafür aufgebracht, alle Fragmente zusammenzusammeln, um endlich Klarheit über die Geschehnisse zu erlangen. Um es zu verstehen." Er pausierte und Green hielt die Luft an. Seine Stimme... machte ihr Angst.
"Ich habe die Seelen der Elemente durchforstet, Dämonenherzen... selbst das des Dämonenherrschers... Doch Hikaru..." Eine abrupte, angewiderte Bewegung, die Green zusammenzucken ließ, erbebte kurz in Lights Körper.
"... auf ihre Erinnerungen hatte ich niemals Zugriff, obwohl wir dieselbe Mutter haben, dasselbe Element." Ohne dass Green gesehen hatte, wie er sich bewegte, stand Light plötzlich vor ihr. Seine großen Augen sahen sie verwirrt und versteinert - und bedrohlich - an.
"Warum haben wir dies eben sehen können..." Seine Stirn runzelte sich, aber seine starren Augen blieben auf Green, durchbohrten sie. Zitterte sie? Sie glaubte es, aber sie war so starr vor Schreck, sie konnte es nicht spüren. Niemals hatte sie gedacht, dass Light, dessen Augen sie nur als gütig und warm und traurig kannte, so beängstigend sein konnte.
"... "Green"?" Er lehnte sich zurück und sah verurteilend auf sie herab, leicht über dem Boden schwebend wie ein richtender Engel, doch seine Flügel waren nicht ausgebreitet. Sein verurteilender, harter Blick ließ Green an Shaginai denken - aber es war lange her, dass sie vor ihm Angst gehabt hatte.
"Ich..." Sie verlor ihre Stimme; sie konnte sie kaum benutzen.
"... möchte mehr sehen, ich möchte verstehen, ich..." Lights Augen verengten sich.
"... ich habe nichts Falsches getan!" Warum sagte sie das? Seine Augen brachten sie dazu. Sie schürten das Gefühl von Schuld in ihr, pflanzten es in ihr Inneres und schnürten sie zu.
""Verstehen"..." Noch einmal musste Green schlucken - seine Stimme klang so... säuerlich. Angewidert.
"... Licht der Hoffnung?" Ihren Namen, beziehungsweise ihren Titel zu hören, gab Green Entschlossenheit zurück und sie nahm einen Schritt vorwärts, auf Light zu, welcher jedoch sofort rückwärtsging, um den Abstand zu wahren.
"Ja, ich will verstehen." Ihre Stimme überschlug sich, denn sie hatte Angst, nicht mehr viel Zeit zu haben, nicht mehr viel Zeit mit Light und sie hatte noch ein Versprechen einzulösen.
"Ich will verstehen, warum Silence weint!" Den Namen seiner Tochter zu hören erweichte Lights Blick, aber er blieb dennoch hart, auch wenn er kurz wankte - aber nicht vor Schmerz, sondern eher vor Verwunderung.
"Ich will wissen, was damals wirklich passiert ist. Die schrecklichen Versuche an den beiden..." Bildete Green sich das nur ein oder wurde das gleißende Licht um sie herum... dunkler? Flackerte es, genau wie Lights Blick flackerte?
"... warum die geschehen mussten. Warum die beiden so... leiden mussten." Und warum Light es zugelassen hatte, doch er sprach plötzlich, ehe Green diese Frage aussprechen konnte. Seine Stimme klang jedoch nicht mehr wie die seine, als wären die Worte nicht von ihm ausgesucht:
"Es war Kriegsvorbereitung. Die Teufel waren schwerer zu töten als ihre Nachkommen. Das Ziel der Forschung war alle Wege zu finden, wie man Dämonen und Teufel töten konnte." Green schnürte es die Kehle zu, doch ihre Stirn wölbte sich verwundert: Verwundert über Lights Stimme, über die Worte. Sie klangen wie... ein Zitat. Oder ein Buch, aus dem er vorlas.
"Deswegen mussten Silence und Youma so oft sterben", tastete Green sich langsam vor.
"Deswegen mussten Silence und Youma so oft sterben", wiederholte Light mit einem tonlosen Flüstern.
"Und du hast sie immer wieder belebt?"
"Das habe ich." Green schluckte und zögerte die Worte hinaus.
"112 Mal ...?" Light zögerte nicht.
"112 Mal."
"Aber du wolltest doch nie einen Krieg." Light antwortete nicht.
"Und du... liebst doch deine Kinder." Immer noch sagte Light nichts.
"Das habe ich gesehen. Das habe ich in den Erinnerungen von Silence gesehen, die sie mir gezeigt hat. Silence glaubt dir auch immer noch. Sie vertraut dir, auch wenn sie die Wahrheit von Youma erfahren hat und weiß, dass sie... oft gestorben sind."
"Sie sollte mich lieber hassen so wie Youma es tut." Ein zerstörtes Lächeln zog über Lights Gesicht und offenbarte einen abgrundtiefen Schmerz, der das Licht verschluckte und die Dunkelheit über die "Welt" brachte, in der Green sich mit dem leidenden Engel befand. Sie sah ihn nur noch kurz, das Gesicht, wo nun kein Lächeln mehr zu sehen war, sondern ein stummer Schrei und dann war auch er weg, von seinem eigenen Schmerz verschlungen. Green hatte das Gefühl, dass sie fallen würde - sie schrie, schrie lauter, aber sie konnte ihre eigene Stimme nicht hören. War es das schon? War es aus? Hatte sie ihre Chance vertan und dem Licht nur große Schmerzen zugefügt? Sie spürte es - sie spürte seinen Schmerz, sein Leid, seine äonenalte Schuld, für die er nie würde sühnen können.
Und dann spürte sie sich selbst nicht mehr.
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Es war zu spät, zu spät, Light wusste das. Er würde die Untaten nicht mehr ungeschehen machen können, aber konnte auch nicht länger zugucken. Hikaru würde sie töten. Diese kleinen Kinder, die keine Schuld kannten, die nur die schwere Trauer spürten, ihre Mutter verloren zu haben. "Ein paar Untersuchungen" hatte es geheißen, hatte Kikou gesagt in Übereinstimmung mit Hikaru und natürlich dürfte Light immer dabei sein, wenn er denn darauf bestand... aber es war so viel schrecklicher, so viel mehr als ein paar "Untersuchungen". Er hatte Hikaru zur Rede gestellt - ihren Brustkorb aufzuschneiden fiel gewiss nicht unter "ein paar Untersuchungen"! Sie hätten sterben können!
"Aber sie leben noch", antwortete Hikaru ihm sachlich, als er seine Schwester zur Rede stellte:
"Wir müssen vorbereitet sein, lieber Bruder. Wir müssen ihre Körper kennen, ansonsten können wir uns nicht gegen die Elementlosen verteidigen." Sie hatte ihn genervt angesehen, aber ihre Stimme klang genauso sanft wie immer, wenn sie mit ihm in ihren Gedanken sprach. Manchmal fragte Light sich, ob er sich ihre Stimme schönredete.
"Die Elementlosen könnten uns jederzeit angreifen." Hikaru blieb nicht stehen, ging weiter durch die hängenden Gärten Aeterniyas, als wäre ihr abendlicher Spaziergang durch die bunten Blumen wichtiger als jeglicher Disput mit ihrem Bruder.
"Das tun die Dämonen aber nicht. Das wollen sie gar nicht!" Es war nicht oft, dass Light seine Stimme erhob, weshalb Hikaru sich auch zu ihm herumwandte und ihn eingehend musterte, als sei er krank.
"Aber sie könnten es", begann sie im ruhigen Tonfall, sich wieder abwendend.
"Sie sind robuster als wir. Sie leben länger als wir. Sie sind stärker als wir... sie können unsere Körper mit bloßen Händen entzweireißen." Ihre weißen Augen fixierten ihn ein wenig anklagend:
"Einige der Wächter haben Angst vor ihnen, Light, kannst du das nicht verstehen?"
"Nein, das kann ich in der Tat nicht verstehen." Hikaru beobachtete einen blauen Schmetterling, der trotz der späten Abendstunde auf einer goldenen Blüte Platz nahm.
"Du würdest wohl die zweite Wange hinhalten, wenn sie dir die erste aufreißen." Sie schüttelte den Kopf, immer noch den Schmetterling ansehend, der seine Flügel sanft hob.
"Du bist genauso naiv wie unsere Mutter es war. Das besorgt und betrübt mich." Wütend und entschlossen wandte Light sich ab und verließ seine lächelnde Schwester, die ihm mit lächelnden Lippen, aber traurigen Augen hinterher sah.
"Warum bedeuten diese Kinder dir so viel, Light...? Es sind nicht deine." Hikaru blickte wieder zum Schmetterling, aber ihre Worte hörte Light dennoch deutlich, obwohl er sich entfernte.
"Sie werden niemals deine sein."
"Youma... Silence, ihr müsst aufwachen." Er war in ihr Kinderzimmer geeilt, wo die kleinen Kinder eng umschlungen geschlafen hatten, gekleidet in lavendelfarbene Nachtgewänder, die ihnen bis zum Knie gingen. Von Scheren und Skalpellen war nichts mehr zu sehen gewesen, als Light sie zu Abend gekleidet hatte. Kein Blut, keine Wunde, keine Narbe auf ihrer Kinderbrust und keine Erinnerung daran, was geschehen war. Silence schmiegte sich schlaftrunken an seine Brust, als er sie hochhob, während Youma sich grummelnd unter der Bettdecke versteckte.
"Es ist nicht... Morgen."
"Komm, Youma, es ist wichtig, dass du jetzt aufstehst." Silence gähnte und kuschelte sich wieder an Lights Brust, im Begriff wieder einzuschlafen, genau dort.
"Ich will niiiicht..." Youmas Proteste waren halbherzig, denn er war genauso müde und noch halb im Schlaf wie Silence, als Light auch ihn hochhob. Eigentlich waren die beiden Siebenjährigen zu schwer für den eher schmächtigen Hikari, aber die Entschlossenheit gab ihm genug Kraft, die beiden tragen zu können - und seine Schwingen kannten auch kein Gewicht. Als er vom Balkon in die Nacht hinaufstieg und die Wolken hinter sich ließ, genauso schnell wie ein Dämon es konnte, spürte er das Gewicht der schlafenden Kinder nicht mehr.
Zwei Stunden nach Lerenien-Sei... Light sah über die Schulter, an seinen goldenen Flügeln vorbei - und niemand verfolgte ihn. Er spürte keine Aura, die auf ihn fixiert war... eigenartig... Hikaru hätte doch wissen müssen, was er vorhatte...
Die beiden Kinder wogen zwar nichts, aber sie beschwerten Lights Herz dennoch. Du musst auf sie aufpassen, hatte Yami mit einem eisernen Griff um sein Handgelenk gesagt: Du musst auf sie achten und sie so lieben, wie sie es verdient haben, geliebt zu werden. Es war nicht Liebe, die sie in diese Welt brachte, aber Liebe sollen sie dennoch erfahren... es sind meine wunderbaren Sternenkinder, mit so viel Last auf ihren Schultern... bitte... Sie hatte geweint. Yami hatte er noch nie weinen gesehen... lass sie erwachsen werden, damit sie stark genug werden, um die Last tragen zu können.
Light festigte seinen Griff um die beiden Kinder, die er bereits so tief in sein Herz geschlossen hatte und flog noch schneller, schneller, als er jemals geflogen war. Lerenien-Seis leuchtende Türme taten sich unter ihm auf, die funkelnde, leuchtende Stadt, die zu jeder Uhrzeit von Leben erfüllt war, von Kunst und Musik und Tanz und vom Rausch der Freiheit. Er liebte die Stadt und ihre Bewohner und die Klänge der Musik, die unzähligen Gerüche, die zu ihm heraufbauschten, als der Engel zur Landung ansetzte, hießen ihn wie in jeder Nacht Willkommen, luden ihn zum Tanz ein, aber... heute nicht.
Luzifer und ich hätten es nicht tun dürfen. Wir hätten unsere Rollen nicht verkennen dürfen. Aber diese Kinder sind unschuldig. Sie verdienen es zu leben.
Sie verdienen es geliebt zu werden.
Light landete auf einem der Balkone des Schlosses, hinter dessen Glas orangenes Licht schimmerte. Sobald seine Füße den Boden berührten, verschwanden seine Flügel und das Gewicht der beiden kehrte wieder zurück. Ein Stöhnen entfloh Light, der seinen Griff ein weiteres Mal festigen musste und sich Mühe gab, nicht zusammenzusacken.
"Light?" Es war Astaroth, welcher auch erstaunt und etwas besorgt nun die gläserne Balkontür öffnete. Ein lauer Wind erfasste seine glatten, schwarzen Haare, die sich um seine senkrecht nach oben gehenden Hörner schlängelten, als wären sie Wasser.
"Zu dieser Stunde? Ich dachte, ihr Wächter wahrt die Nachtruhe und schlaft, wenn die Nacht hereinbricht?"
"Es ist wichtig." Astaroth trat zum Lichtgott und nahm ihm kurzerhand Silence ab, da er Light ansah, dass die Kinder ihm zu schwer wurden.
"Das muss es sein, wenn du hier so..." Seine gelben Augen betrachteten die schlafenden Kinder mit erstaunter Verwunderung und er war plötzlich so entzückt, dass er den Faden verlor.
"Ich habe auch überlegt, welche zu zeugen..." Gab er nachdenklich zu.
"... unser Gebieter mag keine biologischen Nachkommen, aber sie sind so niedlich. Es ist auch sehr interessant zu sehen, wo sie herstammen. Sie haben die Nase meines Bruders... und sie werden wahrscheinlich einmal auch seine feingliedrigen Finger haben." Er hob die Augenbraue:
"Sicherlich auch seine Schönheit."
"Yami war auch schön", stellte Light entschieden fest, obwohl das nun nicht das Thema war. Doch irgendwie... kaum, dass er Lerenien-Sei erreicht hatte und im Schloss angekommen war, fühlte er sich besser. Leichter. Sicherer. Er hatte plötzlich Hoffnung.
"Oh, gewiss", antwortete Astaroth desinteressiert und eher halbherzig. Sein Blick lag zu sehr auf Silence, dem kleinen Kind in seinem Arm, und Light musste schmunzeln. Er war ganz verzaubert von Silence, seiner, nun, Nichte. Was für ein erstaunlicher Anblick: Astaroth war von einer ernsten Natur und nicht viel konnte sein Gemüt bewegen, doch Silence in seinen Arm zu halten rührte den hohen Dämon offensichtlich sehr. Es tat Light leid, diesen Moment zu stören.
"Ich muss mit deinem Vater sprechen, Astaroth." Sofort verlor Silence sämtliche Aufmerksamkeit ihres Onkels und er sah Light bestürzt an.
"Das wagst du, Light? Nachdem du ihm das Herz gebrochen und ihm sämtliche Hoffnung geraubt hast?"
"Ich wollte ihm helfen. Ich wollte... seine Trauer nicht vergrößern, sondern lindern. Ich bedauere es doch auch... Ich konnte nicht wissen... ich hätte niemals geahnt, dass ich Luzifers Körper, aber nicht seine..." Light brach ab. Er konnte es nicht aussprechen. Nicht vor Luzifers Bruder. Es war schon schwer genug zu ertragen gewesen die Verzweiflung des Dämonenherrschers zu sehen, als Luzifer seine Augen nicht geöffnet hatte. In diesem Moment hatte Light geglaubt, dass die Trauer und die Verzweiflung des Dämonenherrschers sie alle in den Abgrund reißen könnte.
Astaroths ernste Augen blieben auf Light gerichtet, ehe er sich herumwandte und Silence auf sein Bett legte, wo er das Mädchen liebevoll zudeckte.
"Ich rate dir davon ab. Niemand sollte sich zum jetzigen Zeitpunkt unserem Gebieter nähern, niemand."
"Ich habe keine andere Wahl." Wieder fixierten die nachdenklichen, gelben Augen des Teufels ihn.
"Er trauert um den Untergang seines Morgensterns und erlaubt niemandem, ihn zu sehen. Alles um ihn herum verwandelt sich zu einer Grabkammer, er selbst ist der Tod..." Er schüttelte die seidigen, schwarzen Haare.
"Die Wunde ist zu frisch, Light. Warte noch zwei Vollmonde, dann kannst du darauf hoffen, ihn zu sprechen." Light antwortete nicht, doch seine Augen waren Antwort genug: Er konnte nicht warten. Astaroth verstand diese Gefühle und sah die beiden Kinder abwechselnd an: Silence, die in der Mitte seines Bettes lag und Youma, der immer noch auf Lights Arm saß und mit dem Kopf schlafend an seiner Brust ruhte.
"Gib ihn mir." Astaroth streckte die Arme nach seinem Neffen aus.
"Du solltest keinen der beiden mitnehmen, wenn du dich zu ihm wagst. Mit seinem gebrochenen Herzen ist mein Gebieter sehr gefährlich für jedes Wesen, welches sterblich ist, und wenn ich das richtig verstanden habe, sind die beiden es...?" Light wusste, dass Astaroth Recht hatte, denn er selbst hatte im Auge des schmerzenden Sturms gestanden und das unendliche Leid des Dämonenherrschers gespürt, mit jeder Faser seiner Selbst - ein Fluch, ein abgrundtiefer Fluch, der jeden ergreifen würde, der in Berührung mit ihm kam.
Dennoch schüttelte Light den Kopf.
"Youma hat Angst vor Fremden. Er ist ein sehr sensibles Kind... wenn er hier aufwachen würde, in einer fremden Umgebung, es würde ihn ängstigen." Astaroth hob die Augenbraue - beleidigt? - und er schien eben sagen zu wollen, dass das, wohin Light ihn bringen würde, ihn wirklich ängstigen würde, als Light ihm mit einem Lächeln zuvorkam, ein Lächeln, welches er auf Youmas schlafendem Gesicht ruhen ließ.
"Außerdem habe ich die Hoffnung, dass es deinem Gebieter vielleicht trösten wird, Youmas Gesicht zu sehen... Er sieht seinem Vater von den beiden am ähnlichsten. Vielleicht..." Light musste schlucken.
"... wird er dann verstehen, dass nicht alles von Luzifer gestorben ist."
Astaroth hatte ihm sagen wollen, dass es genau dieser Gedanke war, der ihn besorgte. Er wünschte sich auch eine schnelle Heilung seines Vaters: dass es irgendetwas in der Welt gab, das ihn trösten konnte, aber er glaubte nicht, dass es dieses Kind war. Dieses Kind hatte nicht die Macht, es zu tun. Dieses Kind... und Light... Astaroth streichelte Silence über den Kopf, sie würden die Trauer vergrößern.
"Light..." Ein leichtes Murmeln, ein Regen auf Lights Armen. Youma war im Begriff zu erwachen aus seinem Schlummer.
"... wo sind wir?" Seine schwarzen Augen hoben sich zur Decke, die über und über mit roten Kristallen überzogen war. Seine Augen funkelten vor Begeisterung. Ob er sich fragte, ob dies ein Traum war?
"In dem Zuhause einer Person, die deinem Vater sehr nahe stand." Youma war zu schlaftrunken, als dass es seine Skepsis weckte. Er schmiegte sich wieder an Lights Brust, leise atmend, doch die Augen behielt er geöffnet, was Light, nachdem er Astaroths Worte gehört hatte, etwas besorgte. Irrte er sich? War dies womöglich doch nicht ihre Hoffnung? Lights Füße trugen ihn weiter, trugen ihn durch die dunklen, leeren Korridore, die dem Engel kälter als sonst vorkamen. Eigentlich brannten hier doch Fackeln... eigentlich ließen die Fenster Mond- oder Sonnenlicht hinein, nun waren sie abgedunkelt, schwarz und die Halter für die Lichter waren kahl und leer. Er spürte keine Auren in der unmittelbaren Nähe... nur eine große, stumpfe Trauer, die, genau wie Astaroth es gesagt hatte, sich in den Stein des Schlosses fraß. Astaroth schien auch der einzige Teufel zu sein, der sich im Schloss befand... die anderen Teufel konnte Light nicht spüren. Wachte Astaroth über seinen Vater und die anderen waren hinfort geschickt worden? Light spürte kaum etwas anderes als Bedrückung, die wie eine schwere Luft das Atmen beschwerte.
"Wir sollten nicht hier sein", flüsterte Youma leise mit zitternder Stimme. Er konnte nicht mehr schlafen: Er hatte sich in Lights Armen versteift. Er fürchtete sich und Light wusste nur zu gut, dass er dies zu Recht tat.
"Hier ist etwas Gefährliches." Das war richtig, aber in ihrem eigentlichen Zuhause lauerte etwas, das weitaus gefährlicher war, dachte Light und streichelte Youma beruhigend über den Kopf.
Sie gelangten ans Ende eines langen Korridors, welcher in einer großen, schwarzen Flügeltür endete, die Lights Beunruhigung steigerte. Sie war eigentlich nicht schwarz. Es war eine imposante, aus Holz geschnitzte Flügeltür, die sonst eigentlich aussah wie ein gigantischer Baum, dessen Äste sich für den Gast öffneten. Die Äste passten sich der Jahreszeit an: im Sommer waren sie voller Blätter, im Winter beladen von Schnee, doch jetzt... waren da keine Knospen, keine roten Blätter. Die Äste waren tot. Der Baum verdorrt. Die Äste hingen leblos über der hölzernen Tür... und über dem Schloss, welches sie verriegelte. Light sah die Tür mit großen, traurigen Augen an.
"Es tut mir leid... es tut mir so leid..." Youma hob den Kopf und sah Lights leidendes Gesicht, aber er traute sich nicht zu fragen. Stattdessen glitt er langsam herunter und nahm seine Hand, die er fest drückte. Light öffnete die Augen und sah zu dem kleinen Kind herunter, welches ihn so mitfühlend ansah mit seinen großen, schwarzen Augen.
Lass sie erwachsen werden... gib ihnen ein Leben... lass sie geliebt werden.
Geliebt wurden sie schon. Aber um ihnen ein Leben zu geben... musste Light in die Halle des Todes eintreten.
Die Tür war verschlossen. Nicht durch einen Riegel, sondern mittels starker Magie, einer sehr großen Macht. Sie war von innen verschlossen. Aber als Light mit den Fingern über die Tür fuhr und die Magie unter seinen Fingern kribbeln spürte, spürte er auch, dass sie nicht verschlossen worden war, um von anderen nicht gestört zu werden... derjenige, der diese Magie gewirkt hatte, hatte andere vor sich beschützen wollen. Light spürte sein Herz schwer werden, als stecke ihn der tote Baum an: der namenlose Dämonenherrscher liebte auch seine anderen Kinder. Er wollte, dass sie sicher waren vor ihm.
Langsam erblühte der Baum wieder unter Lights liebenden Finger. Youmas Augen weiteten sich verblüfft als er sah, wie die Äste sich aufrichteten und Knospen zu wachsen begannen, genährt von Lights Hoffnung und seiner Magie, die dem Baum seine Kraft zurückgab. Youmas Augen zuckten alsbald erschrocken zusammen, als ein lautes Grollen zu hören war. Die Tür war entriegelt.
"Youma, vielleicht sollte ich lieber alleine..." Davon wollte der kleine Junge nichts hören. Er ließ Light nicht alleine in die Dunkelheit gehen, die hinter der Tür lag.
"Nein, ich gehe mit Light." Sie drückten die Finger des jeweils anderen und gingen in die Dunkelheit hinein.
Light wusste, wie der Saal eigentlich aussah, aber seine Augen konnten die Umrisse des imposanten Saals nicht ausmachen, welcher von sieben Säulen an der linken und sieben Säulen an der rechten Seite getragen wurde, die genau wie die Pforte aussahen wie Bäume. Der Saal wurde für viele Dinge benutzt: für das Sommerfest, für das Mondfest. Hier wurde getanzt, gegessen, gelacht und geliebt. Manchmal wurde auf dem großen Tisch in der Mitte aber auch Politik gemacht. Audienzen wurden hier ebenfalls abgehalten, wenn der namenlose Dämonenherrscher Lust darauf hatte, seine Rolle als Herrscher zu spielen und sich auf seinen hölzernen Thron setzte, der am Ende des Saales vor sieben großen Fenstern stand. Light konnte keine der Fenster ausmachen... die Säulen sah er nur schemen- und geisterhaft... auch sie waren verrottet und verdorrt. Und in der Mitte des Saals, wo eigentlich der Tisch stand... stand ein Sarg.
Light handelte sofort und sehr plötzlich, als er die gläserne Truhe als einen Sarg ausgemacht hatte - er packte Youma, hob den überrumpelten Jungen hoch und drückte sein Gesicht an seine Brust. Er sollte seinen Vater nicht sehen. Nicht so. Nicht tot. Ein kalter Schauer rann Light über den Rücken: Das hatte er nicht erwartet. Nicht nachdem... nachdem Light ihn so enttäuscht hatte. Aber das war unzweifelhaft Luzifers Leichnam. Die Finsternis verschleierte Lights Blick, doch die Düsternis war um den gläsernen Sag lichter und leichter zu durchbrechen, als schiene Mondlicht auf ihn herab. Seine Hörner glänzten im Licht, seine ewiggeschlossenen Augenlider waren genauso lang und zart wie als er noch geatmet hatte - natürlich, das wusste er, Light hatte ihn ja selbst zurückgeholt! Seelenlos und ohne Herzschlag, ohne Leben! Seinen Körper hatte er retten können, aber seine Seele... sie war tot und nichts konnte ihn jemals wieder zurückholen.
Youma hielt die Luft an und Light hoffte, ja, hoffte so sehr, dass er seinen Vater nicht gesehen hatte. Kein Kind sollte seine toten Eltern sehen. Keines. Youma sagte nichts, obwohl Light ihn so abrupt auf die Arme geholt hatte. Er versuchte auch nicht, sich loszureißen, als wisse er ganz genau, vor welchem Grauen Light ihn zu beschützen versuchte.
"Das... wagst... du..." Youma hielt die Luft an und auch Light tat es, als diese brüchige Stimme die Stille durchschnitt. Er saß, nein, hockte auf seinem Thron wie ein zusammengerollter Kater. Das eine seiner beiden roten Augen war auf Light gerichtet, stierte ihn vorwurfsvoll an und leuchtete deutlich aus der Dunkelheit hervor. Das andere Auge war von seinem Arm verdeckt, welchen er zusammen mit seinem Kopf auf die Lehne seines Throns gebettet hatte. Unkontrolliert hingen seine Haare und seine Kleidung von ihm herunter, fielen auf die Treppenstufen, die zum Sarg seines Geliebten führten und rührten sich genauso wenig wie der Rest des Körpers, der aussah wie eine Statue - wenn da nicht das eine rote Auge gewesen wäre, welches Light genau beobachtete, als dieser einen Schritt vorwärts ging.
Light öffnete den Mund:
"Aur-..."
"Schweig." Dieses eine Wort kam nicht von den Lippen des Dämonenherrschers, sondern vom Raum an sich. Von überall her kam diese raue, aber deutlich befehlende Stimme.
"Es gab nur einen, der meinen Namen auf den Lippen tragen durfte und derjenige..." Der namenlose Dämonenherrscher verschwand von seinem Thron und lag plötzlich mit dem Gesicht auf dem gläsernen Sarg, über dessen Oberfläche er streichelte, als hätte er das schon die ganze Zeit getan und als er fortfuhr, kam seine Stimme auch gebrochen und wispernd von seinen eigenen Lippen.
"... liegt hier. Er wird meinen Namen niemals wieder sagen können... also habe ich keinen Namen mehr." Light wollte ihm antworten, aber da verschwand der trauernde Dämonenherrscher ein weiteres Mal und tauchte plötzlich vor Light auf: vor ihm auf dem Boden, auf den Knien und wilde Tränen flossen von seinem Gesicht herunter, als er Lights Gewand packte.
"Sag mir, warum ich so dumm war, mir ein Herz zu geben! Sag mir, warum ich eine fleischliche Hülle annehmen musste! Wie konnte ich so dumm sein und lieben! Ich bin kein Wesen, das lieben sollte! Ich bin keines, welches atmen sollte! Mit dem Atmen kommt Schmerz! Oh, diese Trauer! Ich kann nicht leben!" Er zog und zerrte an Lights hellem Gewand, starrte Light an, an Youma vorbei, den er überhaupt nicht sehen konnte und welchen Light so fest an sich drückte, dass es ihm sicherlich wehtat.
"Sag mir, wie man diese Trauer überleben kann, du gnadenloser Engel!"
"Ich bin nicht gnadenlos! Im Gegenteil, ich komme, um dich zu trösten..." Das war gelogen - aber nur halb - und als könnte der trauernde Gott das spüren, verschwand er auch wieder, kehrte zu Luzifer zurück, wo er sein Gesicht an die Glasscheibe presste und leidend seinen Namen schrie:
"Luzifer! Mein Morgenstern!" Sein Schrei ließ die Halle erbeben und mit ihm Light und Youma.
"Lebe wieder! Öffne deine schönen Augen für mich! Ohne dich ist die Welt nur karg, mein Herz ein Stein! Lebe! Oh bitte, BITTE lebe! Mein Mond! Meine Sterne! Mein Luzifer! LEBE!" Er öffnete seine roten Augen und sah hinunter auf das tote Gesicht seines Geliebten. Tränen flossen und flossen; ein nie versiegender Strom der Trauer, der niemals enden würde.
"Warum bin ich ein Gott, wenn ich dich nicht wieder zu mir zurückbringen kann!? Wozu diese Macht, WOZU!?" Er schlug auf das Glas und Light war überrascht, dass es nicht unter seiner Trauer zusammenbrach.
"Was nützt mir alle Göttlichkeit!?" Er verschluckte sich an seinen eigenen Worten, an seinen eigenen Tränen.
"Wozu habe ich es gewählt, zu leben..."
"Um zu lieben." Lights Stimme erfüllte trotz seines zaghaften Flüsterns die Grabstätte und die Tränen versiegten, da der Dämonenherrscher Lights Flüstern lauschte.
"Um deine Kinder zu lieben und von ihnen geliebt zu werden. Von Luzifer... und von denen, die du noch hast. Sie machen sich alle große Sorgen um dich." Genauso zaghaft wie Lights Stimme waren auch seine Schritte, mit denen er sich vorsichtig dem trauernden Dämonenherrscher näherte, von welchem er sich wünschte, dass er wieder auf seinem Thron auftauchen würde, aber er blieb liegen, Light wie zuvor mit seinen rot leuchtenden Augen beobachtend. Aber da irrte Light sich: Der Dämonenherrscher sah nun nicht mehr Light an.
Er sah nun Youma.
"Wenn du keine fleischliche Hülle angenommen hättest, hätte Luzifer dich nie in die Arme schließen können." Der Namenlose atmete nun so ruhig, dass Light sich traute, ihm Youma zu zeigen. In seiner Güte und seinem hoffenden Glauben an Liebe glaubte er daran, dass Youmas unschuldige Kinderaugen, die Luzifers waren, den Schmerz des Namenlosen lindern würden.
Er löste die Hände von Youmas Kopf, welcher, das Zeichen verstehend, auch den Kopf drehte und etwas eingeschüchtert auf den Dämonenherrscher heruntersah, der seinen Blick mit verweinten Augen kurz erwiderte - ehe er verschwand und wieder auf seinem Thron auftauchte, ehe Light etwas sagen konnte. Auf seinem Gesicht waren keine Tränen mehr zu sagen.
"Warum bist du hier?" Light ließ Youma auf seinem Arm sitzen und trat vor, an dem Sarg vorbei, vor welchen Light ihn abschirmte.
"Du bist nicht hier, um mir Trost zu spenden, du Heuchler." Light sah fest in die roten Augen des Namenlosen und versuchte, sich nicht von dem drohenden Unterton in seiner Stimme beeindrucken zu lassen.
"Offenkundig bist du hier um mich zu erzürnen, was sehr gewagt ist."
"Ich bin gewiss nicht hier, um deine Wut zu schüren. Du weißt, dass ich alles getan habe, um dein Leid zu lindern. Ich habe Mitgefühl! Großes Mitgefühl und es plagt mich zutiefst, dass ich dieses Unglück nicht ungeschehen machen kann."
"Und doch lebt sie", zischte der namenlose Dämonenherrscher aus fletschenden Zähnen, die schärfer waren als die eines Raubtiers.
"Diejenige, die Luzifers Seele getötet hat.... sie lebt. Wenn du mir einen Trost hättest geben wollen, dann hättest du mir den Kopf deiner Schwester gebracht, anstatt dieses..." Er gestikulierte in die Richtung von Youma und verlor die Worte.
"Ich kann Hikaru nicht töten", antwortete Light heiser und sichtlich von Entsetzen erfüllt.
"Sie ist meine Schwester. Meine Familie. Wir gehören demselben Element an. Das... geht nicht, das ist unmöglich... ich..."
"Verschwinde, geh mir aus den Augen. Ich kann dein gutes Herz nicht ertragen." Es war eine eindeutige Aufforderung und es hing deutlich in der Luft, dass Light diesem Befehl lieber Folge leisten sollte, aber er tat es nicht. Stattdessen legte er seine Hände über Youmas Ohren und sorgte mit Magie dafür, dass dieser keines von ihren Worten mehr hören konnte.
"Das kann ich nicht. Ich muss dir mein Anliegen vortragen. Ich weiß, dass du dich in großer Trauer befindest, doch um Luzifers Willen bitte ich dich darum, mich anzuhören." Eine Falte pochte oberhalb des linken roten Auges, aber er unterbrach ihn nicht.
"Ich erbitte Schutz für Youma und seine Schwester. Sie sind in unserem Reich nicht sicher. Sie sind nicht sicher vor Hikaru." Der namenlose Dämonenherrscher schnalzte mit der Zunge: das war seine einzige Antwort.
"Lass sie hier leben. Hier in deinem Reich, wo sie sicher sind."
"Ich kann hören, dass dein Herz bei diesen Worten bricht. Warum tust du dir das an?", fragte der Dämonenherrscher, doch er klang dabei sehr desinteressiert.
"Weil ich sie liebe. Deswegen bricht mein Herz bei dem Gedanken nicht bei ihnen sein zu können, wenn sie weinen. Wenn sie aufwachen und wenn sie ins Bett gehen... aber lieber das... als wenn sie sterben. Wenn du es erlaubst werde ich sie besuchen, so oft es geht."
"Das erlaube ich aber nicht." Der namenlose Dämonenherrscher sah an Lights verwirrtem Gesicht vorbei und sah in Youmas verängstigtes Gesicht. Er sah seinen Schmerz, seine Verunsicherung. Astaroth fand also, dass dieses Ding Luzifers Nase hatte, seine Finger, seine Augen... widerlich... niemand "hatte etwas" von Luzifer... niemand konnte etwas von ihm nehmen... niemand es kopieren... widerlich... abartig...
"Du weißt sehr wenig von der Liebe und von dem Verlangen, wenn du glaubst, dass ich deine Bitte erfülle, kleines Lichtlein." Seine Stimme klang wie ein kalter, eisiger Speer und augenblicklich wurde es noch kälter im Raum.
"Luzifer hat diese... Wesen in einem Anflug von großer Trauer gezeugt, die ich nicht zu stillen vermochte. Mit einer Frau. Er hat diese Frau dafür lieben müssen. Nicht so wie er mich liebte, aber er musste sie in die Arme schließen. Ihre Körper mussten sich dafür vereinen, damit das da entstehen konnte. Er musste sie ansehen, sie halten, sie küssen, sie LIEBEN! UND DU GLAUBST ICH GEWÄHRE DIESEN DINGERN SCHUTZ?!"
In diesem Moment geschahen mehrere Dinge zum ersten Mal.
Zum ersten Mal zeigte der Dämonenherrscher sein wahres Antlitz einem anderen atmenden Wesen. Er war grösser als jeder Wächter und jeden Dämon, den Light je gesehen hatte; eine gigantische, schwarze Schattengestalt mit schwarzen Flügeln, die aus Leder zu bestehen schien. Seine Augen waren glühende Kohlen, das Feuer selbst.
DU SOLLTEST LIEBER MICH FÜRCHTEN ALS DEINE SCHWESTER
Und zum ersten Mal spürte Light Todesangst. Richtige, echte Todesangst, obwohl er ein unsterbliches Wesen war. In diesem Moment, als die großen, brennenden Augen des einzig wahren Dämonengottes seine trafen, hatte er Angst um seine fleischliche Hülle und um sein Glöckchen. Diese Augen konnten ihn verbrennen. Ihn und alle anderen.
Die Angst vor dieser Schreckensgestalt nahm ihn vollkommen in Besitz, ebenso wie die plötzliche Hitze, die ihn und Youma zu versengen drohte - doch mit der Angst und der Gefahr brach auch ein anderer Gedanke empor: er musste Youma beschützen.
Es waren nicht Lights Beine, die sich wieder bewegen konnten, noch waren es seine Arme - es waren seine Flügel. Sie reagierten auf Lights Wunsch Youma zu beschützen und schossen, schneller, als jemals zuvor, aus dem Rücken des Engels empor, um sich schützend vor Youma zu legen, dessen Gesicht dieselbe Panik zeigte wie Lights. Doch die Flügel waren kaum verharrt, da packten die Klauen der Schreckensgestalt den rechten, sich vor Youma befindenden Flügel und rissen diesen mit nur einer Hand beiseite.
Light unterdrückte ein Aufschrei. Seine goldenen Federn brannten dort, wo sie berührt worden waren und der rechte Flügel fühlte sich an, als würde er abbrechen. So viel Kraft! So viel Hass, der Youma und Light schier in Brand steckte! Lights Augen begannen zu tränen; seine Flügel und seine Beine zu zittern und trotzdem konnte er seine erstarrten Augen nicht von ihm abwenden. Von der Schreckensgestalt: von ihm, dem Dämonenherrscher, den er nie als eine Gefahr angesehen hatte, über den er sich oft geärgert hatte, mit dem er aber genauso oft gelacht hatte.
Hatte... hatte Hikaru etwa Recht?
Waren die Dämonen eine Gefahr? Eine Gefahr, die Light nicht hatte sehen wollen?
Hatte sie ihn deswegen nicht aufgehalten...?
Sofort schämte er sich für den Gedanken, doch wie als sollten seine Gedanken bestätigt werden, wurden seine Federn ein weiteres Mal der Versengung ausgesetzt, als sie gepackt wurden. Light wollte den Mund öffnen. Den Namen des Dämonenherrschers rufen, in der Hoffnung, dass dies ihn beruhigen würde, ihn daran erinnern würde, dass er nicht das hier war, aber Light glaubte nicht, dass er etwas hören konnte.
"N-N-N-Nicht... B-Bitte..." Es war nicht Light, der dies flehte. Es war Youma. Seine kleine, zitternde Kinderstimme durchbrach die brennende Stille und das Kind traute sich dem Dämonengott in die Augen zu sehen, obwohl seine eigenen schier zu schmelzen schienen. Dampf stieg von Lights schmelzenden Federn empor, aber die Schreckensgestalt tat nichts anderes als Yoma mit seinen brennenden Augen anzusehen. Konnte er ihn... hören?
"...i-i-ich hab---- Light----Light--- so lieb----b-b-bitte ni-icht!" --- oder waren es die Tränen, die aus Youmas Augen quollen, die ihn zum Innehalten brachten?
Light fiel mit Youma auf die Knie, als der Gott der Dämonen sich abrupt von ihnen abwandte. Mit jedem Schritt, den er sich von ihnen entfernte, veränderte sich sein Aussehen wieder und der Raum wurde kühl wie eine Grabstätte. Der Dämonenherrscher wurde wieder kleiner, schmolz auf seine normale Größe zurück und die 14 Hörner, die Light erst jetzt vollends sah, verschwanden, die eben noch auf seinem Kopf zu sehen gewesen waren - sieben auf jeder Seite. Er hatte auch keine schwarzen Flügel mehr; er faltete sie und zurück blieben nur noch seine langen Haare und seine wallende Kleidung, die er schwerfällig über den Boden schleifte, bis er an Luzifers Sarg stehen blieb, auf den er eine Hand legte und mit gekrümmtem Rücken etwas wie wild flüsterte - viel - was weder Light noch Youma verstanden.
Light hatte aber noch nicht aufgegeben. Er hoffte... immer noch. Nein, wieder. Der namenlose Dämonenherrscher hatte auf Youma reagiert. Etwas an ihm hatte ihn erweicht.
"Hikaru missbraucht sie für Forschungszwecke. Sie forscht an ihnen wie Dämonen zu töten sind!"
"Aha." Erst da brach etwas in Light.
"Die Puppe bereitet also einen Krieg vor." Seine Stimme war rau und langsam; sie klang, als wäre er gealtert.
"Den kann sie haben." Liebevoll streichelte seine Hand über das Glas des Sarges.
"Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?" Der namenlose Dämonenherrscher wandte den Kopf zum bebenden Light, welcher sich aufgerichtet hatte.
"Oh, ich finde, ich habe genug ... gesagt... Nimm die beiden mit in dein Reich. Du bist ihr Vater, nicht wahr? Dann ist das, was mit ihnen geschieht, wohl auch deine Verantwortung."
"Luzifer wollte keinen Krieg!", rief Light voll Zorn und Verzweiflung.
"Er hat diese Welt geliebt! Und seine Kinder! Wie kannst du seinem Herzen so zuwiderhandeln!?"
"LUZIFER IST TOT!", schrie der namenlose Dämonenherrscher sich nun völlig herumdrehend.
"Und ihr werdet alle meinen Zorn und meine Trauer zu spüren bekommen! Hikaru will einen Krieg!? HA! Den kann sie haben! Ihr werdet ihn bekommen! Es wird ein ewiger, brennender Krieg, der für immer von dem Leid zeugen wird, welches uns angetan wurde! Und jetzt verschwinde, Light! Verschwinde, bevor ich dich auch noch töte, so wie deine Schwester mein Licht getötet hat! Verschwinde und wage es nie wieder, mit diesen Kindern mein Reich zu betreten, wenn du nicht willst, dass ihre Herzen herausgerissen werden! GEH!" Das Glas der schwarzen Fenster sprang und schoss wie explodiert durch den Raum, welcher Light und Youma hinausschleuderte. Die große Doppeltür schlug zu, versperrte sich und in der Halle ging der Dämonengott mit einem heiseren Schrei auf den Boden.
...Wie kannst du seinem Herzen so zuwiderhandeln!?
"Ich weiß... Ha... ja, als ob ich das nicht wüsste... ha...ha..."
......................................... aber jetzt gab es nur noch einen Weg.
Den Weg des Feuers.
Den Weg des Hasses.
Den Weg des Blutes.
"Ich sehe, deine Reise ins Reich der Dämonen war sehr ereignisreich, lieber Bruder." Light antwortete ihr nicht. Er stand am Fenster, wo der Morgen graute und starrte ins Licht der aufgehenden Sonne mit einem ausdruckslosen Gesicht aus Stein.
"Ich bin so froh, dass du wieder da bist..." Sie legte ihre Arme von hinten um ihn, schlang sie fest und drückte ihr Gesicht in seinen Rücken. Er regte sich nicht.
"... ich habe gesehen, wie du deine Flügel ausgebreitet hast... so schön... Hattest du vorgehabt, mit ihnen auch noch in den kalten Norden zu fliegen, wo weder Wächter noch Dämon leben kann? Keine Sorge... ich hätte dich schon abgeholt." Sie strich ihm über die Brust und ihre Fingerspitzen berührten sein kaltes Glöckchen.
"... ich hätte dich überall gefunden. Wir gehören doch zusammen. Bruder und Schwester. Eine Familie. Ein Element. Die heilige Familie ist doch unantastbar."
Light hörte Hikaru gar nicht zu. Er spürte immer noch seine Tränen auf seinem Gesicht, als er Silence und Youma in die Arme geschlossen hatte, ehe er ihre Erinnerungen gelöscht hatte.
Ich kann euch nicht retten.
Ich kann nur mit euch zusammen leiden.
Jedes Mal, wenn ihr sterbt, werde ich sterben, wenn ich euch wieder zurückhole.
Ich werde eure Trauer schultern.
Euer Leid in meinem Herzen verschließen und euch so viele Glücksmomente geben wie ich kann.
Ich werde euch lieben bis zum allerletzten Tag der Zeit.
Da war nichts mehr. Keine einzige Farbe, kein Wirbel, kein Strom, der Green erfassen oder ihr etwas hätte zeigen können. Sie schwebte im hellen Nichts und als sie ihre Stimme erhob, um wieder nach Light zu rufen, folgte keine Antwort. Nur die Gewissheit, dass ihre Stimme zitterte... dass sie Angst hatte. Was war geschehen? Was hatte sie da gerade gesehen? Etwa... Luzifers Tod? Da war helles, nein, grelles Licht gewesen, so grell, dass es selbst Green in den Augen gestochen hatte - ein helleres, kälteres Licht hatte sie noch nie gesehen, noch nie... gespürt... Moment, gespürt?
Green war verwirrt. Und panisch. Etwas war nicht richtig, nicht so wie es sein sollte. Hatte sie das sehen sollen? Luzifers Tod? Nein, Moment, er... er konnte doch da noch gar nicht gestorben sein, denn zu der Zeit waren Silence und Youma noch gar nicht gezeugt... Aber was war das gewesen? Eine Erinnerung, ja, aber... sie hatte sich anders angefühlt... klarer... kälter... naher... Ihre Brust schmerzte immer noch und sie wollte ihr Glöckchen nehmen, aber es war nicht da.
"Light, bitte, wo..." Green verstummte sofort, als sie jemanden flackernd vor sich sah. Weit, weit weg im Licht stehend. Eine weiße Person, genauso weiß wie Light, aber viel kleiner... Green kniff die Augen zusammen.
"Ince...res?"
"Das ist nicht möglich." Ein Schrecken jagte ihr durch das gesamte Sein, als sie plötzlich Lights Stimme hinter sich hörte und tatsächlich sah sie ihn auch weit, weit weg von sich stehen - aber trotz des Abstands hörte sie seine Stimme dennoch deutlich. Eine Stimme, die hart war. Da lag keine Freundlichkeit mehr in ihr, keine Wärme. Sie war aus Stein, eiskaltem Stein:
"Ich habe alle Zeit, die mir gegeben wurde, dafür aufgebracht, alle Fragmente zusammenzusammeln, um endlich Klarheit über die Geschehnisse zu erlangen. Um es zu verstehen." Er pausierte und Green hielt die Luft an. Seine Stimme... machte ihr Angst.
"Ich habe die Seelen der Elemente durchforstet, Dämonenherzen... selbst das des Dämonenherrschers... Doch Hikaru..." Eine abrupte, angewiderte Bewegung, die Green zusammenzucken ließ, erbebte kurz in Lights Körper.
"... auf ihre Erinnerungen hatte ich niemals Zugriff, obwohl wir dieselbe Mutter haben, dasselbe Element." Ohne dass Green gesehen hatte, wie er sich bewegte, stand Light plötzlich vor ihr. Seine großen Augen sahen sie verwirrt und versteinert - und bedrohlich - an.
"Warum haben wir dies eben sehen können..." Seine Stirn runzelte sich, aber seine starren Augen blieben auf Green, durchbohrten sie. Zitterte sie? Sie glaubte es, aber sie war so starr vor Schreck, sie konnte es nicht spüren. Niemals hatte sie gedacht, dass Light, dessen Augen sie nur als gütig und warm und traurig kannte, so beängstigend sein konnte.
"... "Green"?" Er lehnte sich zurück und sah verurteilend auf sie herab, leicht über dem Boden schwebend wie ein richtender Engel, doch seine Flügel waren nicht ausgebreitet. Sein verurteilender, harter Blick ließ Green an Shaginai denken - aber es war lange her, dass sie vor ihm Angst gehabt hatte.
"Ich..." Sie verlor ihre Stimme; sie konnte sie kaum benutzen.
"... möchte mehr sehen, ich möchte verstehen, ich..." Lights Augen verengten sich.
"... ich habe nichts Falsches getan!" Warum sagte sie das? Seine Augen brachten sie dazu. Sie schürten das Gefühl von Schuld in ihr, pflanzten es in ihr Inneres und schnürten sie zu.
""Verstehen"..." Noch einmal musste Green schlucken - seine Stimme klang so... säuerlich. Angewidert.
"... Licht der Hoffnung?" Ihren Namen, beziehungsweise ihren Titel zu hören, gab Green Entschlossenheit zurück und sie nahm einen Schritt vorwärts, auf Light zu, welcher jedoch sofort rückwärtsging, um den Abstand zu wahren.
"Ja, ich will verstehen." Ihre Stimme überschlug sich, denn sie hatte Angst, nicht mehr viel Zeit zu haben, nicht mehr viel Zeit mit Light und sie hatte noch ein Versprechen einzulösen.
"Ich will verstehen, warum Silence weint!" Den Namen seiner Tochter zu hören erweichte Lights Blick, aber er blieb dennoch hart, auch wenn er kurz wankte - aber nicht vor Schmerz, sondern eher vor Verwunderung.
"Ich will wissen, was damals wirklich passiert ist. Die schrecklichen Versuche an den beiden..." Bildete Green sich das nur ein oder wurde das gleißende Licht um sie herum... dunkler? Flackerte es, genau wie Lights Blick flackerte?
"... warum die geschehen mussten. Warum die beiden so... leiden mussten." Und warum Light es zugelassen hatte, doch er sprach plötzlich, ehe Green diese Frage aussprechen konnte. Seine Stimme klang jedoch nicht mehr wie die seine, als wären die Worte nicht von ihm ausgesucht:
"Es war Kriegsvorbereitung. Die Teufel waren schwerer zu töten als ihre Nachkommen. Das Ziel der Forschung war alle Wege zu finden, wie man Dämonen und Teufel töten konnte." Green schnürte es die Kehle zu, doch ihre Stirn wölbte sich verwundert: Verwundert über Lights Stimme, über die Worte. Sie klangen wie... ein Zitat. Oder ein Buch, aus dem er vorlas.
"Deswegen mussten Silence und Youma so oft sterben", tastete Green sich langsam vor.
"Deswegen mussten Silence und Youma so oft sterben", wiederholte Light mit einem tonlosen Flüstern.
"Und du hast sie immer wieder belebt?"
"Das habe ich." Green schluckte und zögerte die Worte hinaus.
"112 Mal ...?" Light zögerte nicht.
"112 Mal."
"Aber du wolltest doch nie einen Krieg." Light antwortete nicht.
"Und du... liebst doch deine Kinder." Immer noch sagte Light nichts.
"Das habe ich gesehen. Das habe ich in den Erinnerungen von Silence gesehen, die sie mir gezeigt hat. Silence glaubt dir auch immer noch. Sie vertraut dir, auch wenn sie die Wahrheit von Youma erfahren hat und weiß, dass sie... oft gestorben sind."
"Sie sollte mich lieber hassen so wie Youma es tut." Ein zerstörtes Lächeln zog über Lights Gesicht und offenbarte einen abgrundtiefen Schmerz, der das Licht verschluckte und die Dunkelheit über die "Welt" brachte, in der Green sich mit dem leidenden Engel befand. Sie sah ihn nur noch kurz, das Gesicht, wo nun kein Lächeln mehr zu sehen war, sondern ein stummer Schrei und dann war auch er weg, von seinem eigenen Schmerz verschlungen. Green hatte das Gefühl, dass sie fallen würde - sie schrie, schrie lauter, aber sie konnte ihre eigene Stimme nicht hören. War es das schon? War es aus? Hatte sie ihre Chance vertan und dem Licht nur große Schmerzen zugefügt? Sie spürte es - sie spürte seinen Schmerz, sein Leid, seine äonenalte Schuld, für die er nie würde sühnen können.
Und dann spürte sie sich selbst nicht mehr.
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Es war zu spät, zu spät, Light wusste das. Er würde die Untaten nicht mehr ungeschehen machen können, aber konnte auch nicht länger zugucken. Hikaru würde sie töten. Diese kleinen Kinder, die keine Schuld kannten, die nur die schwere Trauer spürten, ihre Mutter verloren zu haben. "Ein paar Untersuchungen" hatte es geheißen, hatte Kikou gesagt in Übereinstimmung mit Hikaru und natürlich dürfte Light immer dabei sein, wenn er denn darauf bestand... aber es war so viel schrecklicher, so viel mehr als ein paar "Untersuchungen". Er hatte Hikaru zur Rede gestellt - ihren Brustkorb aufzuschneiden fiel gewiss nicht unter "ein paar Untersuchungen"! Sie hätten sterben können!
"Aber sie leben noch", antwortete Hikaru ihm sachlich, als er seine Schwester zur Rede stellte:
"Wir müssen vorbereitet sein, lieber Bruder. Wir müssen ihre Körper kennen, ansonsten können wir uns nicht gegen die Elementlosen verteidigen." Sie hatte ihn genervt angesehen, aber ihre Stimme klang genauso sanft wie immer, wenn sie mit ihm in ihren Gedanken sprach. Manchmal fragte Light sich, ob er sich ihre Stimme schönredete.
"Die Elementlosen könnten uns jederzeit angreifen." Hikaru blieb nicht stehen, ging weiter durch die hängenden Gärten Aeterniyas, als wäre ihr abendlicher Spaziergang durch die bunten Blumen wichtiger als jeglicher Disput mit ihrem Bruder.
"Das tun die Dämonen aber nicht. Das wollen sie gar nicht!" Es war nicht oft, dass Light seine Stimme erhob, weshalb Hikaru sich auch zu ihm herumwandte und ihn eingehend musterte, als sei er krank.
"Aber sie könnten es", begann sie im ruhigen Tonfall, sich wieder abwendend.
"Sie sind robuster als wir. Sie leben länger als wir. Sie sind stärker als wir... sie können unsere Körper mit bloßen Händen entzweireißen." Ihre weißen Augen fixierten ihn ein wenig anklagend:
"Einige der Wächter haben Angst vor ihnen, Light, kannst du das nicht verstehen?"
"Nein, das kann ich in der Tat nicht verstehen." Hikaru beobachtete einen blauen Schmetterling, der trotz der späten Abendstunde auf einer goldenen Blüte Platz nahm.
"Du würdest wohl die zweite Wange hinhalten, wenn sie dir die erste aufreißen." Sie schüttelte den Kopf, immer noch den Schmetterling ansehend, der seine Flügel sanft hob.
"Du bist genauso naiv wie unsere Mutter es war. Das besorgt und betrübt mich." Wütend und entschlossen wandte Light sich ab und verließ seine lächelnde Schwester, die ihm mit lächelnden Lippen, aber traurigen Augen hinterher sah.
"Warum bedeuten diese Kinder dir so viel, Light...? Es sind nicht deine." Hikaru blickte wieder zum Schmetterling, aber ihre Worte hörte Light dennoch deutlich, obwohl er sich entfernte.
"Sie werden niemals deine sein."
"Youma... Silence, ihr müsst aufwachen." Er war in ihr Kinderzimmer geeilt, wo die kleinen Kinder eng umschlungen geschlafen hatten, gekleidet in lavendelfarbene Nachtgewänder, die ihnen bis zum Knie gingen. Von Scheren und Skalpellen war nichts mehr zu sehen gewesen, als Light sie zu Abend gekleidet hatte. Kein Blut, keine Wunde, keine Narbe auf ihrer Kinderbrust und keine Erinnerung daran, was geschehen war. Silence schmiegte sich schlaftrunken an seine Brust, als er sie hochhob, während Youma sich grummelnd unter der Bettdecke versteckte.
"Es ist nicht... Morgen."
"Komm, Youma, es ist wichtig, dass du jetzt aufstehst." Silence gähnte und kuschelte sich wieder an Lights Brust, im Begriff wieder einzuschlafen, genau dort.
"Ich will niiiicht..." Youmas Proteste waren halbherzig, denn er war genauso müde und noch halb im Schlaf wie Silence, als Light auch ihn hochhob. Eigentlich waren die beiden Siebenjährigen zu schwer für den eher schmächtigen Hikari, aber die Entschlossenheit gab ihm genug Kraft, die beiden tragen zu können - und seine Schwingen kannten auch kein Gewicht. Als er vom Balkon in die Nacht hinaufstieg und die Wolken hinter sich ließ, genauso schnell wie ein Dämon es konnte, spürte er das Gewicht der schlafenden Kinder nicht mehr.
Zwei Stunden nach Lerenien-Sei... Light sah über die Schulter, an seinen goldenen Flügeln vorbei - und niemand verfolgte ihn. Er spürte keine Aura, die auf ihn fixiert war... eigenartig... Hikaru hätte doch wissen müssen, was er vorhatte...
Die beiden Kinder wogen zwar nichts, aber sie beschwerten Lights Herz dennoch. Du musst auf sie aufpassen, hatte Yami mit einem eisernen Griff um sein Handgelenk gesagt: Du musst auf sie achten und sie so lieben, wie sie es verdient haben, geliebt zu werden. Es war nicht Liebe, die sie in diese Welt brachte, aber Liebe sollen sie dennoch erfahren... es sind meine wunderbaren Sternenkinder, mit so viel Last auf ihren Schultern... bitte... Sie hatte geweint. Yami hatte er noch nie weinen gesehen... lass sie erwachsen werden, damit sie stark genug werden, um die Last tragen zu können.
Light festigte seinen Griff um die beiden Kinder, die er bereits so tief in sein Herz geschlossen hatte und flog noch schneller, schneller, als er jemals geflogen war. Lerenien-Seis leuchtende Türme taten sich unter ihm auf, die funkelnde, leuchtende Stadt, die zu jeder Uhrzeit von Leben erfüllt war, von Kunst und Musik und Tanz und vom Rausch der Freiheit. Er liebte die Stadt und ihre Bewohner und die Klänge der Musik, die unzähligen Gerüche, die zu ihm heraufbauschten, als der Engel zur Landung ansetzte, hießen ihn wie in jeder Nacht Willkommen, luden ihn zum Tanz ein, aber... heute nicht.
Luzifer und ich hätten es nicht tun dürfen. Wir hätten unsere Rollen nicht verkennen dürfen. Aber diese Kinder sind unschuldig. Sie verdienen es zu leben.
Sie verdienen es geliebt zu werden.
Light landete auf einem der Balkone des Schlosses, hinter dessen Glas orangenes Licht schimmerte. Sobald seine Füße den Boden berührten, verschwanden seine Flügel und das Gewicht der beiden kehrte wieder zurück. Ein Stöhnen entfloh Light, der seinen Griff ein weiteres Mal festigen musste und sich Mühe gab, nicht zusammenzusacken.
"Light?" Es war Astaroth, welcher auch erstaunt und etwas besorgt nun die gläserne Balkontür öffnete. Ein lauer Wind erfasste seine glatten, schwarzen Haare, die sich um seine senkrecht nach oben gehenden Hörner schlängelten, als wären sie Wasser.
"Zu dieser Stunde? Ich dachte, ihr Wächter wahrt die Nachtruhe und schlaft, wenn die Nacht hereinbricht?"
"Es ist wichtig." Astaroth trat zum Lichtgott und nahm ihm kurzerhand Silence ab, da er Light ansah, dass die Kinder ihm zu schwer wurden.
"Das muss es sein, wenn du hier so..." Seine gelben Augen betrachteten die schlafenden Kinder mit erstaunter Verwunderung und er war plötzlich so entzückt, dass er den Faden verlor.
"Ich habe auch überlegt, welche zu zeugen..." Gab er nachdenklich zu.
"... unser Gebieter mag keine biologischen Nachkommen, aber sie sind so niedlich. Es ist auch sehr interessant zu sehen, wo sie herstammen. Sie haben die Nase meines Bruders... und sie werden wahrscheinlich einmal auch seine feingliedrigen Finger haben." Er hob die Augenbraue:
"Sicherlich auch seine Schönheit."
"Yami war auch schön", stellte Light entschieden fest, obwohl das nun nicht das Thema war. Doch irgendwie... kaum, dass er Lerenien-Sei erreicht hatte und im Schloss angekommen war, fühlte er sich besser. Leichter. Sicherer. Er hatte plötzlich Hoffnung.
"Oh, gewiss", antwortete Astaroth desinteressiert und eher halbherzig. Sein Blick lag zu sehr auf Silence, dem kleinen Kind in seinem Arm, und Light musste schmunzeln. Er war ganz verzaubert von Silence, seiner, nun, Nichte. Was für ein erstaunlicher Anblick: Astaroth war von einer ernsten Natur und nicht viel konnte sein Gemüt bewegen, doch Silence in seinen Arm zu halten rührte den hohen Dämon offensichtlich sehr. Es tat Light leid, diesen Moment zu stören.
"Ich muss mit deinem Vater sprechen, Astaroth." Sofort verlor Silence sämtliche Aufmerksamkeit ihres Onkels und er sah Light bestürzt an.
"Das wagst du, Light? Nachdem du ihm das Herz gebrochen und ihm sämtliche Hoffnung geraubt hast?"
"Ich wollte ihm helfen. Ich wollte... seine Trauer nicht vergrößern, sondern lindern. Ich bedauere es doch auch... Ich konnte nicht wissen... ich hätte niemals geahnt, dass ich Luzifers Körper, aber nicht seine..." Light brach ab. Er konnte es nicht aussprechen. Nicht vor Luzifers Bruder. Es war schon schwer genug zu ertragen gewesen die Verzweiflung des Dämonenherrschers zu sehen, als Luzifer seine Augen nicht geöffnet hatte. In diesem Moment hatte Light geglaubt, dass die Trauer und die Verzweiflung des Dämonenherrschers sie alle in den Abgrund reißen könnte.
Astaroths ernste Augen blieben auf Light gerichtet, ehe er sich herumwandte und Silence auf sein Bett legte, wo er das Mädchen liebevoll zudeckte.
"Ich rate dir davon ab. Niemand sollte sich zum jetzigen Zeitpunkt unserem Gebieter nähern, niemand."
"Ich habe keine andere Wahl." Wieder fixierten die nachdenklichen, gelben Augen des Teufels ihn.
"Er trauert um den Untergang seines Morgensterns und erlaubt niemandem, ihn zu sehen. Alles um ihn herum verwandelt sich zu einer Grabkammer, er selbst ist der Tod..." Er schüttelte die seidigen, schwarzen Haare.
"Die Wunde ist zu frisch, Light. Warte noch zwei Vollmonde, dann kannst du darauf hoffen, ihn zu sprechen." Light antwortete nicht, doch seine Augen waren Antwort genug: Er konnte nicht warten. Astaroth verstand diese Gefühle und sah die beiden Kinder abwechselnd an: Silence, die in der Mitte seines Bettes lag und Youma, der immer noch auf Lights Arm saß und mit dem Kopf schlafend an seiner Brust ruhte.
"Gib ihn mir." Astaroth streckte die Arme nach seinem Neffen aus.
"Du solltest keinen der beiden mitnehmen, wenn du dich zu ihm wagst. Mit seinem gebrochenen Herzen ist mein Gebieter sehr gefährlich für jedes Wesen, welches sterblich ist, und wenn ich das richtig verstanden habe, sind die beiden es...?" Light wusste, dass Astaroth Recht hatte, denn er selbst hatte im Auge des schmerzenden Sturms gestanden und das unendliche Leid des Dämonenherrschers gespürt, mit jeder Faser seiner Selbst - ein Fluch, ein abgrundtiefer Fluch, der jeden ergreifen würde, der in Berührung mit ihm kam.
Dennoch schüttelte Light den Kopf.
"Youma hat Angst vor Fremden. Er ist ein sehr sensibles Kind... wenn er hier aufwachen würde, in einer fremden Umgebung, es würde ihn ängstigen." Astaroth hob die Augenbraue - beleidigt? - und er schien eben sagen zu wollen, dass das, wohin Light ihn bringen würde, ihn wirklich ängstigen würde, als Light ihm mit einem Lächeln zuvorkam, ein Lächeln, welches er auf Youmas schlafendem Gesicht ruhen ließ.
"Außerdem habe ich die Hoffnung, dass es deinem Gebieter vielleicht trösten wird, Youmas Gesicht zu sehen... Er sieht seinem Vater von den beiden am ähnlichsten. Vielleicht..." Light musste schlucken.
"... wird er dann verstehen, dass nicht alles von Luzifer gestorben ist."
Astaroth hatte ihm sagen wollen, dass es genau dieser Gedanke war, der ihn besorgte. Er wünschte sich auch eine schnelle Heilung seines Vaters: dass es irgendetwas in der Welt gab, das ihn trösten konnte, aber er glaubte nicht, dass es dieses Kind war. Dieses Kind hatte nicht die Macht, es zu tun. Dieses Kind... und Light... Astaroth streichelte Silence über den Kopf, sie würden die Trauer vergrößern.
"Light..." Ein leichtes Murmeln, ein Regen auf Lights Armen. Youma war im Begriff zu erwachen aus seinem Schlummer.
"... wo sind wir?" Seine schwarzen Augen hoben sich zur Decke, die über und über mit roten Kristallen überzogen war. Seine Augen funkelten vor Begeisterung. Ob er sich fragte, ob dies ein Traum war?
"In dem Zuhause einer Person, die deinem Vater sehr nahe stand." Youma war zu schlaftrunken, als dass es seine Skepsis weckte. Er schmiegte sich wieder an Lights Brust, leise atmend, doch die Augen behielt er geöffnet, was Light, nachdem er Astaroths Worte gehört hatte, etwas besorgte. Irrte er sich? War dies womöglich doch nicht ihre Hoffnung? Lights Füße trugen ihn weiter, trugen ihn durch die dunklen, leeren Korridore, die dem Engel kälter als sonst vorkamen. Eigentlich brannten hier doch Fackeln... eigentlich ließen die Fenster Mond- oder Sonnenlicht hinein, nun waren sie abgedunkelt, schwarz und die Halter für die Lichter waren kahl und leer. Er spürte keine Auren in der unmittelbaren Nähe... nur eine große, stumpfe Trauer, die, genau wie Astaroth es gesagt hatte, sich in den Stein des Schlosses fraß. Astaroth schien auch der einzige Teufel zu sein, der sich im Schloss befand... die anderen Teufel konnte Light nicht spüren. Wachte Astaroth über seinen Vater und die anderen waren hinfort geschickt worden? Light spürte kaum etwas anderes als Bedrückung, die wie eine schwere Luft das Atmen beschwerte.
"Wir sollten nicht hier sein", flüsterte Youma leise mit zitternder Stimme. Er konnte nicht mehr schlafen: Er hatte sich in Lights Armen versteift. Er fürchtete sich und Light wusste nur zu gut, dass er dies zu Recht tat.
"Hier ist etwas Gefährliches." Das war richtig, aber in ihrem eigentlichen Zuhause lauerte etwas, das weitaus gefährlicher war, dachte Light und streichelte Youma beruhigend über den Kopf.
Sie gelangten ans Ende eines langen Korridors, welcher in einer großen, schwarzen Flügeltür endete, die Lights Beunruhigung steigerte. Sie war eigentlich nicht schwarz. Es war eine imposante, aus Holz geschnitzte Flügeltür, die sonst eigentlich aussah wie ein gigantischer Baum, dessen Äste sich für den Gast öffneten. Die Äste passten sich der Jahreszeit an: im Sommer waren sie voller Blätter, im Winter beladen von Schnee, doch jetzt... waren da keine Knospen, keine roten Blätter. Die Äste waren tot. Der Baum verdorrt. Die Äste hingen leblos über der hölzernen Tür... und über dem Schloss, welches sie verriegelte. Light sah die Tür mit großen, traurigen Augen an.
"Es tut mir leid... es tut mir so leid..." Youma hob den Kopf und sah Lights leidendes Gesicht, aber er traute sich nicht zu fragen. Stattdessen glitt er langsam herunter und nahm seine Hand, die er fest drückte. Light öffnete die Augen und sah zu dem kleinen Kind herunter, welches ihn so mitfühlend ansah mit seinen großen, schwarzen Augen.
Lass sie erwachsen werden... gib ihnen ein Leben... lass sie geliebt werden.
Geliebt wurden sie schon. Aber um ihnen ein Leben zu geben... musste Light in die Halle des Todes eintreten.
Die Tür war verschlossen. Nicht durch einen Riegel, sondern mittels starker Magie, einer sehr großen Macht. Sie war von innen verschlossen. Aber als Light mit den Fingern über die Tür fuhr und die Magie unter seinen Fingern kribbeln spürte, spürte er auch, dass sie nicht verschlossen worden war, um von anderen nicht gestört zu werden... derjenige, der diese Magie gewirkt hatte, hatte andere vor sich beschützen wollen. Light spürte sein Herz schwer werden, als stecke ihn der tote Baum an: der namenlose Dämonenherrscher liebte auch seine anderen Kinder. Er wollte, dass sie sicher waren vor ihm.
Langsam erblühte der Baum wieder unter Lights liebenden Finger. Youmas Augen weiteten sich verblüfft als er sah, wie die Äste sich aufrichteten und Knospen zu wachsen begannen, genährt von Lights Hoffnung und seiner Magie, die dem Baum seine Kraft zurückgab. Youmas Augen zuckten alsbald erschrocken zusammen, als ein lautes Grollen zu hören war. Die Tür war entriegelt.
"Youma, vielleicht sollte ich lieber alleine..." Davon wollte der kleine Junge nichts hören. Er ließ Light nicht alleine in die Dunkelheit gehen, die hinter der Tür lag.
"Nein, ich gehe mit Light." Sie drückten die Finger des jeweils anderen und gingen in die Dunkelheit hinein.
Light wusste, wie der Saal eigentlich aussah, aber seine Augen konnten die Umrisse des imposanten Saals nicht ausmachen, welcher von sieben Säulen an der linken und sieben Säulen an der rechten Seite getragen wurde, die genau wie die Pforte aussahen wie Bäume. Der Saal wurde für viele Dinge benutzt: für das Sommerfest, für das Mondfest. Hier wurde getanzt, gegessen, gelacht und geliebt. Manchmal wurde auf dem großen Tisch in der Mitte aber auch Politik gemacht. Audienzen wurden hier ebenfalls abgehalten, wenn der namenlose Dämonenherrscher Lust darauf hatte, seine Rolle als Herrscher zu spielen und sich auf seinen hölzernen Thron setzte, der am Ende des Saales vor sieben großen Fenstern stand. Light konnte keine der Fenster ausmachen... die Säulen sah er nur schemen- und geisterhaft... auch sie waren verrottet und verdorrt. Und in der Mitte des Saals, wo eigentlich der Tisch stand... stand ein Sarg.
Light handelte sofort und sehr plötzlich, als er die gläserne Truhe als einen Sarg ausgemacht hatte - er packte Youma, hob den überrumpelten Jungen hoch und drückte sein Gesicht an seine Brust. Er sollte seinen Vater nicht sehen. Nicht so. Nicht tot. Ein kalter Schauer rann Light über den Rücken: Das hatte er nicht erwartet. Nicht nachdem... nachdem Light ihn so enttäuscht hatte. Aber das war unzweifelhaft Luzifers Leichnam. Die Finsternis verschleierte Lights Blick, doch die Düsternis war um den gläsernen Sag lichter und leichter zu durchbrechen, als schiene Mondlicht auf ihn herab. Seine Hörner glänzten im Licht, seine ewiggeschlossenen Augenlider waren genauso lang und zart wie als er noch geatmet hatte - natürlich, das wusste er, Light hatte ihn ja selbst zurückgeholt! Seelenlos und ohne Herzschlag, ohne Leben! Seinen Körper hatte er retten können, aber seine Seele... sie war tot und nichts konnte ihn jemals wieder zurückholen.
Youma hielt die Luft an und Light hoffte, ja, hoffte so sehr, dass er seinen Vater nicht gesehen hatte. Kein Kind sollte seine toten Eltern sehen. Keines. Youma sagte nichts, obwohl Light ihn so abrupt auf die Arme geholt hatte. Er versuchte auch nicht, sich loszureißen, als wisse er ganz genau, vor welchem Grauen Light ihn zu beschützen versuchte.
"Das... wagst... du..." Youma hielt die Luft an und auch Light tat es, als diese brüchige Stimme die Stille durchschnitt. Er saß, nein, hockte auf seinem Thron wie ein zusammengerollter Kater. Das eine seiner beiden roten Augen war auf Light gerichtet, stierte ihn vorwurfsvoll an und leuchtete deutlich aus der Dunkelheit hervor. Das andere Auge war von seinem Arm verdeckt, welchen er zusammen mit seinem Kopf auf die Lehne seines Throns gebettet hatte. Unkontrolliert hingen seine Haare und seine Kleidung von ihm herunter, fielen auf die Treppenstufen, die zum Sarg seines Geliebten führten und rührten sich genauso wenig wie der Rest des Körpers, der aussah wie eine Statue - wenn da nicht das eine rote Auge gewesen wäre, welches Light genau beobachtete, als dieser einen Schritt vorwärts ging.
Light öffnete den Mund:
"Aur-..."
"Schweig." Dieses eine Wort kam nicht von den Lippen des Dämonenherrschers, sondern vom Raum an sich. Von überall her kam diese raue, aber deutlich befehlende Stimme.
"Es gab nur einen, der meinen Namen auf den Lippen tragen durfte und derjenige..." Der namenlose Dämonenherrscher verschwand von seinem Thron und lag plötzlich mit dem Gesicht auf dem gläsernen Sarg, über dessen Oberfläche er streichelte, als hätte er das schon die ganze Zeit getan und als er fortfuhr, kam seine Stimme auch gebrochen und wispernd von seinen eigenen Lippen.
"... liegt hier. Er wird meinen Namen niemals wieder sagen können... also habe ich keinen Namen mehr." Light wollte ihm antworten, aber da verschwand der trauernde Dämonenherrscher ein weiteres Mal und tauchte plötzlich vor Light auf: vor ihm auf dem Boden, auf den Knien und wilde Tränen flossen von seinem Gesicht herunter, als er Lights Gewand packte.
"Sag mir, warum ich so dumm war, mir ein Herz zu geben! Sag mir, warum ich eine fleischliche Hülle annehmen musste! Wie konnte ich so dumm sein und lieben! Ich bin kein Wesen, das lieben sollte! Ich bin keines, welches atmen sollte! Mit dem Atmen kommt Schmerz! Oh, diese Trauer! Ich kann nicht leben!" Er zog und zerrte an Lights hellem Gewand, starrte Light an, an Youma vorbei, den er überhaupt nicht sehen konnte und welchen Light so fest an sich drückte, dass es ihm sicherlich wehtat.
"Sag mir, wie man diese Trauer überleben kann, du gnadenloser Engel!"
"Ich bin nicht gnadenlos! Im Gegenteil, ich komme, um dich zu trösten..." Das war gelogen - aber nur halb - und als könnte der trauernde Gott das spüren, verschwand er auch wieder, kehrte zu Luzifer zurück, wo er sein Gesicht an die Glasscheibe presste und leidend seinen Namen schrie:
"Luzifer! Mein Morgenstern!" Sein Schrei ließ die Halle erbeben und mit ihm Light und Youma.
"Lebe wieder! Öffne deine schönen Augen für mich! Ohne dich ist die Welt nur karg, mein Herz ein Stein! Lebe! Oh bitte, BITTE lebe! Mein Mond! Meine Sterne! Mein Luzifer! LEBE!" Er öffnete seine roten Augen und sah hinunter auf das tote Gesicht seines Geliebten. Tränen flossen und flossen; ein nie versiegender Strom der Trauer, der niemals enden würde.
"Warum bin ich ein Gott, wenn ich dich nicht wieder zu mir zurückbringen kann!? Wozu diese Macht, WOZU!?" Er schlug auf das Glas und Light war überrascht, dass es nicht unter seiner Trauer zusammenbrach.
"Was nützt mir alle Göttlichkeit!?" Er verschluckte sich an seinen eigenen Worten, an seinen eigenen Tränen.
"Wozu habe ich es gewählt, zu leben..."
"Um zu lieben." Lights Stimme erfüllte trotz seines zaghaften Flüsterns die Grabstätte und die Tränen versiegten, da der Dämonenherrscher Lights Flüstern lauschte.
"Um deine Kinder zu lieben und von ihnen geliebt zu werden. Von Luzifer... und von denen, die du noch hast. Sie machen sich alle große Sorgen um dich." Genauso zaghaft wie Lights Stimme waren auch seine Schritte, mit denen er sich vorsichtig dem trauernden Dämonenherrscher näherte, von welchem er sich wünschte, dass er wieder auf seinem Thron auftauchen würde, aber er blieb liegen, Light wie zuvor mit seinen rot leuchtenden Augen beobachtend. Aber da irrte Light sich: Der Dämonenherrscher sah nun nicht mehr Light an.
Er sah nun Youma.
"Wenn du keine fleischliche Hülle angenommen hättest, hätte Luzifer dich nie in die Arme schließen können." Der Namenlose atmete nun so ruhig, dass Light sich traute, ihm Youma zu zeigen. In seiner Güte und seinem hoffenden Glauben an Liebe glaubte er daran, dass Youmas unschuldige Kinderaugen, die Luzifers waren, den Schmerz des Namenlosen lindern würden.
Er löste die Hände von Youmas Kopf, welcher, das Zeichen verstehend, auch den Kopf drehte und etwas eingeschüchtert auf den Dämonenherrscher heruntersah, der seinen Blick mit verweinten Augen kurz erwiderte - ehe er verschwand und wieder auf seinem Thron auftauchte, ehe Light etwas sagen konnte. Auf seinem Gesicht waren keine Tränen mehr zu sagen.
"Warum bist du hier?" Light ließ Youma auf seinem Arm sitzen und trat vor, an dem Sarg vorbei, vor welchen Light ihn abschirmte.
"Du bist nicht hier, um mir Trost zu spenden, du Heuchler." Light sah fest in die roten Augen des Namenlosen und versuchte, sich nicht von dem drohenden Unterton in seiner Stimme beeindrucken zu lassen.
"Offenkundig bist du hier um mich zu erzürnen, was sehr gewagt ist."
"Ich bin gewiss nicht hier, um deine Wut zu schüren. Du weißt, dass ich alles getan habe, um dein Leid zu lindern. Ich habe Mitgefühl! Großes Mitgefühl und es plagt mich zutiefst, dass ich dieses Unglück nicht ungeschehen machen kann."
"Und doch lebt sie", zischte der namenlose Dämonenherrscher aus fletschenden Zähnen, die schärfer waren als die eines Raubtiers.
"Diejenige, die Luzifers Seele getötet hat.... sie lebt. Wenn du mir einen Trost hättest geben wollen, dann hättest du mir den Kopf deiner Schwester gebracht, anstatt dieses..." Er gestikulierte in die Richtung von Youma und verlor die Worte.
"Ich kann Hikaru nicht töten", antwortete Light heiser und sichtlich von Entsetzen erfüllt.
"Sie ist meine Schwester. Meine Familie. Wir gehören demselben Element an. Das... geht nicht, das ist unmöglich... ich..."
"Verschwinde, geh mir aus den Augen. Ich kann dein gutes Herz nicht ertragen." Es war eine eindeutige Aufforderung und es hing deutlich in der Luft, dass Light diesem Befehl lieber Folge leisten sollte, aber er tat es nicht. Stattdessen legte er seine Hände über Youmas Ohren und sorgte mit Magie dafür, dass dieser keines von ihren Worten mehr hören konnte.
"Das kann ich nicht. Ich muss dir mein Anliegen vortragen. Ich weiß, dass du dich in großer Trauer befindest, doch um Luzifers Willen bitte ich dich darum, mich anzuhören." Eine Falte pochte oberhalb des linken roten Auges, aber er unterbrach ihn nicht.
"Ich erbitte Schutz für Youma und seine Schwester. Sie sind in unserem Reich nicht sicher. Sie sind nicht sicher vor Hikaru." Der namenlose Dämonenherrscher schnalzte mit der Zunge: das war seine einzige Antwort.
"Lass sie hier leben. Hier in deinem Reich, wo sie sicher sind."
"Ich kann hören, dass dein Herz bei diesen Worten bricht. Warum tust du dir das an?", fragte der Dämonenherrscher, doch er klang dabei sehr desinteressiert.
"Weil ich sie liebe. Deswegen bricht mein Herz bei dem Gedanken nicht bei ihnen sein zu können, wenn sie weinen. Wenn sie aufwachen und wenn sie ins Bett gehen... aber lieber das... als wenn sie sterben. Wenn du es erlaubst werde ich sie besuchen, so oft es geht."
"Das erlaube ich aber nicht." Der namenlose Dämonenherrscher sah an Lights verwirrtem Gesicht vorbei und sah in Youmas verängstigtes Gesicht. Er sah seinen Schmerz, seine Verunsicherung. Astaroth fand also, dass dieses Ding Luzifers Nase hatte, seine Finger, seine Augen... widerlich... niemand "hatte etwas" von Luzifer... niemand konnte etwas von ihm nehmen... niemand es kopieren... widerlich... abartig...
"Du weißt sehr wenig von der Liebe und von dem Verlangen, wenn du glaubst, dass ich deine Bitte erfülle, kleines Lichtlein." Seine Stimme klang wie ein kalter, eisiger Speer und augenblicklich wurde es noch kälter im Raum.
"Luzifer hat diese... Wesen in einem Anflug von großer Trauer gezeugt, die ich nicht zu stillen vermochte. Mit einer Frau. Er hat diese Frau dafür lieben müssen. Nicht so wie er mich liebte, aber er musste sie in die Arme schließen. Ihre Körper mussten sich dafür vereinen, damit das da entstehen konnte. Er musste sie ansehen, sie halten, sie küssen, sie LIEBEN! UND DU GLAUBST ICH GEWÄHRE DIESEN DINGERN SCHUTZ?!"
In diesem Moment geschahen mehrere Dinge zum ersten Mal.
Zum ersten Mal zeigte der Dämonenherrscher sein wahres Antlitz einem anderen atmenden Wesen. Er war grösser als jeder Wächter und jeden Dämon, den Light je gesehen hatte; eine gigantische, schwarze Schattengestalt mit schwarzen Flügeln, die aus Leder zu bestehen schien. Seine Augen waren glühende Kohlen, das Feuer selbst.
DU SOLLTEST LIEBER MICH FÜRCHTEN ALS DEINE SCHWESTER
Und zum ersten Mal spürte Light Todesangst. Richtige, echte Todesangst, obwohl er ein unsterbliches Wesen war. In diesem Moment, als die großen, brennenden Augen des einzig wahren Dämonengottes seine trafen, hatte er Angst um seine fleischliche Hülle und um sein Glöckchen. Diese Augen konnten ihn verbrennen. Ihn und alle anderen.
Die Angst vor dieser Schreckensgestalt nahm ihn vollkommen in Besitz, ebenso wie die plötzliche Hitze, die ihn und Youma zu versengen drohte - doch mit der Angst und der Gefahr brach auch ein anderer Gedanke empor: er musste Youma beschützen.
Es waren nicht Lights Beine, die sich wieder bewegen konnten, noch waren es seine Arme - es waren seine Flügel. Sie reagierten auf Lights Wunsch Youma zu beschützen und schossen, schneller, als jemals zuvor, aus dem Rücken des Engels empor, um sich schützend vor Youma zu legen, dessen Gesicht dieselbe Panik zeigte wie Lights. Doch die Flügel waren kaum verharrt, da packten die Klauen der Schreckensgestalt den rechten, sich vor Youma befindenden Flügel und rissen diesen mit nur einer Hand beiseite.
Light unterdrückte ein Aufschrei. Seine goldenen Federn brannten dort, wo sie berührt worden waren und der rechte Flügel fühlte sich an, als würde er abbrechen. So viel Kraft! So viel Hass, der Youma und Light schier in Brand steckte! Lights Augen begannen zu tränen; seine Flügel und seine Beine zu zittern und trotzdem konnte er seine erstarrten Augen nicht von ihm abwenden. Von der Schreckensgestalt: von ihm, dem Dämonenherrscher, den er nie als eine Gefahr angesehen hatte, über den er sich oft geärgert hatte, mit dem er aber genauso oft gelacht hatte.
Hatte... hatte Hikaru etwa Recht?
Waren die Dämonen eine Gefahr? Eine Gefahr, die Light nicht hatte sehen wollen?
Hatte sie ihn deswegen nicht aufgehalten...?
Sofort schämte er sich für den Gedanken, doch wie als sollten seine Gedanken bestätigt werden, wurden seine Federn ein weiteres Mal der Versengung ausgesetzt, als sie gepackt wurden. Light wollte den Mund öffnen. Den Namen des Dämonenherrschers rufen, in der Hoffnung, dass dies ihn beruhigen würde, ihn daran erinnern würde, dass er nicht das hier war, aber Light glaubte nicht, dass er etwas hören konnte.
"N-N-N-Nicht... B-Bitte..." Es war nicht Light, der dies flehte. Es war Youma. Seine kleine, zitternde Kinderstimme durchbrach die brennende Stille und das Kind traute sich dem Dämonengott in die Augen zu sehen, obwohl seine eigenen schier zu schmelzen schienen. Dampf stieg von Lights schmelzenden Federn empor, aber die Schreckensgestalt tat nichts anderes als Yoma mit seinen brennenden Augen anzusehen. Konnte er ihn... hören?
"...i-i-ich hab---- Light----Light--- so lieb----b-b-bitte ni-icht!" --- oder waren es die Tränen, die aus Youmas Augen quollen, die ihn zum Innehalten brachten?
Light fiel mit Youma auf die Knie, als der Gott der Dämonen sich abrupt von ihnen abwandte. Mit jedem Schritt, den er sich von ihnen entfernte, veränderte sich sein Aussehen wieder und der Raum wurde kühl wie eine Grabstätte. Der Dämonenherrscher wurde wieder kleiner, schmolz auf seine normale Größe zurück und die 14 Hörner, die Light erst jetzt vollends sah, verschwanden, die eben noch auf seinem Kopf zu sehen gewesen waren - sieben auf jeder Seite. Er hatte auch keine schwarzen Flügel mehr; er faltete sie und zurück blieben nur noch seine langen Haare und seine wallende Kleidung, die er schwerfällig über den Boden schleifte, bis er an Luzifers Sarg stehen blieb, auf den er eine Hand legte und mit gekrümmtem Rücken etwas wie wild flüsterte - viel - was weder Light noch Youma verstanden.
Light hatte aber noch nicht aufgegeben. Er hoffte... immer noch. Nein, wieder. Der namenlose Dämonenherrscher hatte auf Youma reagiert. Etwas an ihm hatte ihn erweicht.
"Hikaru missbraucht sie für Forschungszwecke. Sie forscht an ihnen wie Dämonen zu töten sind!"
"Aha." Erst da brach etwas in Light.
"Die Puppe bereitet also einen Krieg vor." Seine Stimme war rau und langsam; sie klang, als wäre er gealtert.
"Den kann sie haben." Liebevoll streichelte seine Hand über das Glas des Sarges.
"Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?" Der namenlose Dämonenherrscher wandte den Kopf zum bebenden Light, welcher sich aufgerichtet hatte.
"Oh, ich finde, ich habe genug ... gesagt... Nimm die beiden mit in dein Reich. Du bist ihr Vater, nicht wahr? Dann ist das, was mit ihnen geschieht, wohl auch deine Verantwortung."
"Luzifer wollte keinen Krieg!", rief Light voll Zorn und Verzweiflung.
"Er hat diese Welt geliebt! Und seine Kinder! Wie kannst du seinem Herzen so zuwiderhandeln!?"
"LUZIFER IST TOT!", schrie der namenlose Dämonenherrscher sich nun völlig herumdrehend.
"Und ihr werdet alle meinen Zorn und meine Trauer zu spüren bekommen! Hikaru will einen Krieg!? HA! Den kann sie haben! Ihr werdet ihn bekommen! Es wird ein ewiger, brennender Krieg, der für immer von dem Leid zeugen wird, welches uns angetan wurde! Und jetzt verschwinde, Light! Verschwinde, bevor ich dich auch noch töte, so wie deine Schwester mein Licht getötet hat! Verschwinde und wage es nie wieder, mit diesen Kindern mein Reich zu betreten, wenn du nicht willst, dass ihre Herzen herausgerissen werden! GEH!" Das Glas der schwarzen Fenster sprang und schoss wie explodiert durch den Raum, welcher Light und Youma hinausschleuderte. Die große Doppeltür schlug zu, versperrte sich und in der Halle ging der Dämonengott mit einem heiseren Schrei auf den Boden.
...Wie kannst du seinem Herzen so zuwiderhandeln!?
"Ich weiß... Ha... ja, als ob ich das nicht wüsste... ha...ha..."
......................................... aber jetzt gab es nur noch einen Weg.
Den Weg des Feuers.
Den Weg des Hasses.
Den Weg des Blutes.
"Ich sehe, deine Reise ins Reich der Dämonen war sehr ereignisreich, lieber Bruder." Light antwortete ihr nicht. Er stand am Fenster, wo der Morgen graute und starrte ins Licht der aufgehenden Sonne mit einem ausdruckslosen Gesicht aus Stein.
"Ich bin so froh, dass du wieder da bist..." Sie legte ihre Arme von hinten um ihn, schlang sie fest und drückte ihr Gesicht in seinen Rücken. Er regte sich nicht.
"... ich habe gesehen, wie du deine Flügel ausgebreitet hast... so schön... Hattest du vorgehabt, mit ihnen auch noch in den kalten Norden zu fliegen, wo weder Wächter noch Dämon leben kann? Keine Sorge... ich hätte dich schon abgeholt." Sie strich ihm über die Brust und ihre Fingerspitzen berührten sein kaltes Glöckchen.
"... ich hätte dich überall gefunden. Wir gehören doch zusammen. Bruder und Schwester. Eine Familie. Ein Element. Die heilige Familie ist doch unantastbar."
Light hörte Hikaru gar nicht zu. Er spürte immer noch seine Tränen auf seinem Gesicht, als er Silence und Youma in die Arme geschlossen hatte, ehe er ihre Erinnerungen gelöscht hatte.
Ich kann euch nicht retten.
Ich kann nur mit euch zusammen leiden.
Jedes Mal, wenn ihr sterbt, werde ich sterben, wenn ich euch wieder zurückhole.
Ich werde eure Trauer schultern.
Euer Leid in meinem Herzen verschließen und euch so viele Glücksmomente geben wie ich kann.
Ich werde euch lieben bis zum allerletzten Tag der Zeit.