Kapitel 58 - Sensenmann und Flötenspieler I
Es war um einiges einfacher, an die zweite Kugel heranzukommen. Da der Tempel die deutlichsten Wurzeln zurück nach Aeterniem besaß, war Youma sich ziemlich sicher, dass er dort fündig werden würde, was die zweite Kugel anbelangte - und er musste sich nicht einmal besonders anstrengen, um den Ort zu finden, wo die Kugel ruhte, denn da er die eine der Zwillingskugeln besaß, brauchte er ihr nur zu folgen. Sie war der perfekte Wegweiser, da sie ein pulsierendes Leuchten erzeugte, welches an Intensität gewann, sobald Youma in die Nähe ihres Gegenparts kam.
Mit dieser im Gepäck schlich Youma durch die nächtlichen Gänge des Tempels, sich der Gefahr natürlich bewusst, dass er, in eine Falle gerannt war, wenn die Wachen ihn bemerken würden. Doch er hatte vor ihnen keine Angst: dank seines Elementes konnte er sich unbemerkt im Schatten bewegen, welche ihrem Herrn bereitwillig Schutz gaben und ihn vor den wachsamen Augen der steifen Wachen abschirmten.
Silence war sein einziges Problem, denn kein Schatten der Welt konnte ihn vor seinem Zwilling verbergen und die Bindung, die sie besaßen, war durch keinen Ingnix zu verhüllen.
Doch genau wie sie ihn spürte, konnte er es andersherum ebenfalls und just in diesem Moment konnte er mit Sicherheit sagen, dass sie nicht im Tempel war. Automatisch stellte er sich die Frage, wo sie sein könnte, was sie tat, wenn sie nicht bei ihrem Medium war...
Doch er sollte sich nicht in Sicherheit wiegen; immerhin konnte Silence schnell mitsamt Medium vor ihm stehen.
Zum Glück konnte er sich auf die Pünktlichkeit der Tempelwächter verlassen, denn Punkt 12 Uhr passte er einen von ihnen ab, ehe dieser die Bibliothek des Tempels abschloss und konnte so, nachdem er die wegweisende Kugel ein weiteres Mal konsultiert hatte, unbemerkt an dem fleißigen Tempelwächter vorbeihuschen. Dieser schloss gewissentlich die große Flügeltür hinter sich, ohne zu bemerken, dass sich jemand in der Halle befand, da diese komplett im Dunklen lag und so perfektes Terrain für den Wächter der Dunkelheit bot.
Ah, was für eine herrliche Atmosphäre diese Bibliothek doch besaß. Die vielen feinsäuberlich kategorisierten Bücher in Reih und Glied, schlafend in ihren Regalen, bereit aufzuwachen, wenn der wissensdurstige Wächter nach ihnen verlangte. Auch wenn er nur zur Hälfte ein Wächter war, verlangte auch er danach, sich an diesen Wissensquellen zu laben.
Doch nein, sagte er sich selbst, während seine rechte Hand verzückt über die edlen Bücherrücken strich, diese aber hastig zu sich zurückzog, als er sein Vergehen bemerkte: Er musste sich konzentrieren, durfte sich nicht ablenken lassen oder gar den fatalen Fehler begehen, vom Mondlicht berührt zu werden, denn nur im Schatten war er vor dem Überwachungssystem der Wächter sicher. Das vermutete er jedenfalls, denn er hatte natürlich keine Ahnung von dem System. Ihm war nur bewusst, dass sie eines besaßen, welches ihn offensichtlich noch nicht bemerkt hatte und das sollte auch gerne so bleiben.
Die kleine Kugel pulsierte sachte und sagte ihm so, dass er sich dem gesuchten Ort näherte, als er auf die Mitte des Saales, auf den Springbrunnen, zusteuerte. Geleitet von dem sachten Pulsieren der Kugel fand Youma schließlich seinen Bestimmungsort: den ältesten Ort des Tempels, dessen Tor sein eigenes Glöckchen zwar strikt ablehnte, aber Lights Glöckchen sofort anerkannte und sich ihm öffnete: welch Ironie.
Zielstrebig überquerte Youma den türkisleuchtenden Gang, der ihn direkt zu ein paar kleinen Stufen brachte und schon stand er dem Bannkreis gegenüber.
Beeindruckend, das konnte Youma nicht leugnen. Die vielen sich weit über den Boden schlängelnden Einkerbungen schienen mit leuchtendem Wasser gefüllt zu sein und warfen helle Reflektionen an die steinerne Wand. Was für ein eigenartiges Licht... es schien zu pulsieren, zu atmen... als wäre es lebendig. Auch die steinernen Statuen der Gottheiten wirkten unglaublich echt.
Youma schreckte vor diesen jedoch nicht zurück, sondern schritt entschlossen voran, ohne den Gottheiten auf irgendeine Art Respekt zu zollen, obwohl er sie alle gekannt hatte; vielleicht gerade deshalb. Genau wie Silence und Green es getan hatten, bemerkte auch Youma das auf dem Bannkreis klebende Blut, doch beachtete es nicht weiter, denn das vorher noch sanfte Leuchten der Kugel war nun zu einem wahren Strahlen geworden. Die Kugel hatte ihm gute Dienste geleistet - er hoffte, dass dies auch auf dessen Besitzer zutreffen würde, wenn er ihn wiederbelebte.
Ohne auf Hikari-kami-sama zu achten, welche die weiße Kugel schützend in ihren kleinen Händen hielt, steuerte er direkt auf das Bildnis seiner Mutter zu, deren Steinaugen ihn ausdruckslos, aber mit eleganter Erhabenheit anstarrten.
Einen Augenblick ignorierte Youma das intensive Strahlen der Kugel und gönnte sich einen kurzen, intimen Moment mit seiner Mutter, auch wenn diese nur eine Statue war.
Er konnte sich kaum noch an sie erinnern; er konnte nicht einmal beurteilen, ob dieses steinerne Bildnis ihrer würdig war und das obwohl er sich zu erinnern meinte, dass sie vor ihrer Ermordung sehr viel Zeit mit ihm und Silence verbracht hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, was Silence und er als Kinder gespielt hatten, wie ihr damaliges Zimmer ausgesehen hatte, deren Zuhause, ehe sie von Light mitgenommen worden waren... Aber nicht an ihr Gesicht, ihre Stimme oder das Gefühl, wie es war, von ihr umarmt zu werden - und das obwohl er sich irgendwie sicher war, dass sie keinen Geiz gegenüber körperlicher Nähe gezeigt hatte.
Es war lange her.
Oder vielleicht hatte man ihm die Erinnerung an seine Mutter auch genommen, wie man ihm so viele andere Erinnerungen genommen hatte.
Youma spürte einen leichten, aber peinigenden Stich in sich, doch tat so, als würde er ihn nicht bemerken, während er wieder aufblickte. So eine hübsche Statue; die einzige, die es von seiner Mutter gab, denn wenn die Wächter die Gottheiten portraitierten, war Yami nie mit ihnen zusammen abgebildet, genau wie es offiziell nur 12 Elemente gab und das Element der Dunkelheit nicht in das große Wappen der Wächter eingebunden war.
"Ich tue das alles auch für dich, Mutter. Ich werde den verblendeten Hikari beweisen, dass wir uns nicht ungestraft verbannen lassen." Daraufhin schwieg Youma; betrachtete stumm die Finger der Statue seiner Mutter, sich bewusst, dass er sie beschädigen musste, wenn er an die Kugel gelangen wollte. Mit anderen Worten musste er das einzige Kunstwerk seiner Mutter in Mitleidenschaft ziehen.
"Verzeih mir, Mutter."
Er hatte es natürlich getan, es hatte keinen Weg daran vorbei gegeben und er war sich sicher, dass seine Mutter es verstehen und verzeihen würde; dass es ganz in ihrem Sinn gewesen wäre. Jetzt hatte er alle notwendigen Vorkehrungen getroffen - jetzt war es nur noch eine Sache des Timings, wobei er sich leider auf eine Aussage Karous verlassen musste, was ihm so gar nicht gefallen wollte. Ihm blieb allerdings nichts anderes übrig, als sich darauf zu verlassen, dass Karou dafür sorgen würde, dass Lerou den Wächtern genau zu dem von Youma und Karou verabredeten Zeitpunkt den Krieg erklären würde, damit diese wiederum die Glocken läuten würden. Youma brauchte sich daher nicht zu beeilen, denn er hatte die beiden Kugeln früher beschaffen können, als es die beiden verabredet hatten - er war ihm einen Tag früher gelungen, als er es geglaubt hatte. Er hatte eigentlich vorgesehen, diesen unerwartet freien Tag zum Ausruhen zu benutzen, um sich noch einmal zu entspannen, bevor er die kompliziert durchzuführende Wiederbelebung vollführen würde. Doch schnell bemerkte er, dass er sich bei diesem Vorhaben selbst im Weg stand - er war zu aufgeregt, weshalb er den Großteil des Tages damit verbrachte, auf und ab in seinem Hotelzimmer zu gehen, seine Notizen und Pläne beinahe im Stundentakt noch einmal las, dabei immer die Uhr im Blick habend - oder das Handy von Teri. Denn Teri hatte ihm versprochen, dass sie ihn sofort kontaktieren würde, sobald sie etwas Neues aus der Dämonenwelt hörte - sie würde ihm also auf jeden Fall Bericht erstatten, wenn Lerou den Wächtern den Krieg erklärte.
Der Tag verstrich quälend langsam.
Youma wurde unruhiger und unruhiger.
Was wäre, wenn die Wächter das Verschwinden der Kugel bemerken würden? Aber nein, jetzt begann er damit, sich unnötige Gedanken zu machen... er hatte doch gesehen, wie unbenutzt diese alte Passage gewesen war... sie wurde nicht regelmäßig aufgesucht... und wenn White es nun spüren konnte, dass die Kugel nicht mehr an ihrem Platz war? Dann hätten sie Youma schon gefunden; Silence hätte ihn finden können... warum hatte sie ihn in dem letzten Jahr eigentlich nicht gefunden? War sie nicht auf die Idee gekommen, in der Menschenwelt nach ihm zu suchen? ... vielleicht hatte sie ihn auch einfach nicht gesucht...
Noch einmal der gleiche Rundgang: eine Ecke des Hotelzimmers, dann die andere, Pläne durchlesen, wieder aufstehen, Handy zweimal angucken. Nichts geschah. Es wurde dunkel und nichts geschah.
Wenn Karou seinen Zwilling - das wusste er von Teri, Karou hatte es Youma nicht erzählt - nun nicht von einer Kriegserklärung hatte überzeugen können? Oder was war, wenn der Bruder Teris ihr die Neuigkeiten aus der Dämonenwelt zu spät erzählen würde... oh Gott, so viele Risiken, worauf hatte er sich nur eingelassen...
Es wurde dunkel; Youma spürte, dass er Schlaf brauchte, doch er fand keinen. Jedes Mal, wenn er sich dem Tiefschlaf näherte, wachte er wieder auf, aus Angst, er könne das Handy überhören -und so ging es die gesamte Nacht weiter, bis er am Morgen beinahe panisch aus dem Bett stürzte, als er Glockenläuten hörte, glaubte gar, es sei zu spät, alles sei zu spät, alle Pläne zerstört - und dann war es nur das Läuten der Glocken einer nahen Kirche, welches ihn geweckt hatte.
Der Vormittag peinigte ihn genau wie der vorige Tag und während Youma einen Tee nach dem anderen trank, um sein Hungergefühl zu ertränken, überlegte er wütend, ob er sich in die Dämonenwelt aufmachen sollte, um selbst herauszufinden, wie es um die Kriegserklärung stand.
Aber dann klingelte das Handy. Und es war Teri. Und es war die Kriegserklärung. Die Kriegserklärung. Endlich. Endlich!
Doch nun hieß es wieder warten, denn natürlich hatte Karou ihm nicht sagen können, wann genau die Wächter die Glocken zu läuten pflegten. Es könnte auch jedes Mal anders sein, hatte er zu verstehen gegeben, aber wenn die Glocken auf die Wächter wirklich eine so starke Wirkung hatten, dann ging Youma davon aus, dass er schon spüren würde, wenn sie geläutet werden würden.
Es ging ihm schon gleich viel besser; zwar war er immer noch angespannt, aber der Hunger schien vergessen. Ein Teil des Plans war aufgegangen und jetzt musste er sich nicht auf die Launen der Dämonen verlassen, sondern auf die Traditionen der Wächter - und darauf baute er lieber.
Bepackt mit einem Umhang für den bald Wiederbelebten und seiner Sense - denn man wusste ja nie, er rechnete eigentlich eher mit einem Angriff als dem Gegenteil - machte sich Youma auf zu dem Ort, den er schon vor einiger Zeit für die Wiederbelebung ausgesucht hatte: eine kleine, von hohen Bäumen umrahmte Waldlichtung, weitab von den neugierigen Blicken der Menschen. Ein kleines, stilles Fleckchen Erde, welches er auf seinen Reisen zu Beginn des Jahres gefunden hatte und für perfekt hielt.
Angekommen lehnte Youma seine Sense an den Baum, der ihm am Nächsten war, denn er musste beide Hände freihalten für die Wiederbelebung; allerdings nicht um die Kugeln zu halten. Diese hatte er zirka fünf Meter vor sich abgelegt, beide genau nebeneinander, welche, seitdem sie wieder vereint waren, nicht mehr penetrant leuchteten, sondern im gleichen Rhythmus pulsierten, wie zwei Herzen, die vereint waren.
Light hatte ihm während des Trainings stets eingebläut, dass er sich auf den Grund, weshalb er die Person wiederbeleben wollte, konzentrieren musste. Der Grund sei das Entscheidende.
Es war Youma natürlich damals nicht schwer gefallen, sich auf eben diesen zu konzentrieren, denn die Technik war immerhin für Silence vorgesehen gewesen und es gab mehr als genug Gründe, um seinen geliebten Zwilling wiederzuerwecken, genug positive Gefühle, für die es sich allemal lohnte, diese schwierige Technik anzuwenden; eine Technik, welche immer für Silence reserviert gewesen war und nun für jemanden benutzt wurde, den er nicht kannte. Er verband keine positiven Gefühle mit ihm, wusste nichts über ihn, außer ein paar Daten und lose Erzählungen. Der einzige Grund für ihn, eben diese Person wieder ins Leben zurückzuholen, war eine Empfehlung von zwei Dämonen, die er ebenfalls nicht kannte und denen er ganz gewiss nicht vertraute. Ihre Beweggründe waren schleierhaft und für Youma von keinem Belang, denn er nahm sowieso keine Rücksicht auf sie. Sie hatten sich gegenseitig missbraucht: sie, um diesen merkwürdigen Nocturn wiederbelebt zu bekommen und Youma, um einen erneuten Krieg in Gang zu bringen, für welchen das Leben Nocturns unabdingbar war, denn nur dadurch, dass Youma ihn wiederbelebte, würde der Bannkreis brechen.
Silence hatte Recht gehabt: Youma hatte den Krieg vor so vielen Äonen begonnen.
Und er würde ihn beenden.
Ein für alle Mal.
Youma war nicht wie die Wächter ein Werkzeug der Hikari; hatte sich von ihnen und all seinen Wurzeln losgerissen, egal wie schmerzhaft es gewesen war. Er war auch nicht die Marionette von einem omnipotenten Dämon, dessen größtes Problem seine langweilige Existenz war. Nein, Youma war sein eigener Herr und er handelte, wie er es für angebracht hielt, unabhängig und frei würde er seine Rache verfolgen und das Wächtertum zerstören, das Hikaru auf den Leichen seiner Familie errichtet hatte.
Ob dieser Nocturn dabei für ihn hilfreich sein würde, wusste er nicht. Das Wenige, was er über ihn erfahren hatte, hatte gereicht, um ihn erahnen lassen zu können, dass sich der Umgang mit ihm schwierig erweisen würde. Doch erst einmal war es genug, ihn nur wiederzubeleben. Dann hatte er bereits seinen Daseinszweck erfüllt. Alles was danach kam war nichts weiter als ein Bonus. Aber Youma hatte bereits genug Pläne geschmiedet, um nicht auf ihn angewiesen zu sein.
Die Gedanken des Sensenmannes wurden schlagartig von seinem eigenen Herzen unterbrochen, als dieses von weit her aus dem Himmel die Glocken des Krieges hören konnte. Anders als Silence hatte er sie natürlich noch nie zuvor gehört und reagierte ähnlich wie Green: einen Moment verharrte er in Faszination, das strahlende Glöckchen in seiner Faust haltend und in den dunklen Abendhimmel blickend, dorthin, wo er den Tempel und somit die Glocken vermutete. Er beeilte sich jedoch, sich aus dem stählernen Griff der anklagenden Glocken zu befreien und kopfschüttelnd löste er seine Faust von seinem Glöckchen.
Er musste sich selbst eingestehen, dass die Glocken intensiver waren als von ihm befürchtet; es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, doch er musste sich dazu zwingen, die Glocken zu überhören, da er die Wiederbelebung nur so lange durchführen konnte, wie sie sein Herz zum Beben brachten.
"Konzentrier dich, Youma...", befahl er sich selbst und begann.
Fünf Meter Abstand zu den Kugeln perfekt eingehalten.
Die Arme absolut horizontal.
Die Kapsel mit den Überresten von Lights Lichtmagie schwebte zwischen seinen ausgestreckten Fingern.
Und endlich gelang es seinem eigenen Glöckchen, sich von dem Läuten der Kriegsglocken zu lösen und sich dem sanften Takt der Kapsel anzupassen, womit sie nun im Einklang leuchtend zu pulsieren begannen. Ohne einen Laut zu verursachen, öffnete sich die Kapsel, indem sie sich in der Mitte teilte. Die sich darin befindende Lichtmagie trat heraus und vermehrte sich; schneller als es Youma lieb war, war auf einmal die gesamte Lichtung in gleißendes Licht gehüllt und obwohl es noch nicht schädlich auf ihn wirkte, spürte er bereits, dass sein Dämonenblut heftig dagegen protestierte. Es verlangte danach, das Ganze abzubrechen, doch Youma befahl sich selbst, dass er ruhig bleiben musste, denn er durfte unter keinen Umständen in den Dämonenmodus wechseln. Light hatte ihm zwar nicht gesagt, was dann passieren würde, doch Youma hatte auch nicht das Verlangen danach, es herauszufinden.
Die Kriegsglocken waren nun komplett verdrängt, denn nun fiel es Youma plötzlich weitaus schwerer, sein Dämonenblut daran zu hindern, die Oberhand zu ergreifen, denn die aktivierte Lichtmagie, in deren Mitte er stand, hatte nun immens zugenommen. Seine Haut brannte, als würde er seine Hände auf eine kochende Herdplatte legen, doch er musste sich konzentrieren ... er durfte den Schmerz nicht beachten und musste sich auf den Grund konzentrieren ... welchen Grund? Er hatte doch keinen...
Es war etwas vollkommen anderes, eine Person zurückzuholen als Tiere - seine Haut schien in Flammen zu stehen und er konnte sich nicht daran erinnern, dass es damals bei den Übungen so geschmerzt hatte. War es, weil er sich nicht an Wächtern oder Dämonen versucht hatte? War es, weil viel mehr Lichtmagie benötigt wurde, um einen gesamten Körper wieder in seine Ursprungsform zurückzuversetzen? Oder war es, weil er keinen Grund hatte und die eingesetzte Magie nicht die seine war; wollte die ach so gütige Hikari-kami-sama ihm nicht erlauben, ihre Technik, ihre Magie, anzuwenden?
Was auch immer die Ursache war: diese Zeremonie war ein Kraftakt. Das immense Licht blendete Youma so stark, dass er seine Augen schmerzend zusammenpressen musste und somit konnte er nicht sehen, ob sich das Aushalten dieser Pein überhaupt lohnte ... Konzentrieren, das war alles, was er tun konnte ... konzentrieren, die Schmerzen aushalten ... das Blut seines Vaters zurückdrängen ...
Youmas Konzentration geriet ins Stocken. Nicht weil er es sich anders überlegt hatte, sondern weil sein Körper ihm nicht länger gehorchen wollte. Röchelnd stürzte er zu Boden inmitten dieser Säule aus Licht. Seinen linken Arm konnte er nicht mehr bewegen, nur der rechte gehorchte ihm noch und verzweifelt streckte er diesen aus, sich dazu zwingend, die Wiederbelebung fortzusetzen...
Doch es gelang ihm nicht.
Er wurde ohnmächtig und ein schwarzer Schleier legte sich über ihn.
Lange hielt diese Ohnmacht allerdings nicht an. Obwohl seine Sinne den Betrieb wieder aufgenommen hatten und er somit deutlich vernahm, dass das Licht verschwunden war, war sein Körper zu geschwächt um Handeln zu können. Seine Haut brannte zwar immer noch, doch der Schmerz hatte nachgelassen - er hatte versagt. Wenn das Licht tatsächlich verschwunden und nicht mehr in seiner Kapsel vorhanden war, dann wäre es für ihn nicht möglich, den Bannkreis zu brechen... und auch die Glocken waren verstummt. Es war vollkommen ruhig.
Youma spürte, wie die Frustration in ihm aufkam; er wollte fluchen, sich selbst und das Schweigen um ihn herum anschreien, als ihn etwas davon abhielt - er spürte etwas. Die Gegenwart einer anderen Person: schemenhaft, aber vorhanden. Eine Person, welche sich über ihn beugte.
Sofort war sein Körper wieder einsatzbereit und schlagartig schlug er die Augen auf im gleichen Moment, in dem er auffuhr.
Doch da war niemand, der Youmas halbausgeführten Angriff hätte entgegennehmen können. Er war alleine, niemand hatte sich über ihn gerichtet, denn das Gras neben ihm war nicht heruntergedrückt. Aufmerksam lauschte Youma in die Dunkelheit hinein und bemerkte plötzlich etwas anderes: ein fremdes Atmen.
Erschrocken, vielleicht auch ein wenig überschnell, wirbelte Youma herum und bemerkte, dass er tatsächlich nicht alleine war. Genau fünf Meter von ihm entfernt lag jemand genau wie er im Gras; offensichtlich handelte es sich um den Dämon, den er hatte wiederbeleben wollen.
W-Wie war das möglich? Youma hatte die Wiederbelebung nicht zu ihrem Ende gebracht; die Wiederbelebung doch gar nicht ausgeführt ... war sie fehlerhaft verlaufen?
Ein leichter Schauer des Grauens überkam Youma bei dieser Vorstellung, doch er zwang sich, sich zusammenzureißen. Er musste überprüfen, ob die Wiederbelebung tatsächlich fehlerhaft verlaufen war... doch gewiss nicht ohne seine Sense, welche er mit einem gezielten Gedanken zu sich beorderte und diese ebenso gekonnt in Empfang nahm, ehe er sich dem im Gras liegenden Dämon langsam näherte und sich dann misstrauisch über ihn beugte.
Er war genauso bewusstlos, wie Youma es vor wenigen Sekunden noch gewesen war, doch er lebte: daran gab es keinen Zweifel. Sein magerer Brustkorb hob und senkte sich - langsam, aber dennoch war da ein eindeutiges Arbeiten der Lungen erkennbar.
Das Erste, was ihm auffiel, war nicht sein markantes Gesicht, sondern seine Haut; über und über war diese mit hässlichen Narben übersät; von verschiedener Länge, Art und Tiefe. Es erschien Youma überaus unlogisch, dass er diese alle zufällig bekommen hatte... es sah viel eher danach aus, als hätte man diese systematisch über seinen gesamten Körper verteilt - und dieser jemand war dabei sehr gründlich vorgegangen, denn sogar an seinen krüppeligen Füßen waren Einkerbungen zu erkennen - nur nicht auf seinem Gesicht und seinen Händen, als hätte man darauf geachtet, dass sie in einem bekleideten Zustand nicht sichtbar waren. Der Bau seines Körpers war ebenso verwunderlich; er war überaus dünn, nicht sonderlich kräftig gebaut, wirkte viel eher zerbrechlich - an einigen Stellen waren seine Kochen sehr deutlich ausmachbar, weshalb er sehr ungesund aussah. Nur sein Gesicht wirkte gesund, auch wenn er blass war, was sicherlich auch daher kam, dass er tot gewesen war.
Erstaunlich. Ja, Youma war in der Tat erstaunt. Erstaunt und beeindruckt von dem Wunder, welches er gerade vollbracht hatte - auch wenn er nicht wusste wie. Er war sich absolut sicher, dass er den Körper des Dämonen Nocturns genau so hergestellt hatte, wie er zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war.
Doch die Verblüffung legte sich schnell wieder und überließ der Skepsis ihren Platz - wie zur Hölle war das möglich? Er hatte die Wiederbelebung nicht zu Ende gebracht...
Völlig in Gedanken versunken wandte Youma sich herum, um die Kleidung, welche er für den wiedergeborenen Nocturn mitgenommen hatte, neben ihm niederzulegen. Wenn sie ungestört blieben, würde Youma warten, bis er von sich aus aufwachte: er glaubte nicht, dass es eine sonderlich gute Idee war, ihn irgendwie zu wecken. Als Youma aus dem Zeitbann erwacht war, war er extrem verwirrt und aufgebracht gewesen; wie musste es da erst sein, wenn man wiedergeboren wurde?
Kaum dass Youma dies dachte, bemerkte er aus dem Augenwinkel plötzlich, wie etwas aufleuchtete: der Mond war durch die Wolkendecke gebrochen und schien nun auf einen kleinen Gegenstand, welchen er bis jetzt nicht bemerkt hatte: das zerbrochene Glöckchen Lights lag einige Meter von ihm entfernt im Gras. Wie hatte es sich von der Kette gelöst?
SchMerZ war allEs, was iM erStEn AugeNbliCk zu spürEn war; der Körper stand unter brennendem Feuer, der Kopf schmerzte --- der Kopf schmerzte so fürchter---lich, ferNe STImMen, herannahende StimmeN.... was hast du schon wieder getan?!
...kannst du den Jungen denn nicht einfach in Ruhe lassen... warum kann ich euch nicht einmal alleine lassen? Ich habe wichtigere Dinge zu tun! Ich muss auf dich mehr aufpassen als auf Lerou... hör auf zu jammern, das ist ja erbärmlich... --- die Wange schrabt über den steinernen Boden --- ...d-du lässt m-i-c-h nie alleiNE --- die HaUt entzweigerissen --- du nicht, du nicht.... sei still, ansonsten hört dein Vater uns und das wollen wir doch beide nicht --- tiefer, tiefer, durch die Haut, tiefer, tiefer ins Fleisch, Blut, Blut, tropf, tropf --- einen Namen? Nein, einen Namen hat er nicht, braucht er nicht... wozu denn?
Geht es dir gut?
Wie heißt du?
White? White? White, wo bist du?! Ich brauche deine Aura, dein Licht, ich kann nichts sehen, ich kann nichts sehen, hilfe, hilfe, hilfe----
was sind das für Erinnerungen, die gehören nicht mir------
Wen hast du gesehen, mein Junge? Einen Engel sagst du? ... --- zurück auf die Knie, Stirn schmettert gegen den Boden, Sicht verschwimmt, Blut im Mund --- Du verfluchtes Gör! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich es dir nicht erlaube, mit anderen zu reden?! Du redest, wenn ich dir sage, du redest! Du schaust jemanden an, wenn ich dir sage, du sollst schauen! Habe ich dir befohlen, mit dieser Person zu reden?! HA?! Sag es mir! Habe ich dir den Befehl gegeben, mit einem "Engel" zu reden?!
Das sind nicht meine Erinnerungen, das bin nicht ich --- White! White, wo bist du, deine Aura... ich brauche deine Aura, deine Stimme---
Sei brav. Sei ein braves Kind - ja, gutes Kind, hör auf mich und vergiss das alles, das ist alles nur Gift für dich. "Nein" hast du gesagt? Hast du gerade "nein" gesagt? ---Höllenfeuer, Stufe drei - oh nein, oh nein, oh nein - nicht Stufe drei! Bitte, bitte nicht--- Wie bekannt, wie bekannt; es zerreißt den Körper, brennendes Feuer, schrei, schrei, SCHREI! ---
Nein, das ist mir nicht bekannt... ich setze das Höllenfeuer ein, ich foltere... ich werde nicht... ich brauche Licht... wo ist mein Engel...
Du brauchst keine Angst zu haben.
Diese Stimme... sie klingt genau wie ihre... aber der Tonfall... der Tonfall ist anders...
Warum versteckst du dich?
Angst, Angst - sie könnte die Treppe hochkommen, mich sehen, mich finden...
Du brauchst dich doch wegen ihr nicht zu verstecken wie ein gejagtes Tier.
Ihre ausgestreckte, elegante, ebenfalls zum Töten geborene Hand - er wollte sie nehmen, ergreifen - er wollte Musik. Ihre Musik. Spielst du wieder auf dem Flügel? Spielst du das Lied des Herbstes?
Angst ist kein Gefühl, welches dich quälen muss. Du kannst doch jeden umbringen, den du willst.
Schmerz durchzuckte seine Brust; die Wunde, die White ihm zugefügt hatte, schmerzte, das Atmen fiel ihm schwer, er bekam keine Luft - doch, aber nur schwer. Seine Brust schmerzte, aber da war kein Blut....
Vergeude deine Kraft nicht.
Er konnte Whites Aura nicht spüren, sie war doch eben noch...
Benutze sie.
Seine dürren Finger zuckten leicht, pochend breiteten sich seine Kräfte wieder in seinen Adern aus, durchfluteten seinen Körper, als bestünde sie aus Einzelteilen, die ihren Platz langsam wieder einnahmen.
Lass dich nicht in Ketten legen.
Von niemandem.
Du bist dein eigener Herr. Du gehörst ganz allein dir, Nocturn!
K L A C K
Die Macht des absoluten Schweigens fegte alle anderen Laute restlos aus seinem Kopf und hinterließ nur Stille; er hörte keine Stimmen mehr, keine Laute... nur das Rauschen von Blattwerk und das Gefühl eines komisch angespannten, steifen Körpers.
....was...was geht hier vor.... warum atme ich? Wo ist Whites Aura? Wo ist White? Ich lebe... aber White... White...
So sollte es nicht sein --- ich sollte doch tot sein --- wir sollten doch zusammen sterben ---------------------- Wieso lebe ich noch?!
Youma hatte sich von dem Bewusstlosen abgewandt, um das kleine Glöckchen wieder aufzuheben. Völlig mit der Frage beschäftigt, wie dieses kleine Ding überhaupt dorthin gelangen konnte, bemerkte er plötzlich, dass es außerordentlich ruhig war.
Es war zu ruhig: jemand hielt den Atem an.
Mit dieser im Gepäck schlich Youma durch die nächtlichen Gänge des Tempels, sich der Gefahr natürlich bewusst, dass er, in eine Falle gerannt war, wenn die Wachen ihn bemerken würden. Doch er hatte vor ihnen keine Angst: dank seines Elementes konnte er sich unbemerkt im Schatten bewegen, welche ihrem Herrn bereitwillig Schutz gaben und ihn vor den wachsamen Augen der steifen Wachen abschirmten.
Silence war sein einziges Problem, denn kein Schatten der Welt konnte ihn vor seinem Zwilling verbergen und die Bindung, die sie besaßen, war durch keinen Ingnix zu verhüllen.
Doch genau wie sie ihn spürte, konnte er es andersherum ebenfalls und just in diesem Moment konnte er mit Sicherheit sagen, dass sie nicht im Tempel war. Automatisch stellte er sich die Frage, wo sie sein könnte, was sie tat, wenn sie nicht bei ihrem Medium war...
Doch er sollte sich nicht in Sicherheit wiegen; immerhin konnte Silence schnell mitsamt Medium vor ihm stehen.
Zum Glück konnte er sich auf die Pünktlichkeit der Tempelwächter verlassen, denn Punkt 12 Uhr passte er einen von ihnen ab, ehe dieser die Bibliothek des Tempels abschloss und konnte so, nachdem er die wegweisende Kugel ein weiteres Mal konsultiert hatte, unbemerkt an dem fleißigen Tempelwächter vorbeihuschen. Dieser schloss gewissentlich die große Flügeltür hinter sich, ohne zu bemerken, dass sich jemand in der Halle befand, da diese komplett im Dunklen lag und so perfektes Terrain für den Wächter der Dunkelheit bot.
Ah, was für eine herrliche Atmosphäre diese Bibliothek doch besaß. Die vielen feinsäuberlich kategorisierten Bücher in Reih und Glied, schlafend in ihren Regalen, bereit aufzuwachen, wenn der wissensdurstige Wächter nach ihnen verlangte. Auch wenn er nur zur Hälfte ein Wächter war, verlangte auch er danach, sich an diesen Wissensquellen zu laben.
Doch nein, sagte er sich selbst, während seine rechte Hand verzückt über die edlen Bücherrücken strich, diese aber hastig zu sich zurückzog, als er sein Vergehen bemerkte: Er musste sich konzentrieren, durfte sich nicht ablenken lassen oder gar den fatalen Fehler begehen, vom Mondlicht berührt zu werden, denn nur im Schatten war er vor dem Überwachungssystem der Wächter sicher. Das vermutete er jedenfalls, denn er hatte natürlich keine Ahnung von dem System. Ihm war nur bewusst, dass sie eines besaßen, welches ihn offensichtlich noch nicht bemerkt hatte und das sollte auch gerne so bleiben.
Die kleine Kugel pulsierte sachte und sagte ihm so, dass er sich dem gesuchten Ort näherte, als er auf die Mitte des Saales, auf den Springbrunnen, zusteuerte. Geleitet von dem sachten Pulsieren der Kugel fand Youma schließlich seinen Bestimmungsort: den ältesten Ort des Tempels, dessen Tor sein eigenes Glöckchen zwar strikt ablehnte, aber Lights Glöckchen sofort anerkannte und sich ihm öffnete: welch Ironie.
Zielstrebig überquerte Youma den türkisleuchtenden Gang, der ihn direkt zu ein paar kleinen Stufen brachte und schon stand er dem Bannkreis gegenüber.
Beeindruckend, das konnte Youma nicht leugnen. Die vielen sich weit über den Boden schlängelnden Einkerbungen schienen mit leuchtendem Wasser gefüllt zu sein und warfen helle Reflektionen an die steinerne Wand. Was für ein eigenartiges Licht... es schien zu pulsieren, zu atmen... als wäre es lebendig. Auch die steinernen Statuen der Gottheiten wirkten unglaublich echt.
Youma schreckte vor diesen jedoch nicht zurück, sondern schritt entschlossen voran, ohne den Gottheiten auf irgendeine Art Respekt zu zollen, obwohl er sie alle gekannt hatte; vielleicht gerade deshalb. Genau wie Silence und Green es getan hatten, bemerkte auch Youma das auf dem Bannkreis klebende Blut, doch beachtete es nicht weiter, denn das vorher noch sanfte Leuchten der Kugel war nun zu einem wahren Strahlen geworden. Die Kugel hatte ihm gute Dienste geleistet - er hoffte, dass dies auch auf dessen Besitzer zutreffen würde, wenn er ihn wiederbelebte.
Ohne auf Hikari-kami-sama zu achten, welche die weiße Kugel schützend in ihren kleinen Händen hielt, steuerte er direkt auf das Bildnis seiner Mutter zu, deren Steinaugen ihn ausdruckslos, aber mit eleganter Erhabenheit anstarrten.
Einen Augenblick ignorierte Youma das intensive Strahlen der Kugel und gönnte sich einen kurzen, intimen Moment mit seiner Mutter, auch wenn diese nur eine Statue war.
Er konnte sich kaum noch an sie erinnern; er konnte nicht einmal beurteilen, ob dieses steinerne Bildnis ihrer würdig war und das obwohl er sich zu erinnern meinte, dass sie vor ihrer Ermordung sehr viel Zeit mit ihm und Silence verbracht hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, was Silence und er als Kinder gespielt hatten, wie ihr damaliges Zimmer ausgesehen hatte, deren Zuhause, ehe sie von Light mitgenommen worden waren... Aber nicht an ihr Gesicht, ihre Stimme oder das Gefühl, wie es war, von ihr umarmt zu werden - und das obwohl er sich irgendwie sicher war, dass sie keinen Geiz gegenüber körperlicher Nähe gezeigt hatte.
Es war lange her.
Oder vielleicht hatte man ihm die Erinnerung an seine Mutter auch genommen, wie man ihm so viele andere Erinnerungen genommen hatte.
Youma spürte einen leichten, aber peinigenden Stich in sich, doch tat so, als würde er ihn nicht bemerken, während er wieder aufblickte. So eine hübsche Statue; die einzige, die es von seiner Mutter gab, denn wenn die Wächter die Gottheiten portraitierten, war Yami nie mit ihnen zusammen abgebildet, genau wie es offiziell nur 12 Elemente gab und das Element der Dunkelheit nicht in das große Wappen der Wächter eingebunden war.
"Ich tue das alles auch für dich, Mutter. Ich werde den verblendeten Hikari beweisen, dass wir uns nicht ungestraft verbannen lassen." Daraufhin schwieg Youma; betrachtete stumm die Finger der Statue seiner Mutter, sich bewusst, dass er sie beschädigen musste, wenn er an die Kugel gelangen wollte. Mit anderen Worten musste er das einzige Kunstwerk seiner Mutter in Mitleidenschaft ziehen.
"Verzeih mir, Mutter."
Er hatte es natürlich getan, es hatte keinen Weg daran vorbei gegeben und er war sich sicher, dass seine Mutter es verstehen und verzeihen würde; dass es ganz in ihrem Sinn gewesen wäre. Jetzt hatte er alle notwendigen Vorkehrungen getroffen - jetzt war es nur noch eine Sache des Timings, wobei er sich leider auf eine Aussage Karous verlassen musste, was ihm so gar nicht gefallen wollte. Ihm blieb allerdings nichts anderes übrig, als sich darauf zu verlassen, dass Karou dafür sorgen würde, dass Lerou den Wächtern genau zu dem von Youma und Karou verabredeten Zeitpunkt den Krieg erklären würde, damit diese wiederum die Glocken läuten würden. Youma brauchte sich daher nicht zu beeilen, denn er hatte die beiden Kugeln früher beschaffen können, als es die beiden verabredet hatten - er war ihm einen Tag früher gelungen, als er es geglaubt hatte. Er hatte eigentlich vorgesehen, diesen unerwartet freien Tag zum Ausruhen zu benutzen, um sich noch einmal zu entspannen, bevor er die kompliziert durchzuführende Wiederbelebung vollführen würde. Doch schnell bemerkte er, dass er sich bei diesem Vorhaben selbst im Weg stand - er war zu aufgeregt, weshalb er den Großteil des Tages damit verbrachte, auf und ab in seinem Hotelzimmer zu gehen, seine Notizen und Pläne beinahe im Stundentakt noch einmal las, dabei immer die Uhr im Blick habend - oder das Handy von Teri. Denn Teri hatte ihm versprochen, dass sie ihn sofort kontaktieren würde, sobald sie etwas Neues aus der Dämonenwelt hörte - sie würde ihm also auf jeden Fall Bericht erstatten, wenn Lerou den Wächtern den Krieg erklärte.
Der Tag verstrich quälend langsam.
Youma wurde unruhiger und unruhiger.
Was wäre, wenn die Wächter das Verschwinden der Kugel bemerken würden? Aber nein, jetzt begann er damit, sich unnötige Gedanken zu machen... er hatte doch gesehen, wie unbenutzt diese alte Passage gewesen war... sie wurde nicht regelmäßig aufgesucht... und wenn White es nun spüren konnte, dass die Kugel nicht mehr an ihrem Platz war? Dann hätten sie Youma schon gefunden; Silence hätte ihn finden können... warum hatte sie ihn in dem letzten Jahr eigentlich nicht gefunden? War sie nicht auf die Idee gekommen, in der Menschenwelt nach ihm zu suchen? ... vielleicht hatte sie ihn auch einfach nicht gesucht...
Noch einmal der gleiche Rundgang: eine Ecke des Hotelzimmers, dann die andere, Pläne durchlesen, wieder aufstehen, Handy zweimal angucken. Nichts geschah. Es wurde dunkel und nichts geschah.
Wenn Karou seinen Zwilling - das wusste er von Teri, Karou hatte es Youma nicht erzählt - nun nicht von einer Kriegserklärung hatte überzeugen können? Oder was war, wenn der Bruder Teris ihr die Neuigkeiten aus der Dämonenwelt zu spät erzählen würde... oh Gott, so viele Risiken, worauf hatte er sich nur eingelassen...
Es wurde dunkel; Youma spürte, dass er Schlaf brauchte, doch er fand keinen. Jedes Mal, wenn er sich dem Tiefschlaf näherte, wachte er wieder auf, aus Angst, er könne das Handy überhören -und so ging es die gesamte Nacht weiter, bis er am Morgen beinahe panisch aus dem Bett stürzte, als er Glockenläuten hörte, glaubte gar, es sei zu spät, alles sei zu spät, alle Pläne zerstört - und dann war es nur das Läuten der Glocken einer nahen Kirche, welches ihn geweckt hatte.
Der Vormittag peinigte ihn genau wie der vorige Tag und während Youma einen Tee nach dem anderen trank, um sein Hungergefühl zu ertränken, überlegte er wütend, ob er sich in die Dämonenwelt aufmachen sollte, um selbst herauszufinden, wie es um die Kriegserklärung stand.
Aber dann klingelte das Handy. Und es war Teri. Und es war die Kriegserklärung. Die Kriegserklärung. Endlich. Endlich!
Doch nun hieß es wieder warten, denn natürlich hatte Karou ihm nicht sagen können, wann genau die Wächter die Glocken zu läuten pflegten. Es könnte auch jedes Mal anders sein, hatte er zu verstehen gegeben, aber wenn die Glocken auf die Wächter wirklich eine so starke Wirkung hatten, dann ging Youma davon aus, dass er schon spüren würde, wenn sie geläutet werden würden.
Es ging ihm schon gleich viel besser; zwar war er immer noch angespannt, aber der Hunger schien vergessen. Ein Teil des Plans war aufgegangen und jetzt musste er sich nicht auf die Launen der Dämonen verlassen, sondern auf die Traditionen der Wächter - und darauf baute er lieber.
Bepackt mit einem Umhang für den bald Wiederbelebten und seiner Sense - denn man wusste ja nie, er rechnete eigentlich eher mit einem Angriff als dem Gegenteil - machte sich Youma auf zu dem Ort, den er schon vor einiger Zeit für die Wiederbelebung ausgesucht hatte: eine kleine, von hohen Bäumen umrahmte Waldlichtung, weitab von den neugierigen Blicken der Menschen. Ein kleines, stilles Fleckchen Erde, welches er auf seinen Reisen zu Beginn des Jahres gefunden hatte und für perfekt hielt.
Angekommen lehnte Youma seine Sense an den Baum, der ihm am Nächsten war, denn er musste beide Hände freihalten für die Wiederbelebung; allerdings nicht um die Kugeln zu halten. Diese hatte er zirka fünf Meter vor sich abgelegt, beide genau nebeneinander, welche, seitdem sie wieder vereint waren, nicht mehr penetrant leuchteten, sondern im gleichen Rhythmus pulsierten, wie zwei Herzen, die vereint waren.
Light hatte ihm während des Trainings stets eingebläut, dass er sich auf den Grund, weshalb er die Person wiederbeleben wollte, konzentrieren musste. Der Grund sei das Entscheidende.
Es war Youma natürlich damals nicht schwer gefallen, sich auf eben diesen zu konzentrieren, denn die Technik war immerhin für Silence vorgesehen gewesen und es gab mehr als genug Gründe, um seinen geliebten Zwilling wiederzuerwecken, genug positive Gefühle, für die es sich allemal lohnte, diese schwierige Technik anzuwenden; eine Technik, welche immer für Silence reserviert gewesen war und nun für jemanden benutzt wurde, den er nicht kannte. Er verband keine positiven Gefühle mit ihm, wusste nichts über ihn, außer ein paar Daten und lose Erzählungen. Der einzige Grund für ihn, eben diese Person wieder ins Leben zurückzuholen, war eine Empfehlung von zwei Dämonen, die er ebenfalls nicht kannte und denen er ganz gewiss nicht vertraute. Ihre Beweggründe waren schleierhaft und für Youma von keinem Belang, denn er nahm sowieso keine Rücksicht auf sie. Sie hatten sich gegenseitig missbraucht: sie, um diesen merkwürdigen Nocturn wiederbelebt zu bekommen und Youma, um einen erneuten Krieg in Gang zu bringen, für welchen das Leben Nocturns unabdingbar war, denn nur dadurch, dass Youma ihn wiederbelebte, würde der Bannkreis brechen.
Silence hatte Recht gehabt: Youma hatte den Krieg vor so vielen Äonen begonnen.
Und er würde ihn beenden.
Ein für alle Mal.
Youma war nicht wie die Wächter ein Werkzeug der Hikari; hatte sich von ihnen und all seinen Wurzeln losgerissen, egal wie schmerzhaft es gewesen war. Er war auch nicht die Marionette von einem omnipotenten Dämon, dessen größtes Problem seine langweilige Existenz war. Nein, Youma war sein eigener Herr und er handelte, wie er es für angebracht hielt, unabhängig und frei würde er seine Rache verfolgen und das Wächtertum zerstören, das Hikaru auf den Leichen seiner Familie errichtet hatte.
Ob dieser Nocturn dabei für ihn hilfreich sein würde, wusste er nicht. Das Wenige, was er über ihn erfahren hatte, hatte gereicht, um ihn erahnen lassen zu können, dass sich der Umgang mit ihm schwierig erweisen würde. Doch erst einmal war es genug, ihn nur wiederzubeleben. Dann hatte er bereits seinen Daseinszweck erfüllt. Alles was danach kam war nichts weiter als ein Bonus. Aber Youma hatte bereits genug Pläne geschmiedet, um nicht auf ihn angewiesen zu sein.
Die Gedanken des Sensenmannes wurden schlagartig von seinem eigenen Herzen unterbrochen, als dieses von weit her aus dem Himmel die Glocken des Krieges hören konnte. Anders als Silence hatte er sie natürlich noch nie zuvor gehört und reagierte ähnlich wie Green: einen Moment verharrte er in Faszination, das strahlende Glöckchen in seiner Faust haltend und in den dunklen Abendhimmel blickend, dorthin, wo er den Tempel und somit die Glocken vermutete. Er beeilte sich jedoch, sich aus dem stählernen Griff der anklagenden Glocken zu befreien und kopfschüttelnd löste er seine Faust von seinem Glöckchen.
Er musste sich selbst eingestehen, dass die Glocken intensiver waren als von ihm befürchtet; es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, doch er musste sich dazu zwingen, die Glocken zu überhören, da er die Wiederbelebung nur so lange durchführen konnte, wie sie sein Herz zum Beben brachten.
"Konzentrier dich, Youma...", befahl er sich selbst und begann.
Fünf Meter Abstand zu den Kugeln perfekt eingehalten.
Die Arme absolut horizontal.
Die Kapsel mit den Überresten von Lights Lichtmagie schwebte zwischen seinen ausgestreckten Fingern.
Und endlich gelang es seinem eigenen Glöckchen, sich von dem Läuten der Kriegsglocken zu lösen und sich dem sanften Takt der Kapsel anzupassen, womit sie nun im Einklang leuchtend zu pulsieren begannen. Ohne einen Laut zu verursachen, öffnete sich die Kapsel, indem sie sich in der Mitte teilte. Die sich darin befindende Lichtmagie trat heraus und vermehrte sich; schneller als es Youma lieb war, war auf einmal die gesamte Lichtung in gleißendes Licht gehüllt und obwohl es noch nicht schädlich auf ihn wirkte, spürte er bereits, dass sein Dämonenblut heftig dagegen protestierte. Es verlangte danach, das Ganze abzubrechen, doch Youma befahl sich selbst, dass er ruhig bleiben musste, denn er durfte unter keinen Umständen in den Dämonenmodus wechseln. Light hatte ihm zwar nicht gesagt, was dann passieren würde, doch Youma hatte auch nicht das Verlangen danach, es herauszufinden.
Die Kriegsglocken waren nun komplett verdrängt, denn nun fiel es Youma plötzlich weitaus schwerer, sein Dämonenblut daran zu hindern, die Oberhand zu ergreifen, denn die aktivierte Lichtmagie, in deren Mitte er stand, hatte nun immens zugenommen. Seine Haut brannte, als würde er seine Hände auf eine kochende Herdplatte legen, doch er musste sich konzentrieren ... er durfte den Schmerz nicht beachten und musste sich auf den Grund konzentrieren ... welchen Grund? Er hatte doch keinen...
Es war etwas vollkommen anderes, eine Person zurückzuholen als Tiere - seine Haut schien in Flammen zu stehen und er konnte sich nicht daran erinnern, dass es damals bei den Übungen so geschmerzt hatte. War es, weil er sich nicht an Wächtern oder Dämonen versucht hatte? War es, weil viel mehr Lichtmagie benötigt wurde, um einen gesamten Körper wieder in seine Ursprungsform zurückzuversetzen? Oder war es, weil er keinen Grund hatte und die eingesetzte Magie nicht die seine war; wollte die ach so gütige Hikari-kami-sama ihm nicht erlauben, ihre Technik, ihre Magie, anzuwenden?
Was auch immer die Ursache war: diese Zeremonie war ein Kraftakt. Das immense Licht blendete Youma so stark, dass er seine Augen schmerzend zusammenpressen musste und somit konnte er nicht sehen, ob sich das Aushalten dieser Pein überhaupt lohnte ... Konzentrieren, das war alles, was er tun konnte ... konzentrieren, die Schmerzen aushalten ... das Blut seines Vaters zurückdrängen ...
Youmas Konzentration geriet ins Stocken. Nicht weil er es sich anders überlegt hatte, sondern weil sein Körper ihm nicht länger gehorchen wollte. Röchelnd stürzte er zu Boden inmitten dieser Säule aus Licht. Seinen linken Arm konnte er nicht mehr bewegen, nur der rechte gehorchte ihm noch und verzweifelt streckte er diesen aus, sich dazu zwingend, die Wiederbelebung fortzusetzen...
Doch es gelang ihm nicht.
Er wurde ohnmächtig und ein schwarzer Schleier legte sich über ihn.
Lange hielt diese Ohnmacht allerdings nicht an. Obwohl seine Sinne den Betrieb wieder aufgenommen hatten und er somit deutlich vernahm, dass das Licht verschwunden war, war sein Körper zu geschwächt um Handeln zu können. Seine Haut brannte zwar immer noch, doch der Schmerz hatte nachgelassen - er hatte versagt. Wenn das Licht tatsächlich verschwunden und nicht mehr in seiner Kapsel vorhanden war, dann wäre es für ihn nicht möglich, den Bannkreis zu brechen... und auch die Glocken waren verstummt. Es war vollkommen ruhig.
Youma spürte, wie die Frustration in ihm aufkam; er wollte fluchen, sich selbst und das Schweigen um ihn herum anschreien, als ihn etwas davon abhielt - er spürte etwas. Die Gegenwart einer anderen Person: schemenhaft, aber vorhanden. Eine Person, welche sich über ihn beugte.
Sofort war sein Körper wieder einsatzbereit und schlagartig schlug er die Augen auf im gleichen Moment, in dem er auffuhr.
Doch da war niemand, der Youmas halbausgeführten Angriff hätte entgegennehmen können. Er war alleine, niemand hatte sich über ihn gerichtet, denn das Gras neben ihm war nicht heruntergedrückt. Aufmerksam lauschte Youma in die Dunkelheit hinein und bemerkte plötzlich etwas anderes: ein fremdes Atmen.
Erschrocken, vielleicht auch ein wenig überschnell, wirbelte Youma herum und bemerkte, dass er tatsächlich nicht alleine war. Genau fünf Meter von ihm entfernt lag jemand genau wie er im Gras; offensichtlich handelte es sich um den Dämon, den er hatte wiederbeleben wollen.
W-Wie war das möglich? Youma hatte die Wiederbelebung nicht zu ihrem Ende gebracht; die Wiederbelebung doch gar nicht ausgeführt ... war sie fehlerhaft verlaufen?
Ein leichter Schauer des Grauens überkam Youma bei dieser Vorstellung, doch er zwang sich, sich zusammenzureißen. Er musste überprüfen, ob die Wiederbelebung tatsächlich fehlerhaft verlaufen war... doch gewiss nicht ohne seine Sense, welche er mit einem gezielten Gedanken zu sich beorderte und diese ebenso gekonnt in Empfang nahm, ehe er sich dem im Gras liegenden Dämon langsam näherte und sich dann misstrauisch über ihn beugte.
Er war genauso bewusstlos, wie Youma es vor wenigen Sekunden noch gewesen war, doch er lebte: daran gab es keinen Zweifel. Sein magerer Brustkorb hob und senkte sich - langsam, aber dennoch war da ein eindeutiges Arbeiten der Lungen erkennbar.
Das Erste, was ihm auffiel, war nicht sein markantes Gesicht, sondern seine Haut; über und über war diese mit hässlichen Narben übersät; von verschiedener Länge, Art und Tiefe. Es erschien Youma überaus unlogisch, dass er diese alle zufällig bekommen hatte... es sah viel eher danach aus, als hätte man diese systematisch über seinen gesamten Körper verteilt - und dieser jemand war dabei sehr gründlich vorgegangen, denn sogar an seinen krüppeligen Füßen waren Einkerbungen zu erkennen - nur nicht auf seinem Gesicht und seinen Händen, als hätte man darauf geachtet, dass sie in einem bekleideten Zustand nicht sichtbar waren. Der Bau seines Körpers war ebenso verwunderlich; er war überaus dünn, nicht sonderlich kräftig gebaut, wirkte viel eher zerbrechlich - an einigen Stellen waren seine Kochen sehr deutlich ausmachbar, weshalb er sehr ungesund aussah. Nur sein Gesicht wirkte gesund, auch wenn er blass war, was sicherlich auch daher kam, dass er tot gewesen war.
Erstaunlich. Ja, Youma war in der Tat erstaunt. Erstaunt und beeindruckt von dem Wunder, welches er gerade vollbracht hatte - auch wenn er nicht wusste wie. Er war sich absolut sicher, dass er den Körper des Dämonen Nocturns genau so hergestellt hatte, wie er zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war.
Doch die Verblüffung legte sich schnell wieder und überließ der Skepsis ihren Platz - wie zur Hölle war das möglich? Er hatte die Wiederbelebung nicht zu Ende gebracht...
Völlig in Gedanken versunken wandte Youma sich herum, um die Kleidung, welche er für den wiedergeborenen Nocturn mitgenommen hatte, neben ihm niederzulegen. Wenn sie ungestört blieben, würde Youma warten, bis er von sich aus aufwachte: er glaubte nicht, dass es eine sonderlich gute Idee war, ihn irgendwie zu wecken. Als Youma aus dem Zeitbann erwacht war, war er extrem verwirrt und aufgebracht gewesen; wie musste es da erst sein, wenn man wiedergeboren wurde?
Kaum dass Youma dies dachte, bemerkte er aus dem Augenwinkel plötzlich, wie etwas aufleuchtete: der Mond war durch die Wolkendecke gebrochen und schien nun auf einen kleinen Gegenstand, welchen er bis jetzt nicht bemerkt hatte: das zerbrochene Glöckchen Lights lag einige Meter von ihm entfernt im Gras. Wie hatte es sich von der Kette gelöst?
SchMerZ war allEs, was iM erStEn AugeNbliCk zu spürEn war; der Körper stand unter brennendem Feuer, der Kopf schmerzte --- der Kopf schmerzte so fürchter---lich, ferNe STImMen, herannahende StimmeN.... was hast du schon wieder getan?!
...kannst du den Jungen denn nicht einfach in Ruhe lassen... warum kann ich euch nicht einmal alleine lassen? Ich habe wichtigere Dinge zu tun! Ich muss auf dich mehr aufpassen als auf Lerou... hör auf zu jammern, das ist ja erbärmlich... --- die Wange schrabt über den steinernen Boden --- ...d-du lässt m-i-c-h nie alleiNE --- die HaUt entzweigerissen --- du nicht, du nicht.... sei still, ansonsten hört dein Vater uns und das wollen wir doch beide nicht --- tiefer, tiefer, durch die Haut, tiefer, tiefer ins Fleisch, Blut, Blut, tropf, tropf --- einen Namen? Nein, einen Namen hat er nicht, braucht er nicht... wozu denn?
Geht es dir gut?
Wie heißt du?
White? White? White, wo bist du?! Ich brauche deine Aura, dein Licht, ich kann nichts sehen, ich kann nichts sehen, hilfe, hilfe, hilfe----
was sind das für Erinnerungen, die gehören nicht mir------
Wen hast du gesehen, mein Junge? Einen Engel sagst du? ... --- zurück auf die Knie, Stirn schmettert gegen den Boden, Sicht verschwimmt, Blut im Mund --- Du verfluchtes Gör! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich es dir nicht erlaube, mit anderen zu reden?! Du redest, wenn ich dir sage, du redest! Du schaust jemanden an, wenn ich dir sage, du sollst schauen! Habe ich dir befohlen, mit dieser Person zu reden?! HA?! Sag es mir! Habe ich dir den Befehl gegeben, mit einem "Engel" zu reden?!
Das sind nicht meine Erinnerungen, das bin nicht ich --- White! White, wo bist du, deine Aura... ich brauche deine Aura, deine Stimme---
Sei brav. Sei ein braves Kind - ja, gutes Kind, hör auf mich und vergiss das alles, das ist alles nur Gift für dich. "Nein" hast du gesagt? Hast du gerade "nein" gesagt? ---Höllenfeuer, Stufe drei - oh nein, oh nein, oh nein - nicht Stufe drei! Bitte, bitte nicht--- Wie bekannt, wie bekannt; es zerreißt den Körper, brennendes Feuer, schrei, schrei, SCHREI! ---
Nein, das ist mir nicht bekannt... ich setze das Höllenfeuer ein, ich foltere... ich werde nicht... ich brauche Licht... wo ist mein Engel...
Du brauchst keine Angst zu haben.
Diese Stimme... sie klingt genau wie ihre... aber der Tonfall... der Tonfall ist anders...
Warum versteckst du dich?
Angst, Angst - sie könnte die Treppe hochkommen, mich sehen, mich finden...
Du brauchst dich doch wegen ihr nicht zu verstecken wie ein gejagtes Tier.
Ihre ausgestreckte, elegante, ebenfalls zum Töten geborene Hand - er wollte sie nehmen, ergreifen - er wollte Musik. Ihre Musik. Spielst du wieder auf dem Flügel? Spielst du das Lied des Herbstes?
Angst ist kein Gefühl, welches dich quälen muss. Du kannst doch jeden umbringen, den du willst.
Schmerz durchzuckte seine Brust; die Wunde, die White ihm zugefügt hatte, schmerzte, das Atmen fiel ihm schwer, er bekam keine Luft - doch, aber nur schwer. Seine Brust schmerzte, aber da war kein Blut....
Vergeude deine Kraft nicht.
Er konnte Whites Aura nicht spüren, sie war doch eben noch...
Benutze sie.
Seine dürren Finger zuckten leicht, pochend breiteten sich seine Kräfte wieder in seinen Adern aus, durchfluteten seinen Körper, als bestünde sie aus Einzelteilen, die ihren Platz langsam wieder einnahmen.
Lass dich nicht in Ketten legen.
Von niemandem.
Du bist dein eigener Herr. Du gehörst ganz allein dir, Nocturn!
K L A C K
Die Macht des absoluten Schweigens fegte alle anderen Laute restlos aus seinem Kopf und hinterließ nur Stille; er hörte keine Stimmen mehr, keine Laute... nur das Rauschen von Blattwerk und das Gefühl eines komisch angespannten, steifen Körpers.
....was...was geht hier vor.... warum atme ich? Wo ist Whites Aura? Wo ist White? Ich lebe... aber White... White...
So sollte es nicht sein --- ich sollte doch tot sein --- wir sollten doch zusammen sterben ---------------------- Wieso lebe ich noch?!
Youma hatte sich von dem Bewusstlosen abgewandt, um das kleine Glöckchen wieder aufzuheben. Völlig mit der Frage beschäftigt, wie dieses kleine Ding überhaupt dorthin gelangen konnte, bemerkte er plötzlich, dass es außerordentlich ruhig war.
Es war zu ruhig: jemand hielt den Atem an.