Kapitel 56 - Schwarze Augen, schwarzer Himmel
White war offensichtlich zu optimistisch gewesen, als sie Green versichert hatte, dass die Hikari sich schnell einig werden würden, was Greens Zukunft auf dem Schlachtfeld anging; denn als Green nach einem unruhigen Schlaf aufwachte, wurde sie bei einem appetitlosen Frühstück von einem recht genervt wirkenden Shaginai besucht, der ihr mitteilte, dass sie noch zu keinem Urteil gekommen waren - zusammen mit der Drohung, dass er sie zweiteilen würde, wenn er auch nur eine Haarsträhne von ihr beim Kampf in der Menschenwelt sah.
"Kampf in der Menschenwelt? Die Dämonen haben schon die Menschen angegriffen?!" Offensichtlich war Shaginai tatsächlich sehr durch den Wind, wenn er vergessen hatte, dass Green natürlich noch nichts von diesem Angriff wusste und er sich somit gerade verplappert hatte. Er ignorierte allerdings ihren geschockten Blick und die zu Boden gefallene, goldene Gabel und erwiderte:
"Das hat dich nicht zu interessieren, Yogosu. Hast du mich ..."
"Ach, deswegen ist keiner meiner Elementarwächter beim Frühstück, ich dachte schon ... geht es ihnen gut?"
"Einige sind in der Menschenwelt, ja. Aber du bleibst auf schwebendem Boden, Yogosu - hast du mich verstanden?!" Green schwieg einfach, anstatt ihm direkt zuzustimmen, nahm eine neue Gabel von Itzumi entgegen und hörte dann etwas, was sie beinahe ein weiteres Mal die Gabel verlieren ließ:
"Was gäbe ich dafür, wenn ich ebenfalls ein gutes Frühstück essen könnte. Oder für einen frisch gepressten Apfelsaft ..." Shaginai hatte offensichtlich mit sich selbst gesprochen, denn er bemerkte erst nach verstrichenen Sekunden, dass nicht nur Green ihn anstarrte, sondern auch Itzumi ihren Ohren nicht trauen konnte. Er räusperte sich hörbar und wandte seinen Blick von Greens Frühstück ab, sich dann aber schnell wieder besinnend:
"Du solltest die Zeit, die wir dazu brauchen, sinnlos hin- und her zu debattieren, nutzen, um dich von Grey zu verabschieden." Einen kurzen Augenblick war Green verwirrt über diese Aussage, fragte verwundert nach, denn sie verstand nicht, sie könne ihn doch immer sehen ... er sei doch sicherlich wie die anderen Elementarwächter in der Menschenwelt?
"Du wirst keine Zeit haben, um diese am Friedhof zu verschwenden, Yogosu." Auch diese Aussage verwirrte sie und erst nach einem kurzen beklemmenden Schweigen, drang die Erkenntnis, dass ihr Bruder von ihr gegangen war, wieder in ihr hoch und brachte sie dazu, sich schweigend vom gedeckten Tisch zu erheben, nachdem Shaginai ihr mitgeteilt hatte, dass die Leiche Greys bereits für die Beisetzung bereit gemacht worden war und sich im Sanctuarian befand.
Aus diesem Grund stand Green nun begleitet von Leanie in einem der vielen Aufzüge im Sanctuarian, welcher steil abwärts ging. Zwar bemerkte Green den neugierigen Blick der Tempelwächterin, doch wählte ihn nicht zu beachten und starrte stattdessen wie hypnotisiert auf das kleine Goldschildchen des Fahrstuhls, auf dem mit feinen Buchstaben ihr Ziel geschrieben stand:
Leichenhalle
"Ich bin überrascht", begann Leanie plötzlich ein Gespräch, da ihr das Schweigen scheinbar unangenehm war; oder aber in der Hoffnung, irgendetwas aus Green herauszukitzeln:
"Ihr tragt kein trauerschwarz." Die Angesprochene wandte sich von dem goldenen Schild ab als der Fahrstuhl langsam zum Stillstand kam; doch noch ehe dessen Türen aufglitten, antwortete Green:
"Grey mag kein schwarz." Genau in dem Moment, in welchem Green ihren Satz beendet hatte, glitten die Türen des Fahrstuhls beiseite und gaben einen kleinen, rechteckigen Raum frei, welcher sich komplett von dem sonst so hellen und freundlichen Sanctuarian unterschied: der Raum war kahl, fensterlos und nur eine kleine rote Bank an der linken Wand war zu sehen. Lediglich eine große, stählerne Tür, versehen mit einem elektronischen Schloss, befand sich am Ende des kleinen Raumes Green gegenüber. Der kleine Raum war spärlich beleuchtet und lag im Halbdunkel.
Es war eine bedrückende Stimmung; es war kalt und man konnte weder etwas hören, noch etwas Bestimmtes riechen. Die Luft war absolut steril.
Bedrückt und sich unwohl fühlend schritt Green in den kleinen Raum und bemerkte sofort, wie kalt es in diesem Vorraum war. Leanie schien sich nicht von der Umgebung bedrücken zu lassen, denn sie steuerte zielsicher auf die große Stahltür zu, welche der Grund für Greens schlechtes Gefühl war und begann, einen Code einzugeben; anscheinend brachte sie oft Wächter hier herunter. Green wünschte sich, dass die Tempelwächterin nicht so routiniert darin war, Wächter in die Leichenhalle zu bringen, denn der Öffnungsprozess der Tür ging ihr eindeutig zu schnell; es gelang ihr nicht, sich seelisch darauf vorzubereiten.
Doch kaum, dass die Tür offen war, wurde ihr sofort bewusst, dass egal, wie viel Zeit Leanie ihr gelassen hätte, um sich auf dieses Bild vorzubereiten, so wäre es niemals genug gewesen. Im Fernsehen hatte Green selbstverständlich auch manchmal Leichenkeller gesehen; einen kahlen, düsteren Raum, wo die leblosen Körper tiefgekühlt in Schächten lagen, bis sie überführt und beerdigt wurden.
Dieser Raum - nein, das war nicht die richtige Bezeichnung, denn es war eher eine Halle - glich diesem Bild absolut nicht. In diese komplett weiße Halle hätten gewiss zwei Fußballstadien reingepasst, doch stattdessen war sie gefüllt mit Leichen, alle fein säuberlich auf Bahren geordnet, an denen ein Namensschild befestigt war. Alle sich hier befindenden Leichen waren bereits gesäubert worden, trugen eine saubere, einheitliche Uniform und schienen alle bereit zu sein, beigesetzt zu werden - doch selbst die fleißigsten Tempelwächterhände waren nicht in der Lage, die Körper derer wiederherzustellen, welche im Kampf ihrer Körperteile beraubt worden waren. Es gab Leichen, die keine Beine mehr hatten, denen eine Hand fehlte oder welche kopflos waren; einige waren sogar in der Mitte geteilt. Die meisten hatten ihre Waffe neben sich an der Bahre lehnen, andere nur Überreste ihres treuen Gefährten. Obwohl einige wahrlich in einem schlechten Zustand waren, wirkten sie alle so, als würden sie nur schlafen, da man ihnen die Augen geschlossen hatte ... und sie irgendwie ... alle denselben Gesichtsausdruck hatten ...
Greens Hand wanderte sofort zu ihrem Mund, doch nicht aus Gräuel, sondern aus Entsetzen, denn auch hier war die Luft von jeglichem Gestank befreit: Die Leichen mussten konserviert sein.
Es war der Anblick, der sie schockierte; es war leichter, eine Zahl auf einem Bildschirm zu akzeptieren, die einem mitteilte, wie viele Wächter in den vergangenen Tagen ums Leben gekommen waren - doch es zu sehen, mit eigenen Augen zu sehen, wie viele es waren, unter welchen Umständen einige verendet waren ... war etwas anderes.
Es war, als würde man den Horror des Krieges auf einem Silbertablett serviert bekommen.
"Wie ... wie viele passen hier rein?", fragte Green plötzlich und ihr fiel dabei auf, wie sehr ihre Stimme zitterte, als sie ihre Hand wieder von ihrem Gesicht löste und sich zwang, sich zusammenzureißen. Dabei fiel ihr nicht auf, wie Leanie sie verwundert musterte, so als ob sie die Frage nicht ganz verstünde; als läge die Antwort klar auf der Hand. Doch natürlich sprach Leanie den Gedanken, dass dies doch eine dumme Frage sei, nicht aus, sondern antwortete pflichtbewusst:
"Alle, Hikari-sama, wir passen hier alle rein." Keine Antwort, die Green besonders gefiel und sie wunderte sich auch darüber, denn sie fand, dass die Halle bereits ... gut ... gefüllt war. Doch während sie ihren Blick über die leblosen Körper gleiten ließ, bemerkte sie an den hohen, weißen Wänden eine Vorrichtung, die danach aussah, als könnte man dort noch weitere Platten ausfahren lassen, welche so eine zweite Etage bilden könnten; hoch genug war die Leichenhalle allemal. Die Hikari hatten wahrlich vorgesorgt ...
"Wie finde ich denn ... wie finde ich denn ..." Es fiel Green schwer, diese Frage zu stellen, genauso wie es ihr schwerfiel, sich vorzustellen, dass Grey unter diesen vielen Leichen sein sollte. Er passte doch viel besser hier an ihre Seite, seine Hand auf ihrer Schulter, ein aufheiterndes Lächeln ... oh, wie sehr brauchte sie es. Wie sehr sehnte sie sich danach.
Wo war er? Wo war ihr Bruder?
Leanie machte einen Wink zu einer weiteren Stahltür, welche sich am anderen Ende der Halle befand und Green gar nicht weiter aufgefallen wäre, da sie zu sehr vom grauenhaften Szenario vor sich abgelenkt gewesen war.
"Gut, danke. Ich ... wäre dann gerne alleine." Leanie nickte und antwortete, dass sie dann draußen warten würde, weil sie die Tür wieder verschließen müsse - die andere würde aber für Green offen sein.
Das Geräusch der sich hinter Leanie schließenden Tür bebte kurz und nachhallend durch den Raum. Dann blieb Green alleine zurück: alleine mit 846 Leichen.
Greens Beine fühlten sich an wie Blei, als sie sich endlich nach mehreren Minuten dazu zwang, sich zu bewegen und dabei nicht auf ihre Umgebung zu achten, aber das war ein schweres Unterfangen. Obwohl der einzige Laut, welcher in dieser Halle zu hören war, die Schuhe Greens waren, donnerte es in ihren Ohren: Die Stille drückte sie hernieder und ließ in ihr den Wunsch aufkommen, zu schreien, nur damit etwas an den Wänden widerhallte.
Diesem Wunsch nicht nachgehend ging Green ihren Weg zwischen den Leichen weiter und anstatt zu schreien und damit Krach zu verursachen, tat sie plötzlich eher das Gegenteil, indem sie versuchte, keinen einzigen Laut zu verursachen, fast so als fürchtete sie, die Schlafenden zu wecken.
Mit gesenktem Kopf war es der Hikari gelungen, die Hälfte der Leichenhalle eiligen Schrittes zu durchqueren, bis ihre übereiligen Füße sich überschlugen und Green beinahe zu Boden rissen - vor einem Sturz konnte sie sich allerdings noch bewahren, indem ihre ausrudernde Hand Halt fand.
Stockend blieb Green der Atem im Halse stecken, als sie bemerkte, an was sie Halt gefunden hatte. Nur einen kurzen Augenblick lang sah und spürte sie die eiskalte Hand des Toten, ehe sie mit einem erstickten Schrei rückwärts stürzte, die Augen jedoch nicht von der Hand, die einem kleinen, zerquetschten Körper gehörte, abwenden könnend.
Es war ein Kind, das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht, nie erreichen könnend ... das in einer Reihe mit anderen toten Kindern lag.
Sie kniff die Augen zusammen und sagte sich selbst, dass sie sich zusammenreißen müsse.
Es war normal, sie würde noch viele tote Kinder sehen.
Sie waren im Krieg ... sie waren im Krieg.
Es war normal ... es war
normal.
Kurz verbarg Green ihr Gesicht in der Hand, die das Kind nicht berührt hatte, atmete noch einmal durch, doch hatte eher das Gefühl, dass sie das Verlangen sich zu übergeben dadurch nur noch verstärken würde, ehe sie sich von diesem schrecklichen Bild abwandte, um die letzten Schritte nun beinahe zu rennen, welche sie von der Metalltür trennten.
Tatsächlich war die Tür nicht abgeschlossen und sie öffnete sich, kaum dass Green vor ihr stand. Der kleine Raum, welcher sich nun vor ihr befand, war ebenfalls weiß, doch nicht hell erleuchtet wie die Leichenhalle. Dunkel und drückend lag er vor ihr und erst als Green zögernd einen Fuß hineinsetzte, leuchteten mehrere am Boden befestigte kleine Lämpchen auf und tauchten den Raum in ein mattes Licht, im gleichen Moment, wie die Tür sich automatisch hinter Green schloss.
Im spärlichen Licht erkannte die Hikari, dass dieser Raum für zehn Glassärge vorgesehen war, doch zu diesem Zeitpunkt befand sich dort nur einer, rechts neben ihr.
Green blieb an der kalten Tür stehen, absolut erstarrt und das, obwohl ihr Herz ihr mit einem rasenden Tempo bis zur Brust schlug. Von dem Punkt aus, wo sie stand, sah sie nicht viel von ihm; sie sah nicht mehr als ein Paar polierter Stiefel, die auch zu jedem anderen leblosen Körper gehört haben könnten.
Doch sie gehörten Grey ... er war es, der diese Stiefel anhatte; es war ihr Bruder, welcher dort leblos in dem gläsernen Sarg lag und sich nie wieder bewegen würde.
Grey würde sich nie wieder bewegen.
Er war tot.
Er war tot.
Grey war tot.
Die Erkenntnis überspülte Green auf einmal wie eine Flutwelle und wie ein Ertrinkender begann sie heillos zu schreien, bemerkte nicht, wie sie zu Boden stürzte und wie unbändig die Tränen an ihrem Gesicht herunter flossen, während sie immer wieder seinen Namen wiederholte, vor seinem Sarg auf dem Boden kauerte und ihn verzweifelt anflehte, doch die Augen aufzumachen, ihr zu sagen, dass das alles nur ein böser Traum war, und dass alles gut war, das alles gut war ... dass er sie doch bitte in den Arm nehmen musste ... dass sie ihn doch liebte ... und er sie doch nicht alleine lassen konnte ...
Alle diese verzweifelten, geschrienen Worte prallten an den kahlen Wänden ab, kamen zu ihr zurück, schlugen sie und erschöpften die kleine, weinende Schwester, bis ihre Stimme heiser wurde und sie keinen Ton mehr herausbekam. Völlig zerstört, in ihren eigenen Schreien erstickt und in ihren Tränen ertrunken, blieb Green auf dem Boden neben Greys Sarg liegen.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelegen hatte, wie lange sie im Stillstand verharrt war, bis sie sich schleppend aufrichtete und ihre Augen so Zentimeter für Zentimeter mehr von Grey sahen.
Genau wie die anderen Leichen war auch er bereits gesäubert worden; seine Haut war bleich und das schummrige Licht warf unheimliche Schatten auf das Gesicht ihres Bruders; das Gesicht dessen, welcher ihr vor wenigen Tagen noch gesagt hatte, dass er stolz auf sie war.
Nun lächelte er nicht. Er sah ernst aus ... sah ... tot aus. Anders als die anderen Leichen sah er nicht aus, als würde er schlafen. So wie er nun aussah, konnte er nichts anderes sein als ...tot.
Er trug nicht seine Uniform, sondern ein weißes Kleidungsstück, welches unzweifelhaft von ihm selbst stammte; Green erkannte seine Handschrift sofort. Doch obwohl das Jackenset mit einem hohen Kragen und Rüschen versehen war, konnte Green die nun blau gewordenen Schürfwunden an seinem Hals deutlich zwischen den weißen Rüschen erkennen. Es war, als könnte sie die Hände des Angreifers regelrecht erkennen, regelrecht vor ihren Augen sehen ...
Grey hatte sie gewarnt. Schon bei deren ersten Begegnung hatte er sie gewarnt. Sie hatte nicht auf ihn gehört, hatte ihn angeschrien, seine aufrichtige Sorge mit Füßen getreten und ihn als den "Bösen" abgestempelt. Dabei war sie es gewesen, die die Böse gewesen war, da sie sich zu sehr von der Vorstellung nie wieder alleine zu sein hatte verführen lassen, von der Vorstellung, endlich eine Familie gefunden zu haben - und dieser Trugschluss hatte sie nicht nur dazu gebracht, Grey die kalte Schulter zu zeigen, sondern seinen Tod zu besiegeln. Wie lange war sie ihm gegenüber ein Biest gewesen? Wie lange hatte sie nicht mitbekommen, dass er nur um sie besorgt gewesen war, dass er nur ihr Bestes gewollt hatte?
Aber sie war blind gewesen; blind und taub. Hatte weder seine Aktionen gesehen noch seinen Worten gelauscht. Greys Sorge war immer ehrlich gewesen, seine verzweifelten Methoden vielleicht nicht die besten, aber seine Worte immer aufrichtig - und sie hatte sich lieber von zwei Halbdämonen an der Nase herumführen lassen!
Egal, was Inceres sagte, egal, wer das Katanakaze durch Greys Herz gestoßen hatte ... im Endeffekt war sie es gewesen.
Hätte sie Grey vertraut, statt den Worten zweier Dämonen Glauben zu schenken, wäre ihr Bruder noch am Leben.
Das war die grausame Wahrheit; die grausame Wahrheit, welche Greens Kopf dazu brachte, sich dem Gewicht dieser Tatsache zu beugen, sich langsam auf das kalte Glas zu senken, welches sie von ihrem toten Bruder trennte und sich abermals der Traurigkeit hinzugeben.
"... es tut mir Leid ... verzeih mir ... verzeih deiner dummen Schwester ... Verzeih mir... Grey ... Verzeih mir ..."
Gedankenverloren und ihm den Rücken zugekehrt stand Green an dem großen Fenster in ihrem Gemach. Dank ihres weißen Kleides hob sie sich förmlich von dem dunklen Abendhimmel ab, in welchen sie hinaussah - glaubte Saiyon jedenfalls, immerhin konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Er musste zugeben, dass er ein wenig nervös war, denn er konnte sich nicht erklären, warum Green ihn zu sich gerufen hatte. Saiyon war gerade mit seiner Familie beim Essen gewesen, als die Tempelwächterin der Hikari ihm mitgeteilt hatte, dass Green dringend mit ihm sprechen wolle und an ihrem Blick hatte Saiyon deutlich gesehen, dass sie genauso erpicht darauf war, zu erfahren, was Green so dringend mit Saiyon zu besprechen hatte, wie er. Doch kaum, dass der Windwächter in dem Gemach der Hikari angekommen war, hatte diese ihre Tempelwächterin davongeschickt mit den Worten, dass sie mit ihm alleine sein wolle.
Seit diesem Moment, welcher sicherlich schon zehn Minuten zurücklag, hatte sie nicht mit ihm gesprochen, was die Ursache für seine Nervosität war. Vielleicht sollte er das Gespräch beginnen, indem er ihr persönlich sein Beileid für den Tod ihres Bruders aussprach? Er und seine Familie hatten zwar, wie so viele andere, ebenfalls eine Karte geschrieben, doch persönlich war immerhin etwas anderes. Green war sicherlich von tiefer Traurigkeit erfüllt, das spürte Saiyon regelrecht, immerhin hatte sie ein festes Band zu ihrem Bruder gehabt.
Doch in dem Moment, wo er gerade den Mund öffnete, um seine Gedanken auszusprechen, unterbrach Green ihn in diesem Vorhaben, indem sie ihm eine Frage stellte. Eine Frage, welche ihn überrumpelte, weshalb er gar nicht auf den geschwächten Zustand ihrer Stimme achtete:
"Mein Bruder hat mir vor seinem Tod erzählt, dass du um meine Hand angehalten hast. Ist das wahr?"
Saiyon wusste nicht, was er darauf antworten sollte. So hatte er das garantiert nicht geplant, so hatte es nicht gehen sollen ... Was sollte er antworten? Rausreden konnte er sich nicht und das hatte er auch nicht vor.
"Euer Bruder war kein Lügner, Hikari-sama." Saiyon war versucht, seine Stimme so sicher wie möglich klingen zu lassen, obwohl seine Beine zitterten. Warum sprach sie darüber? Worauf wollte sie hinaus?
Er hörte, dass Green tief Luft holte, ehe sie ihn fragte, warum er das vorhatte. Saiyon verstand ihre Frage zuerst nicht, weil es für ihn so klar auf der Hand lag, warum er sie heiraten wollte. Erst beim zweiten Durchdenken hatte er wieder vor Augen, dass er keine normale Frau vor sich hatte, sondern die Wächterin des Lichtes, die Regimeführerin. Natürlich hinterfragte sie sein Vorhaben. Jeder konnte kommen und um ihre Hand anhalten, nur um damit einen Teil ihrer Macht zu erhalten und es jedenfalls nach außen so wirken zu lassen, als wäre man auf der gleichen Stufe wie seine Ehepartnerin, obwohl man es nie wirklich war ... niemand stand der Hikari gleich.
Auch Saiyon holte tief Luft und immer noch verbeugt und mit den Augen Richtung Boden sprach er die Worte aus, die er immer auszusprechen gehofft hatte:
"Weil ich Euch liebe."
Er ließ die Worte kurz im Raum hängen, wartete nur kurz auf ihre Reaktion, die ausblieb, und fuhr sofort weiter aus:
"Seitdem ich Euch das erste Mal gesehen habe, liebe ich Euch. Seitdem ich Euch damals auf der Brücke das erste Mal gesehen habe, liebe ich Euch! Nur für Euch habe ich trainiert, um die geeignete Position zu erlangen, um irgendwann um Eure Hand anhalten zu dürfen. Ihr ward der Grund, weshalb ich mein Element wieder aktiviert habe. Wäret Ihr nicht in mein Leben getreten, wäre ich immer noch ein unbedeutender Unterwächter, aber ... Ihr seid in mein Leben gekommen. Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin: ein Mann, der ..." Saiyon holte tief Luft, weil er sich bewusst war, was für eine Grenze er überschritt und dass das der absolute Inbegriff der Unhöflichkeit war. Doch mit erhobenem Haupt wagte er es dennoch:
"... Dich, Green, liebt und es ewig tun wird."
Diese Worte erschraken Green; es waren nicht die Worte an sich, welche dieses Gefühl in ihr auslösten, sondern die Aufrichtigkeit, die Ehrlichkeit in seinen Worten. Es war so deutlich zu hören, dass er es ernst meinte, dass er sie heiraten wollte, weil er sich in sie verliebt hatte. Er liebte sie - schon die ganze Zeit von ihr unbemerkt.
Was tat sie hier eigentlich?
Was war sie für ein Monstrum, dass sie dieses aufrichtige Herz für ihre Zwecke ausnutzte? Sie liebte ihn nicht, aber sie mochte ihn, fand ihn sympathisch und das machte das ganze umso schlimmer, umso abartiger.
Würde sie am nächsten Morgen noch in den Spiegel schauen können?
Sie wollte nicht heiraten. Sie wollte nicht lügen und so tun, als wäre sie in jemanden verliebt.
Doch an Greys Sarg kauernd hatte sie erkannt, dass ihr keine andere Wahl blieb und auch jetzt sah sie deutlich Greys besorgte Augen im dunklen Abendhimmel, spürte, wie er ihre Hand nahm und vernahm seine Worte so deutlich: er wollte Green in guten Händen wissen, wollte, dass es ihr gut ging, dass jemand auf sie Acht gab, wenn er mal nicht mehr da war ... bereits vor Saiyon hatten einige um Greens Hand angehalten, doch Grey hatte es nicht einmal für nötig gehalten, seiner Schwester zu sagen, um welche Wächter es sich gehandelt hatte. Saiyon aber ... Saiyon hatte seinen Segen erhalten, als Einziger.
Green musste dem letzten Wunsch ihres Bruders nachgehen. Aber sie würde ehrlich sein.
"Saiyon, ich ... ich möchte ehrlich mit dir sein." Erst jetzt wandte Green sich von dem großen Fenster ab und sah Saiyon an, beziehungsweise in seine Richtung, denn sie war darauf bedacht, nicht in seine Augen zu sehen, daher bemerkte sie auch nicht, dass der Windwächter sich versteifte, als würde er sich auf eine Standpauke gefasst machen.
"Ich fühle mich sehr von deinen Worten ... geschmeichelt und ich glaube dir. Ja, ich glaube dir und genau deshalb möchte ich ehrlich mit dir sein." Sie holte tief Luft, was Saiyon ihr gleichzutun schien und fuhr fort:
"Zum jetzigen Zeitpunkt erwidere ich deine Gefühle nicht. Ich mag dich, du bist mir sympathisch ... aber ich weiß nicht, ob ich dich lieben kann. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder irgendwen lieben kann." Wieder schwieg sie, doch das Schweigen sprach Bände. Deutlich sah Saiyon in ihrem verletzten Blick all die Trauer, Verzweiflung und bodenlose Unglückseligkeit, welche sie in dem letzten Jahr so tapfer verdrängt hatte. Sie selbst schien es nicht zu bemerken und schien auch nicht den Drang des Windwächters zu sehen, sie stürmisch in seine Arme zu schließen, sie zu trösten, ihr zu helfen, all das hinter sich zu lassen, denn sie fuhr nach einigen Sekunden des Schweigens mit stiller Stimme fort:
"Doch wenn du mich unter diesen Umständen ..." Green kam nicht weiter - ihr unbemerkt, war Saiyon vor sie getreten und legte die Fingerspitzen seiner flachen Hand zaghaft an ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Verwundert sah sie dem Windwächter nun in die grünen Augen, doch obwohl er sie anlächelte, war er ernst und es war deutlich zu spüren, dass die folgenden Worte von Herzen kamen:
"... Green." Er sagte ihren Namen zögernd, doch als Green nichts sagte, um ihn zu ermahnen, dass er das Suffix gebrauchen solle, festigte seine Stimme sich:
"Ich bin es, der dich fragen muss, nicht umgekehrt. Denn ich kenne meine Antwort, ich weiß, dass du mich mit einem "Ja" zum glücklichsten Wächter des Wächtertums machen würdest. Ich kenne die ... Umstände und weiß, dass es für dich nicht einfach ist. Aber ich möchte dir dabei helfen, all das zu vergessen, ich möchte dich aus der Schattenwelt herausziehen, so wie du mich einst herausgezogen hast. Deine Sympathie ist mehr als ich erhofft habe und vielleicht, vielleicht kann ich irgendwann in der Zukunft darauf hoffen, dass daraus mehr wird." Er löste seine Finger nun von ihren Lippen und legte sie um ihre Hand, ehe er ritterlich vor ihr auf die Knie ging:
"Kurai Yogosu Hikari Green - erweist du mir die Ehre, mich zu deinem Getreuen zu nehmen?" Green zögerte nicht, denn sie kannte die Antwort seit dem Moment, als ihr klar geworden war, dass sie es für Grey tun musste - und vielleicht auch für sich.
"Ja. Ich will."
Wann immer Green diese Worte irgendwo gehört hatte, hatte sich eine gewisse Stimmung in ihr breit gemacht, eine Erwartung, wie es wohl wäre, wenn ein Mann seiner geliebten Frau diese Worte sagte und sie ihm die gewünschte und erhoffte Antwort gab. Eine gewisse Vorfreude vielleicht; Vorfreude auf den Tag, wenn sie selbst in dieser Lage war.
Doch das Gefühl blieb aus. Keine Freude breitete sich in ihr aus, auch nachdem er sie voller Freude in seine Arme schloss - und was waren das für Tränen in ihren Augenwinkeln? Waren das Freudentränen? Waren sie ein Zeugnis ihrer Trauer? Oder beweinte sie sich selbst?
Sie küssten sich und ihre Lippen besiegelten den Pakt - unwissend, dass sie damit auch einen Pakt mit dem Teufel besiegelt hatten.
"Es wundert mich, dass Ihr dafür Zeit gefunden habt, Nathiel-san. Aber es ehrt mich sehr." Sie sah ihn nicht an, als er dies sagte: die nackte Dämonin auf seinem minimalistischen Bett reagierte auch nicht, als er sich aufrichtete und sich nebenbei seinen schwarzen Mantel wieder anzog. Kopfüber, ihre schwarzen Haare aus dem Zopf gelöst und schlapp auf den Boden herunterhängend, hing Nathiel an der Bettkante herunter und starrte mit leerem Blick geradeaus; so wie es Karou vorkam in die Richtung der vielen Bildschirme - und natürlich wusste er, worauf sie sah. Wen sie ansah - und wen sie in Wirklichkeit sah.
"Sie haben Ihren Neffen noch nicht aufgesucht, obwohl Sie ihn so verzweifelt gesucht haben. Woran liegt das?"
Karou hatte sich von ihr abgewandt, um die goldenen Knöpfe seines hohen Stehkragens wieder zu schließen und sah so nicht, wie Nathiel abwesend die Arme hob; die Hände sehnsuchtsvoll nach den Bildschirmen ausstreckte, wo die einzige Vollbildaufnahme von Nocturn zu sehen war, welche Karou hatte erhaschen können. Es war ein wenig unscharf, er war nicht vollends zu sehen, sah abwesend in eine andere Richtung. Aber es genügte: Es genügte, um die Tränen in ihre Augen zu treiben.
"Er vermisst mich; genau wie ich ihn vermisse. Aber keine Angst ... keine Angst. Alles ist gut, mein Kleiner, alles wird gut, sobald du wieder in meinen Armen bist." Karou unterbrach sein Wiederanziehen und wandte sich nun zu Nathiel herum, deren Stimme kaum hörbar war, nicht mehr als ein ersticktes Flüstern. Karou beobachtete sie unbemerkt, sagte aber nichts, sondern hielt sich bedeckt. Nathiel hatte auch keine Augen für ihn; sie starrte das unscharfe Bild Nocturns an, streckte ihre gespreizten Finger aus, als würde sie versuchen, ihn zu erreichen.
"Bald ... bald bin ich wieder bei dir. Gedulde dich noch, mein Kleiner. Gedulde dich." Jetzt quollen die Tränen aus ihren roten Augen, verwischten die Schminke und tropften von ihrer Stirn herunter, doch dies war es nicht, was Karou dazu brachte, nun auch etwas zu sagen:
"Sie können nicht mit Gewissheit sagen, dass er Sie nicht auch vergessen hat." Ihre Hände fielen herunter wie Steine, als sie klar und deutlich sagte:
"Doch, das weiß ich. Er kann mich nicht vergessen. Nicht mich. Er kann mich niemals vergessen ..." Karou unterbrach sie:
"Das bedarf Untersuchungen und ich denke zum gegebenen Zeitpunkt nicht, dass er mich ..."
"SEI STILL, SEI STILL, SEI STILL! ER KANN MICH NICHT VERGESSEN! ER KANN NICHT! ES IST IHM NICHT ERLAUBT! ICH ERLAUBE ES IHM NICHT! ICH DULDE ES NICHT!" Nathiel schrie ihm dies entgegen, was ihn dazu brachte, zu schweigen. Einen Moment sahen sie sich an: Nathiel wutentbrannt, Karou eine Spur verwundert, aber nicht gänzlich überrascht. Er war auch nicht überrascht, als sich die Wut plötzlich in das Gegenteil verwandelte und ihre Augen sich abermals mit Tränen füllten, ehe Nathiel ihr von Tränen entstelltes Gesicht in ihren Händen vergrub und sich krümmte, als hätte sie plötzlich fürchterliche Schmerzen.
"... Menuét, Menuét, Menuét, sag ihm ... dass er lügt ... sag ihm ... dass er lügt ... Menuét, Menuét ... dieses Mal nicht ... dieses Mal wirst du mich ... dieses Mal wirst du mich ansehen ... Menuét ... Menu ... du darfst mich nicht verlassen ... Menuét ... Menu ..." Nathiels flehende Stimme verwandelte sich in ein ersticktes Japsen, welches weder für Karous Ohren verständlich war noch für seine Computer.
Ruhig schritt er auf die weinende Nathiel zu, in der Hand plötzlich eine lange Spritze. Drohend und unbemerkt beugte er sich über sie, doch kaum, dass er ausgeholt hatte, richtete sie sich nicht nur auf, sondern trat wütend nach ihm, wollte die Spritze aus seiner Hand treten, doch er wich ihr aus und griff nach Nathiels wild gestikulierender Hand.
"Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, Nathiel-san."
"Ich brauche deine verdammte Medizin nicht!", schrie sie wütend, doch als sich die Spritze abermals näherte, wurde sie panisch. Mit stecknadelgroßen Augen schüttelte sie den Kopf manisch hin und her, angeregt durch eine wahre Gefühlsexplosion, welche Karou gekonnt ignorierte, während er ihren Kopf gewaltsam, aber eindeutig geübt, auf das Bett presste und ihren Nacken freilegte.
"Nein! NEEEEIIIIIN! Menuét! Menuét! Hilf mir! Hilf mir! Menuét!"
"Sie kann Ihnen schon lange nicht mehr helfen. Sie hat Ihnen noch nie geholfen." Die Spritze berührte bereits die weiße Haut Nathiels, als diese plötzlich ruhig wurde; ihre Glieder erschlafften, doch im gleichen Moment, wo die schwarze Flüssigkeit sich in der Spitze seines Werkzeuges sammelte, türmte sie sich noch einmal auf; riss ihren Kopf aus seinem Griff los und ihre kleinen Hände schnellten hervor, krallten sich an Karous Hals fest und packten zu.
"Du! Du! Du hast sie umgebracht! Warum?! Sie hätte nicht sterben müssen! Sie hätte sich nicht in Glitzer auflösen müssen! Alle! Aber SIE NICHT! Sie hätte uns alle überleben müssen! Sie hätte singend in unseren Überresten tanzen sollen! Aber du warst es, der ihren Tanz unterbrochen hat! Der ihr die Spritze gegeben hat!" Vollkommen unbeeindruckt starrte Karou Nathiel mit seinen monotonen Augen an und antwortete sachlich:
"Sie verdrehen die Tatsachen, Nathiel-san."
Nein, das tat sie nicht; sie wusste es. Sie wusste es ganz genau! Sie würde doch nie den Moment vergessen, den Moment verdrehen, in welchem Menuét sie das erste Mal angesehen hatte ... sie alle Aufmerksamkeit erhalten hatte ... all ihre Aufmerksamkeit. Menuéts Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit der Göttin, die Göttin der Dämonen, ihre Göttin ...
"Ich werde dich töten, du niederes Geschöpf."
Ja, töte mich, töte mich! Tu es, lass mich durch deine Blumenhände sterben! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Beeil dich, meine Göttin, töte mich ... töte mich ... Menuét ... beeil dich, tu es ...
Lass mich eins werden mit dir.
"Men...uét." Mal wieder war dies Nathiels letztes Wort, bevor sie ohnmächtig wurde und wie ein lebloser Stein gegen Karous Brust fiel, welcher sich schnell von ihr löste, als wäre sie giftig. Nackt und mit halb offenen Augen ließ er sie auf dem Bett zurück, ehe er sich wieder an die Arbeit machte, als wäre nichts geschehen.
"Nocturn! Verflucht nochmal!"
Youma hatte sich eigentlich immer für eine sehr gelassene, ruhige Person gehalten, eine Person, die schwer zu reizen war und an der die, die versuchten, ihn aus der Reserve zu locken, sich die Zähne ausbeißen würden. Aber nein, nun stellte sich das Gegenteil heraus; genauer gesagt hatte sich das Gegenteil bereits herausgestellt, als er das Schlachtfeld in der Dämonenwelt verlassen hatte, denn seit diesem Zeitpunkt war er genervt, schrecklich genervt. Er war angespannt, fand keine Ruhe und spürte eine Wut hinter seinen feinen Gesichtszügen. Das, was Youma schier in den Wahnsinn trieb, war nicht das kleine, fleißige Mädchen, das strebsam und beständig durch die überaus geräumige Fünfzimmer-Wohnung wuselte, sondern ein gewisser Jemand, welcher sich in dem hintersten Zimmer eingeschlossen hatte und auf absolut nichts reagierte, egal wie oft und penetrant Youma gegen die Tür klopfte. So hatte er sich das alles gewiss nicht vorgestellt!
Wütend wandte Youma sich von dem großen Panoramafenster der Stube ab, als er bemerkte, dass Feullé Kaffee und Kekse mit liebevoller Ungeschicklichkeit auf ein Tablett stellte und dies sicherlich gerade Nocturn bringen wollte, denn Youma hatte ihre Aufmerksamkeit höflich aber entschieden abgelehnt.
Nach wie vor wütend beobachtete Youma, wie Feullé das Tablett mit beiden Händen festhaltend auf die entlegenste Tür zusteuerte und siehe da, die Tür, die sich seit gefühlten 12 Stunden nicht mehr geöffnet hatte, stand plötzlich offen. Youma hatte garantiert keine Lust auf dieses Kindergartenspiel, doch kaum, dass die Tür sich für Feullé geöffnet hatte, sprang er hervor, schob Feullé etwas zu brüsk beiseite und schob seinen Fuß zwischen Tür und Diele.
"Wir haben einen Handel! Und du vollführst ihn nicht, indem du dich in dein Zimmer einschließt!" Nocturn, welcher sich umgezogen hatte und nun einen simplen schwarzen Rollkragenpullover trug, sah sein Gegenüber genauso schlecht gelaunt an, wie Youma sich in diesem Moment fühlte. Einen Moment lang schien er mit dem Gedanken zu spielen, Youmas Fuß in der Tür einzuquetschen, um ihn dazu zu bewegen, ihn in Ruhe zu lassen, doch stattdessen setzte er ein falsches Lächeln aufs Gesicht und antwortete ihm:
"Ich schließe mich nur in meinem Atelier ein, weil du die Privatsphäre eines Künstlers nicht respektierst." Youma wählte, darauf nicht einzugehen, denn er hatte nicht vor, sich dafür zu entschuldigen, dass er, als die Tür noch nicht von innen verschlossen war, öfter in dem sogenannten "Atelier" aufgetaucht war und Nocturn dabei einmal so überrascht hatte, dass dieser ein Tintenglas hatte fallen gelassen. Sein Pech, dachte Youma, wenn er so vertieft war, dass er Auren nicht bemerkte - das war nicht Youmas Schuld.
"Die Dämonen greifen die Menschenwelt an und ich denke, wir ..."
"... und das geht mich was an? Solange sie Frankreich nicht angreifen, ist mir das egal."
"Wir haben eine Abmachung", wiederholte Youma genervt.
"Ich habe nie zugestimmt, dich bei deinen ach so tollen Plänen zu unterstützen. Wenn du mich also entschuldigst ...? Ich bin inspiriert und lasse mir nicht von dir meine Muse nehmen!" Und mit diesen Worten und einem gezielten Tritt gegen Youmas Schienbein verschloss sich die Tür wieder von innen, mit einem vor Wut kochenden Halbwächter vor ihr. Zähneknirschend funkelte er die Tür finster an, doch seine anerzogene Höflichkeit verbat ihm, die Schimpfworte auszusprechen, welche ihm auf der Zunge lagen - oder gar gegen die Tür zu treten.
Während der gesamten Szene hatte Feullé nichts gesagt, sondern nur eingeschüchtert von einem zum anderen geguckt und sich nicht getraut, irgendetwas gegen ihre Streitereien zu unternehmen. Doch nun, als Youma sich wütend von der Tür abwandte und sein eigenes Zimmer ansteuerte, traute sich Feullé, das Wort zu erheben; allerdings erst nach mehreren verzweifelten Versuchen, so dass es ihr erst gelang, seine Aufmerksamkeit zu erregen, als er schon fast bei seiner Tür angekommen war:
"... Seien Sie nicht so streng zu Vater, Y-Youma-sama... Er...er... Hat White...sama wieder gesehen und.... Ist deshalb inspiriert.... Das müssen Sie...verste...hen, Inspiration ist für.... Vater sehr...wichtig..." Diese Worte beruhigten Youma nicht im Geringsten, doch er würde seine Frustration nicht an dem kleinen Mädchen auslassen, daher zwang er sich selbst, ruhig zu bleiben und antwortete mit zurückgehaltener Wut:
"Gut, Feullé-san, das verstehe ich." Das war eine glatte Lüge, denn er hatte absolut kein Verständnis für das Verhalten Nocturns.
"Wie viel Zeit nimmt ein solches Verhalten denn in Anspruch?"
"... wie ... meinen Sie das?"
"Ich rede davon, wie lange er vorhat, "inspiriert" zu bleiben." Feullé blickte fragend drein und schien zu überlegen, während sie das nun leere Tablett an ihre Brust drückte.
"Also... das... ist unterschied...lich ... manchmal... einige Stunden." Einige Stunden? Gut, das konnte er noch aushalten, das würde auch seine Pläne nicht allzu sehr beeinträchtigen ...
"... und manchmal einige Tage."
"Einige Tage?!"
Erstaunt sah Feullé, wie die Wut Youma abermals überkam und schon wurde die Tür hinter ihm zugeschlagen und das kleine Mädchen blieb alleine in der Stube zurück, alleine gelassen von den zwei angeblich Erwachsenen.
Verärgert ließ Youma sich auf seinen Stuhl fallen und vergrub seine Hände in seinem Pony - was hatte er sich nur selbst eingebrockt?!
"Kampf in der Menschenwelt? Die Dämonen haben schon die Menschen angegriffen?!" Offensichtlich war Shaginai tatsächlich sehr durch den Wind, wenn er vergessen hatte, dass Green natürlich noch nichts von diesem Angriff wusste und er sich somit gerade verplappert hatte. Er ignorierte allerdings ihren geschockten Blick und die zu Boden gefallene, goldene Gabel und erwiderte:
"Das hat dich nicht zu interessieren, Yogosu. Hast du mich ..."
"Ach, deswegen ist keiner meiner Elementarwächter beim Frühstück, ich dachte schon ... geht es ihnen gut?"
"Einige sind in der Menschenwelt, ja. Aber du bleibst auf schwebendem Boden, Yogosu - hast du mich verstanden?!" Green schwieg einfach, anstatt ihm direkt zuzustimmen, nahm eine neue Gabel von Itzumi entgegen und hörte dann etwas, was sie beinahe ein weiteres Mal die Gabel verlieren ließ:
"Was gäbe ich dafür, wenn ich ebenfalls ein gutes Frühstück essen könnte. Oder für einen frisch gepressten Apfelsaft ..." Shaginai hatte offensichtlich mit sich selbst gesprochen, denn er bemerkte erst nach verstrichenen Sekunden, dass nicht nur Green ihn anstarrte, sondern auch Itzumi ihren Ohren nicht trauen konnte. Er räusperte sich hörbar und wandte seinen Blick von Greens Frühstück ab, sich dann aber schnell wieder besinnend:
"Du solltest die Zeit, die wir dazu brauchen, sinnlos hin- und her zu debattieren, nutzen, um dich von Grey zu verabschieden." Einen kurzen Augenblick war Green verwirrt über diese Aussage, fragte verwundert nach, denn sie verstand nicht, sie könne ihn doch immer sehen ... er sei doch sicherlich wie die anderen Elementarwächter in der Menschenwelt?
"Du wirst keine Zeit haben, um diese am Friedhof zu verschwenden, Yogosu." Auch diese Aussage verwirrte sie und erst nach einem kurzen beklemmenden Schweigen, drang die Erkenntnis, dass ihr Bruder von ihr gegangen war, wieder in ihr hoch und brachte sie dazu, sich schweigend vom gedeckten Tisch zu erheben, nachdem Shaginai ihr mitgeteilt hatte, dass die Leiche Greys bereits für die Beisetzung bereit gemacht worden war und sich im Sanctuarian befand.
Aus diesem Grund stand Green nun begleitet von Leanie in einem der vielen Aufzüge im Sanctuarian, welcher steil abwärts ging. Zwar bemerkte Green den neugierigen Blick der Tempelwächterin, doch wählte ihn nicht zu beachten und starrte stattdessen wie hypnotisiert auf das kleine Goldschildchen des Fahrstuhls, auf dem mit feinen Buchstaben ihr Ziel geschrieben stand:
Leichenhalle
"Ich bin überrascht", begann Leanie plötzlich ein Gespräch, da ihr das Schweigen scheinbar unangenehm war; oder aber in der Hoffnung, irgendetwas aus Green herauszukitzeln:
"Ihr tragt kein trauerschwarz." Die Angesprochene wandte sich von dem goldenen Schild ab als der Fahrstuhl langsam zum Stillstand kam; doch noch ehe dessen Türen aufglitten, antwortete Green:
"Grey mag kein schwarz." Genau in dem Moment, in welchem Green ihren Satz beendet hatte, glitten die Türen des Fahrstuhls beiseite und gaben einen kleinen, rechteckigen Raum frei, welcher sich komplett von dem sonst so hellen und freundlichen Sanctuarian unterschied: der Raum war kahl, fensterlos und nur eine kleine rote Bank an der linken Wand war zu sehen. Lediglich eine große, stählerne Tür, versehen mit einem elektronischen Schloss, befand sich am Ende des kleinen Raumes Green gegenüber. Der kleine Raum war spärlich beleuchtet und lag im Halbdunkel.
Es war eine bedrückende Stimmung; es war kalt und man konnte weder etwas hören, noch etwas Bestimmtes riechen. Die Luft war absolut steril.
Bedrückt und sich unwohl fühlend schritt Green in den kleinen Raum und bemerkte sofort, wie kalt es in diesem Vorraum war. Leanie schien sich nicht von der Umgebung bedrücken zu lassen, denn sie steuerte zielsicher auf die große Stahltür zu, welche der Grund für Greens schlechtes Gefühl war und begann, einen Code einzugeben; anscheinend brachte sie oft Wächter hier herunter. Green wünschte sich, dass die Tempelwächterin nicht so routiniert darin war, Wächter in die Leichenhalle zu bringen, denn der Öffnungsprozess der Tür ging ihr eindeutig zu schnell; es gelang ihr nicht, sich seelisch darauf vorzubereiten.
Doch kaum, dass die Tür offen war, wurde ihr sofort bewusst, dass egal, wie viel Zeit Leanie ihr gelassen hätte, um sich auf dieses Bild vorzubereiten, so wäre es niemals genug gewesen. Im Fernsehen hatte Green selbstverständlich auch manchmal Leichenkeller gesehen; einen kahlen, düsteren Raum, wo die leblosen Körper tiefgekühlt in Schächten lagen, bis sie überführt und beerdigt wurden.
Dieser Raum - nein, das war nicht die richtige Bezeichnung, denn es war eher eine Halle - glich diesem Bild absolut nicht. In diese komplett weiße Halle hätten gewiss zwei Fußballstadien reingepasst, doch stattdessen war sie gefüllt mit Leichen, alle fein säuberlich auf Bahren geordnet, an denen ein Namensschild befestigt war. Alle sich hier befindenden Leichen waren bereits gesäubert worden, trugen eine saubere, einheitliche Uniform und schienen alle bereit zu sein, beigesetzt zu werden - doch selbst die fleißigsten Tempelwächterhände waren nicht in der Lage, die Körper derer wiederherzustellen, welche im Kampf ihrer Körperteile beraubt worden waren. Es gab Leichen, die keine Beine mehr hatten, denen eine Hand fehlte oder welche kopflos waren; einige waren sogar in der Mitte geteilt. Die meisten hatten ihre Waffe neben sich an der Bahre lehnen, andere nur Überreste ihres treuen Gefährten. Obwohl einige wahrlich in einem schlechten Zustand waren, wirkten sie alle so, als würden sie nur schlafen, da man ihnen die Augen geschlossen hatte ... und sie irgendwie ... alle denselben Gesichtsausdruck hatten ...
Greens Hand wanderte sofort zu ihrem Mund, doch nicht aus Gräuel, sondern aus Entsetzen, denn auch hier war die Luft von jeglichem Gestank befreit: Die Leichen mussten konserviert sein.
Es war der Anblick, der sie schockierte; es war leichter, eine Zahl auf einem Bildschirm zu akzeptieren, die einem mitteilte, wie viele Wächter in den vergangenen Tagen ums Leben gekommen waren - doch es zu sehen, mit eigenen Augen zu sehen, wie viele es waren, unter welchen Umständen einige verendet waren ... war etwas anderes.
Es war, als würde man den Horror des Krieges auf einem Silbertablett serviert bekommen.
"Wie ... wie viele passen hier rein?", fragte Green plötzlich und ihr fiel dabei auf, wie sehr ihre Stimme zitterte, als sie ihre Hand wieder von ihrem Gesicht löste und sich zwang, sich zusammenzureißen. Dabei fiel ihr nicht auf, wie Leanie sie verwundert musterte, so als ob sie die Frage nicht ganz verstünde; als läge die Antwort klar auf der Hand. Doch natürlich sprach Leanie den Gedanken, dass dies doch eine dumme Frage sei, nicht aus, sondern antwortete pflichtbewusst:
"Alle, Hikari-sama, wir passen hier alle rein." Keine Antwort, die Green besonders gefiel und sie wunderte sich auch darüber, denn sie fand, dass die Halle bereits ... gut ... gefüllt war. Doch während sie ihren Blick über die leblosen Körper gleiten ließ, bemerkte sie an den hohen, weißen Wänden eine Vorrichtung, die danach aussah, als könnte man dort noch weitere Platten ausfahren lassen, welche so eine zweite Etage bilden könnten; hoch genug war die Leichenhalle allemal. Die Hikari hatten wahrlich vorgesorgt ...
"Wie finde ich denn ... wie finde ich denn ..." Es fiel Green schwer, diese Frage zu stellen, genauso wie es ihr schwerfiel, sich vorzustellen, dass Grey unter diesen vielen Leichen sein sollte. Er passte doch viel besser hier an ihre Seite, seine Hand auf ihrer Schulter, ein aufheiterndes Lächeln ... oh, wie sehr brauchte sie es. Wie sehr sehnte sie sich danach.
Wo war er? Wo war ihr Bruder?
Leanie machte einen Wink zu einer weiteren Stahltür, welche sich am anderen Ende der Halle befand und Green gar nicht weiter aufgefallen wäre, da sie zu sehr vom grauenhaften Szenario vor sich abgelenkt gewesen war.
"Gut, danke. Ich ... wäre dann gerne alleine." Leanie nickte und antwortete, dass sie dann draußen warten würde, weil sie die Tür wieder verschließen müsse - die andere würde aber für Green offen sein.
Das Geräusch der sich hinter Leanie schließenden Tür bebte kurz und nachhallend durch den Raum. Dann blieb Green alleine zurück: alleine mit 846 Leichen.
Greens Beine fühlten sich an wie Blei, als sie sich endlich nach mehreren Minuten dazu zwang, sich zu bewegen und dabei nicht auf ihre Umgebung zu achten, aber das war ein schweres Unterfangen. Obwohl der einzige Laut, welcher in dieser Halle zu hören war, die Schuhe Greens waren, donnerte es in ihren Ohren: Die Stille drückte sie hernieder und ließ in ihr den Wunsch aufkommen, zu schreien, nur damit etwas an den Wänden widerhallte.
Diesem Wunsch nicht nachgehend ging Green ihren Weg zwischen den Leichen weiter und anstatt zu schreien und damit Krach zu verursachen, tat sie plötzlich eher das Gegenteil, indem sie versuchte, keinen einzigen Laut zu verursachen, fast so als fürchtete sie, die Schlafenden zu wecken.
Mit gesenktem Kopf war es der Hikari gelungen, die Hälfte der Leichenhalle eiligen Schrittes zu durchqueren, bis ihre übereiligen Füße sich überschlugen und Green beinahe zu Boden rissen - vor einem Sturz konnte sie sich allerdings noch bewahren, indem ihre ausrudernde Hand Halt fand.
Stockend blieb Green der Atem im Halse stecken, als sie bemerkte, an was sie Halt gefunden hatte. Nur einen kurzen Augenblick lang sah und spürte sie die eiskalte Hand des Toten, ehe sie mit einem erstickten Schrei rückwärts stürzte, die Augen jedoch nicht von der Hand, die einem kleinen, zerquetschten Körper gehörte, abwenden könnend.
Es war ein Kind, das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht, nie erreichen könnend ... das in einer Reihe mit anderen toten Kindern lag.
Sie kniff die Augen zusammen und sagte sich selbst, dass sie sich zusammenreißen müsse.
Es war normal, sie würde noch viele tote Kinder sehen.
Sie waren im Krieg ... sie waren im Krieg.
Es war normal ... es war
normal.
Kurz verbarg Green ihr Gesicht in der Hand, die das Kind nicht berührt hatte, atmete noch einmal durch, doch hatte eher das Gefühl, dass sie das Verlangen sich zu übergeben dadurch nur noch verstärken würde, ehe sie sich von diesem schrecklichen Bild abwandte, um die letzten Schritte nun beinahe zu rennen, welche sie von der Metalltür trennten.
Tatsächlich war die Tür nicht abgeschlossen und sie öffnete sich, kaum dass Green vor ihr stand. Der kleine Raum, welcher sich nun vor ihr befand, war ebenfalls weiß, doch nicht hell erleuchtet wie die Leichenhalle. Dunkel und drückend lag er vor ihr und erst als Green zögernd einen Fuß hineinsetzte, leuchteten mehrere am Boden befestigte kleine Lämpchen auf und tauchten den Raum in ein mattes Licht, im gleichen Moment, wie die Tür sich automatisch hinter Green schloss.
Im spärlichen Licht erkannte die Hikari, dass dieser Raum für zehn Glassärge vorgesehen war, doch zu diesem Zeitpunkt befand sich dort nur einer, rechts neben ihr.
Green blieb an der kalten Tür stehen, absolut erstarrt und das, obwohl ihr Herz ihr mit einem rasenden Tempo bis zur Brust schlug. Von dem Punkt aus, wo sie stand, sah sie nicht viel von ihm; sie sah nicht mehr als ein Paar polierter Stiefel, die auch zu jedem anderen leblosen Körper gehört haben könnten.
Doch sie gehörten Grey ... er war es, der diese Stiefel anhatte; es war ihr Bruder, welcher dort leblos in dem gläsernen Sarg lag und sich nie wieder bewegen würde.
Grey würde sich nie wieder bewegen.
Er war tot.
Er war tot.
Grey war tot.
Die Erkenntnis überspülte Green auf einmal wie eine Flutwelle und wie ein Ertrinkender begann sie heillos zu schreien, bemerkte nicht, wie sie zu Boden stürzte und wie unbändig die Tränen an ihrem Gesicht herunter flossen, während sie immer wieder seinen Namen wiederholte, vor seinem Sarg auf dem Boden kauerte und ihn verzweifelt anflehte, doch die Augen aufzumachen, ihr zu sagen, dass das alles nur ein böser Traum war, und dass alles gut war, das alles gut war ... dass er sie doch bitte in den Arm nehmen musste ... dass sie ihn doch liebte ... und er sie doch nicht alleine lassen konnte ...
Alle diese verzweifelten, geschrienen Worte prallten an den kahlen Wänden ab, kamen zu ihr zurück, schlugen sie und erschöpften die kleine, weinende Schwester, bis ihre Stimme heiser wurde und sie keinen Ton mehr herausbekam. Völlig zerstört, in ihren eigenen Schreien erstickt und in ihren Tränen ertrunken, blieb Green auf dem Boden neben Greys Sarg liegen.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelegen hatte, wie lange sie im Stillstand verharrt war, bis sie sich schleppend aufrichtete und ihre Augen so Zentimeter für Zentimeter mehr von Grey sahen.
Genau wie die anderen Leichen war auch er bereits gesäubert worden; seine Haut war bleich und das schummrige Licht warf unheimliche Schatten auf das Gesicht ihres Bruders; das Gesicht dessen, welcher ihr vor wenigen Tagen noch gesagt hatte, dass er stolz auf sie war.
Nun lächelte er nicht. Er sah ernst aus ... sah ... tot aus. Anders als die anderen Leichen sah er nicht aus, als würde er schlafen. So wie er nun aussah, konnte er nichts anderes sein als ...tot.
Er trug nicht seine Uniform, sondern ein weißes Kleidungsstück, welches unzweifelhaft von ihm selbst stammte; Green erkannte seine Handschrift sofort. Doch obwohl das Jackenset mit einem hohen Kragen und Rüschen versehen war, konnte Green die nun blau gewordenen Schürfwunden an seinem Hals deutlich zwischen den weißen Rüschen erkennen. Es war, als könnte sie die Hände des Angreifers regelrecht erkennen, regelrecht vor ihren Augen sehen ...
Grey hatte sie gewarnt. Schon bei deren ersten Begegnung hatte er sie gewarnt. Sie hatte nicht auf ihn gehört, hatte ihn angeschrien, seine aufrichtige Sorge mit Füßen getreten und ihn als den "Bösen" abgestempelt. Dabei war sie es gewesen, die die Böse gewesen war, da sie sich zu sehr von der Vorstellung nie wieder alleine zu sein hatte verführen lassen, von der Vorstellung, endlich eine Familie gefunden zu haben - und dieser Trugschluss hatte sie nicht nur dazu gebracht, Grey die kalte Schulter zu zeigen, sondern seinen Tod zu besiegeln. Wie lange war sie ihm gegenüber ein Biest gewesen? Wie lange hatte sie nicht mitbekommen, dass er nur um sie besorgt gewesen war, dass er nur ihr Bestes gewollt hatte?
Aber sie war blind gewesen; blind und taub. Hatte weder seine Aktionen gesehen noch seinen Worten gelauscht. Greys Sorge war immer ehrlich gewesen, seine verzweifelten Methoden vielleicht nicht die besten, aber seine Worte immer aufrichtig - und sie hatte sich lieber von zwei Halbdämonen an der Nase herumführen lassen!
Egal, was Inceres sagte, egal, wer das Katanakaze durch Greys Herz gestoßen hatte ... im Endeffekt war sie es gewesen.
Hätte sie Grey vertraut, statt den Worten zweier Dämonen Glauben zu schenken, wäre ihr Bruder noch am Leben.
Das war die grausame Wahrheit; die grausame Wahrheit, welche Greens Kopf dazu brachte, sich dem Gewicht dieser Tatsache zu beugen, sich langsam auf das kalte Glas zu senken, welches sie von ihrem toten Bruder trennte und sich abermals der Traurigkeit hinzugeben.
"... es tut mir Leid ... verzeih mir ... verzeih deiner dummen Schwester ... Verzeih mir... Grey ... Verzeih mir ..."
Gedankenverloren und ihm den Rücken zugekehrt stand Green an dem großen Fenster in ihrem Gemach. Dank ihres weißen Kleides hob sie sich förmlich von dem dunklen Abendhimmel ab, in welchen sie hinaussah - glaubte Saiyon jedenfalls, immerhin konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Er musste zugeben, dass er ein wenig nervös war, denn er konnte sich nicht erklären, warum Green ihn zu sich gerufen hatte. Saiyon war gerade mit seiner Familie beim Essen gewesen, als die Tempelwächterin der Hikari ihm mitgeteilt hatte, dass Green dringend mit ihm sprechen wolle und an ihrem Blick hatte Saiyon deutlich gesehen, dass sie genauso erpicht darauf war, zu erfahren, was Green so dringend mit Saiyon zu besprechen hatte, wie er. Doch kaum, dass der Windwächter in dem Gemach der Hikari angekommen war, hatte diese ihre Tempelwächterin davongeschickt mit den Worten, dass sie mit ihm alleine sein wolle.
Seit diesem Moment, welcher sicherlich schon zehn Minuten zurücklag, hatte sie nicht mit ihm gesprochen, was die Ursache für seine Nervosität war. Vielleicht sollte er das Gespräch beginnen, indem er ihr persönlich sein Beileid für den Tod ihres Bruders aussprach? Er und seine Familie hatten zwar, wie so viele andere, ebenfalls eine Karte geschrieben, doch persönlich war immerhin etwas anderes. Green war sicherlich von tiefer Traurigkeit erfüllt, das spürte Saiyon regelrecht, immerhin hatte sie ein festes Band zu ihrem Bruder gehabt.
Doch in dem Moment, wo er gerade den Mund öffnete, um seine Gedanken auszusprechen, unterbrach Green ihn in diesem Vorhaben, indem sie ihm eine Frage stellte. Eine Frage, welche ihn überrumpelte, weshalb er gar nicht auf den geschwächten Zustand ihrer Stimme achtete:
"Mein Bruder hat mir vor seinem Tod erzählt, dass du um meine Hand angehalten hast. Ist das wahr?"
Saiyon wusste nicht, was er darauf antworten sollte. So hatte er das garantiert nicht geplant, so hatte es nicht gehen sollen ... Was sollte er antworten? Rausreden konnte er sich nicht und das hatte er auch nicht vor.
"Euer Bruder war kein Lügner, Hikari-sama." Saiyon war versucht, seine Stimme so sicher wie möglich klingen zu lassen, obwohl seine Beine zitterten. Warum sprach sie darüber? Worauf wollte sie hinaus?
Er hörte, dass Green tief Luft holte, ehe sie ihn fragte, warum er das vorhatte. Saiyon verstand ihre Frage zuerst nicht, weil es für ihn so klar auf der Hand lag, warum er sie heiraten wollte. Erst beim zweiten Durchdenken hatte er wieder vor Augen, dass er keine normale Frau vor sich hatte, sondern die Wächterin des Lichtes, die Regimeführerin. Natürlich hinterfragte sie sein Vorhaben. Jeder konnte kommen und um ihre Hand anhalten, nur um damit einen Teil ihrer Macht zu erhalten und es jedenfalls nach außen so wirken zu lassen, als wäre man auf der gleichen Stufe wie seine Ehepartnerin, obwohl man es nie wirklich war ... niemand stand der Hikari gleich.
Auch Saiyon holte tief Luft und immer noch verbeugt und mit den Augen Richtung Boden sprach er die Worte aus, die er immer auszusprechen gehofft hatte:
"Weil ich Euch liebe."
Er ließ die Worte kurz im Raum hängen, wartete nur kurz auf ihre Reaktion, die ausblieb, und fuhr sofort weiter aus:
"Seitdem ich Euch das erste Mal gesehen habe, liebe ich Euch. Seitdem ich Euch damals auf der Brücke das erste Mal gesehen habe, liebe ich Euch! Nur für Euch habe ich trainiert, um die geeignete Position zu erlangen, um irgendwann um Eure Hand anhalten zu dürfen. Ihr ward der Grund, weshalb ich mein Element wieder aktiviert habe. Wäret Ihr nicht in mein Leben getreten, wäre ich immer noch ein unbedeutender Unterwächter, aber ... Ihr seid in mein Leben gekommen. Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin: ein Mann, der ..." Saiyon holte tief Luft, weil er sich bewusst war, was für eine Grenze er überschritt und dass das der absolute Inbegriff der Unhöflichkeit war. Doch mit erhobenem Haupt wagte er es dennoch:
"... Dich, Green, liebt und es ewig tun wird."
Diese Worte erschraken Green; es waren nicht die Worte an sich, welche dieses Gefühl in ihr auslösten, sondern die Aufrichtigkeit, die Ehrlichkeit in seinen Worten. Es war so deutlich zu hören, dass er es ernst meinte, dass er sie heiraten wollte, weil er sich in sie verliebt hatte. Er liebte sie - schon die ganze Zeit von ihr unbemerkt.
Was tat sie hier eigentlich?
Was war sie für ein Monstrum, dass sie dieses aufrichtige Herz für ihre Zwecke ausnutzte? Sie liebte ihn nicht, aber sie mochte ihn, fand ihn sympathisch und das machte das ganze umso schlimmer, umso abartiger.
Würde sie am nächsten Morgen noch in den Spiegel schauen können?
Sie wollte nicht heiraten. Sie wollte nicht lügen und so tun, als wäre sie in jemanden verliebt.
Doch an Greys Sarg kauernd hatte sie erkannt, dass ihr keine andere Wahl blieb und auch jetzt sah sie deutlich Greys besorgte Augen im dunklen Abendhimmel, spürte, wie er ihre Hand nahm und vernahm seine Worte so deutlich: er wollte Green in guten Händen wissen, wollte, dass es ihr gut ging, dass jemand auf sie Acht gab, wenn er mal nicht mehr da war ... bereits vor Saiyon hatten einige um Greens Hand angehalten, doch Grey hatte es nicht einmal für nötig gehalten, seiner Schwester zu sagen, um welche Wächter es sich gehandelt hatte. Saiyon aber ... Saiyon hatte seinen Segen erhalten, als Einziger.
Green musste dem letzten Wunsch ihres Bruders nachgehen. Aber sie würde ehrlich sein.
"Saiyon, ich ... ich möchte ehrlich mit dir sein." Erst jetzt wandte Green sich von dem großen Fenster ab und sah Saiyon an, beziehungsweise in seine Richtung, denn sie war darauf bedacht, nicht in seine Augen zu sehen, daher bemerkte sie auch nicht, dass der Windwächter sich versteifte, als würde er sich auf eine Standpauke gefasst machen.
"Ich fühle mich sehr von deinen Worten ... geschmeichelt und ich glaube dir. Ja, ich glaube dir und genau deshalb möchte ich ehrlich mit dir sein." Sie holte tief Luft, was Saiyon ihr gleichzutun schien und fuhr fort:
"Zum jetzigen Zeitpunkt erwidere ich deine Gefühle nicht. Ich mag dich, du bist mir sympathisch ... aber ich weiß nicht, ob ich dich lieben kann. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder irgendwen lieben kann." Wieder schwieg sie, doch das Schweigen sprach Bände. Deutlich sah Saiyon in ihrem verletzten Blick all die Trauer, Verzweiflung und bodenlose Unglückseligkeit, welche sie in dem letzten Jahr so tapfer verdrängt hatte. Sie selbst schien es nicht zu bemerken und schien auch nicht den Drang des Windwächters zu sehen, sie stürmisch in seine Arme zu schließen, sie zu trösten, ihr zu helfen, all das hinter sich zu lassen, denn sie fuhr nach einigen Sekunden des Schweigens mit stiller Stimme fort:
"Doch wenn du mich unter diesen Umständen ..." Green kam nicht weiter - ihr unbemerkt, war Saiyon vor sie getreten und legte die Fingerspitzen seiner flachen Hand zaghaft an ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Verwundert sah sie dem Windwächter nun in die grünen Augen, doch obwohl er sie anlächelte, war er ernst und es war deutlich zu spüren, dass die folgenden Worte von Herzen kamen:
"... Green." Er sagte ihren Namen zögernd, doch als Green nichts sagte, um ihn zu ermahnen, dass er das Suffix gebrauchen solle, festigte seine Stimme sich:
"Ich bin es, der dich fragen muss, nicht umgekehrt. Denn ich kenne meine Antwort, ich weiß, dass du mich mit einem "Ja" zum glücklichsten Wächter des Wächtertums machen würdest. Ich kenne die ... Umstände und weiß, dass es für dich nicht einfach ist. Aber ich möchte dir dabei helfen, all das zu vergessen, ich möchte dich aus der Schattenwelt herausziehen, so wie du mich einst herausgezogen hast. Deine Sympathie ist mehr als ich erhofft habe und vielleicht, vielleicht kann ich irgendwann in der Zukunft darauf hoffen, dass daraus mehr wird." Er löste seine Finger nun von ihren Lippen und legte sie um ihre Hand, ehe er ritterlich vor ihr auf die Knie ging:
"Kurai Yogosu Hikari Green - erweist du mir die Ehre, mich zu deinem Getreuen zu nehmen?" Green zögerte nicht, denn sie kannte die Antwort seit dem Moment, als ihr klar geworden war, dass sie es für Grey tun musste - und vielleicht auch für sich.
"Ja. Ich will."
Wann immer Green diese Worte irgendwo gehört hatte, hatte sich eine gewisse Stimmung in ihr breit gemacht, eine Erwartung, wie es wohl wäre, wenn ein Mann seiner geliebten Frau diese Worte sagte und sie ihm die gewünschte und erhoffte Antwort gab. Eine gewisse Vorfreude vielleicht; Vorfreude auf den Tag, wenn sie selbst in dieser Lage war.
Doch das Gefühl blieb aus. Keine Freude breitete sich in ihr aus, auch nachdem er sie voller Freude in seine Arme schloss - und was waren das für Tränen in ihren Augenwinkeln? Waren das Freudentränen? Waren sie ein Zeugnis ihrer Trauer? Oder beweinte sie sich selbst?
Sie küssten sich und ihre Lippen besiegelten den Pakt - unwissend, dass sie damit auch einen Pakt mit dem Teufel besiegelt hatten.
"Es wundert mich, dass Ihr dafür Zeit gefunden habt, Nathiel-san. Aber es ehrt mich sehr." Sie sah ihn nicht an, als er dies sagte: die nackte Dämonin auf seinem minimalistischen Bett reagierte auch nicht, als er sich aufrichtete und sich nebenbei seinen schwarzen Mantel wieder anzog. Kopfüber, ihre schwarzen Haare aus dem Zopf gelöst und schlapp auf den Boden herunterhängend, hing Nathiel an der Bettkante herunter und starrte mit leerem Blick geradeaus; so wie es Karou vorkam in die Richtung der vielen Bildschirme - und natürlich wusste er, worauf sie sah. Wen sie ansah - und wen sie in Wirklichkeit sah.
"Sie haben Ihren Neffen noch nicht aufgesucht, obwohl Sie ihn so verzweifelt gesucht haben. Woran liegt das?"
Karou hatte sich von ihr abgewandt, um die goldenen Knöpfe seines hohen Stehkragens wieder zu schließen und sah so nicht, wie Nathiel abwesend die Arme hob; die Hände sehnsuchtsvoll nach den Bildschirmen ausstreckte, wo die einzige Vollbildaufnahme von Nocturn zu sehen war, welche Karou hatte erhaschen können. Es war ein wenig unscharf, er war nicht vollends zu sehen, sah abwesend in eine andere Richtung. Aber es genügte: Es genügte, um die Tränen in ihre Augen zu treiben.
"Er vermisst mich; genau wie ich ihn vermisse. Aber keine Angst ... keine Angst. Alles ist gut, mein Kleiner, alles wird gut, sobald du wieder in meinen Armen bist." Karou unterbrach sein Wiederanziehen und wandte sich nun zu Nathiel herum, deren Stimme kaum hörbar war, nicht mehr als ein ersticktes Flüstern. Karou beobachtete sie unbemerkt, sagte aber nichts, sondern hielt sich bedeckt. Nathiel hatte auch keine Augen für ihn; sie starrte das unscharfe Bild Nocturns an, streckte ihre gespreizten Finger aus, als würde sie versuchen, ihn zu erreichen.
"Bald ... bald bin ich wieder bei dir. Gedulde dich noch, mein Kleiner. Gedulde dich." Jetzt quollen die Tränen aus ihren roten Augen, verwischten die Schminke und tropften von ihrer Stirn herunter, doch dies war es nicht, was Karou dazu brachte, nun auch etwas zu sagen:
"Sie können nicht mit Gewissheit sagen, dass er Sie nicht auch vergessen hat." Ihre Hände fielen herunter wie Steine, als sie klar und deutlich sagte:
"Doch, das weiß ich. Er kann mich nicht vergessen. Nicht mich. Er kann mich niemals vergessen ..." Karou unterbrach sie:
"Das bedarf Untersuchungen und ich denke zum gegebenen Zeitpunkt nicht, dass er mich ..."
"SEI STILL, SEI STILL, SEI STILL! ER KANN MICH NICHT VERGESSEN! ER KANN NICHT! ES IST IHM NICHT ERLAUBT! ICH ERLAUBE ES IHM NICHT! ICH DULDE ES NICHT!" Nathiel schrie ihm dies entgegen, was ihn dazu brachte, zu schweigen. Einen Moment sahen sie sich an: Nathiel wutentbrannt, Karou eine Spur verwundert, aber nicht gänzlich überrascht. Er war auch nicht überrascht, als sich die Wut plötzlich in das Gegenteil verwandelte und ihre Augen sich abermals mit Tränen füllten, ehe Nathiel ihr von Tränen entstelltes Gesicht in ihren Händen vergrub und sich krümmte, als hätte sie plötzlich fürchterliche Schmerzen.
"... Menuét, Menuét, Menuét, sag ihm ... dass er lügt ... sag ihm ... dass er lügt ... Menuét, Menuét ... dieses Mal nicht ... dieses Mal wirst du mich ... dieses Mal wirst du mich ansehen ... Menuét ... Menu ... du darfst mich nicht verlassen ... Menuét ... Menu ..." Nathiels flehende Stimme verwandelte sich in ein ersticktes Japsen, welches weder für Karous Ohren verständlich war noch für seine Computer.
Ruhig schritt er auf die weinende Nathiel zu, in der Hand plötzlich eine lange Spritze. Drohend und unbemerkt beugte er sich über sie, doch kaum, dass er ausgeholt hatte, richtete sie sich nicht nur auf, sondern trat wütend nach ihm, wollte die Spritze aus seiner Hand treten, doch er wich ihr aus und griff nach Nathiels wild gestikulierender Hand.
"Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, Nathiel-san."
"Ich brauche deine verdammte Medizin nicht!", schrie sie wütend, doch als sich die Spritze abermals näherte, wurde sie panisch. Mit stecknadelgroßen Augen schüttelte sie den Kopf manisch hin und her, angeregt durch eine wahre Gefühlsexplosion, welche Karou gekonnt ignorierte, während er ihren Kopf gewaltsam, aber eindeutig geübt, auf das Bett presste und ihren Nacken freilegte.
"Nein! NEEEEIIIIIN! Menuét! Menuét! Hilf mir! Hilf mir! Menuét!"
"Sie kann Ihnen schon lange nicht mehr helfen. Sie hat Ihnen noch nie geholfen." Die Spritze berührte bereits die weiße Haut Nathiels, als diese plötzlich ruhig wurde; ihre Glieder erschlafften, doch im gleichen Moment, wo die schwarze Flüssigkeit sich in der Spitze seines Werkzeuges sammelte, türmte sie sich noch einmal auf; riss ihren Kopf aus seinem Griff los und ihre kleinen Hände schnellten hervor, krallten sich an Karous Hals fest und packten zu.
"Du! Du! Du hast sie umgebracht! Warum?! Sie hätte nicht sterben müssen! Sie hätte sich nicht in Glitzer auflösen müssen! Alle! Aber SIE NICHT! Sie hätte uns alle überleben müssen! Sie hätte singend in unseren Überresten tanzen sollen! Aber du warst es, der ihren Tanz unterbrochen hat! Der ihr die Spritze gegeben hat!" Vollkommen unbeeindruckt starrte Karou Nathiel mit seinen monotonen Augen an und antwortete sachlich:
"Sie verdrehen die Tatsachen, Nathiel-san."
Nein, das tat sie nicht; sie wusste es. Sie wusste es ganz genau! Sie würde doch nie den Moment vergessen, den Moment verdrehen, in welchem Menuét sie das erste Mal angesehen hatte ... sie alle Aufmerksamkeit erhalten hatte ... all ihre Aufmerksamkeit. Menuéts Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit der Göttin, die Göttin der Dämonen, ihre Göttin ...
"Ich werde dich töten, du niederes Geschöpf."
Ja, töte mich, töte mich! Tu es, lass mich durch deine Blumenhände sterben! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Beeil dich, meine Göttin, töte mich ... töte mich ... Menuét ... beeil dich, tu es ...
Lass mich eins werden mit dir.
"Men...uét." Mal wieder war dies Nathiels letztes Wort, bevor sie ohnmächtig wurde und wie ein lebloser Stein gegen Karous Brust fiel, welcher sich schnell von ihr löste, als wäre sie giftig. Nackt und mit halb offenen Augen ließ er sie auf dem Bett zurück, ehe er sich wieder an die Arbeit machte, als wäre nichts geschehen.
"Nocturn! Verflucht nochmal!"
Youma hatte sich eigentlich immer für eine sehr gelassene, ruhige Person gehalten, eine Person, die schwer zu reizen war und an der die, die versuchten, ihn aus der Reserve zu locken, sich die Zähne ausbeißen würden. Aber nein, nun stellte sich das Gegenteil heraus; genauer gesagt hatte sich das Gegenteil bereits herausgestellt, als er das Schlachtfeld in der Dämonenwelt verlassen hatte, denn seit diesem Zeitpunkt war er genervt, schrecklich genervt. Er war angespannt, fand keine Ruhe und spürte eine Wut hinter seinen feinen Gesichtszügen. Das, was Youma schier in den Wahnsinn trieb, war nicht das kleine, fleißige Mädchen, das strebsam und beständig durch die überaus geräumige Fünfzimmer-Wohnung wuselte, sondern ein gewisser Jemand, welcher sich in dem hintersten Zimmer eingeschlossen hatte und auf absolut nichts reagierte, egal wie oft und penetrant Youma gegen die Tür klopfte. So hatte er sich das alles gewiss nicht vorgestellt!
Wütend wandte Youma sich von dem großen Panoramafenster der Stube ab, als er bemerkte, dass Feullé Kaffee und Kekse mit liebevoller Ungeschicklichkeit auf ein Tablett stellte und dies sicherlich gerade Nocturn bringen wollte, denn Youma hatte ihre Aufmerksamkeit höflich aber entschieden abgelehnt.
Nach wie vor wütend beobachtete Youma, wie Feullé das Tablett mit beiden Händen festhaltend auf die entlegenste Tür zusteuerte und siehe da, die Tür, die sich seit gefühlten 12 Stunden nicht mehr geöffnet hatte, stand plötzlich offen. Youma hatte garantiert keine Lust auf dieses Kindergartenspiel, doch kaum, dass die Tür sich für Feullé geöffnet hatte, sprang er hervor, schob Feullé etwas zu brüsk beiseite und schob seinen Fuß zwischen Tür und Diele.
"Wir haben einen Handel! Und du vollführst ihn nicht, indem du dich in dein Zimmer einschließt!" Nocturn, welcher sich umgezogen hatte und nun einen simplen schwarzen Rollkragenpullover trug, sah sein Gegenüber genauso schlecht gelaunt an, wie Youma sich in diesem Moment fühlte. Einen Moment lang schien er mit dem Gedanken zu spielen, Youmas Fuß in der Tür einzuquetschen, um ihn dazu zu bewegen, ihn in Ruhe zu lassen, doch stattdessen setzte er ein falsches Lächeln aufs Gesicht und antwortete ihm:
"Ich schließe mich nur in meinem Atelier ein, weil du die Privatsphäre eines Künstlers nicht respektierst." Youma wählte, darauf nicht einzugehen, denn er hatte nicht vor, sich dafür zu entschuldigen, dass er, als die Tür noch nicht von innen verschlossen war, öfter in dem sogenannten "Atelier" aufgetaucht war und Nocturn dabei einmal so überrascht hatte, dass dieser ein Tintenglas hatte fallen gelassen. Sein Pech, dachte Youma, wenn er so vertieft war, dass er Auren nicht bemerkte - das war nicht Youmas Schuld.
"Die Dämonen greifen die Menschenwelt an und ich denke, wir ..."
"... und das geht mich was an? Solange sie Frankreich nicht angreifen, ist mir das egal."
"Wir haben eine Abmachung", wiederholte Youma genervt.
"Ich habe nie zugestimmt, dich bei deinen ach so tollen Plänen zu unterstützen. Wenn du mich also entschuldigst ...? Ich bin inspiriert und lasse mir nicht von dir meine Muse nehmen!" Und mit diesen Worten und einem gezielten Tritt gegen Youmas Schienbein verschloss sich die Tür wieder von innen, mit einem vor Wut kochenden Halbwächter vor ihr. Zähneknirschend funkelte er die Tür finster an, doch seine anerzogene Höflichkeit verbat ihm, die Schimpfworte auszusprechen, welche ihm auf der Zunge lagen - oder gar gegen die Tür zu treten.
Während der gesamten Szene hatte Feullé nichts gesagt, sondern nur eingeschüchtert von einem zum anderen geguckt und sich nicht getraut, irgendetwas gegen ihre Streitereien zu unternehmen. Doch nun, als Youma sich wütend von der Tür abwandte und sein eigenes Zimmer ansteuerte, traute sich Feullé, das Wort zu erheben; allerdings erst nach mehreren verzweifelten Versuchen, so dass es ihr erst gelang, seine Aufmerksamkeit zu erregen, als er schon fast bei seiner Tür angekommen war:
"... Seien Sie nicht so streng zu Vater, Y-Youma-sama... Er...er... Hat White...sama wieder gesehen und.... Ist deshalb inspiriert.... Das müssen Sie...verste...hen, Inspiration ist für.... Vater sehr...wichtig..." Diese Worte beruhigten Youma nicht im Geringsten, doch er würde seine Frustration nicht an dem kleinen Mädchen auslassen, daher zwang er sich selbst, ruhig zu bleiben und antwortete mit zurückgehaltener Wut:
"Gut, Feullé-san, das verstehe ich." Das war eine glatte Lüge, denn er hatte absolut kein Verständnis für das Verhalten Nocturns.
"Wie viel Zeit nimmt ein solches Verhalten denn in Anspruch?"
"... wie ... meinen Sie das?"
"Ich rede davon, wie lange er vorhat, "inspiriert" zu bleiben." Feullé blickte fragend drein und schien zu überlegen, während sie das nun leere Tablett an ihre Brust drückte.
"Also... das... ist unterschied...lich ... manchmal... einige Stunden." Einige Stunden? Gut, das konnte er noch aushalten, das würde auch seine Pläne nicht allzu sehr beeinträchtigen ...
"... und manchmal einige Tage."
"Einige Tage?!"
Erstaunt sah Feullé, wie die Wut Youma abermals überkam und schon wurde die Tür hinter ihm zugeschlagen und das kleine Mädchen blieb alleine in der Stube zurück, alleine gelassen von den zwei angeblich Erwachsenen.
Verärgert ließ Youma sich auf seinen Stuhl fallen und vergrub seine Hände in seinem Pony - was hatte er sich nur selbst eingebrockt?!