Kapitel 55 - Schweigen ist Gold
Weit von der Schlacht am Kap der letzten Hoffnung entfernt verfolgten Shaginai, Adir und Hizashi den Kampf mit düsteren Mienen, zusammen mit Green. Ihre Miene war nicht nur düster, sondern auch äußerst unzufrieden; jedoch nicht wegen dem, was sie auf den vielen Bildschirmen sah. Sie war in ihren eigenen Gedanken verloren gegangen und folgte auch dem Gespräch ihrer Familienmitglieder nicht. Seit einer Stunde saß sie schon so, seit der Wächter – dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte – sie in den Tempel zurückgebracht und Shaginai sie direkt vom Teleportationspunkt abgeholt und in den Kommunikationsraum gebracht hatte, als fürchte er, sie könne auf dem Weg, der eigentlich nicht sonderlich lang war, irgendwelche Dummheiten begehen.
„Wie es aussieht, haben wir beim Kampf in Henel nur geringe Verluste zu beklagen. Sehr erfreulich“, sagte Hizashi mit den Augen auf den Bildschirm vor ihm gerichtet, während seine Finger über die Tastatur glitten; allerdings nur die Finger seiner linken Hand, da die andere sich bereits aufgelöst hatte. Shaginai verschränkte die Arme finster vor seiner Brust und antwortete:
„Machen wir uns nichts vor. Diese Kriegseröffnung ist katastrophal und wäre meine Tochter nicht in der Lage, aktiv zu sein, ständen wir vor einem Desaster gleich dem Massaker von Espiritou del Aire.“ Hizashi war alles andere als ein Optimist und auch nicht der Typ, der Dinge schönzureden versuchte, daher antwortete er sachlich:
„Darüber hinaus müssen wir bedenken, dass unsere aktuellen Daten sich nur auf die Wächter beziehen, die mit einem Kommunikationsgerät ausgerüstet waren. Dies bedeutet, dass die Gesamtsumme der Opfer höchstwahrscheinlich höher liegt, da die Wächter, die keines besaßen, sich auf Min Intarsier befanden.“ Ein Grummeln Shaginais erhielt er als Antwort, welches verdächtigt nach einem unterdrückten Fluchen klang. Doch Hizashi war noch nicht fertig und öffnete gerade den Mund, als Green ihn in seinem Vorhaben unterbrach. Sie saß hinter den drei Hikari auf einem Drehstuhl, die Arme - genau wie Shaginai - über Kreuz, das Bein störrisch über das andere geschlagen und auch ihre Stimme untermauerte ihre Unzufriedenheit:
„Gerade deswegen finde ich es verflucht überflüssig, dass ich hier sitzen muss. Wäre es nicht viel besser, wenn ich da draußen wäre, um mitzuhelfen?“ Shaginai hielt es nicht einmal für nötig, sich herumzudrehen, als er antwortete:
„Du bleibst hier, wo ich dich im Auge behalten kann, Yogosu.“
„Ich finde, du kannst mich überall gut genug im Auge behalten!“, entgegnete Green mit einem genervten Wink zu den blinkenden und leuchtenden Bildschirmen.
„Offensichtlich ist dies nicht der Fall! Offensichtlich bist du erst vor deiner eigenen Dummheit sicher, wenn du angekettet bist!“
„Erst bringst du mich um und jetzt willst du mich anketten?! Wofür bin ich denn durch dein teuflisches Training gegangen – um hier herumzuhocken?!“
„Jedenfalls nicht, damit du dem erstbesten Dämon vor die Füße fällst!“ Green hatte bereits abermals den Mund geöffnet, um Shaginai eine erboste Antwort zu geben, doch nun mischte sich Adir ein – Hizashi dagegen hatte sich von dem Streit der beiden Familienmitglieder nicht ablenken lassen.
„Aber, aber“, begann Adir mit einer sichtlich ruhigeren Stimme als die der beiden Sturköpfe und wandte sich nun an Green, einen sachten Wink an die anderen Klimawächter machend, die vielleicht nicht unbedingt wissen sollten, dass Shaginai versucht hatte, sie einst umzubringen:
„Ich kann verstehen, dass es frustrierend für dich ist, Green …“ Er sagte ihren Namen mit Nachdruck, dabei Shaginai ansehend, um ihn daran zu erinnern, dass es nicht ratsam war, seine Enkelin in aller Öffentlichkeit „Yogosu“ zu nennen – auch wenn die Klimawächter alle in ihre Arbeit vertieft zu sein schienen - und senkte daher auch die Stimme:
„… aber im Moment ist es zu gefährlich, dich in die Nähe von Dämonen zu lassen. Nun da wir wissen, dass unsere Feinde von deiner einzigartigen Fähigkeit Kenntnis haben, ist der Gedanke naheliegend, dass du einen enormen Wert für sie darstellst. Ich bitte dich daher darum, geduldig zu sein: Sobald wir drei und deine Mutter wieder im Jenseits sind, werden wir eine Kriegssitzung halten und beraten, wie wir dich weiter im Krieg einsetzen werden.“ Die ruhige Antwort Adirs zeigte Wirkung: die Wut fiel sichtlich von ihr, als sie in seine vertrauensvollen Augen sah. Seufzend nickte sie und antwortete niedergeschlagen:
„Kann ich dann nicht wenigstens auf Min Intarsier oder Sanctu Ele’saces helfen? Das Warten macht mich wahnsinnig.“ Adir warf einen Blick zu Shaginai, der deren Gespräch aufmerksam gelauscht hatte und tauschte ein, zwei Blicke mit ihm aus, ehe er antwortete:
„Ich denke, das ist möglich.“ Kaum hatte Adir dies gesagt, stand Green auch schon auf, doch genau in dem Moment, als sie sich herumdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, fesselte das Bild vor Hizashi sie und überrascht starrte sie den Bildschirm an - oder genauer gesagt die Akte des Dämons, der ihr für einen kurzen Augenblick entgegenblickte, ehe Hizashi die Akte bereits wieder verschwinden ließ.
„Warte! Zurück!“ Verwundert wurde Green nicht nur von Hizashi angesehen, sondern auch von Shaginai und Adir, da alle drei nicht verstanden, was an eben dieser Akte so besonders war. Doch Green achtete nicht auf ihre verschiedenen Reaktionen, sondern stützte sich an Hizashis Stuhllehne ab und beugte sich zum Bildschirm vor, wo Hizashi die eben gesehene Akte wieder erscheinen ließ.
„Das ist doch …“ Doch nein, Green stellte schnell fest, dass sie sich geirrt hatte; dennoch war die Akte ziemlich interessant für sie, denn es war die Akte Blacks, welchen sie im ersten Moment für Blue gehalten hatte – immerhin war die Ähnlichkeit wahrlich verblüffend. Green hatte vorher noch nie ein Bild von ihm gesehen; alles, was sie bis zu diesem Zeitpunkt gekannt hatte, war sein Name. Aber obwohl sie erst beim zweiten Hinsehen den Namen las, so war ihr schon vor dem Lesen des Namens klar gewesen, dass Black der Vater Blues sein musste.
Green bemerkte ein befremdendes Gefühl in sich, als sie die eigenartigen, komplett desinteressierten roten Augen Blacks sah; sie war ruhig, aber irgendwie zur gleichen Zeit auch merkwürdig erregt, weshalb sie auch nicht bemerkte, wie Shaginai sie aufmerksam beobachtete.
„Ist er tot?“ Hizashi machte einen genervten Wink auf die Akte und antwortete ungeduldig:
„Wie dort vermerkt steht, ist der Status dieses Dämons unbekannt. Er wurde das letzte Mal 1989 gesehen.“
„Warum hast du die Akte dann überhaupt aufgerufen?“, fragte Green und versuchte, betont normal zu klingen, während der Angesprochene die besagte Akte wieder verschwinden ließ, womit die junge Hikari eine Ansammlung von Aktenbildern und Daten vor sich sah. Mit den Daten konnte sie herzlich wenig anfangen, doch zwei der Bilder, samt nun dem von Black, waren ihr bekannt, denn es waren die Aktenbilder von Nocturn und dem blonden Mädchen – Feullé?
„Ich habe das Blut untersucht, welches sich auf Shaginai-sans Kleidung befand, um herauszufinden, welche Auren die Lunatika in sich aufgenommen hat. Dies ist lediglich die Auswertung.“ Nun mischte sich auch Shaginai ein:
„Dann war dieser Kampf ja wenigstens kein kompletter Nonsens. Wie erfreulich. Wie sieht die Auswertung aus?“ Hizashi zuckte ein wenig gleichgültig mit den Schultern und entgegnete daraufhin:
„Die Lunatika besitzt fünf Auren, wovon die des eben Genannten eine ist. Drei weitere sind von geringer Wichtigkeit, da die Dämonen, von denen sie die Aura kopiert hat, schwach und unbedeutend gewesen sind. Die fünfte ist nicht analysierbar und daher höchstwahrscheinlich die Aura Nocturns. In den vergangenen 18 Jahren hat sie keine der Auren angewandt oder neue kopiert. Vom Kampf her zu urteilen scheint sie keine besonders große Gefahr zu sein. Wir sollten sie bei Gelegenheit jedoch ausschalten, damit sie sich nicht vermehren kann.“
„Wow, das kannst du alles durch ein bisschen Blut herausfinden?“, unterbrach Green verblüfft, was Hizashi zu einem verborgenen Grinsen brachte, als er antwortete, dass er noch so viel mehr mit einem einzigen Bluttropfen machen konnte.
„Wow, das ist wirklich ziemlich … cool.“ Shaginai schien es nicht so „cool“ zu finden wie seine Enkelin und so wandte er sich genervt an sie:
„Warst du nicht eben noch voller Tatendrang?“ Plötzlich schien Green wieder in der harten Wirklichkeit zu erwachen, und gerade als sie sich nach Min Intarsier aufmachen wollte, gefolgt von Shaginais Worten, dass er sie beobachten würde, sprang sie erschrocken mehrere Schritte zurück, knallte dabei gegen ihren Großvater und hätte beinahe überrascht aufgeschrien, obwohl die Person, die plötzlich hinter ihr gestanden hatte, bei genauerem Hinsehen absolut nicht bedrohlich wirkte – er wirkte nur überaus deplatziert und die Tatsache, dass er ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hatte, hinter ihnen aufgetaucht war, hatte Green fürchterlich erschreckt.
„Reitzel-san, wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte Adir lächelnd, während Shaginai seine Enkelin mit eindeutigem Blick dazu aufforderte, sich gefälligst zu benehmen; einige Klimawächter hatten bei Greens heftiger Reaktion verwundert aufgesehen.
„Wer …?“ Verblüfft sah Green den Neuankömmling an; einen jungen Mann, gekleidet in einen grauen Anzug, weshalb er auch noch auf den zweiten Blick wegen seines menschlichen Aussehens komplett deplatziert aussah. Auf Green wirkte er eher wie ein Student aus der Menschenwelt als ein Wächter – bis ihr das goldene Glöckchen auffiel, das er eigenartigerweise recht offen um seinen Hals trug, anstatt es wie die meisten Hikari unter seinem Oberteil zu verbergen.
„Ein … Hikari?“ Reitzel, der Green vorher wegen dem Erschrecken entschuldigend angesehen hatte, lächelte sie nun an und deutete eine leichte Verbeugung an. Ein Lächeln, welches gänzlich anders wirkte als das der anderen Hikari: es wirkte nicht antrainiert oder wie das Werk von Pflicht. Es wirkte aufrichtig; vom Herzen kommend. Das ehrliche Lächeln kleidete ihn gut; es passte zu seinen vertrauensvollen Augen und zusammen mit seinen seidenen weißen Locken, die kurz gehalten waren, kam Green nicht drum herum zu glauben, sie hätte es hier mit einem modernen Märchenprinzen zu tun.
„Sie sind spät“, unterbrach die kühle Stimme Hizashis Greens und Reitzels Blickaustausch, der ihr ungewöhnlich intensiv erschienen hatte, als würde er in den Abgrund ihrer Seele blicken wollen – nein, als wäre es ihm gelungen.
„War irgendeine Vorlesung mal wieder wichtiger als ein Krieg?“ Hizashi blickte über die Schulter und durchbohrte Reitzel mit so kühlen Augen, dass es Green kalt den Rücken herunterlief – so einen Blick hatte sie noch nie von ihm gesehen. Auch Reitzels Lächeln war dahin geschmolzen; er schien verunsichert, riss sich aber zusammen.
„Ich versichere Ihnen, dass ich so schnell gekommen bin, wie es mir möglich war. Nur leider war ich in menschlicher Begleitung, weswegen ich mich nicht teleportieren konnte …“
„Haben Sie sich schon informiert?“ Reitzel blickte etwas fragend – hilfesuchend? – in die Hikari-Runde und erwiderte dann:
„Ich komme direkt aus Österreich, wie hätte ich mich …“
„Sie standen schon drei Minuten hinter uns; das wird ja wohl genug Zeit gewesen sein, um einen Überblick über die Lage zu erhalten.“ Drei Minuten? Green hatte überhaupt nichts bemerkt und von Shaginais und Adirs Blicken her zu urteilen hatten sie es auch nicht.
„Einen etwas gründlicheren Überblick würde ich bevorzugen …“
„Dafür ist keine Zeit.“ Meine Güte, dachte Green, was war denn mit Hizashi los? Sie hatte ihn zwar nie für den nettesten Zeitgenossen gehalten, aber so unwirsch hatte sie ihn nie erlebt und sofort tat ihr Reitzel leid, welcher unzufrieden wirkte, aber nichts sagte und nur nickte, als Hizashi ihm sagte, dass er sich nach Min Intarsier aufmachen solle.
„Da muss ich auch hin“, warf Green ein, aus einem ihr unbekannten Grund Reitzel aufmuntern wollend:
„Wir können ja zusammen gehen, ehm, ich meine teleportieren?“
„Oh“, erwiderte Reitzel etwas verwundert und schwieg auch für einen Moment, als würde er den anderen Hikari Zeit geben, etwas einzuwerfen, doch sie sagten nichts:
„Das würde mich sehr freuen, Green-san.“ Und schon verließen die beiden die Kommunikationszentrale, gefolgt von den Blicken Adirs und Shaginais; Hizashi hatte sich schon wieder seiner Arbeit zugewendet, wenn auch eindeutig rabiater als zuvor.
„Ob das eine gute Idee war?“, fragte Adir zu Shaginai flüsternd:
„Du hast Reitzel-sans Fähigkeit immerhin auch schon erlebt, Shaginai …“ Der Angesprochene deutete ein Schulterzucken an:
„Nun, vielleicht ist es gerade deswegen eine gute Kombination.“
Reitzel atmete sichtlich auf, als die Tür der Kommandozentrale sich hinter ihnen schloss; Erleichterung spiegelte sich nicht nur in seinem Gesicht, sondern auch in seiner Körpersprache wider. Green interessierte es brennend, was zwischen Hizashi und Reitzel vorgefallen war, doch fand sie, dass sie etwas zu sehr mit der Tür ins Haus fiel, wenn das ihre erste Frage an ihn sein würde. Stattdessen dachte sie, dass sie sich erst einmal vorstellen sollte:
„Sie wissen es zwar offensichtlich schon, aber mein Name ist Green.“ Sie reichte ihm ganz automatisch die Hand, bis ihr einfiel, dass die Wächter sich nie die Hände gaben – doch Reitzel ergriff sie, noch bevor sie sie wieder zurückziehen konnte. Er hatte einen sanften, freundlichen Händedruck, obwohl seine Hand genauso kalt und eisig war wie die der anderen Eciencé-Körper. Ein Zittern glitt unauffällig durch Greens Glieder, doch sie ließ sich nichts anmerken.
„Und meiner ist Reitzel. Wenn du nichts dagegen hast, wäre es schön, wenn wir uns duzen könnten.“ Noch eine Sache, die sie verwunderte: Er nannte nur seinen Vornamen, anstatt wie die anderen Hikari seinen kompletten Namen zu nennen.
„Wie kommt es, dass ich noch nie etwas von dir gehört habe, Reitzel?“
„Oh, das liegt sicherlich daran, dass ich von den Ratsversammlungen und den Kriegssitzungen ausgeschlossen bin.“ Er bedeutete ihr, dass sie sich zum Teleportationspunkt aufmachen sollten, was sie daraufhin auch taten, auch wenn Green ihn nach wie vor verwundert ansah – wenn die so verunsicherte Lili an diesen politischen Begebenheiten teilnehmen durfte, warum dann nicht er?
„Aber deinen Prozess von vor einem Jahr habe ich dennoch verfolgt. Es mag sich nicht gehören und ich bitte dich darum, es nicht falsch aufzufassen, aber diese Episode hat den Hikari gut getan.“ Green konnte ihm nicht so recht folgen, aber sie hatte keine besondere Lust, über damalige Geschehnisse zu reden, weshalb sie nun doch Nägel mit Köpfen machte:
„Was war denn eben mit Hizashi los? Er wirkte so …“
„Angreifend.“
„Ja, das trifft es eigentlich ganz gut.“ Green warf einen verstohlenen Blick zu Reitzel und bemerkte, dass er aufgehört hatte zu lächeln.
„Darf ich fragen wieso?“
„Aber natürlich“, antwortete Reitzel und sah sie nun direkt an, mit einem fast schon entschuldigenden Blick:
„Es ist derselbe Grund, weshalb du noch nie etwas von mir gehört hast, denn die Hikari meiden meine Gesellschaft. Ganz vorne heran Hizashi. Er meidet mich nicht nur … er hasst mich. Ich kann ihm das nicht verübeln, doch ich wünschte dennoch, es wäre anders. Wir könnten so viel voneinander lernen.“ Green konnte sich nicht vorstellen, warum man so einen netten Hikari meiden sollte; war er ihnen zu menschlich? Für Green war es genau das, was ihn so sympathisch machte, aber vielleicht wirkte das negativ auf Hikari …
„Auch du hast meine Hilfe einst abgelehnt. Zwar indirekt, aber doch abgelehnt.“ Green legte den Kopf schief, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie Reitzel jemals gesehen oder seinen Namen gehört hatte. Wie konnte sie seine „Hilfe“ also ablehnen haben?
„Ich bin Psychologe. Genauer gesagt bin ich der oberste Psychologe des Wächtertums.“ Green spürte, wir ihr Lächeln steif wurde und tatsächlich erinnerte sie sich an eine unwillkommene Erinnerung: als ihr Glöckchen damals zerrissen war … kurz, nachdem sie aus der Dämonenwelt zurückgekommen waren … da hatte Shaginai ihr tatsächlich gesagt, dass sie einen Psychologen aufsuchen solle, aber sie hatte vehement abgelehnt. Nur war Reitzels Name damals nicht gefallen.
„Ich wollte dich nicht an schlechte Erlebnisse erinnern“, sagte Reitzel bedächtig, als er bemerkte, dass Green nicht antwortete und dabei war, weg zu driften, sich nun aber zu einem Lächeln bringend:
„Ach, was, schon gut, das ist doch nicht deine Schuld!“
„Das sehen unsere Verwandten leider anders.“
„Was meinst du?“ Reitzel schüttelte den Kopf:
„Nicht heute, Green, nicht heute. Du hast heute genug Dinge für ein ganzes Leben erlebt und das, was wir gleich sehen werden, wird kein schöner Anblick sein.“
„Ach so, ich weiß, was du meinst! Die Hikari wollen sich nicht analysieren lassen, was? Aber du siehst mich heute doch das erste Mal und wir sind ja nun nicht gerade bei einer Sitzung oder so.“ Green versuchte, unbeschwert zu lachen, als sie meinte, dass er ja wohl kaum ihre Akte gelesen habe, doch es fiel ihr ein wenig schwer.
„Nein, deine Akte habe ich in der Tat nicht gelesen. Ich finde, es gehört sich nicht, die Akten anderer zu lesen, solange sie nicht meine Patienten sind.“
„Also guck, was soll schon passieren …“ Reitzel lächelte weiterhin, doch sein Lächeln war ein wenig traurig, was Green nicht aufzufallen schien. Sie schwiegen kurz, bogen um einige Ecken, ehe er das Wort wieder ergriff:
„Du verstehst deine Verwandten und ihre Abneigung mir gegenüber jetzt besser, nicht wahr, Green?“ Green warf ihm einen verwirrten Blick zu; offensichtlich konnte sie ihm nicht folgen, doch er erklärte es:
„Sobald ich gesagt habe, dass ich Psychologe bin, sind deine Worte nicht nur abwehrend geworden, sondern auch deine Körpersprache defensiv ... du hast Abstand zu mir genommen, siehst mich nicht mehr an. Daraus schließe ich, dass Shaginai wohl daran getan hat, mir zu sagen, dass ich dich damals hätte untersuchen müssen – und dass die Gründe für diesen Verdacht nach wie vor bestehen.“ Verblüfft starrte Green ihn im Gehen an und sofort überkam sie eine Welle des schlechten Gewissens, denn er hatte Recht, wie ihr auffiel; sie hatte tatsächlich Abstand zu ihm genommen und das obwohl sie ihn wenige Minuten zuvor noch so sympathisch gefunden hatte.
„Und jetzt hast du schlechtes Gewissen mir gegenüber, anstatt deinem Unterbewusstsein zu erlauben, über eben jene Dinge nachzudenken, die eine psychologische Behandlung benötigen würden.“ Green hatte plötzlich das Gefühl, ein Pfeil aus Eis würde sich in sie hineinbohren – und noch nie, noch nie in ihrem Leben war sie so froh darüber, Itzumis Stimme zu hören.
„Hikari-sama!“ Itzumi rannte die letzten Schritte, um zu ihrer Hikari zu gelangen und zum ersten Mal hatte Green das Bedürfnis, sie zu umarmen, als hätte sie sie gerade vor einer großen Bedrohung gerettet – und genau dieser Gedanke tat ihr Leid. Sie traute sich nicht mehr, Reitzel anzusehen, als würde ein Blick genügen, um den Eispfeil weiter in sie hineinzubohren, obwohl er sicherlich einfach nur traurig war. Hatte er deswegen so lange gezögert zu sagen, was seine Profession war? Weil er gehofft hatte, dass jemand sich mal nicht von ihm abwenden würde?
„Wo wart Ihr denn!? Ich … ich war…“ Itzumis stotternde Tonlage brachte Green dazu, von sich selbst abgelenkt zu sein, denn so einen fast schon besorgten Tonfall hatte sie noch nie von Itzumi gehört und fast wollte sie ihrer Tempelwächterin versichern, dass es ihr gut ginge, als diese ihr eigenes Benehmen bemerkte und umschlug:
„Was ist das; Eure Kleidung, das Kleid von Grey-sama! Voller Blut! Hättet Ihr Euch nicht umziehen können?! Ich hole Euch sofort neue Kleidung, was würde Euer Bruder dazu sagen …“
„Das ist nicht nötig.“ Doch Itzumi überhörte es:
„Dieses Kleid hat Grey-sama doch nicht für den Krieg gemacht! Euer Zimmer ist in der Nähe, wartet hier auf mich.“
„Oh, wenn Sie schon aufbrechen wegen neuer Kleidung, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn sie auch etwas für mich zum Wechseln holen würden.“ Itzumi erschrak genau wie Green zuvor über Reitzels Dasein; offensichtlich hatte sie nur Augen für Green und ihre Kleidung gehabt. Anstatt noch etwas zu sagen, nickte Itzumi nur und rannte dann auch schon los, schneller, als Green es von ihr erwartet hatte.
„Sie hat sich Sorgen um dich gemacht.“
„Ach was, das glaube ich …“ Dann fiel ihr ein, dass es Reitzel war, der das gesagt hatte:
„Naja, vielleicht … ein bisschen. Weil ich ihre Herrin bin … oder so.“ Peinliches Schweigen trat ein. Green sah ihn nicht an, Reitzel zwang sie nicht dazu. Beide warteten sie gespannt darauf, dass sie Itzumis Schritte in dem verlassenen Tempel hörten, doch die Minuten verstrichen und sie kam nicht zurück – und so nah war ihr Zimmer doch gar nicht?
„Ich entschuldige mich dafür, dass ich Wunden aufgerissen habe … das ist nicht meine Absicht, nur leider eine sehr schlechte, nicht ausschaltbare Angewohnheit von mir.“
„Berufskrankheit, was?“, versuchte Green lachend zu antworten, wobei ihr sofort auffiel, dass das eigentlich sehr taktlos war und sofort wollte sie sich gegen den Kopf schlagen, immerhin musste man kein Psychologe sein, um zu merken, dass diese „Angewohnheit“ , wie er sie nannte, ihm zusetzte.
Green wollte sich gerade entschuldigen, da kam Itzumi allerdings schon zurück – und dann gab es andere Dinge, an die sie denken musste.
Green hatte sich bereits seelisch auf die schrecklichsten Dinge eingestellt, als sie auf Min Intarsier eintraf; auf haufenweise Tote, Verletzte und verzweifelte letzte Gefechte, doch dem war nicht so. Die frühe Vormittagsonne war aufgegangen, der Himmel in trübes Blau gekleidet; es herrschte eine bedrückende Stimmung, eine traurige Stimmung, und es war ungewöhnlich ruhig. Alle Kämpfe waren verstummt, niemand der hier noch Lebenden schien die Stimme mehr als nötig erheben zu wollen oder verzagt zu weinen. Es war kalt, es ging kein Wind um – der aufdringliche Geruch von vergossenem Blut hing in der Luft, hier und dort kräuselten sich Rauchsäulen Richtung Himmel, stiegen auf über den Trümmern der sonst so gemütlichen Stadt. Es kam Green trotzdem nicht so vor, als wäre sie auf einem Schlachtfeld. Es kam ihr so vor, als wäre sie in einem Grab.
Es gab für Green nicht viel zu tun; es gab nicht viel, was sie tun konnte, außer dem ruhigen, fast automatisierten Treiben der Überlebenden beizuwohnen: Tempelwächter teleportierten eine Leiche nach der anderen ins Sancturian, nachdem sie von anderen Wächtern die brüchige Treppe hochgebracht wurden, welche Green, Reitzel und Itzumi heruntergingen. Itzumi hatte Reitzel auf die Schnelle nur einen Umhang bringen können, welchen er sich eng um den Körper geschlungen hatte, da er meinte, dass es sich nicht gehöre, diesen von Leid gekennzeichneten Ort im Festaufzug zu betreten.
Viel mehr hatten sie allerdings nicht miteinander gesprochen, obwohl sie die ganze Zeit zusammenblieben – nicht, weil man ihr gesagt hatte, dass sie sich an Reitzel heften sollte, sondern aus ihrem eigenen Willen, denn sie wollte ihm beweisen, dass sie nicht die erstbeste Chance nutzte, um ihm zu entkommen; und sie wusste, dass er ihr dankbar dafür war.
Während Reitzel viele Notizen für einen Bericht über den Sinneszustand der Überlebenden nieder schrieb, sah Green sich um, versuchte, nicht die Augen zu verschließen vor dem, was der erste Tag des Krieges hinterlassen hatte und ihm ins Gesicht zu blicken; Itzumi folgte ihr konstant dicht auf den Fersen.
Man hatte Green beigebracht, dass es als Hikari auch ihre Aufgabe war, die Wächter aufzumuntern und sie zu trösten; die Nähe zu ihnen zu suchen, Präsenz zu zeigen. Doch das einzige, was Green momentan tun konnte, war tatsächlich Präsenz zu zeigen, denn es gab kaum jemanden, der so wirkte, als wolle er Greens Beistand. Min Intarsier schien nur noch von Leichen bevölkert zu sein – und die, die keine waren, waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Nur wenige sahen hoch, als ihre Hikari vorbeikam und Green hatte dafür vollstes Verständnis: Was interessierte es sie jetzt, dass ihre Regime-Führerin durch die Trümmer ging, in sauberer Kleidung und ohne offensichtliche Verletzungen, wenn diese Trümmer ihre ehemaligen Häuser waren?
Green kam zu spät.
Sie hatte all das nicht verhindert.
Jetzt brauchte und wollte man ihren Trost auch nicht mehr.
Es war ein unglaublich ermüdender Vormittag und als Green endlich mit Reitzel in den Tempel zurückkehrte, wusste sie nicht, ob sie lieber fünf Stunden in der Dämonenwelt um ihr Leben gekämpft hätte.
„Wenn du mich suchst, dann frage im Sanctuarian nach. Aores weiß immer, wo ich mich gerade aufhalte.“ Green lächelte und versicherte ihm, dass sie das tun würde, obwohl sie nicht wusste, ob das eine Aufforderung für eine Sitzung war oder nicht. Daraufhin verließ er sie auch, um ins Sanctuarian zu gehen und da standen Herrin und Tempelwächterin nun, alleine in einem ausgestorbenen Tempelkorridor.
Green fühlte eine unheimliche Müdigkeit in sich; schwer und drückend. Aber konnte sie es sich erlauben, müde zu sein? War es nicht … vermessen, wo sie doch noch alle Glieder hatte, kaum in der Dämonenwelt gekämpft hatte … nur zugesehen hatte, wie Firey ... Firey!?
„Oh Gott, ich muss ins Sanctuarian, ich muss zu Firey…“ Itzumi blickte sie verwirrt an; denn sie hatte eigentlich gerade vorgehabt, Green ins Bett zu schicken – und genau das hatte jemand anderes auch vor:
„Du brauchst dir keine Sorgen um deine Freundin zu machen, mein Mädchen.“ Green wandte sich herum und sah ihre Mutter auf sie zu gehen, und sobald sie bei ihnen angekommen war, verbeugte sich Itzumi tiefer, als sie es jemals vor Green getan hatte, was White mit einem dankenden Lächeln aufnahm.
„Firey-san geht es gut. Sie wird wohl in zwei Tagen wieder aufwachen. Ich habe selbst mit Aores gesprochen.“ Diese Neuigkeit nahm Green mit Erleichterung auf, genauso wie auch die Aufforderung, dass es auch für sie langsam an der Zeit war, zu schlafen. Auch ohne dass White Itzumi aufforderte, sie alleine zu lassen, verstand die Tempelwächterin, dass das auch für sie Dienstschluss bedeutete und entfernte sich, als White Green zu ihrem Zimmer begleitete.
„Aber wird nicht noch irgendwo gekämpft?“, fragte Green, als die beiden ihr Zimmer betraten, wobei sie bemerkte, dass die Arme ihrer Mutter zu flackern begonnen hatten – und ihr Kleid hatte mehr Risse und Flecke als als sie sich getrennt hatten. Hatte sie in der Dämonenwelt noch gekämpft?
„Es wird gekämpft, ja. Aber noch …“
„Ja, ja, ich weiß, der Rat und meine Heilfähigkeiten, ich weiß“, erwiderte Green erschöpft, denn sie war sich sicher, dass es die Überlebenden auf Min Intarsier herzlich wenig interessierte, ob sie wegen ihrer Heilfähigkeiten nicht kämpfen durfte, oder ob es wegen Unfähigkeit oder Feigheit war – im Endeffekt kam es doch aufs Gleiche hinaus. Sie hatte wirklich kein recht, müde zu sein; obwohl sie es wollte, obwohl alles in ihrem Körper nach dem weichem Kissen und ihrem immer nach Vanille riechenden Bett verlangte, fand sie nicht, dass es ihr zustand, diesem Verlangen nachzugehen.
„Green, es ist nur eine Frage der Zeit, ehe der Kampf in Henel beendet ist und die Dämonen die Menschenwelt angreifen. Du solltest diesen kurzen Moment der Ruhe nutzen, um zu schlafen und dich zu sammeln, denn bei diesen Kämpfen wirst du gebraucht werden. Wir sind jetzt im Krieg und da ist der Schlaf keine Selbstverständlichkeit mehr. Vater und Adir sind bereits wieder im Jenseits und die nächste Kriegssitzung ist bereits einberufen; ich bin mir sicher, dass wir schnell zu einem Entschluss gelangen werden, was deine Heilfähigkeiten angeht.“ White machte einen Wink zu dem Kleiderschrank Greens, wo ihre Augen auf ihr Nachthemd fielen, welches auf einem Bügel an der Schranktür hing. Das hübsche, weiße Nachthemd, welches von Grey noch einmal neu gemacht worden war …
„Ich glaube nicht … ich glaube nicht, dass ich schlafen kann“, entgegnete Green und schluckte ein Schluchzen herunter, konnte ihren Blick allerdings nicht von dem Nachthemd abwenden. Ihre Mutter bemerkte ihren Blick natürlich, genau wie sie bemerkte, wie der Blick ihrer Tochter nun zögernd zu ihrem Schreibtisch wanderte, über welchem eine Reihe von eingerahmten Fotos hing, die sie im letzten Jahr angesammelt hatte – keines der Bilder war älter als dies. Viele zeigten Green zusammen mit ihrem Bruder, andere mit Firey oder Pink. Das größte von den vielen Bildern zeigte Green zusammen mit White und Grey. Das Bild war nicht einmal alt … es war kurz vor der Kriegserklärung gemacht worden. Die Erinnerung daran war eine schöne Erinnerung gewesen, aber nun war sie traurig, denn es war das letzte Bild, welches Grey lebend zeigte. Es war Greens Idee gewesen, dieses Bild machen zu lassen; fröhlich hatte sie gemeint, sie bräuchte doch ein Familienbild von ihnen. Ja, sie hatte sogar Shaginai darum gebeten, sich dem Familienportrait anzuschließen, doch er hatte sich geweigert. Gesagt, dass es albern sei und wenn sie für so einen Kinderkram Zeit habe, dann können sie auch trainieren … Jetzt war die Chance vertan … es würde kein Bild mehr mit Grey geben. Es würde keinen strahlenden Grey mehr geben, der seine Hand auf Greens Schultern legen würde und warm in die Kamera lächelte, froh, zusammen mit seiner Schwester abgebildet zu werden, froh, bei seiner Schwester zu sein.
„Rache.“
White drehte sich wieder zu Green herum, als ihre Tochter dieses Wort sagte und sah sie bestürzt, aber nicht überrascht an, als sie weiter ausführte:
„Rache ist verboten, oder, Mutter?“ Wieder antwortete White nicht; wahrscheinlich weil ihr bewusst war, dass es zwecklos war, ihr irgendetwas ausreden zu wollen, da sie wusste, wie sie den plötzlichen Funken in Greens Augen zu deuten hatte: ein verbotener Funke, denn nach Rache zu dürsten war in der Tat verboten, vom Ausführen der Tat ganz zu schweigen; jedenfalls war das so in den Regeln geschrieben, genau wie man den Dämonen eigentlich keinen unnötigen Schmerzen zufügen durfte. Doch wenn Green sich wirklich für diesen Weg entschied, dann würde White sie nicht aufhalten können. Das wusste sie. Sie wusste, dass niemand sie davon abbringen könnte.
Wusste Nocturn es ebenfalls? War ihm klar, dass Greens unreines Herz sich nicht von Regeln würde bändigen lassen? Ja, dies war ihm genauso bewusst, wie ihm bewusst war, dass White schweigen würde, dass sie Green nicht sagen würde, an wem sie sich rächen sollte.
Wenn White Green sagen würde, dass der wahre Mörder Nocturn war, würde sie in das offene Messer rennen, ganz gleich ob sie ihm gewachsen und wie groß ihre Furch vor ihm war.
Aber warum hatte White das Gefühl, dass sie durch ihr Schweigen das Messer nicht stumpf machte, sondern nur den Weg zu diesem verlängerte?
Während Green sich nun langsam doch umzog, sah White auf das letzte Familienfoto; betrachtete mit schmerzendem Herzen das strahlende Lächeln ihres Sohnes – ihres verstorbenen Sohnes – welches seinem Vater so ähnlich gesehen hatte.
Sie schwor es; schwor es für ihren verstorbenen Sohn, für seinen Vater und für alle anderen, die in diesem Schrecken bereits gestorben und zugrunde gerichtet worden waren.
Es würde enden.
Sie hatte Nocturn schon einmal umgebracht – und sie würde es wieder tun. Ein für alle Mal.
White war nicht überrascht, als sie ihren Vater zusammen mit Adir in der Eingangshalle zum Jenseits erblickte, die Arme streng vor der Brust verschränkt, ganz als würde er sie richten wollen. Er hatte auf sie gewartet, genau wie sie es vorhergesehen hatte. Wahrscheinlich hatte er nur die Kriegsversammlung angesetzt und sich dann sofort wieder hierhin begeben, um auf White zu warten. Adir sah nicht danach aus, als ob ihm diese Situation gefallen würde, doch auch in seinem Gesicht sah White ungeklärte Fragen.
„Wie ich sehe, wurdest du anscheinend nicht von Inceres-no-danna wiederbelebt“, sagte Shaginai, kaum dass White den Boden des Jenseits berührt hatte. Stets die Ruhe bewahrend, schritt White auf ihren Vater zu und antwortete mit ihrem antrainierten Lächeln:
„Nein, es war keine Wiederbelebung, die mir mein Licht zurückgab.“ Nun mischte sich auch Adir ein:
„Aber was war es dann? Wie ist dieses Wunder möglich?“ Einen Moment schwieg White, ehe sie die Frage ruhig beantwortete:
„Inceres-no-danna war so gütig und gab mir meine Macht zurück, welche sich in dem Bannkreis befand. Wie genau das möglich ist, kann ich leider auch nicht beantworten.“
„Um Yogosu zu beschützen“, entgegnete Shaginai giftig und es war deutlich, dass ihm noch etwas auf der Zunge lag, doch er schwieg, darauf bedacht, dass er sich im Jenseits befand und die Wände Ohren besaßen. Auch Adir war sich dessen bewusst und antwortete demgemäß:
„Es war ein kluger Schachzug für das Wohl des Wächtertums; werden Sie erneut in die Schlacht ziehen, White-san?“ White nickte und versicherte, dass sie das tun würde, solange ihr Eciencé-Körper dies zuließ, womit sie auch kurz erklärte, welchen Begrenzungen sie unterlag. Nachdenklich legte Adir die Stirn in Falten und antwortete:
„Wenn wir nur wüssten, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Einsätzen der Ecience-Körper lägen …“ Er stellte diese Frage, als ob jemand außer White und Shaginai ihm eine Antwort geben könne, doch die Wände schwiegen und hinterließen diese Frage unbeantwortet; eine Frage, welche sie sich schon lange stellten: wenn jemand wie Seigi seinen Eciencé-Körper aufgebraucht hatte und wieder ins Jenseits zurückkehrte – wann konnte er diesen wieder einsetzen? Obwohl Seigi schon tausende Male im Einsatz gewesen war, war diese Frage nicht zu beantworten: Manches Mal konnte er am darauffolgenden Tag bereits wieder mit seinem Eciencé-Körper in die Schlacht ziehen, manchmal nicht und einige Male auch nicht nach einer Woche. Es schien vom Zufall geprägt zu sein … oder es war ein Plan, der sich dem Verständnis der Hikari entzog.
White wollte sich gerade von den beiden verabschieden, mit den Worten, dass sie sich in ihrem Zimmer aufhalten wolle, bis die nächste Kriegssitzung beginnen würde, als Shaginai sie von diesem Unterfangen abhielt, kaum dass White an ihm vorbei gegangen war.
„Es gibt da noch eine Frage, ehe du uns verlässt.“ White wusste genau, um was für eine Frage es sich handelte. Es war eine bitterte, vorwurfsvolle Frage und genau dies hörte nicht nur sie aus dem Tonfall ihres Vaters heraus, sondern auch Adir, der Shaginai unruhig musterte:
„Du und dieser Dämon – was hattet ihr beide denn so intensiv zu besprechen? Warum habt ihr überhaupt miteinander gesprochen? Seit wann redet man denn mit Dämonen?“ Diese Frage überraschte White wenig; sie hatte sie bereits erwartet und auch eine Antwort parat, welche sie lächelnd vortrug:
„Informationen, Vater. Ich wollte Informationen von ihm erlangen, doch leider verlief es nicht zu meinen Gunsten.“ Adir war mit dieser Antwort zufrieden, aber Shaginai nicht und auch dieses Gespräch verlief nicht zu Whites Gunsten, denn ihr Vater antwortete anders, als von ihr erhofft:
„Wie kamst du überhaupt auf den Gedanken, dass er dir Informationen geben würde?“ White bemühte sich, ihr Lächeln aufrecht zu erhalten, doch die Hände, welche sie auf dem Rücken platziert hatte, verkrampften sich, als sie die Wahrheit sagte:
„Er ist sehr gesprächig.“
„So so, das ist er also. Du scheinst ihn ja gut zu kennen, den Mörder von Greys Vater.“
„Shaginai!“ Adir hatte bis zum jetzigen Zeitpunkt ruhig, aber besorgt zugehört, doch als sein Mithikari dies sagte, konnte er sich nicht zurückhalten. Doch Shaginai reagierte nicht auf Adirs bestürzten Einwurf, sondern behielt seine Tochter im Auge, deren Lächeln nun steif geworden war, verursacht durch einen Stich im Herzen.
„Ist das ein Vorwurf, Vater?“, entgegnete White mit einer monotonen Stimme, welche mit zurückgehaltener Wut beantwortet wurde:
„Nein, eine simple Feststellung.“ Die Wut Shaginais schlug auf White über: deutlich spürte sie jenes unbekanntes Gefühl in ihr emporsteigen, das sie noch nie zuvor verspürt hatte, da dies eines der Gefühle gewesen war, welches von klein auf in ihr angekettet gewesen war.
Sie konnte es nicht fassen, dass man ihr einen Vorwurf machte; sie konnte es nicht fassen, dass diese Frage überhaupt gestellt werden musste.
Als ob sie Nocturn freiwillig kannte!
Als ob sie es jemals genossen hatte, mit ihm zu reden!
Nein, hätte sie damals als kleines, ahnungsloses Kind geahnt, welches Unglück sie herauf beschworen würde, wenn sie dieses verdammte Kind retten würde, sie hätte es nicht getan. Sie hätte ihn verbluten lassen – und gäbe es eine Möglichkeit, diesen schweren Fehler rückgängig zu machen, sie würde es tun!
Aber White sagte nichts. Sie schwieg, zwang sich dazu, zu schweigen und die Mundwinkel zu einem tapferen Lächeln erstarren zu lassen, die Wut herunterzuschlucken. Sie wollte sich schweigend herum drehen – das schien ihr die angenehmste Art, das Gespräch abzubrechen – doch Shaginai ließ sie nicht. Offensichtlich bemerkte er die Wut seiner Tochter nicht, oder aber er ignorierte sie; so wie er schon so vieles ignoriert hatte.
Damals … damals als Kanori gestorben war … hatte er da versucht, sie zu trösten? Nein, während alle ihre Familienmitglieder ihr Beileid ausgesprochen hatten, hatte er es nicht getan, hatte sie nach der Beisetzung Kanoris zu sich ins Jenseits gerufen - nicht um ihr zu sagen, dass es ihm Leid täte, nein. White hatte es sich erhofft und noch so deutlich sah sie sich vor seiner Tür stehend mit den Gedanken spielend, ob er sein Mitleid vielleicht einfach nicht in der Öffentlichkeit zeigen wollte. Würde er sie vielleicht umarmen?
Die Vorstellung alleine weckte Verunsicherung in White. Wenn Violet jemanden lieben und dieser sterben würde, dann würde Shaginai sie selbstverständlich tröstend in die Arme nehmen. Warum kam ihr diese Vorstellung so natürlich vor, während die, dass er sie umarmen würde, absolut abstrus war? War sie nicht auch seine Tochter?
Nein, das war sie nicht, nicht … nicht wie Violet. Warum dachte sie jetzt daran zurück? Sie hatte dieses Treffen doch so lange verdrängt … sie hatten nie wieder darüber gesprochen und sie hatte sich immer dazu gezwungen, es beiseite zu schieben, sobald sich diese Erinnerung aufgedrängt hatte … war es, weil Kanori und Grey … war es, weil die beiden so ähnlich ermordet worden waren und dass ihr Körper und ihr Herz zu sehr von Traurigkeit zerfressen waren, dass es ihr nicht gelang, diese Erinnerung zurückzudrängen?
White sah sich selbst wieder vor Augen, wie sie ein wenig ängstlich das Büro ihres Vaters betrat und sie nicht, wie sie es erhofft hatte, mit Mitleid begrüßt worden war, sondern mit Wut und – genau wie jetzt auch mit Vorwürfen.
Hatte er es etwa richtig gehört, dass White für einen kurzen Moment ihr Licht verloren hatte? Hatte sie denn eine Ahnung, wie viele Wächter auf dem Schlachtfeld gewesen waren?
Wie viele das sicherlich gesehen hatten?
Ihre Schwäche?
Sollte er sich denn für sie schämen?
Und das alles nur für so einen Nichtsnutz?
White war so entsetzt gewesen von seiner Reaktion, dass sie nichts gesagt hatte.
Sie hatte geschluckt, geschwiegen und mit gesenktem Kopf versprochen, dass dies nicht noch einmal vorkommen würde. Das hoffe er, hatte er verbittert geantwortet. Doch es war nicht das, was sie am meisten schockiert hatte - es waren die letzte Worte, die er an sie richtete, ehe sie den Raum mit gesenktem Haupt wieder verließ:
„Es ist mir zu Ohren gekommen, dass du schwanger bist. Warum hast du mich nicht persönlich darüber unterrichtet? Warum muss ich das von jemand anderem erfahren?“ White war stehen geblieben, die Hand auf der Klinke der Tür ruhend, einen Herzschlag aussetzend, ehe sie antwortete:
„Freut dich diese Nachricht denn, Vater?“
„Selbstverständlich tut es das! Ich hoffe nur, dass es ein Lichterbe wird, ansonsten müssen wir dir einen weiteren Mann suchen. Aber bei deinem Ruf wird das wohl kaum ein Problem darstellen.“
Das war seine Sorge? Natürlich war es das, denn White war nie seine Tochter gewesen – sie war immer nur die Lichterbin, die nach ihm kam! Die in seine wohlgeformten Fußstapfen hatte treten müssen!
Deshalb hatte er auch keine Skrupel, ein ahnungsloses 11-jähriges Kind auf das Schlachtfeld zu zerren, denn sie war eine Hikari wie er.
Daher durfte sie auch keine Trauer zeigen, egal ob bei dem Tod ihrer Mutter, ihres Geliebten, ihrer Freunde, ihres Sohnes, denn sie war eine Hikari wie er.
Shaginai würde ihr Leid nicht verstehen – er würde nicht verstehen, dass sie Nocturn nie freiwillig kennengelernt hatte. Er würde nicht verstehen, wie schmerzlich jede einzelne Sekunde mit ihm gewesen war; das Wissen, dass es ihre Schuld war, dass Kanori, ihre Freunde, Violet und nun auch Grey gestorben waren.
Stattdessen machte er ihr nun Vorwürfe; Vorwürfe für das, worunter sie am meisten litt.
Er, ihr Vater, war der, der am wenigsten Verständnis für sie hatte und deswegen sollte White auch nicht über seine Frage verwundert sein, denn sie war eine Hikari.
Keine Mutter. Keine Frau. Keine Tochter.
Sie war die Hikari, die nach ihm kam. Sie war die Hikari, die er geformt hatte.
„Du wirst nicht die gleiche Schandtat wie deine Tochter begehen, nicht wahr, White?“
White hörte nur mit halbem Ohr, wie Adir Shaginai bestürzt fragte, wie er denn auf so eine Idee kam und dass es doch keine Anzeichen darauf gab und White doch nicht ... niemals …
„Antworte mir, White! Ich befehle es dir!“
In ihren Ohren dröhnte alles, als sie sich herum wandte.
White wusste nicht, was ihr Gesicht zeigte, wusste nicht, welches Gefühl die Oberhand ergriffen hatte – doch der Anblick Whites brachte Adir zum Schweigen und auch Shaginais Augen weiteten sich bei ihrem Anblick. Doch dafür war White blind, sie sah es nicht, denn vor ihrem Auge tanzten die Erinnerungen an ihre letzten Jahre, die sie gelebt hatte – nein, sie war bereits tot gewesen; sie war ab dem Moment, als Kanori gestorben war, ebenfalls zu Tode gekommen und die letzten sieben Jahre hatte sie in einem Grab verbracht.
„Um mir diese Frage stellen zu können, musst du wahrlich zu meinen Lebzeiten blind gewesen sein, Vater. Ansonsten würdest du die Antwort auf deine Frage kennen! Du würdest sie gar nicht stellen! Aber du stellst sie, du stellst sie ... Traust es mir zu, weil du keine
Kenntnis über mich besitzt! Du kennst alle meine Techniken, alle meine Daten, aber mich kennst du nicht! Seit Kanoris Tod hast du mich nie gefragt, wie es mir ging! Ja, nicht einmal bei dem Tode Mutters fragtest du mich oder tröstetest mich! Du warst stets blind für mein Leid! Du hast dir nie die Mühe gemacht, mich zu verstehen … du hast immer nur eine Hikari, eine Kriegsmaschine, deine Kriegsmaschine in mir gesehen! Aber ich bin keine Maschine!“ Plötzlich schwieg sie, genauso überrascht über ihren plötzlichen Gefühlsausbruch wie Adir und Shaginai. Doch das war alles, was sie in Shaginais weißen Titanaugen sah; Überraschung, aber keine Reue, kein Mitleid und kein Mitgefühl.
Die Wut verrauchte genauso schnell, wie sie gekommen war und hinterließ nichts als Trauer, welche sie dazu veranlasste, traurig folgende Worte in den Raum zu hauchen:
„Violet hättest du diese Frage nicht gestellt.“
Dann wandte sie sich herum und ging auf die Flügeltür zu, wo die beiden Tempelwächter dem Gespräch aufmerksam gefolgt waren, aber ihrer Arbeit nachgingen, als White ihren Namen, Familie und ihren Rang nannte. Als sie bereits dabei waren, die Tür zu öffnen, hielt Shaginai sie auf:
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Whites Hoffnung, dass er etwas zu seiner Verteidigung oder möglicherweise sogar eine viel zu späte Entschuldigung äußern würde, verpuffte sofort. Doch anstatt sich noch einmal der Wut hinzugeben, antwortete sie monoton:
„Nein, Vater, ich habe mich niemals schuldig gemacht, Regel 2A gebrochen zu haben. Ich war stets eine Gefangene.“
Und dann ging sie, ohne sich noch einmal von Shaginai unterbrechen zu lassen, auf direktem Weg in ihr Zimmer.
Weinend.
„Wie es aussieht, haben wir beim Kampf in Henel nur geringe Verluste zu beklagen. Sehr erfreulich“, sagte Hizashi mit den Augen auf den Bildschirm vor ihm gerichtet, während seine Finger über die Tastatur glitten; allerdings nur die Finger seiner linken Hand, da die andere sich bereits aufgelöst hatte. Shaginai verschränkte die Arme finster vor seiner Brust und antwortete:
„Machen wir uns nichts vor. Diese Kriegseröffnung ist katastrophal und wäre meine Tochter nicht in der Lage, aktiv zu sein, ständen wir vor einem Desaster gleich dem Massaker von Espiritou del Aire.“ Hizashi war alles andere als ein Optimist und auch nicht der Typ, der Dinge schönzureden versuchte, daher antwortete er sachlich:
„Darüber hinaus müssen wir bedenken, dass unsere aktuellen Daten sich nur auf die Wächter beziehen, die mit einem Kommunikationsgerät ausgerüstet waren. Dies bedeutet, dass die Gesamtsumme der Opfer höchstwahrscheinlich höher liegt, da die Wächter, die keines besaßen, sich auf Min Intarsier befanden.“ Ein Grummeln Shaginais erhielt er als Antwort, welches verdächtigt nach einem unterdrückten Fluchen klang. Doch Hizashi war noch nicht fertig und öffnete gerade den Mund, als Green ihn in seinem Vorhaben unterbrach. Sie saß hinter den drei Hikari auf einem Drehstuhl, die Arme - genau wie Shaginai - über Kreuz, das Bein störrisch über das andere geschlagen und auch ihre Stimme untermauerte ihre Unzufriedenheit:
„Gerade deswegen finde ich es verflucht überflüssig, dass ich hier sitzen muss. Wäre es nicht viel besser, wenn ich da draußen wäre, um mitzuhelfen?“ Shaginai hielt es nicht einmal für nötig, sich herumzudrehen, als er antwortete:
„Du bleibst hier, wo ich dich im Auge behalten kann, Yogosu.“
„Ich finde, du kannst mich überall gut genug im Auge behalten!“, entgegnete Green mit einem genervten Wink zu den blinkenden und leuchtenden Bildschirmen.
„Offensichtlich ist dies nicht der Fall! Offensichtlich bist du erst vor deiner eigenen Dummheit sicher, wenn du angekettet bist!“
„Erst bringst du mich um und jetzt willst du mich anketten?! Wofür bin ich denn durch dein teuflisches Training gegangen – um hier herumzuhocken?!“
„Jedenfalls nicht, damit du dem erstbesten Dämon vor die Füße fällst!“ Green hatte bereits abermals den Mund geöffnet, um Shaginai eine erboste Antwort zu geben, doch nun mischte sich Adir ein – Hizashi dagegen hatte sich von dem Streit der beiden Familienmitglieder nicht ablenken lassen.
„Aber, aber“, begann Adir mit einer sichtlich ruhigeren Stimme als die der beiden Sturköpfe und wandte sich nun an Green, einen sachten Wink an die anderen Klimawächter machend, die vielleicht nicht unbedingt wissen sollten, dass Shaginai versucht hatte, sie einst umzubringen:
„Ich kann verstehen, dass es frustrierend für dich ist, Green …“ Er sagte ihren Namen mit Nachdruck, dabei Shaginai ansehend, um ihn daran zu erinnern, dass es nicht ratsam war, seine Enkelin in aller Öffentlichkeit „Yogosu“ zu nennen – auch wenn die Klimawächter alle in ihre Arbeit vertieft zu sein schienen - und senkte daher auch die Stimme:
„… aber im Moment ist es zu gefährlich, dich in die Nähe von Dämonen zu lassen. Nun da wir wissen, dass unsere Feinde von deiner einzigartigen Fähigkeit Kenntnis haben, ist der Gedanke naheliegend, dass du einen enormen Wert für sie darstellst. Ich bitte dich daher darum, geduldig zu sein: Sobald wir drei und deine Mutter wieder im Jenseits sind, werden wir eine Kriegssitzung halten und beraten, wie wir dich weiter im Krieg einsetzen werden.“ Die ruhige Antwort Adirs zeigte Wirkung: die Wut fiel sichtlich von ihr, als sie in seine vertrauensvollen Augen sah. Seufzend nickte sie und antwortete niedergeschlagen:
„Kann ich dann nicht wenigstens auf Min Intarsier oder Sanctu Ele’saces helfen? Das Warten macht mich wahnsinnig.“ Adir warf einen Blick zu Shaginai, der deren Gespräch aufmerksam gelauscht hatte und tauschte ein, zwei Blicke mit ihm aus, ehe er antwortete:
„Ich denke, das ist möglich.“ Kaum hatte Adir dies gesagt, stand Green auch schon auf, doch genau in dem Moment, als sie sich herumdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, fesselte das Bild vor Hizashi sie und überrascht starrte sie den Bildschirm an - oder genauer gesagt die Akte des Dämons, der ihr für einen kurzen Augenblick entgegenblickte, ehe Hizashi die Akte bereits wieder verschwinden ließ.
„Warte! Zurück!“ Verwundert wurde Green nicht nur von Hizashi angesehen, sondern auch von Shaginai und Adir, da alle drei nicht verstanden, was an eben dieser Akte so besonders war. Doch Green achtete nicht auf ihre verschiedenen Reaktionen, sondern stützte sich an Hizashis Stuhllehne ab und beugte sich zum Bildschirm vor, wo Hizashi die eben gesehene Akte wieder erscheinen ließ.
„Das ist doch …“ Doch nein, Green stellte schnell fest, dass sie sich geirrt hatte; dennoch war die Akte ziemlich interessant für sie, denn es war die Akte Blacks, welchen sie im ersten Moment für Blue gehalten hatte – immerhin war die Ähnlichkeit wahrlich verblüffend. Green hatte vorher noch nie ein Bild von ihm gesehen; alles, was sie bis zu diesem Zeitpunkt gekannt hatte, war sein Name. Aber obwohl sie erst beim zweiten Hinsehen den Namen las, so war ihr schon vor dem Lesen des Namens klar gewesen, dass Black der Vater Blues sein musste.
Green bemerkte ein befremdendes Gefühl in sich, als sie die eigenartigen, komplett desinteressierten roten Augen Blacks sah; sie war ruhig, aber irgendwie zur gleichen Zeit auch merkwürdig erregt, weshalb sie auch nicht bemerkte, wie Shaginai sie aufmerksam beobachtete.
„Ist er tot?“ Hizashi machte einen genervten Wink auf die Akte und antwortete ungeduldig:
„Wie dort vermerkt steht, ist der Status dieses Dämons unbekannt. Er wurde das letzte Mal 1989 gesehen.“
„Warum hast du die Akte dann überhaupt aufgerufen?“, fragte Green und versuchte, betont normal zu klingen, während der Angesprochene die besagte Akte wieder verschwinden ließ, womit die junge Hikari eine Ansammlung von Aktenbildern und Daten vor sich sah. Mit den Daten konnte sie herzlich wenig anfangen, doch zwei der Bilder, samt nun dem von Black, waren ihr bekannt, denn es waren die Aktenbilder von Nocturn und dem blonden Mädchen – Feullé?
„Ich habe das Blut untersucht, welches sich auf Shaginai-sans Kleidung befand, um herauszufinden, welche Auren die Lunatika in sich aufgenommen hat. Dies ist lediglich die Auswertung.“ Nun mischte sich auch Shaginai ein:
„Dann war dieser Kampf ja wenigstens kein kompletter Nonsens. Wie erfreulich. Wie sieht die Auswertung aus?“ Hizashi zuckte ein wenig gleichgültig mit den Schultern und entgegnete daraufhin:
„Die Lunatika besitzt fünf Auren, wovon die des eben Genannten eine ist. Drei weitere sind von geringer Wichtigkeit, da die Dämonen, von denen sie die Aura kopiert hat, schwach und unbedeutend gewesen sind. Die fünfte ist nicht analysierbar und daher höchstwahrscheinlich die Aura Nocturns. In den vergangenen 18 Jahren hat sie keine der Auren angewandt oder neue kopiert. Vom Kampf her zu urteilen scheint sie keine besonders große Gefahr zu sein. Wir sollten sie bei Gelegenheit jedoch ausschalten, damit sie sich nicht vermehren kann.“
„Wow, das kannst du alles durch ein bisschen Blut herausfinden?“, unterbrach Green verblüfft, was Hizashi zu einem verborgenen Grinsen brachte, als er antwortete, dass er noch so viel mehr mit einem einzigen Bluttropfen machen konnte.
„Wow, das ist wirklich ziemlich … cool.“ Shaginai schien es nicht so „cool“ zu finden wie seine Enkelin und so wandte er sich genervt an sie:
„Warst du nicht eben noch voller Tatendrang?“ Plötzlich schien Green wieder in der harten Wirklichkeit zu erwachen, und gerade als sie sich nach Min Intarsier aufmachen wollte, gefolgt von Shaginais Worten, dass er sie beobachten würde, sprang sie erschrocken mehrere Schritte zurück, knallte dabei gegen ihren Großvater und hätte beinahe überrascht aufgeschrien, obwohl die Person, die plötzlich hinter ihr gestanden hatte, bei genauerem Hinsehen absolut nicht bedrohlich wirkte – er wirkte nur überaus deplatziert und die Tatsache, dass er ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hatte, hinter ihnen aufgetaucht war, hatte Green fürchterlich erschreckt.
„Reitzel-san, wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte Adir lächelnd, während Shaginai seine Enkelin mit eindeutigem Blick dazu aufforderte, sich gefälligst zu benehmen; einige Klimawächter hatten bei Greens heftiger Reaktion verwundert aufgesehen.
„Wer …?“ Verblüfft sah Green den Neuankömmling an; einen jungen Mann, gekleidet in einen grauen Anzug, weshalb er auch noch auf den zweiten Blick wegen seines menschlichen Aussehens komplett deplatziert aussah. Auf Green wirkte er eher wie ein Student aus der Menschenwelt als ein Wächter – bis ihr das goldene Glöckchen auffiel, das er eigenartigerweise recht offen um seinen Hals trug, anstatt es wie die meisten Hikari unter seinem Oberteil zu verbergen.
„Ein … Hikari?“ Reitzel, der Green vorher wegen dem Erschrecken entschuldigend angesehen hatte, lächelte sie nun an und deutete eine leichte Verbeugung an. Ein Lächeln, welches gänzlich anders wirkte als das der anderen Hikari: es wirkte nicht antrainiert oder wie das Werk von Pflicht. Es wirkte aufrichtig; vom Herzen kommend. Das ehrliche Lächeln kleidete ihn gut; es passte zu seinen vertrauensvollen Augen und zusammen mit seinen seidenen weißen Locken, die kurz gehalten waren, kam Green nicht drum herum zu glauben, sie hätte es hier mit einem modernen Märchenprinzen zu tun.
„Sie sind spät“, unterbrach die kühle Stimme Hizashis Greens und Reitzels Blickaustausch, der ihr ungewöhnlich intensiv erschienen hatte, als würde er in den Abgrund ihrer Seele blicken wollen – nein, als wäre es ihm gelungen.
„War irgendeine Vorlesung mal wieder wichtiger als ein Krieg?“ Hizashi blickte über die Schulter und durchbohrte Reitzel mit so kühlen Augen, dass es Green kalt den Rücken herunterlief – so einen Blick hatte sie noch nie von ihm gesehen. Auch Reitzels Lächeln war dahin geschmolzen; er schien verunsichert, riss sich aber zusammen.
„Ich versichere Ihnen, dass ich so schnell gekommen bin, wie es mir möglich war. Nur leider war ich in menschlicher Begleitung, weswegen ich mich nicht teleportieren konnte …“
„Haben Sie sich schon informiert?“ Reitzel blickte etwas fragend – hilfesuchend? – in die Hikari-Runde und erwiderte dann:
„Ich komme direkt aus Österreich, wie hätte ich mich …“
„Sie standen schon drei Minuten hinter uns; das wird ja wohl genug Zeit gewesen sein, um einen Überblick über die Lage zu erhalten.“ Drei Minuten? Green hatte überhaupt nichts bemerkt und von Shaginais und Adirs Blicken her zu urteilen hatten sie es auch nicht.
„Einen etwas gründlicheren Überblick würde ich bevorzugen …“
„Dafür ist keine Zeit.“ Meine Güte, dachte Green, was war denn mit Hizashi los? Sie hatte ihn zwar nie für den nettesten Zeitgenossen gehalten, aber so unwirsch hatte sie ihn nie erlebt und sofort tat ihr Reitzel leid, welcher unzufrieden wirkte, aber nichts sagte und nur nickte, als Hizashi ihm sagte, dass er sich nach Min Intarsier aufmachen solle.
„Da muss ich auch hin“, warf Green ein, aus einem ihr unbekannten Grund Reitzel aufmuntern wollend:
„Wir können ja zusammen gehen, ehm, ich meine teleportieren?“
„Oh“, erwiderte Reitzel etwas verwundert und schwieg auch für einen Moment, als würde er den anderen Hikari Zeit geben, etwas einzuwerfen, doch sie sagten nichts:
„Das würde mich sehr freuen, Green-san.“ Und schon verließen die beiden die Kommunikationszentrale, gefolgt von den Blicken Adirs und Shaginais; Hizashi hatte sich schon wieder seiner Arbeit zugewendet, wenn auch eindeutig rabiater als zuvor.
„Ob das eine gute Idee war?“, fragte Adir zu Shaginai flüsternd:
„Du hast Reitzel-sans Fähigkeit immerhin auch schon erlebt, Shaginai …“ Der Angesprochene deutete ein Schulterzucken an:
„Nun, vielleicht ist es gerade deswegen eine gute Kombination.“
Reitzel atmete sichtlich auf, als die Tür der Kommandozentrale sich hinter ihnen schloss; Erleichterung spiegelte sich nicht nur in seinem Gesicht, sondern auch in seiner Körpersprache wider. Green interessierte es brennend, was zwischen Hizashi und Reitzel vorgefallen war, doch fand sie, dass sie etwas zu sehr mit der Tür ins Haus fiel, wenn das ihre erste Frage an ihn sein würde. Stattdessen dachte sie, dass sie sich erst einmal vorstellen sollte:
„Sie wissen es zwar offensichtlich schon, aber mein Name ist Green.“ Sie reichte ihm ganz automatisch die Hand, bis ihr einfiel, dass die Wächter sich nie die Hände gaben – doch Reitzel ergriff sie, noch bevor sie sie wieder zurückziehen konnte. Er hatte einen sanften, freundlichen Händedruck, obwohl seine Hand genauso kalt und eisig war wie die der anderen Eciencé-Körper. Ein Zittern glitt unauffällig durch Greens Glieder, doch sie ließ sich nichts anmerken.
„Und meiner ist Reitzel. Wenn du nichts dagegen hast, wäre es schön, wenn wir uns duzen könnten.“ Noch eine Sache, die sie verwunderte: Er nannte nur seinen Vornamen, anstatt wie die anderen Hikari seinen kompletten Namen zu nennen.
„Wie kommt es, dass ich noch nie etwas von dir gehört habe, Reitzel?“
„Oh, das liegt sicherlich daran, dass ich von den Ratsversammlungen und den Kriegssitzungen ausgeschlossen bin.“ Er bedeutete ihr, dass sie sich zum Teleportationspunkt aufmachen sollten, was sie daraufhin auch taten, auch wenn Green ihn nach wie vor verwundert ansah – wenn die so verunsicherte Lili an diesen politischen Begebenheiten teilnehmen durfte, warum dann nicht er?
„Aber deinen Prozess von vor einem Jahr habe ich dennoch verfolgt. Es mag sich nicht gehören und ich bitte dich darum, es nicht falsch aufzufassen, aber diese Episode hat den Hikari gut getan.“ Green konnte ihm nicht so recht folgen, aber sie hatte keine besondere Lust, über damalige Geschehnisse zu reden, weshalb sie nun doch Nägel mit Köpfen machte:
„Was war denn eben mit Hizashi los? Er wirkte so …“
„Angreifend.“
„Ja, das trifft es eigentlich ganz gut.“ Green warf einen verstohlenen Blick zu Reitzel und bemerkte, dass er aufgehört hatte zu lächeln.
„Darf ich fragen wieso?“
„Aber natürlich“, antwortete Reitzel und sah sie nun direkt an, mit einem fast schon entschuldigenden Blick:
„Es ist derselbe Grund, weshalb du noch nie etwas von mir gehört hast, denn die Hikari meiden meine Gesellschaft. Ganz vorne heran Hizashi. Er meidet mich nicht nur … er hasst mich. Ich kann ihm das nicht verübeln, doch ich wünschte dennoch, es wäre anders. Wir könnten so viel voneinander lernen.“ Green konnte sich nicht vorstellen, warum man so einen netten Hikari meiden sollte; war er ihnen zu menschlich? Für Green war es genau das, was ihn so sympathisch machte, aber vielleicht wirkte das negativ auf Hikari …
„Auch du hast meine Hilfe einst abgelehnt. Zwar indirekt, aber doch abgelehnt.“ Green legte den Kopf schief, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie Reitzel jemals gesehen oder seinen Namen gehört hatte. Wie konnte sie seine „Hilfe“ also ablehnen haben?
„Ich bin Psychologe. Genauer gesagt bin ich der oberste Psychologe des Wächtertums.“ Green spürte, wir ihr Lächeln steif wurde und tatsächlich erinnerte sie sich an eine unwillkommene Erinnerung: als ihr Glöckchen damals zerrissen war … kurz, nachdem sie aus der Dämonenwelt zurückgekommen waren … da hatte Shaginai ihr tatsächlich gesagt, dass sie einen Psychologen aufsuchen solle, aber sie hatte vehement abgelehnt. Nur war Reitzels Name damals nicht gefallen.
„Ich wollte dich nicht an schlechte Erlebnisse erinnern“, sagte Reitzel bedächtig, als er bemerkte, dass Green nicht antwortete und dabei war, weg zu driften, sich nun aber zu einem Lächeln bringend:
„Ach, was, schon gut, das ist doch nicht deine Schuld!“
„Das sehen unsere Verwandten leider anders.“
„Was meinst du?“ Reitzel schüttelte den Kopf:
„Nicht heute, Green, nicht heute. Du hast heute genug Dinge für ein ganzes Leben erlebt und das, was wir gleich sehen werden, wird kein schöner Anblick sein.“
„Ach so, ich weiß, was du meinst! Die Hikari wollen sich nicht analysieren lassen, was? Aber du siehst mich heute doch das erste Mal und wir sind ja nun nicht gerade bei einer Sitzung oder so.“ Green versuchte, unbeschwert zu lachen, als sie meinte, dass er ja wohl kaum ihre Akte gelesen habe, doch es fiel ihr ein wenig schwer.
„Nein, deine Akte habe ich in der Tat nicht gelesen. Ich finde, es gehört sich nicht, die Akten anderer zu lesen, solange sie nicht meine Patienten sind.“
„Also guck, was soll schon passieren …“ Reitzel lächelte weiterhin, doch sein Lächeln war ein wenig traurig, was Green nicht aufzufallen schien. Sie schwiegen kurz, bogen um einige Ecken, ehe er das Wort wieder ergriff:
„Du verstehst deine Verwandten und ihre Abneigung mir gegenüber jetzt besser, nicht wahr, Green?“ Green warf ihm einen verwirrten Blick zu; offensichtlich konnte sie ihm nicht folgen, doch er erklärte es:
„Sobald ich gesagt habe, dass ich Psychologe bin, sind deine Worte nicht nur abwehrend geworden, sondern auch deine Körpersprache defensiv ... du hast Abstand zu mir genommen, siehst mich nicht mehr an. Daraus schließe ich, dass Shaginai wohl daran getan hat, mir zu sagen, dass ich dich damals hätte untersuchen müssen – und dass die Gründe für diesen Verdacht nach wie vor bestehen.“ Verblüfft starrte Green ihn im Gehen an und sofort überkam sie eine Welle des schlechten Gewissens, denn er hatte Recht, wie ihr auffiel; sie hatte tatsächlich Abstand zu ihm genommen und das obwohl sie ihn wenige Minuten zuvor noch so sympathisch gefunden hatte.
„Und jetzt hast du schlechtes Gewissen mir gegenüber, anstatt deinem Unterbewusstsein zu erlauben, über eben jene Dinge nachzudenken, die eine psychologische Behandlung benötigen würden.“ Green hatte plötzlich das Gefühl, ein Pfeil aus Eis würde sich in sie hineinbohren – und noch nie, noch nie in ihrem Leben war sie so froh darüber, Itzumis Stimme zu hören.
„Hikari-sama!“ Itzumi rannte die letzten Schritte, um zu ihrer Hikari zu gelangen und zum ersten Mal hatte Green das Bedürfnis, sie zu umarmen, als hätte sie sie gerade vor einer großen Bedrohung gerettet – und genau dieser Gedanke tat ihr Leid. Sie traute sich nicht mehr, Reitzel anzusehen, als würde ein Blick genügen, um den Eispfeil weiter in sie hineinzubohren, obwohl er sicherlich einfach nur traurig war. Hatte er deswegen so lange gezögert zu sagen, was seine Profession war? Weil er gehofft hatte, dass jemand sich mal nicht von ihm abwenden würde?
„Wo wart Ihr denn!? Ich … ich war…“ Itzumis stotternde Tonlage brachte Green dazu, von sich selbst abgelenkt zu sein, denn so einen fast schon besorgten Tonfall hatte sie noch nie von Itzumi gehört und fast wollte sie ihrer Tempelwächterin versichern, dass es ihr gut ginge, als diese ihr eigenes Benehmen bemerkte und umschlug:
„Was ist das; Eure Kleidung, das Kleid von Grey-sama! Voller Blut! Hättet Ihr Euch nicht umziehen können?! Ich hole Euch sofort neue Kleidung, was würde Euer Bruder dazu sagen …“
„Das ist nicht nötig.“ Doch Itzumi überhörte es:
„Dieses Kleid hat Grey-sama doch nicht für den Krieg gemacht! Euer Zimmer ist in der Nähe, wartet hier auf mich.“
„Oh, wenn Sie schon aufbrechen wegen neuer Kleidung, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn sie auch etwas für mich zum Wechseln holen würden.“ Itzumi erschrak genau wie Green zuvor über Reitzels Dasein; offensichtlich hatte sie nur Augen für Green und ihre Kleidung gehabt. Anstatt noch etwas zu sagen, nickte Itzumi nur und rannte dann auch schon los, schneller, als Green es von ihr erwartet hatte.
„Sie hat sich Sorgen um dich gemacht.“
„Ach was, das glaube ich …“ Dann fiel ihr ein, dass es Reitzel war, der das gesagt hatte:
„Naja, vielleicht … ein bisschen. Weil ich ihre Herrin bin … oder so.“ Peinliches Schweigen trat ein. Green sah ihn nicht an, Reitzel zwang sie nicht dazu. Beide warteten sie gespannt darauf, dass sie Itzumis Schritte in dem verlassenen Tempel hörten, doch die Minuten verstrichen und sie kam nicht zurück – und so nah war ihr Zimmer doch gar nicht?
„Ich entschuldige mich dafür, dass ich Wunden aufgerissen habe … das ist nicht meine Absicht, nur leider eine sehr schlechte, nicht ausschaltbare Angewohnheit von mir.“
„Berufskrankheit, was?“, versuchte Green lachend zu antworten, wobei ihr sofort auffiel, dass das eigentlich sehr taktlos war und sofort wollte sie sich gegen den Kopf schlagen, immerhin musste man kein Psychologe sein, um zu merken, dass diese „Angewohnheit“ , wie er sie nannte, ihm zusetzte.
Green wollte sich gerade entschuldigen, da kam Itzumi allerdings schon zurück – und dann gab es andere Dinge, an die sie denken musste.
Green hatte sich bereits seelisch auf die schrecklichsten Dinge eingestellt, als sie auf Min Intarsier eintraf; auf haufenweise Tote, Verletzte und verzweifelte letzte Gefechte, doch dem war nicht so. Die frühe Vormittagsonne war aufgegangen, der Himmel in trübes Blau gekleidet; es herrschte eine bedrückende Stimmung, eine traurige Stimmung, und es war ungewöhnlich ruhig. Alle Kämpfe waren verstummt, niemand der hier noch Lebenden schien die Stimme mehr als nötig erheben zu wollen oder verzagt zu weinen. Es war kalt, es ging kein Wind um – der aufdringliche Geruch von vergossenem Blut hing in der Luft, hier und dort kräuselten sich Rauchsäulen Richtung Himmel, stiegen auf über den Trümmern der sonst so gemütlichen Stadt. Es kam Green trotzdem nicht so vor, als wäre sie auf einem Schlachtfeld. Es kam ihr so vor, als wäre sie in einem Grab.
Es gab für Green nicht viel zu tun; es gab nicht viel, was sie tun konnte, außer dem ruhigen, fast automatisierten Treiben der Überlebenden beizuwohnen: Tempelwächter teleportierten eine Leiche nach der anderen ins Sancturian, nachdem sie von anderen Wächtern die brüchige Treppe hochgebracht wurden, welche Green, Reitzel und Itzumi heruntergingen. Itzumi hatte Reitzel auf die Schnelle nur einen Umhang bringen können, welchen er sich eng um den Körper geschlungen hatte, da er meinte, dass es sich nicht gehöre, diesen von Leid gekennzeichneten Ort im Festaufzug zu betreten.
Viel mehr hatten sie allerdings nicht miteinander gesprochen, obwohl sie die ganze Zeit zusammenblieben – nicht, weil man ihr gesagt hatte, dass sie sich an Reitzel heften sollte, sondern aus ihrem eigenen Willen, denn sie wollte ihm beweisen, dass sie nicht die erstbeste Chance nutzte, um ihm zu entkommen; und sie wusste, dass er ihr dankbar dafür war.
Während Reitzel viele Notizen für einen Bericht über den Sinneszustand der Überlebenden nieder schrieb, sah Green sich um, versuchte, nicht die Augen zu verschließen vor dem, was der erste Tag des Krieges hinterlassen hatte und ihm ins Gesicht zu blicken; Itzumi folgte ihr konstant dicht auf den Fersen.
Man hatte Green beigebracht, dass es als Hikari auch ihre Aufgabe war, die Wächter aufzumuntern und sie zu trösten; die Nähe zu ihnen zu suchen, Präsenz zu zeigen. Doch das einzige, was Green momentan tun konnte, war tatsächlich Präsenz zu zeigen, denn es gab kaum jemanden, der so wirkte, als wolle er Greens Beistand. Min Intarsier schien nur noch von Leichen bevölkert zu sein – und die, die keine waren, waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Nur wenige sahen hoch, als ihre Hikari vorbeikam und Green hatte dafür vollstes Verständnis: Was interessierte es sie jetzt, dass ihre Regime-Führerin durch die Trümmer ging, in sauberer Kleidung und ohne offensichtliche Verletzungen, wenn diese Trümmer ihre ehemaligen Häuser waren?
Green kam zu spät.
Sie hatte all das nicht verhindert.
Jetzt brauchte und wollte man ihren Trost auch nicht mehr.
Es war ein unglaublich ermüdender Vormittag und als Green endlich mit Reitzel in den Tempel zurückkehrte, wusste sie nicht, ob sie lieber fünf Stunden in der Dämonenwelt um ihr Leben gekämpft hätte.
„Wenn du mich suchst, dann frage im Sanctuarian nach. Aores weiß immer, wo ich mich gerade aufhalte.“ Green lächelte und versicherte ihm, dass sie das tun würde, obwohl sie nicht wusste, ob das eine Aufforderung für eine Sitzung war oder nicht. Daraufhin verließ er sie auch, um ins Sanctuarian zu gehen und da standen Herrin und Tempelwächterin nun, alleine in einem ausgestorbenen Tempelkorridor.
Green fühlte eine unheimliche Müdigkeit in sich; schwer und drückend. Aber konnte sie es sich erlauben, müde zu sein? War es nicht … vermessen, wo sie doch noch alle Glieder hatte, kaum in der Dämonenwelt gekämpft hatte … nur zugesehen hatte, wie Firey ... Firey!?
„Oh Gott, ich muss ins Sanctuarian, ich muss zu Firey…“ Itzumi blickte sie verwirrt an; denn sie hatte eigentlich gerade vorgehabt, Green ins Bett zu schicken – und genau das hatte jemand anderes auch vor:
„Du brauchst dir keine Sorgen um deine Freundin zu machen, mein Mädchen.“ Green wandte sich herum und sah ihre Mutter auf sie zu gehen, und sobald sie bei ihnen angekommen war, verbeugte sich Itzumi tiefer, als sie es jemals vor Green getan hatte, was White mit einem dankenden Lächeln aufnahm.
„Firey-san geht es gut. Sie wird wohl in zwei Tagen wieder aufwachen. Ich habe selbst mit Aores gesprochen.“ Diese Neuigkeit nahm Green mit Erleichterung auf, genauso wie auch die Aufforderung, dass es auch für sie langsam an der Zeit war, zu schlafen. Auch ohne dass White Itzumi aufforderte, sie alleine zu lassen, verstand die Tempelwächterin, dass das auch für sie Dienstschluss bedeutete und entfernte sich, als White Green zu ihrem Zimmer begleitete.
„Aber wird nicht noch irgendwo gekämpft?“, fragte Green, als die beiden ihr Zimmer betraten, wobei sie bemerkte, dass die Arme ihrer Mutter zu flackern begonnen hatten – und ihr Kleid hatte mehr Risse und Flecke als als sie sich getrennt hatten. Hatte sie in der Dämonenwelt noch gekämpft?
„Es wird gekämpft, ja. Aber noch …“
„Ja, ja, ich weiß, der Rat und meine Heilfähigkeiten, ich weiß“, erwiderte Green erschöpft, denn sie war sich sicher, dass es die Überlebenden auf Min Intarsier herzlich wenig interessierte, ob sie wegen ihrer Heilfähigkeiten nicht kämpfen durfte, oder ob es wegen Unfähigkeit oder Feigheit war – im Endeffekt kam es doch aufs Gleiche hinaus. Sie hatte wirklich kein recht, müde zu sein; obwohl sie es wollte, obwohl alles in ihrem Körper nach dem weichem Kissen und ihrem immer nach Vanille riechenden Bett verlangte, fand sie nicht, dass es ihr zustand, diesem Verlangen nachzugehen.
„Green, es ist nur eine Frage der Zeit, ehe der Kampf in Henel beendet ist und die Dämonen die Menschenwelt angreifen. Du solltest diesen kurzen Moment der Ruhe nutzen, um zu schlafen und dich zu sammeln, denn bei diesen Kämpfen wirst du gebraucht werden. Wir sind jetzt im Krieg und da ist der Schlaf keine Selbstverständlichkeit mehr. Vater und Adir sind bereits wieder im Jenseits und die nächste Kriegssitzung ist bereits einberufen; ich bin mir sicher, dass wir schnell zu einem Entschluss gelangen werden, was deine Heilfähigkeiten angeht.“ White machte einen Wink zu dem Kleiderschrank Greens, wo ihre Augen auf ihr Nachthemd fielen, welches auf einem Bügel an der Schranktür hing. Das hübsche, weiße Nachthemd, welches von Grey noch einmal neu gemacht worden war …
„Ich glaube nicht … ich glaube nicht, dass ich schlafen kann“, entgegnete Green und schluckte ein Schluchzen herunter, konnte ihren Blick allerdings nicht von dem Nachthemd abwenden. Ihre Mutter bemerkte ihren Blick natürlich, genau wie sie bemerkte, wie der Blick ihrer Tochter nun zögernd zu ihrem Schreibtisch wanderte, über welchem eine Reihe von eingerahmten Fotos hing, die sie im letzten Jahr angesammelt hatte – keines der Bilder war älter als dies. Viele zeigten Green zusammen mit ihrem Bruder, andere mit Firey oder Pink. Das größte von den vielen Bildern zeigte Green zusammen mit White und Grey. Das Bild war nicht einmal alt … es war kurz vor der Kriegserklärung gemacht worden. Die Erinnerung daran war eine schöne Erinnerung gewesen, aber nun war sie traurig, denn es war das letzte Bild, welches Grey lebend zeigte. Es war Greens Idee gewesen, dieses Bild machen zu lassen; fröhlich hatte sie gemeint, sie bräuchte doch ein Familienbild von ihnen. Ja, sie hatte sogar Shaginai darum gebeten, sich dem Familienportrait anzuschließen, doch er hatte sich geweigert. Gesagt, dass es albern sei und wenn sie für so einen Kinderkram Zeit habe, dann können sie auch trainieren … Jetzt war die Chance vertan … es würde kein Bild mehr mit Grey geben. Es würde keinen strahlenden Grey mehr geben, der seine Hand auf Greens Schultern legen würde und warm in die Kamera lächelte, froh, zusammen mit seiner Schwester abgebildet zu werden, froh, bei seiner Schwester zu sein.
„Rache.“
White drehte sich wieder zu Green herum, als ihre Tochter dieses Wort sagte und sah sie bestürzt, aber nicht überrascht an, als sie weiter ausführte:
„Rache ist verboten, oder, Mutter?“ Wieder antwortete White nicht; wahrscheinlich weil ihr bewusst war, dass es zwecklos war, ihr irgendetwas ausreden zu wollen, da sie wusste, wie sie den plötzlichen Funken in Greens Augen zu deuten hatte: ein verbotener Funke, denn nach Rache zu dürsten war in der Tat verboten, vom Ausführen der Tat ganz zu schweigen; jedenfalls war das so in den Regeln geschrieben, genau wie man den Dämonen eigentlich keinen unnötigen Schmerzen zufügen durfte. Doch wenn Green sich wirklich für diesen Weg entschied, dann würde White sie nicht aufhalten können. Das wusste sie. Sie wusste, dass niemand sie davon abbringen könnte.
Wusste Nocturn es ebenfalls? War ihm klar, dass Greens unreines Herz sich nicht von Regeln würde bändigen lassen? Ja, dies war ihm genauso bewusst, wie ihm bewusst war, dass White schweigen würde, dass sie Green nicht sagen würde, an wem sie sich rächen sollte.
Wenn White Green sagen würde, dass der wahre Mörder Nocturn war, würde sie in das offene Messer rennen, ganz gleich ob sie ihm gewachsen und wie groß ihre Furch vor ihm war.
Aber warum hatte White das Gefühl, dass sie durch ihr Schweigen das Messer nicht stumpf machte, sondern nur den Weg zu diesem verlängerte?
Während Green sich nun langsam doch umzog, sah White auf das letzte Familienfoto; betrachtete mit schmerzendem Herzen das strahlende Lächeln ihres Sohnes – ihres verstorbenen Sohnes – welches seinem Vater so ähnlich gesehen hatte.
Sie schwor es; schwor es für ihren verstorbenen Sohn, für seinen Vater und für alle anderen, die in diesem Schrecken bereits gestorben und zugrunde gerichtet worden waren.
Es würde enden.
Sie hatte Nocturn schon einmal umgebracht – und sie würde es wieder tun. Ein für alle Mal.
White war nicht überrascht, als sie ihren Vater zusammen mit Adir in der Eingangshalle zum Jenseits erblickte, die Arme streng vor der Brust verschränkt, ganz als würde er sie richten wollen. Er hatte auf sie gewartet, genau wie sie es vorhergesehen hatte. Wahrscheinlich hatte er nur die Kriegsversammlung angesetzt und sich dann sofort wieder hierhin begeben, um auf White zu warten. Adir sah nicht danach aus, als ob ihm diese Situation gefallen würde, doch auch in seinem Gesicht sah White ungeklärte Fragen.
„Wie ich sehe, wurdest du anscheinend nicht von Inceres-no-danna wiederbelebt“, sagte Shaginai, kaum dass White den Boden des Jenseits berührt hatte. Stets die Ruhe bewahrend, schritt White auf ihren Vater zu und antwortete mit ihrem antrainierten Lächeln:
„Nein, es war keine Wiederbelebung, die mir mein Licht zurückgab.“ Nun mischte sich auch Adir ein:
„Aber was war es dann? Wie ist dieses Wunder möglich?“ Einen Moment schwieg White, ehe sie die Frage ruhig beantwortete:
„Inceres-no-danna war so gütig und gab mir meine Macht zurück, welche sich in dem Bannkreis befand. Wie genau das möglich ist, kann ich leider auch nicht beantworten.“
„Um Yogosu zu beschützen“, entgegnete Shaginai giftig und es war deutlich, dass ihm noch etwas auf der Zunge lag, doch er schwieg, darauf bedacht, dass er sich im Jenseits befand und die Wände Ohren besaßen. Auch Adir war sich dessen bewusst und antwortete demgemäß:
„Es war ein kluger Schachzug für das Wohl des Wächtertums; werden Sie erneut in die Schlacht ziehen, White-san?“ White nickte und versicherte, dass sie das tun würde, solange ihr Eciencé-Körper dies zuließ, womit sie auch kurz erklärte, welchen Begrenzungen sie unterlag. Nachdenklich legte Adir die Stirn in Falten und antwortete:
„Wenn wir nur wüssten, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Einsätzen der Ecience-Körper lägen …“ Er stellte diese Frage, als ob jemand außer White und Shaginai ihm eine Antwort geben könne, doch die Wände schwiegen und hinterließen diese Frage unbeantwortet; eine Frage, welche sie sich schon lange stellten: wenn jemand wie Seigi seinen Eciencé-Körper aufgebraucht hatte und wieder ins Jenseits zurückkehrte – wann konnte er diesen wieder einsetzen? Obwohl Seigi schon tausende Male im Einsatz gewesen war, war diese Frage nicht zu beantworten: Manches Mal konnte er am darauffolgenden Tag bereits wieder mit seinem Eciencé-Körper in die Schlacht ziehen, manchmal nicht und einige Male auch nicht nach einer Woche. Es schien vom Zufall geprägt zu sein … oder es war ein Plan, der sich dem Verständnis der Hikari entzog.
White wollte sich gerade von den beiden verabschieden, mit den Worten, dass sie sich in ihrem Zimmer aufhalten wolle, bis die nächste Kriegssitzung beginnen würde, als Shaginai sie von diesem Unterfangen abhielt, kaum dass White an ihm vorbei gegangen war.
„Es gibt da noch eine Frage, ehe du uns verlässt.“ White wusste genau, um was für eine Frage es sich handelte. Es war eine bitterte, vorwurfsvolle Frage und genau dies hörte nicht nur sie aus dem Tonfall ihres Vaters heraus, sondern auch Adir, der Shaginai unruhig musterte:
„Du und dieser Dämon – was hattet ihr beide denn so intensiv zu besprechen? Warum habt ihr überhaupt miteinander gesprochen? Seit wann redet man denn mit Dämonen?“ Diese Frage überraschte White wenig; sie hatte sie bereits erwartet und auch eine Antwort parat, welche sie lächelnd vortrug:
„Informationen, Vater. Ich wollte Informationen von ihm erlangen, doch leider verlief es nicht zu meinen Gunsten.“ Adir war mit dieser Antwort zufrieden, aber Shaginai nicht und auch dieses Gespräch verlief nicht zu Whites Gunsten, denn ihr Vater antwortete anders, als von ihr erhofft:
„Wie kamst du überhaupt auf den Gedanken, dass er dir Informationen geben würde?“ White bemühte sich, ihr Lächeln aufrecht zu erhalten, doch die Hände, welche sie auf dem Rücken platziert hatte, verkrampften sich, als sie die Wahrheit sagte:
„Er ist sehr gesprächig.“
„So so, das ist er also. Du scheinst ihn ja gut zu kennen, den Mörder von Greys Vater.“
„Shaginai!“ Adir hatte bis zum jetzigen Zeitpunkt ruhig, aber besorgt zugehört, doch als sein Mithikari dies sagte, konnte er sich nicht zurückhalten. Doch Shaginai reagierte nicht auf Adirs bestürzten Einwurf, sondern behielt seine Tochter im Auge, deren Lächeln nun steif geworden war, verursacht durch einen Stich im Herzen.
„Ist das ein Vorwurf, Vater?“, entgegnete White mit einer monotonen Stimme, welche mit zurückgehaltener Wut beantwortet wurde:
„Nein, eine simple Feststellung.“ Die Wut Shaginais schlug auf White über: deutlich spürte sie jenes unbekanntes Gefühl in ihr emporsteigen, das sie noch nie zuvor verspürt hatte, da dies eines der Gefühle gewesen war, welches von klein auf in ihr angekettet gewesen war.
Sie konnte es nicht fassen, dass man ihr einen Vorwurf machte; sie konnte es nicht fassen, dass diese Frage überhaupt gestellt werden musste.
Als ob sie Nocturn freiwillig kannte!
Als ob sie es jemals genossen hatte, mit ihm zu reden!
Nein, hätte sie damals als kleines, ahnungsloses Kind geahnt, welches Unglück sie herauf beschworen würde, wenn sie dieses verdammte Kind retten würde, sie hätte es nicht getan. Sie hätte ihn verbluten lassen – und gäbe es eine Möglichkeit, diesen schweren Fehler rückgängig zu machen, sie würde es tun!
Aber White sagte nichts. Sie schwieg, zwang sich dazu, zu schweigen und die Mundwinkel zu einem tapferen Lächeln erstarren zu lassen, die Wut herunterzuschlucken. Sie wollte sich schweigend herum drehen – das schien ihr die angenehmste Art, das Gespräch abzubrechen – doch Shaginai ließ sie nicht. Offensichtlich bemerkte er die Wut seiner Tochter nicht, oder aber er ignorierte sie; so wie er schon so vieles ignoriert hatte.
Damals … damals als Kanori gestorben war … hatte er da versucht, sie zu trösten? Nein, während alle ihre Familienmitglieder ihr Beileid ausgesprochen hatten, hatte er es nicht getan, hatte sie nach der Beisetzung Kanoris zu sich ins Jenseits gerufen - nicht um ihr zu sagen, dass es ihm Leid täte, nein. White hatte es sich erhofft und noch so deutlich sah sie sich vor seiner Tür stehend mit den Gedanken spielend, ob er sein Mitleid vielleicht einfach nicht in der Öffentlichkeit zeigen wollte. Würde er sie vielleicht umarmen?
Die Vorstellung alleine weckte Verunsicherung in White. Wenn Violet jemanden lieben und dieser sterben würde, dann würde Shaginai sie selbstverständlich tröstend in die Arme nehmen. Warum kam ihr diese Vorstellung so natürlich vor, während die, dass er sie umarmen würde, absolut abstrus war? War sie nicht auch seine Tochter?
Nein, das war sie nicht, nicht … nicht wie Violet. Warum dachte sie jetzt daran zurück? Sie hatte dieses Treffen doch so lange verdrängt … sie hatten nie wieder darüber gesprochen und sie hatte sich immer dazu gezwungen, es beiseite zu schieben, sobald sich diese Erinnerung aufgedrängt hatte … war es, weil Kanori und Grey … war es, weil die beiden so ähnlich ermordet worden waren und dass ihr Körper und ihr Herz zu sehr von Traurigkeit zerfressen waren, dass es ihr nicht gelang, diese Erinnerung zurückzudrängen?
White sah sich selbst wieder vor Augen, wie sie ein wenig ängstlich das Büro ihres Vaters betrat und sie nicht, wie sie es erhofft hatte, mit Mitleid begrüßt worden war, sondern mit Wut und – genau wie jetzt auch mit Vorwürfen.
Hatte er es etwa richtig gehört, dass White für einen kurzen Moment ihr Licht verloren hatte? Hatte sie denn eine Ahnung, wie viele Wächter auf dem Schlachtfeld gewesen waren?
Wie viele das sicherlich gesehen hatten?
Ihre Schwäche?
Sollte er sich denn für sie schämen?
Und das alles nur für so einen Nichtsnutz?
White war so entsetzt gewesen von seiner Reaktion, dass sie nichts gesagt hatte.
Sie hatte geschluckt, geschwiegen und mit gesenktem Kopf versprochen, dass dies nicht noch einmal vorkommen würde. Das hoffe er, hatte er verbittert geantwortet. Doch es war nicht das, was sie am meisten schockiert hatte - es waren die letzte Worte, die er an sie richtete, ehe sie den Raum mit gesenktem Haupt wieder verließ:
„Es ist mir zu Ohren gekommen, dass du schwanger bist. Warum hast du mich nicht persönlich darüber unterrichtet? Warum muss ich das von jemand anderem erfahren?“ White war stehen geblieben, die Hand auf der Klinke der Tür ruhend, einen Herzschlag aussetzend, ehe sie antwortete:
„Freut dich diese Nachricht denn, Vater?“
„Selbstverständlich tut es das! Ich hoffe nur, dass es ein Lichterbe wird, ansonsten müssen wir dir einen weiteren Mann suchen. Aber bei deinem Ruf wird das wohl kaum ein Problem darstellen.“
Das war seine Sorge? Natürlich war es das, denn White war nie seine Tochter gewesen – sie war immer nur die Lichterbin, die nach ihm kam! Die in seine wohlgeformten Fußstapfen hatte treten müssen!
Deshalb hatte er auch keine Skrupel, ein ahnungsloses 11-jähriges Kind auf das Schlachtfeld zu zerren, denn sie war eine Hikari wie er.
Daher durfte sie auch keine Trauer zeigen, egal ob bei dem Tod ihrer Mutter, ihres Geliebten, ihrer Freunde, ihres Sohnes, denn sie war eine Hikari wie er.
Shaginai würde ihr Leid nicht verstehen – er würde nicht verstehen, dass sie Nocturn nie freiwillig kennengelernt hatte. Er würde nicht verstehen, wie schmerzlich jede einzelne Sekunde mit ihm gewesen war; das Wissen, dass es ihre Schuld war, dass Kanori, ihre Freunde, Violet und nun auch Grey gestorben waren.
Stattdessen machte er ihr nun Vorwürfe; Vorwürfe für das, worunter sie am meisten litt.
Er, ihr Vater, war der, der am wenigsten Verständnis für sie hatte und deswegen sollte White auch nicht über seine Frage verwundert sein, denn sie war eine Hikari.
Keine Mutter. Keine Frau. Keine Tochter.
Sie war die Hikari, die nach ihm kam. Sie war die Hikari, die er geformt hatte.
„Du wirst nicht die gleiche Schandtat wie deine Tochter begehen, nicht wahr, White?“
White hörte nur mit halbem Ohr, wie Adir Shaginai bestürzt fragte, wie er denn auf so eine Idee kam und dass es doch keine Anzeichen darauf gab und White doch nicht ... niemals …
„Antworte mir, White! Ich befehle es dir!“
In ihren Ohren dröhnte alles, als sie sich herum wandte.
White wusste nicht, was ihr Gesicht zeigte, wusste nicht, welches Gefühl die Oberhand ergriffen hatte – doch der Anblick Whites brachte Adir zum Schweigen und auch Shaginais Augen weiteten sich bei ihrem Anblick. Doch dafür war White blind, sie sah es nicht, denn vor ihrem Auge tanzten die Erinnerungen an ihre letzten Jahre, die sie gelebt hatte – nein, sie war bereits tot gewesen; sie war ab dem Moment, als Kanori gestorben war, ebenfalls zu Tode gekommen und die letzten sieben Jahre hatte sie in einem Grab verbracht.
„Um mir diese Frage stellen zu können, musst du wahrlich zu meinen Lebzeiten blind gewesen sein, Vater. Ansonsten würdest du die Antwort auf deine Frage kennen! Du würdest sie gar nicht stellen! Aber du stellst sie, du stellst sie ... Traust es mir zu, weil du keine
Kenntnis über mich besitzt! Du kennst alle meine Techniken, alle meine Daten, aber mich kennst du nicht! Seit Kanoris Tod hast du mich nie gefragt, wie es mir ging! Ja, nicht einmal bei dem Tode Mutters fragtest du mich oder tröstetest mich! Du warst stets blind für mein Leid! Du hast dir nie die Mühe gemacht, mich zu verstehen … du hast immer nur eine Hikari, eine Kriegsmaschine, deine Kriegsmaschine in mir gesehen! Aber ich bin keine Maschine!“ Plötzlich schwieg sie, genauso überrascht über ihren plötzlichen Gefühlsausbruch wie Adir und Shaginai. Doch das war alles, was sie in Shaginais weißen Titanaugen sah; Überraschung, aber keine Reue, kein Mitleid und kein Mitgefühl.
Die Wut verrauchte genauso schnell, wie sie gekommen war und hinterließ nichts als Trauer, welche sie dazu veranlasste, traurig folgende Worte in den Raum zu hauchen:
„Violet hättest du diese Frage nicht gestellt.“
Dann wandte sie sich herum und ging auf die Flügeltür zu, wo die beiden Tempelwächter dem Gespräch aufmerksam gefolgt waren, aber ihrer Arbeit nachgingen, als White ihren Namen, Familie und ihren Rang nannte. Als sie bereits dabei waren, die Tür zu öffnen, hielt Shaginai sie auf:
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Whites Hoffnung, dass er etwas zu seiner Verteidigung oder möglicherweise sogar eine viel zu späte Entschuldigung äußern würde, verpuffte sofort. Doch anstatt sich noch einmal der Wut hinzugeben, antwortete sie monoton:
„Nein, Vater, ich habe mich niemals schuldig gemacht, Regel 2A gebrochen zu haben. Ich war stets eine Gefangene.“
Und dann ging sie, ohne sich noch einmal von Shaginai unterbrechen zu lassen, auf direktem Weg in ihr Zimmer.
Weinend.