Kapitel 53 - Höre die Hölle IX
Verwundert beobachtete White das fremde Mädchen; beobachtete ihre unsicheren, ja, fast tollpatschigen Bewegungen, als sie sich hinter Youma vorbeischlich, um hinter Nocturn zu gelangen.
Er bemerkte sie nun ebenfalls und White war wahrlich überrascht, ihn plötzlich lächeln zu sehen; es war ein warmes Lächeln, ein Lächeln, welches sie selten von ihm gesehen hatte. Zu ihrer Überraschung hob er das kleine Mädchen hoch auf seine Arme und wandte sich daraufhin zu White herum, da er natürlich ihren fragenden Blick bemerkt hatte:
„…und dieses überaus reizende Wesen ist meine Tochter. Feullé Le Noires.“
Über diese Antwort war White offensichtlich überrascht; auch wenn ihr sofort klar war, dass Nocturns Worte eine Lüge sein mussten, denn das Mädchen hatte absolut keine äußerliche Ähnlichkeit mit ihrem sogenannten „Vater“.
Nocturn sagte etwas auf Französisch zu dem kleinen blonden Mädchen, was es offensichtlich in tiefes Schrecken versetzte, denn manisch schüttelte sie auf seine Worte hin den Kopf; ihre gestammelte Antwort konnte White nicht verstehen, denn sie war zu leise und scheinbar wieder auf Französisch gesprochen.
„Deine Tochter?“, fragte White begleitet von einem zweiflerischen Argwohn, der Nocturn zu gefallen schien, denn seine freudige Antwort lautete:
„Aber ja, Ma’chere; ich habe dir auch von ihr erzählt! Aber da hast du mir wahrscheinlich nicht zugehört; warst mit deinen Gedanken sicherlich woanders, denn – wenn ich mich recht erinnere – war das gerade zu der Zeit, als dein Feuerwächter in psychiatrische Behandlung ka-“ Youma unterbrach Nocturns Worte mit einem verärgerten Seufzen und rief ebenso verärgert:
„Das Mädchen ist nicht seine leibliche Tochter: Sie ist adoptiert!“ Beleidigt über die einmischenden Worte verzog Nocturn das Gesicht, doch kam nicht dazu, sein Ärgernis über Youmas Einmischen kundzutun, denn dieser richtete sich nun vollends an White:
„Ich entschuldige mich für die Unhöflichkeit meines Einmischens, doch halte ich diesen Kampf für absolut unnütz und werde ihn daher …“ Doch auch Youma wurde unterbrochen: vom Auftauchen zweier weiterer Personen, welche sich zu Whites Rechten und zu ihrer Linken platzierten. Whites weiße Augen musterten sie mit größter Verwunderung, denn es war alles andere als üblich, dass tote Hikari sich an den aktiven Kampfhandlungen beteiligten.
Nocturn grinste erfreut über diesen plötzlichen Wandel des Geschehens, während Youma alles andere als begeistert war:
„Oh, großartig. Absolut großartig!“
Shaginai und Adir waren nicht sofort nach Litauen aufgebrochen, denn in dem Moment, in welchem sie hätten aufbrechen sollen, hinderte eine Videoübertragung sie an diesem Vorhaben: Es war Ukario, welcher sich direkt an die Hikari wandte, um ihnen zu berichten, dass die Lage auf Sanctu Ele’saces sich stabilisiert hatte. Alle drei Fürsten, die für den Angriff auf Sanctu Ele’saces verantwortlich waren, hatten sich zurückgezogen und man war just in diesem Moment damit beschäftigt, die restlichen sich auf Sanctu Ele’saces befindenden Dämonen auszulöschen. Er hatte Verluste zu beklagen, ja, aber die Lage wäre stabil. Und dann fügte Ukario etwas hinzu, was besonders Shaginai freute:
„Die Wächter sind überaus motiviert, einen Gegenangriff zu starten. Wenn Ihr einen wünscht, dann jetzt.“
Shaginai, Adir und Hizashi warfen einen Blick auf den Bildschirm, der sie über die Lage auf Min Intarsier informierte und ohne, dass sie miteinander Worte austauschen mussten, wurden sie sich mit einem Nicken darüber einig, wie sie nun weiter verfahren würden; auch wenn Adir nicht viel von einem Gegenangriff hielt. Während Ukario auf der Leitung blieb, nahmen sie Kontakt zu Seigi auf:
„Wie ist dein momentaner Zustand, Seigi?“, fragte Adir, sobald der Tausendtöter sich gemeldet hatte.
„Ich bin so gut wie wieder oben; ein paar Minuten noch …“
„Dein Zustand, Seigi“, mischte sich nun Shaginai ein.
„Ach, mein Zustand! Kommt ganz darauf an, wie oft ich noch getroffen werde: Mein Zopf löst sich bereits auf. Uhm, eine halbe Stunde noch, nehme ich an.“
„Gut, muss genügen. Halte dich nicht mit sinnlosen Kämpfen auf, sondern kehre sofort und auf dem schnellsten Wege hierhin zurück!“
„Oh, ist es das, was ich denke, was es ist? Blasen wir zum Gegenangriff?“ Seigis Frage wurde nicht beantwortet, denn Shaginai beendete die Übertragung und richtete sein Wort nun an Tinami, die der Unterhaltung mit einem halben Ohr gefolgt war, während sie immer wieder Genehmigungen erteilte – und krampfhaft versuchte, nicht über andere Dinge nachzudenken.
„Kikou! Stell sofort eine Verbindung her zu den Kommandeuren von Elyssion, Perassion und Zeranion!“
„Elyssion?“ Es war Adir, der diese Frage an ihn richtete und sie ausformulierte, während Tinami die Verbindungen herstellte:
„Hältst du es für klug, Elyssion von Min Intarsier abziehen zu lassen? Der Großteil der Horde Akais ist noch nicht ausgelöscht.“
„Darüber bin ich mir im Klaren“, antwortete Shaginai, ohne über die Schulter zu blicken und ehe Adir etwas erwidern konnte oder Shaginai weiter ausführen konnte, standen auch schon die Verbindungen zu Shitaya, Kaira und Minare, welche sich alle außer ein paar Schrammen bester Gesundheit erfreuten; außer dass Minare zu rennen schien, worüber sich jedoch niemand wunderte, immerhin befand er sich auf dem Schlachtfeld.
„Sammelt euer Bataillon hier im Tempel und macht euch für einen Einsatz in Henel bereit: wir setzen zum Gegenangriff an!“ Alle drei salutierten und stimmten dem einstimmig zu; doch ehe sie die Videoübertragung abbrachen, richtete Shaginai noch einmal sein Wort an Shitaya:
„Was Elyssion angeht, zieht nur die Hälfte des Bataillons nach Henel. Sie kennen Ihr Bataillon am besten; entscheidet selbst, welche Sie mit nach Henel nehmen wollen und welche auf Min Intarsier bleiben! Sie haben drei Minuten!“ Damit beendete Shaginai die Übertragung und wandte sich an Adir, als würde er erwarten, dass dieser noch Fragen hätte, doch seine Fragen schienen beantwortet zu sein. Stattdessen wechselte Adir das Thema:
„Shaginai, dir ist bewusst, dass der Führungsstab Elyssions momentan nur aus einer Person besteht, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Shaginai machte einen eleganten Wink zu dem Bildschirm, wo Hizashi nach wie vor saß und wo man ab und zu Green gesehen hatte, wenn White zu ihr sah: Diese paar Aufnahmen wurden nun von dem Computer untermauert, der ihnen mitteilte, dass Green noch mehr als 70 % ihrer Lichtmagie zur Verfügung hatte. Adir sah diese Zahlen ebenfalls, doch das eingefrorene Bild Greens, welches der Computer momentan mit Daten untermauerte, sah für ihn nicht so aus, als wäre Green motiviert für einen Gegenangriff. Shaginai schien Adirs Blick und damit auch seine Gedankengänge zu bemerken und antwortete:
„Man glaube es kaum, aber Yogosu ist trotz allem eine Hikari und als solche hat sie sich an erster Front zu befinden, wenn wir zum Gegenangriff gegen Henel blasen – und nicht irgendwo heulend auf dem Boden zu liegen!“ Adir wollte gerade antworten, als Hizashi die beiden unterbrach:
„Sie sollten aufbrechen, Shaginai-san, Adir-san. Youma und die Lunatika befinden sich jetzt bei White-sama.“ Beide sahen sich kurz an, ehe sie nickten und gerade dazu ansetzen wollten, dem Vorschlag Hizashis nachzugehen, ehe genau dieser sie bei ihrem Vorhaben unterbrach:
„Ich wäre Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie mir den Gefallen tun würden, eine DNA-Probe von der Lunatika zu besorgen: ein Haar oder ein Tropfen Blut ist bereits vollkommen ausreichend.“
Der Grund, weshalb Minare das Gespräch mit den Hikari rennend hatte führen müssen, war der, dass er Azuma zur Rettung geeilt war. Noch während der Noxzauber aktiv war, hatte er sich nach ihm auf die Suche gemacht, ausgerüstet mit verschiedenen Gegengiften und schlimmen Vorahnungen, denn der abrupte Abbruch des Gespräches hatte nichts Gutes zu bedeuten. Und selbst wenn man wusste, dass es sich bei den verworrenen Bildern des Noxzaubers nicht um die Realität handelte … sobald man in die verhängnisvollen Wahnvorstellungen hineingeriet, verpuffte all das antrainierte Wissen und zurück blieben nur noch die Ängste des Unterbewusstseins.
Und so ungehobelt wie Azuma auch sein mochte, er war einer ihrer besten Wächter; und, auch wenn Minare es nicht gerne zugab, er mochte seine Gesellschaft – Schuld waren die Spionageaktionen in der Welt der Dämonen, weshalb er nicht wollte, dass Azuma starb.
Azuma starb auch nicht. Jedenfalls nicht bei dieser Schlacht; er hustete und prustete und musste sich erst einmal stöhnend herumdrehen, nachdem Minare ihn aus dem Wasser gefischt hatte, um sich mit dem Unterarm im nassen Gras abstützend des Wassers zu entledigen, welches sich in seinem Inneren gesammelt hatte – zusammen mit einem ganzen Repertoire an wüsten Verwünschungen in seiner Muttersprache.
„Du kannst froh sein, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe, dich zu finden und aus dem Wasser zu ziehen.“ Immer noch hustend und mit vor Wasser triefenden Klamotten wandte Azuma sich seinem Retter Minare zu und erwiderte alles andere als Dankesbekundungen:
„Ich habe dir doch erzählt, dass ich ein guter Schwimmer bin! Ich wäre nie und nimmer ertrunken.“
„Du schwammst nicht. Du triebst – und das bewusstlos, dank des Noxzaubers – welcher übrigens gerade neutralisiert wurde. Wäre ich nicht gekommen und hätte ich dich nicht wiederbelebt …“
„Sag mir nicht, dass du mich geküsst hast!“ Minare wurde von dieser Wortwahl kurz aus dem Konzept geworfen, wurde ein wenig rot und erwiderte dann:
„Mund-zu-Mund Beatmung nennt man das …“
„Hättest du dafür nicht eine weibliche Wächterin besorgen können?!“
„Entschuldige, dass ich dein Leben gerettet habe. Fürs nächste Mal merke ich mir, dass du lieber ertrinkst“, erwiderte Minare halb seufzend, halb grinsend und half Azuma auf die Beine.
„Wir sollten uns beeilen; wir wollen doch nicht unseren ersten Angriff auf Henel verpassen.“
Während die drei Bataillone sich im Tempel versammelten, war Hizashi äußerst gelassen damit beschäftigt, mit den Hikari im Jenseits eine Kriegsstrategie auszutüfteln, weshalb er auch nicht bemerkte, wie Tinami besorgt feststellte, dass sie keine Verbindung zu Saiyon aufbauen konnte. Genau, wie sie es mit Shaginai abgesprochen hatte, hatte sie ihm, sobald die Verbindung wieder stand, aufgetragen, Ilang zu finden und sie schnellstens in den Tempel zu bringen – der Computer hatte ihr gesagt, dass Ilang und Daichi zuletzt in der Nähe der Hauptzentrale gewesen waren, aber dieser …
Ein fürchterlicher Schmerz befreite Saiyon aus seiner Ohnmacht und riss ihn jäh zurück in die grausame Realität. Doch als er die Augen öffnete, hatte er Schwierigkeiten, klare Konturen um sich herum erkennen zu können; es war dunkel und düster, und kaum dass er die Augen geöffnet hatte, kletterte ein qualvolles Husten aus seiner Kehle empor, welches weckend diente, denn obwohl er nichts sehen konnte, hörte er, wie sich neben ihm etwas stöhnend regte.
„Ilang-san? Daichi-sa – arghs…!“ Seine Worte wurden von seinem eigenen Aufstöhnen unterbrochen, denn während er dies gesagt hatte, hatte er versucht, sich aufzurichten, woran ihn sein linker Arm hinderte und sofort wieder zurückriss.
„Saiyon-sama? Geht es Ihnen gut?“ Es war Daichis Stimme: Sie klang nervös, aber nicht schmerzverzerrt. Obwohl der brennende Schmerz kurz Saiyons Gedanken vernebelte, hatten seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und die Umgebung nahm schrittweise klare Konturen an. Zuerst wunderte Saiyon sich über den absonderlichen Anblick, doch dann wurde ihm plötzlich wieder bewusst, was geschehen war: Die Dämonen hatten die Zentrale Min Intarsiers zum Einsturz gebracht, und ohne, dass einer der drei Wächter etwas dagegen hätte tun können, waren sie ebenfalls zu Fall gebracht worden und ganz offensichtlich befanden sie sich nun inmitten der Trümmer der ehemaligen Zentrale; allerdings unter dieser vergraben. Saiyon konnte seinen linken Arm nicht bewegen; nicht, weil etwas auf diesem lag und ihn niederpresste - scheinbar war der Arm gebrochen. Nicht schlimm, sagte sich Saiyon beruhigend. Sein linker Arm war nicht sein Waffenarm.
„Ja … es geht. Mein linker Arm ist offensichtlich gebrochen, aber das ist keine Hinderung. Wie sieht es mit euch aus?“ Wieder versuchte Saiyon, sich aufzurichten: dieses Mal jedoch nur mit dem Oberkörper, damit er sehen konnte, wie die Lage um ihn herum war; wie es Daichi und Ilang ging. Daichi hockte ihm gegenüber, doch außer ein paar Schrammen und einem angstvollen Blick war ihm nichts zugestoßen. Ilang machte ihm mehr Sorgen, denn obwohl sie ebenfalls relativ unverletzt schien, machte ihn ihr leerer Blick unruhig. Die Naturwächterin bemerkte nicht einmal, dass er sie ansah.
„Mir geht es gut, aber Onee-sama …“
„Mir geht es auch gut“, antwortete Ilang mit einer erstaunlich ruhigen Stimme, ehe Daichi seine Worte aussprechen konnte.
„Funktionieren eure Kommunikationsgeräte noch?“ Beide verneinten dies den Kopf auf Saiyons Frage hin und auch Saiyon stellte schnell fest, dass seines ebenfalls durch den Sturz kaputt gegangen war und er somit keine Verbindung zur Kommandozentrale herstellen konnte. Statt sich weiter mit dem Gerät an seinem Kopf aufzuhalten, sah Saiyon sich nun in ihrem kleinen, unförmigen Gefängnis um, welches nicht einmal so hoch war, als dass einer von ihnen aufrecht stehen konnte. Keine Nische oder Loch war zu erkennen; die Mauern der Min Intarsier Zentrale hatten sie erfolgreich begraben. Doch noch war die Luft nicht knapp, wie Saiyon schnell dank seines Elementes herausfand und obwohl er feindliche Auren spüren konnte, bewegten sich diese nicht auf sie zu, sondern eher weg und schienen sich auch zu verringern. Und zum Glück war der Noxzauber neutralisiert; Saiyon wollte sich nicht vorstellen, wie es auf so engem Raum ausgegangen wäre, wenn sie alle drei Wahnvorstellungen zum Opfer gefallen wären …
„Wir sollten versuchen, hier heraus zu gelangen …“
„Wozu? Draußen werden wir sowieso nur abgeschlachtet.“ Sowohl Daichi als auch Saiyon sahen Ilang bestürzt an, als sie diese Worte monoton, beinahe flüsternd sagte, als spräche sie mit sich selbst. Eine stumme Minute lang wussten die beiden nicht, was sie dazu sagen sollten, ehe Daichi an Saiyon gewandt flüsterte:
„Wir befinden uns nah am Boden. Es müsste mir gelingen, Kontakt zu meinem Element aufzubauen …“
„Das wird nicht möglich sein“, meldete sich nun wieder Ilang als die erfahrenere Naturwächterin zu Wort:
„Der Boden hier ist zu dick. Unser Element wird unseren Ruf nicht hören können. Nein, wir sollten warten, bis uns jemand retten kommt … wenn denn jemand da ist, der uns retten kann.“ Daraufhin schwiegen Daichi und Saiyon betroffen, doch Ilang beruhigte sich.
„Dann können wir die Chance auch nutzen, um etwas zu bereden, Saiyon-san.“ Sie faltete die Hände über ihren Unterleib, schlug kurz die Augen nieder und fixierte dann plötzlich Saiyon, der sich trotz der Dunkelheit durchbohrt fühlte:
„Ich weiß, dass du unsere Hikari heiraten willst. Grey war von deiner Liebe überzeugt, doch ich rate dir von einer Heirat mit ihr ab. Du würdest es dein Leben lang bereuen.“
Whites Verwunderung über das plötzliche Dasein von Adir und Shaginai war alles andere als verwerflich, denn es war wahrlich für Hikari nicht üblich, sich aktiv in das Kriegsgeschehen der Lebenden einzumischen. Tote Hikari konnten immerhin nicht auf ihre Lichtmagie zugreifen und mussten sich allein auf ihr Können mit Schwert oder Stab verlassen, wenn sie sich nach ihrem Tod in einen Kampf warfen. Seigi war dabei einzigartig; da er zu seinen Lebzeiten keine besonders große Reserve an Lichtmagie gehabt hatte, war sein Kampfstil gänzlich anders als der der anderen männlichen Hikari. Normale Hikari verbanden ihre Lichtmagie mit ihren Schwertkünsten, um ihre Gegner auszulöschen und ohne ihre machtvolle Lichtmagie waren die meisten Hikari im Kampf gegen die Dämonen schwach, denn niemand war so sehr auf die Schwertkunst spezialisiert wie Seigi. Selbstverständlich gab es dennoch viele Hikari, die talentiert mit dem Schwert waren, doch waren sie nicht so talentiert, dass es die natürliche Schwäche eines jeden Hikari ausbalanciert hatte: das Glöckchen.
Sollte es einem Dämon im Kampf gegen einen toten Hikari gelingen, dessen Glöckchen zu zerstören, hatte er nicht nur den Kampf für sich entschieden, sondern die gesamte Existenz des Hikari komplett ausgelöscht: Dies war der endgültige Tod.
Adir und Shaginai gehörten zu den Hikari, die auch ohne ihre Lichtmagie talentiert waren im Umgang mit dem Schwert, doch vor dem endgültigen Tod hatten sie wie die anderen Hikari einen natürlichen Respekt. Die Glöckchen der toten Hikari waren nicht mehr in der Lage, sich in ihre treuen Waffen zu verwandeln, weshalb beide ihre Glöckchen unter ihrem Oberteil verbargen; und statt ihrer eigentlichen Waffen hatte Tinami ihnen beiden Ersatzwaffen gegeben, die ihrer früheren Waffe vom Typ her ähnelten. Adir hatte noch nie mit einem Schwert gekämpft, sondern mit einem Degen und war auch nun mit einem solchen ausgerüstet, während Shaginai ein langes Schwert in der rechten Hand hielt.
„Großartig!“, sagte Youma noch einmal und warf Nocturn zu seiner Linken einen finsteren Blick zu:
„Und was hat der ach so tolle Nocturn jetzt vor?“
„Ich weiß nicht, was du hast. Drei gegen drei, ist doch perfekt!“
„Drei gegen …“ Youma warf Feullé einen abschätzenden Blick zu und wandte sich wieder Nocturn zu:
„Drei? Ich glaube, du hast dich verzählt.“
„Unterschätze Feullé nicht. Das wäre ein Fehler, den du bereuen würdest.“ Genervt stemmte Youma seine Hände in seine Hüfte und antwortete:
„Du verstehst einfach gar nichts. Ein Kampf gegen tote Hikari verfolgt keinen anderen Zweck als bloßes, dummes Befriedigen der Kampfgelüste.“
„Wenn du ein Dämon bist, sollte das Grund genug sein.“
„Ich bin ein Dämon, der sein Gehirn zum Denken benutzen kann – und wenn ich keinen Sinn hinter einem Kampf sehen kann, so kämpfe ich auch nicht.“
„Oh, ich sehe aber einen Sinn dahinter.“
„Ach, und der wäre?“
„Inspiration, du Kunstbanause. Außerdem glaube ich, dass es an der Zeit ist, dass ich alle Zweifel um Feullés Fähigkeiten aus dem Weg räume.“
„Aber doch nicht unbedingt in einem Kampf gegen drei tote Hikari, die auch noch als die Erhabenen Drei bekannt sind!“ Nocturn wählte, Youma zu überhören und wandte sich an Feullé, die deren Gespräch zwar gefolgt war, es aber nicht verstanden hatte, da Youma und Nocturn in der Sprache der Wächter miteinander gesprochen hatten und Feullé diese natürlich nicht verstehen konnte. Sie schien jedoch etwas zu ahnen, denn bange Vorahnung lag in ihren großen glasigen Augen, als Nocturn sich an sie wandte, wieder mit dem warmen Lächeln, welches so gar nicht zu seinen rot stechenden Augen passen wollte – ein Anblick, den Feullé jedoch gewohnt war und welcher für sie absolut nicht fremdartig wirkte.
„Tust du mir einen Gefallen, Ma’Petit?“, fragte Nocturn das kleine Mädchen nun wieder auf Französisch. Wie immer, wenn er mit ihr sprach, rauschten Feullés Augen Richtung Boden und ihre Stimme verwandelte sich in ein Stammeln und Stottern, obwohl sie sehr wohl in der Lage war, Französisch zu sprechen:
„N-Natür... lich, Pere[1]…“
„Wunderbar!“ Nocturn legte seine Hand auf ihren Kopf und streichelte diesen, wobei ihm nicht auffiel, dass Feullé rot wurde wie eine Tomate. Diese Berührung wahrte auch nicht sonderlich lange, ehe er seine Hand wieder wegzog und mit eben dieser auf Shaginai zeigte.
„Tust du mir den Gefallen und kämpfst gegen diesen Hikari?“ Feullé, die zwar schüchtern und vielleicht auch naiv war, jedoch nicht dumm, klappte entsetzt den Mund auf, und obwohl Youma dem Gespräch nicht folgen konnte, da er wiederum kein Französisch verstand, mischte er sich nun wieder ein, denn den Fingerwink hatte er sehr wohl gesehen:
„Bist du denn wahnsinnig?!“ Wieder ignorierte Nocturn Youma und wählte auch Feullés offensichtliches Entsetzen zu übersehen.
„Keine Angst, Feullé. Ich helfe dir.“
„A-A-A-Aber… das ist… das ist… S-Shaginai! Er… soll … grausam sein… und und und… sein Blick macht mir Angst…I-I-Ich möchte nicht… ste-sterben, nicht nachdem… ich Euch…endlich…“
„Feullé!“ Die Härte in Nocturns Tonfall brachte Feullé dazu, zusammenzuzucken und beschämt zu Boden zu sehen.
„Ich habe gesagt, ich helfe dir. Glaubst du, ich würde zulassen, dass du stirbst? Vertraust du deinem Vater denn nicht?“ Dies waren die Worte, die Feullé dazu brachten, zu schweigen. Ihre Glieder, die eben noch vor Furcht gezittert hatten, entspannten sich plötzlich wieder, und obwohl sie nach wie vor nicht aufsah, nickte sie nun und versicherte ihrem Adoptionsvater, dass sie es tun würde.
Von dem Gespräch der drei Dämonen hatten die drei Hikari nicht allzu viel mitbekommen, da sie die Chance genutzt hatten, um ebenfalls eines zu führen. Obwohl Shaginai eine andere Frage auf der Zunge brannte, stellte er diese noch nicht: die Frage, warum seine Tochter überhaupt ein Wort mit Nocturn gewechselt hatte. Stattdessen erkundigte er sich über Greens Zustand, wobei er nicht sonderlich besorgt klang, sondern eher berechnend.
„Vater, bei allem Respekt. Ich glaube nicht, dass meine Tochter momentan in der Lage ist, in Henel zu kämpfen.“ Shaginai, der diesen Einwand nun nicht schon zum zweiten Mal hören wollte, antwortete knapp:
„Yogosu bleibt keine Wahl!“ Gerade als sich nun auch Adir einmischen wollte, wurde er unterbrochen und alle drei Hikari mussten an etwas gänzlich anderes denken: denn plötzlich spürten sie, dass auf einmal viele Auren dazugekommen waren. Doch als sie sich umwandten zum Ursprung der vielen Auren, mussten sie sich alle drei einen kurzen Augenblick die Frage stellen, ob ihre Sinne ihnen einen Streich spielten, denn vor ihnen standen nach wie vor nur Youma, Nocturn und Feullé. Der einzige Unterschied war, dass Nocturn nun den roten Ingnix, den Feullé vorher getragen hatte, um seinen mageren Zeigefinger wirbelte, während er mit der linken die Hand des kleinen Mädchens hielt, welchem deutlich nicht wohl zumute war.
„Hizashi-sans Vermutung entsprechen offensichtlich der Wahrheit“, sagte Adir und festigte den Griff um seinen geliehenen Degen, ehe alle sechs Kontrahenten zum Angriff ansetzten.
Kaum hatte Azzazello wieder sein eigenes Gebiet betreten, wurde er auch schon stürmisch von Rime umarmt mit dem Ausruf, dass sie sich Sorgen um ihren Mann gemacht hatte. Der Fürst musste zugeben, dass ihn dies überraschte; normalerweise würde Rime sich ihm nicht so ohne Weiteres um den Hals werfen und ihm erleichtert sagen, dass sie sich freute, ihn wohlauf zu sehen – und auch die Röte in ihrem Gesicht warf ihn aus dem Konzept und ließ ihn seine Worte für einen Augenblick vergessen; für einen Augenblick waren nur sie zwei anwesend, sogar der verletzte Lycram neben ihm war kurz komplett vergessen.
Dass ihr Verhalten untypisch war, blieb Rime nicht unbemerkt und mit einem leichten Schmollmund verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust und sah zur Seite, während sie versuchte, vom Thema abzulenken:
„Ich … war nur besorgt, weil ich gehört habe, dass White wieder da ist und ich nicht wollte, dass du hier Lichtintus anschleppst! Das ist alles. Komplett alles.“ Erst als Rime dies sagte, veränderte sich Azzazellos Blick und wurde ernst:
„White? Woher hast du dieses absonderliche Gerücht?“
„Leider ist das kein Gerücht, Vater.“ Der Fürst wandte sich von seiner Frau ab und sah über seine Schulter, wo sein ältester Sohn im Türrahmen lehnte und wie üblich abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt hielt – er kam eindeutig nach seiner Mutter und hatte auch dieselben Haare wie sie, doch sein Gesicht kam nach seinem Vater; aus seinen gelben Augen strahlte jedoch der Eigensinn der Mutter. Sein Name war Rasputin – genau wie alle anderen Kinder war sein Name ebenfalls abgeleitet von einer menschlichen, russischen Zarenfamilie und natürlich von Rime ausgesucht worden; manchmal bereute Azzazello den Tag, an dem er ihr davon erzählt hatte. Rasputin war der erste Anwärter auf den Posten Azzazellos, sollte dieser irgendwann sterben, doch dieser hatte andere Ziele als sein Vater und stimmte leider nicht mit seiner Denkweise überein. Statt seinem Vater Respekt zu zollen, himmelte er lieber seinen Onkel an, weshalb Rasputin auch sofort zu Lycram steuerte, um ihn mit leuchtenden Augen zu fragen, woher er die Verletzungen hatte – und er müsste ihm alles im Detail berichten; hatte er viele Wächter umgebracht? Neue Techniken angewendet? Auf jeden Fall war Azzazello von beiden fürs Erste vergessen, weshalb er sich räuspern musste, um die Aufmerksamkeit seines Sohnes und die Lycrams wiederzuerhalten:
„Dürfte ich erfahren, was es mit dem Gerücht auf sich hat?“ Nur widerwillig brach Rasputin das Gespräch mit Lycram ab, um seinem Vater die gewünschte Antwort zu geben:
„White ist scheinbar zurück. Ich habe Bilder vom Tempel gesehen, auf denen sie eindeutig zu sehen ist.“ Azzazello, der eben noch auf dem Boden gekniet hatte, da er ansonsten zu groß gewesen wäre, als dass Rime ihn hätte umarmen können, richtete sich nun auf und fragte Rasputin, ob er sich auch wirklich sicher war.
„Ja, das bin ich. Ich habe zwar keine Ahnung, wie das möglich sein kann, aber ich bin mir sicher. Ich bin nicht blind.“
„White? Diese Hikarischlampe vom letzten Krieg? Ich dachte, die sei tot?“ Azzazellos Stirn runzelte sich besorgt, was Rasputin offensichtlich um einiges weniger gefiel als Lycrams eher gleichgültige Antwort. Doch auch Rime war wegen dieser Neuigkeit nervös; obwohl sie es nicht offen sagte, bangte sie um das Leben ihrer Kinder. Im letzten Krieg hatte keines ihrer fünf Kinder am Krieg teilgenommen, da Azzazello und sie sich einig gewesen waren, dass sie erst ein bestimmtes Alter erreicht haben mussten, um teilnehmen zu dürfen und zum Glück war ihr Gebiet auch von White und ihrem gefährlichen Licht verschont geblieben – aber Rasputin war jetzt alt genug und sie hatten ihm auch versprechen müssen, dass er teilnehmen durfte, denn er gierte schon darauf, sich ein Beispiel an Lycram zu nehmen und ebenfalls Glanz und Ruhm für deren Familie und Gebiet zu erlangen – aber konnten Rime und Azzazello es verantworten, ihn auf das Schlachtfeld zu lassen, wenn White wieder aktiv war? Rime hatte schon oft genug um das Leben ihres Gatten gebangt … und ihre älteste Tochter war in zwei Jahren so weit. Ihre anderen drei Kinder waren noch sehr jung und lernten gerade erst das Fliegen.
Weder Azzazello noch Rime sagten etwas und hörten Lycram auch kaum zu, als dieser Rasputin wieder von seinem Kampf erzählte – doch ein schweigender Austausch ihrer Blicke genügte dem Paar, um einander zu sagen, dass sie an das gleiche gedacht hatten.
Als Azzazello allerdings mit halbem Ohr realisierte, dass Lycram gerade anfangen wollte, Rasputin von Azura zu erzählen, unterbrach er eilends deren Gespräch:
„So, so, das reicht jetzt – ich muss Onkel Lycram wieder zusammenflicken und noch einige Dinge besprechen, bevor er wieder vor seine eigene Horde tritt, also …“
„Was!? Wieso, jetzt kommt doch erst der interessante Teil!“, beschwerte sich Lycram, denn er wollte natürlich alles im Detail berichten, doch Rasputin war trotz seines Disrespekts Azzazello gegenüber gut erzogen und beugte sich seinem Willen. Kaum dass er zusammen mit seiner Mutter – der er auch sofort von Lycrams Kampf berichtete – den Raum verließ, richtete Azzazello sich tadelnd an Lycram:
„Es ist eine Sache, dass mein Sohn sich deinen Kampfstil anguckt, aber eine komplett andere …“
„Ja ja, schon gut, Rasputin muss erst seine eigenen Erfahrungen mit den Weibern machen.“
„Ich meinte eigentlich eher deine Einstell…“
„Ich hatte deswegen auch vor, ihm eine Frau zum Geburtstag zu schenken – hat er nicht bald?“
„Ja, er hat bald, aber …“
„Ich dachte dabei natürlich an eine von Ri-Il. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher; eine Wächterin ist schon verdammt unterhaltsam! Aber das könnte auch zu schwer fürs erste Mal sein …“
„Lycram, es reicht! Du lässt meinem Sohn bitte die Chance, seine Präferenzen auf natürliche Art herauszufinden.“ Während dieses Geplänkels hatte Lycram sich mit der Hilfe seines Bruders seines Oberteils und seiner bis zu den Schultern gehenden Handschuhe entledigt, damit Azzazello sich besser die Verletzungen ansehen konnte und das Gespräch wurde von eben diesem unterbrochen, denn es sah nicht gut aus. Der rechte Arm war definitiv nicht mehr zu gebrauchen, stelle Azzazello fest; er musste ihm schon abgenommen werden. Der andere, der, den Azura beschädigt hatte, sah leider auch nicht viel besser aus.
„Du kannst ihn aber bewegen?“, fragte Azzazello ernst, die kräuselnde Haut des Armes begutachtend sowie Lycrams Handfläche, der teilweise die Haut komplett weggebrannt war und nun das nackte Fleisch zu sehen war.
„Ja.“ Azzazello sah auf:
„Tu nicht so cool, Lycram; das sieht verdammt schmerzhaft aus. Eigentlich solltest du nicht mehr kämpfen; denn eigentlich müssten wir beide Arme amputieren.“ Lycram riss Azzazello sofort den Arm aus seinen abtastenden Händen und zeigte ihm den Vogel:
„Wie stellst du dir denn das vor?! Ich kann mir unmöglich mitten im Krieg beide Arme abreißen und mich zum Krüppel machen!“ Die Empörung seines Bruders ignorierend packte Azzazello wieder den verbrannten Arm und zwang ihn, ruhig zu bleiben.
„Das ist mir auch klar – aber ich denke auch, dass es schneller geht, deinen Arm zu amputieren, als auf eine Heilung zu warten.“
„Ich warte auf gar nichts! Du flickst den anderen jetzt wieder ordentlich ran und dann gehe ich wieder zu meiner Horde, damit wir den Wächtern ordentlich den Marsch blasen können!“ Zweifelnd runzelte Azzazello die Stirn und egal, wie sehr er selbst dagegen war, so sagte ihm Lycrams Blick, dass er so oder so gehen würde, selbst wenn Azzazello sich weigern würde, ihm zu helfen – und wenn der linke Arm mitten im Kampf abfallen würde, das würde Lycram auch nicht aufhalten.
Aber genau deswegen war er ja so beliebt.
Azuma hatte es sich anders vorgestellt, als Elementarwächter in den Krieg zu ziehen - mittlerweile war er schon ziemlich missgestimmt, obwohl es ihm gut ging; außer dass sein Magen immer noch voller Wasser war. Genau wie alle anderen Wächter, die sich nach Shaginais Aufruf in den Tempel begeben hatten, um in die Dämonenwelt geschickt zu werden, musste auch er sich auf dem Hof, wo er vor knapp einer Stunde Ukarios Rede gelauscht hatte, einfinden. Dort hatte er vorne gestanden, zusammen mit Shitaya, Kaira und Minare, doch es war deutlich gewesen, wer die Sprachgewalt besaß: gewiss nicht er, der ja nicht einmal die Befehlsgewalt über Zeranion erhalten hatte, sondern Minare; er, Azuma, ein Elementarwächter, war nur der Stellvertreter.
Und das hatte sich nicht nur deutlich in den knappen Reden der drei Heerführenden gezeigt, sondern auch nun, wo sie sich bereits auf dem Gebiet des Feindes befanden. Shitaya, Kaira und Minare hatten nicht viel Zeit mit Worten verschwendet; dies war auch nicht nötig. Nach dem Überraschungsangriff waren die Wächter der drei Bataillone gewillt, den Dämonen zu zeigen, was sie von einem solchen Angriff hielten – und diese Meinung war keine besonders freundliche.
Kaum dass die rund 400 Wächter den verteufelten Boden berührt hatten, war das Feuer auch sofort eröffnet worden, denn natürlich wurden sie bereits erwartet und wieder einmal verwandelte sich das Kap der letzten Hoffnung in ein brennendes Schlachtfeld; zu Lande wie auch in der Luft.
„Lasst nicht zu, dass sie euch dazu zwingen, auch nur einen Schritt zurückzuweichen! Beweist ihnen, dass wir in den vergangenen 18 Jahren nichts verlernt haben! Vernichtet so viele, wie wir verloren haben!“ Dies waren die letzten Worte, die Azuma von Kaira hörte, ehe er einen weiteren vergeblichen Versuch startete, eine Genehmigung für einen Flächenangriff zu erhalten; denn dies war der Grund für seine schlechte Laune – das Faktum, dass er nach wie vor keine Genehmigung hatte, seine Spezialität auszuführen.
„Azuma, ich habe es dir schon einmal gesagt und ich habe keine Zeit, es noch einmal zu sagen!“, hörte er Tinamis gestresste Stimme aus seinem Kommunikationsgerät – er war der einzige des Elementarwächter-Teams, der keinen Spitznamen von ihr erhalten hatte.
Aus gutem Grund: Sie mochte ihn nicht.
„Ich kann dir unmöglich die Genehmigung dafür geben, einen Angriff der Gruppe D auszuführen: In deinem Angriffskreis befinden sich viel zu viele Wächter, die du behindern, gar verletzen könntest! Die Regeln besagen, dass du einen solchen Angriff nur einsetzen darfst, wenn sich in deinem Angriffsbereich zu 98% nur Dämonen aufhalten – rufe mich erst wieder an, wenn das der Fall ist! Das waren meine letzten Worte, die ich nicht wiederholen werde!“ Mit einem genervten Blick kappte Azuma die Verbindung und überblickte das Schlachtfeld, welches sich unter ihm erstreckte und bis zum Horizont reichte. Der Hauptanteil des vor ihm erstreckenden Getümmels war schwarz; schwarze Punkte, die gegen die bunten ankämpften. Es war laut.
„Wie viele Dämonen sind das wohl?“
„Das ist vollkommen gleichgültig: Es leben mehr als dreiundzwanzigtausend Dämonen in Henel und sie gehören alle ausgelöscht. Es ist also einerlei, wie viele sich auf diesem Schlachtfeld befinden, solange wir sie dezimieren! Der Krieg ist erst gewonnen, wenn keiner von ihnen mehr atmet!“ Kaira beachtete Azuma nicht weiter, sondern änderte die Frequenz ihres Gerätes, womit sie wieder mit Tinami in Verbindung stand anstatt mit ihren Wächtern:
„Wie sieht es aus, Asuka?“
„So gut wie bereit – die Verbindung steht in wenigen Sekunden –ah! Da haben wir es ja!“ Weit entfernt von Kaira grinste Tinami die Karte vor ihr an, welche sich Pixel für Pixel zusammensetzte genau neben der holografischen Weltkugel in der Mitte der Kommandozentrale. Zu Beginn war es eine Karte der gesamten Dämonenwelt, bis Tinami mit ein paar Tastenkombinationen auf ihrer Tastatur auf das momentane Schlachtfeld einzoomte, wo zuerst nur das kahle Land mit all seinen Merkmalen zu sehen war, bis ein Haufen von verschiedenfarbigen Punkten das kahle Land bedeckten und das Schlachtfeld in Rechtecke eingeteilt wurde. Das gleiche Bild erschien auch auf dem Bildschirm hinter ihr: ausgerüstet mit vielen blinkenden Infofeldern, Tinami und die anderen anwesenden Wächter darüber informierend, welche besonders starken Dämonen sich auf dem Schlachtfeld befanden.
„Ich schicke dir und den anderen Herrführenden die Informationen, Ai-chan – einen Augenblick.“ Kaum, dass Tinami dies gesagt hatte, gab das Kommunikationsgerät Kairas und das der anderen einen kaum zu hörenden Piepton ab und auf dem dazu gehörigen Mini-Computer, welcher an ihrem Arm befestigt war, tauchte ebenfalls ein Hologramm auf, welches dem im Tempel ähnlich sah. Genau wie Kaira es von Tinami gewünscht hatte, zeigte ihres nun blinkende Punkte an, welche die Dämonen markierte, die ihre Aufmerksamkeit benötigten.
Anstatt sich zu bedanken, richtete sie ihr Wort an Shitaya, der mehrere Meter neben ihr stand; Minare war im Kampfgetümmel verschwunden.
„Ich werde ausrücken, wobei ich mich auf die A-Dämonen konzentrieren werde! Halte die Stellung!“ Shitaya gelang es gerade noch zu nicken, ehe Kaira schon in einem geübten Sprint die Anhöhung herunterrannte, wo sie, während ihre Beine sie fortbewegten, ihren Sekundenzeiger erneut beschwor. Dabei bemerkte sie nicht, dass Azuma ebenfalls verschwunden war.
„Es ist unglaublich!“, hörte sie Tinami in ihrem Ohr sagen, kurz bevor sie sich in den Kampf warf:
„Hikari-Seigi-sama tötet ganze drei Dämonen pro Sekunde! Das ist Wahnsinn!“
„Laber keinen unnützen Kram, ansonsten schalte ich dich aus! TIME REKATIA!“ Dieses Mal stoppte Kaira die Zeit nicht gänzlich, sondern verlangsamte sie in einem Radius von fünf Metern, wodurch die Bewegungen der Wächter und der Dämonen, die sich in diesem Radius befanden, aussahen, als wären sie in Slow-Motion; sie selbst jedoch nicht, wodurch es ihr beinahe mit spielender Leichtigkeit gelang, einen Mitwächter vor den angreifenden Klauen eines Dämons zu bewahren, indem sie diesem mit ihrem Sekundenzeiger enthauptete, doch anstatt sich damit zu begnügen, wirbelte sie auf der Stelle herum, ließ einen weiteren Sekundenzeiger auf ihrer anderen Hand erscheinen, womit sie zwei Dämonen auf einmal die Hauptpulsader durchtrennte, ehe sie sich den letzten sich in diesem Radius befindenden Dämon genau wie den ersten enthauptete – bevor die Zeit wieder ihren gewohnten Lauf nahm und die Dämonen blutend beziehungsweise kopflos zu Boden stürzten und Kaira von glitzernden Punkten umtanzt wurde.
„Das waren vier in einer Sekunde“, sagte Kaira und ohne sich eine Pause zu gönnen, kämpfte sie sich weiter vor, während sie das Lachen von Tinami in ihrem Ohr vernahm:
„Deine Sekunden sind ja auch was anderes!“
Azuma hingegen rannte in eine komplett andere Richtung; niemand hatte bemerkt, dass er sich davongestohlen hatte, um das wahr zu machen, was Tinami ihm gesagt hatte. Er würde sich durch die Schlacht kämpfen, bis er an den Rand der Schlacht; nein, noch weiter. Bis er in der Horde an sich war – obwohl „kämpfen“ eigentlich das falsche Wort war, denn anstatt sich seinen Weg freizukämpfen, nutzte er seine geringe Körpergröße und schlängelte sich so gut es ging durch die Kämpfenden.
Er würde nicht eher ruhen, ehe er nicht seinen „Falkenstjerne“ eingesetzt hatte!
Silver und Blue war eingetrichtert worden, was sie im Falle des Kriegsbeginns tun sollten, weshalb sie sofort, so als wäre ein Schalter umgelegt worden, die Füße in die Hände nahmen - denn als Mitglieder von Ri-Ils Horde gehörten sie natürlich an die Front, genau wie die anderen Dämonen; anders als Rui, die kein Mitglied war, aber doch ganz automatisch den beiden Brüdern hinterherlief – bis zum Schlachtfeld würde sie ihnen allerdings nicht folgen, dafür waren ihre Fähigkeiten und ihre Ausbildung nicht ausreichend.
Ihre Beine mochten dem eintrainierten Befehl zwar gehorchen, aber ihr Inneres tat es nicht – Silver war so aufgewühlt wie nie und obwohl er beständig versuchte, seine Gedanken zu beruhigen, sie auf irgendetwas fokussieren zu lassen, das ihn von allem irgendwie ablenken konnte, gelang es ihm nicht. Stattdessen versuchte er, sich auf seine Füße zu konzentrieren; dennoch hatte er konstant das Gefühl, als würde er stolpern.
Sein Bruder schien ähnliche Probleme mit dem Laufen zu haben, denn plötzlich hörte Silver Blues Fußtritte nicht mehr hinter sich.
Sofort bremste Silver ab, wandte sich herum, realisierte kaum Ruis nervöse Aufforderung, dass sie weiter müssten , denn alles, was er sah, war sein in sich zusammen gesackter Bruder, der die Hand wieder in seinem Pony vergraben hatte, als hätte er fürchterliche Kopfschmerzen – und alles, was Silver spürte, war pure Hilflosigkeit, als er seinen Bruder so sah.
„…Aniki?“
Doch sein Bruder hörte Silver nicht; er sah ihn auch nicht, sah auch nicht den Holzboden unter seinen Füßen. Sein Sichtfeld hatte sich verdunkelt und verschleiert, Geräusche drangen nur abgedämpft zu ihm hindurch--- nur ein unterschwelliges, sich langsam aufzwingendes Lachen drang durch die tote Stille; dieses schrecklich hohe Lachen--- wer lachte denn nur so widerlich?
„Hör auf…“ Das Lachen verstummte nicht, Worte mischten sich dazu; Gesprächsfetzen, Bilder nahmen klare Konturen an, andere verschwammen…
… er wollte seine Schwester nur wieder lächeln sehen;
sein Blick war entschlossen, entschlossen, alles zu tun, was für dieses Lächeln nötig war.
Und immer noch war da dieses abscheuliche Lachen.
„Hör auf, hör auf---“
Grey wolle die Green von früher wiederhaben – die, die sie weggenommen hatten – wisse Blue denn überhaupt, was er getan hatte? Konnte er sich überhaupt ein Bild davon machen, wie schlecht es Green seitdem ging?
Wusste er noch, wie ihr Lächeln ausgesehen hatte, wusste er überhaupt, was er zerstört hatte?!
Das Lachen wurde lauter, begleitete das Bild der lächelnden Green, deren Lippen er gerade mit seinen berührt hatte, ehe sie sich ihm freudestrahlend um den Hals warf; sie hatten beide gelächelte wie nie --- so viel Glück --- wie viele Glückshormone ein Kuss auslösen konnte, unglaublich --- und dann nahm das wahnsinnige Gekicher zu, gewann an Intensität, als Blue lächelnd den Kopf hob und Greys Leiche aufgespießt an der Wand ihm gegenüber sah.
„Gary, Gary, warum hast du das getan?“
Blue starrte nur entgeistert Greys Leiche an, unfähig zu antworten. Green löste sich von ihm, alle Glückshormone hatten ihre Wirkung verloren und verpufften, als sie sich in sein Sichtfeld schob. Das Lachen wurde leiser, verstummte, war nur noch fern im Hintergrund zu hören, als ob sie wünschte, dass es so leise wurde, dass Blue nicht nur Greens Tränen sehen, sondern auch hören konnte.
„Gary, Gary, warum hast du meinen Bruder getötet? Warum tust du mir so weh; ich dachte, du liebst mich?“
Weiterhin unfähig zu antworten; dem Grauen ins Gesicht zu sehen, das er selbst war, reagierte Blue nicht, als Green ihre feingliedrigen, zierlichen und eigentlich so zerbrechliche Finger zu seinem Gesicht hob.
„Du verfluchtes Monster!“
Drei Stimmen zischten diese Worte; eine von ihnen erkannte Blue als Greens, die anderen beiden konnte er nicht einordnen – ihre Hände berührten seine Kehle---
„BLUE!“
Endlich – als Silver die Schultern seines Bruders gepackt hatte und ihn schüttelte, schien er wieder zu Bewusstsein zu kommen. Blue sah verwirrt in Silvers besorgtes und leicht flehendes Gesicht, dann drifteten seine Augen wieder hinab ins Nichts. Geschockt sah Silver seinen Bruder an, denn dieser Anblick schockierte ihn komischerweise mehr als Blues gestotterte Worte von vor wenigen Sekunden. Wie leer seine grünen Augen waren! Als wäre er gar nicht mehr Teil dieser Welt…
„Blue, Aniki – Aniki! Bist du noch da?“ Die Frage war dumm, denn er berührte die Schultern seines Bruders und spürte somit, dass er noch „da“ war, aber er wirkte so fern und Silver hatte solche Angst, solche Angst… Blue sollte ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen musste, oder ihn tadeln – irgendetwas!
„Ich habe… ich habe Grey umgebracht“, wiederholte Blue dann nach verstrichenen Sekunden, als wäre es ihm erst jetzt bewusst geworden. Silver wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, denn das war ganz gewiss nicht das, was er von seinem Bruder zu hören gehofft hatte. Die richtige Antwort fand er nicht, wusste nicht, ob es überhaupt eine richtige Antwort gab…
„Du… du hast Grey umgebracht? Den Bruder der Hikari?“
Silver hatte Ruis Anwesenheit komplett vergessen und als er sich zu ihr herum wandte, wünschte er sich, sie wäre nicht auch dort, um diese abstruse und unwirkliche Szene zu sehen - denn dieser verstörte, beinahe ängstliche Blick auf ihrem Gesicht, die Augen auf Blue statt wie gewöhnlich auf ihn gerichtet, beruhigten Silver keineswegs.
Sah er auch so aus? War in seinem Gesicht der gleiche Schock zu sehen, die gleiche Angst?
„Komm, Aniki“, sagte Silver, nachdem Blue offensichtlich nicht auf Ruis Frage antworten wollte – hatte er sie überhaupt gehört?
„Komm, wir werden erwartet.“
Sie hatten nicht darüber gesprochen, wer gegen wen kämpfen würde; doch sie stürzten sich auf ihren jeweiligen Gegner, als hätten sie es getan: White gegen Nocturn, Adir gegen Youma und Shaginai gegen Feullé; wobei das letztere das ungleichste Paar von ihnen war. Doch obwohl die Augen Feullés den Tränen nahe waren und die Angst ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stand, wusste Shaginai, dass es ein Fehler wäre, das kleine Mädchen zu unterschätzen. Seiner ersten Stichattacke wich sie mutig aus, indem sie sich mit ihren Händen auf den Griff des Schwertes stützte, diesen als Aufschwung nutzte und flink rückwärts über Shaginai hinwegsprang, wo sie, kaum dass sie den Boden wieder berührt hatte, die Hand ausstreckte und eine Strahlenattacke entfesselte, welche Shaginai mit Leichtigkeit mit seiner blanken Klinge abwehrte und auf sie zurückwarf, die sich auf den Boden fallen ließ, eine Rolle rückwärts machte und daraufhin wieder aufsprang, kurz bevor Shaginai ein weiteres Mal auf sie einstechen wollte.
Shaginai musste Adir und somit Hizashi zustimmen, was die Theorie des Letzteren anging, denn er hatte offensichtlich recht: die Bewegungen Feullés untermauerten seine Theorie, denn auch Shaginai fiel auf, dass Feullés Bewegungen so gar nicht zu ihr passten.
Ihre Bewegungen waren nicht die eines unsicheren Mädchens; nein, viel mehr:
Es waren gar nicht ihre eigenen Bewegungen. Es waren …
„Eine … Luna-was?“ Von weit weg waren Silence und Green in der Lage, den epischen Kampf mitanzusehen und Silence, die dank ihrer langen Existenz einiges an Wissen in sich aufgenommen hatte, hatte ebenfalls herausgefunden, welcher Rasse Feullé angehörte.
„Eine Lunatika. Ich habe es mir bereits gedacht, als ich das Gör und ihre hellen Haare gesehen habe, aber „ihr“ Kampfstil lässt keine Zweifel offen.“ Verwirrt wurde Silence von ihrem Medium angesehen, was diese als eine Aufforderung ansah, eine Erklärung abzugeben. Der Geist der stolzen Yami seufzte, ehe sie mit einer Erklärung kam:
„Green, du kannst später Hizashi genauer über den Ursprung der Lunatika ausfragen; er kennt sich damit wahrscheinlich auch besser aus als ich. Wichtig ist jetzt nur die Fähigkeit dieser Wesen. Das besondere an Lunatika ist nämlich, dass sie eine Kopier-Fähigkeit besitzen. Mittels Blut oder Speichel eines anderen Wesens können sie die Magien anderer Wesen in sich aufnehmen und sind daher wie eine Art Magiespeicher. Das ist auch der Grund, weshalb wir so viele Auren auf einmal spüren, da das Mädchen mit der Magie auch die Aura kopiert.“ Überrascht weiteten sich Greens Augen:
„Wie bitte?!“
„Das ist weitaus unpraktischer als es klingt, Green. Man kann die Lunatika mit einer Batterie vergleichen: einer nutzlosen Batterie. Lunatika können zwar vielerlei Magien in sich aufnehmen, doch können sie nicht nutzen, denn das Können, das man benötigt, um die Macht, die sie kopieren, einzusetzen, können sie nicht vom eigentlichen Träger übernehmen. Sie können sich große, endlose Macht aneignen, aber sind gleichzeitig die machtlosesten Dämonen.“ Green wandte sich von Silence ab und sah wieder zum Kampfgeschehen, wobei sie nun auf Feullé achtete: Die Haare, die unter ihrem Barett hervorlugten, waren in der Tat ungewöhnlich hell für einen Dämon und hatten viel mehr Ähnlichkeit mit den Haaren der Hikari. Ihre dunklen roten Augen spiegelten allerdings ihr dämonisches Blut wider, auch wenn diese ängstlich aussahen; eine Angst, die Green sehr gut nachempfinden konnte, immerhin hatte sie mittlerweile oft genug gegen Shaginai kämpfen müssen. Doch das kleine Mädchen schlug sich gut, wie sie verwundert feststellte. Zwar konnte sie kaum einen Treffer landen, doch ihre Ausweichtechniken waren flink und kamen immer in genau zum richtigen Zeitpunkt, weshalb ihr Großvater noch keinen einzigen Treffer gelandet hatte.
Anders sah es da allerdings bei den anderen Kämpfenden aus: der Kampf von Youma und Adir schien ungleich zu sein. Green hatte keine Ahnung von dem Umgang mit einem Degen, aber dennoch konnte sie erkennen, dass Adir sehr geschickt mit dem Degen war – sein Können schien nur nicht gegen die Sense Youmas zu genügen. Und was Green nicht sah, aber Silence sehr wohl, war, dass Youma es ganz eindeutig auf den Hals des Hikari abgesehen hatte, denn dort hing das Glöckchen. Adir schien dies auch bewusst zu sein, weshalb er sich eher darauf konzentrierte, auszuweichen und die talentierten Hiebe Youmas zu parieren, anstatt wie Shaginai in die Offensive zu gehen.
„Ich finde aber, dass sie sich gar nicht so schlecht schlägt. Um Adir mache ich mir mehr Sorgen …“
„Dann guckst du nicht richtig hin. Sieh genau hin, Green. Vergleich die Bewegungen des Mädchens mit denen von Nocturn. Fällt dir nichts auf?“ Wieder wandte sich Green von Silence ab und konzentrierte sich darauf, das Gesagte zu tun. Genau besah sie sich die beiden Kämpfenden, sah mit Genugtuung, wie Nocturn zu Boden fiel: Von einem geschickten Hieb ihrer Mutter zu Fall gebracht, die sofort mit einer senkrechten, beinahe aus dem Himmel kommenden Lichtstrahlattacke nachsetzte, welcher Nocturn nur knapp mit einem Rückwärtssalto ausweichen konnte. Bei Feullé sah es besser aus, denn diese hatte just in dem Moment eine schwarze Strahlenattacke entfesselt, die Shaginais linke Schulter traf, ihn jedoch nicht aufhalten konnte; noch während das Loch sich wieder schloss, holte er mit seinem Schwert aus und wollte das kleine Mädchen enthaupten, hätte dieses sich nicht geschickt gebückt und somit dem Hieb aus dem Weg gegangen.
„Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst, Silence … ich finde, dass Nocturn langsamer geworden ist. Jetzt ist er schon das zweite Mal von Mutter getroffen worden. Aber das Mädchen wehrt sich ziemlich gut.“
„Und du kannst dir keinen Reim daraus machen, weshalb das so ist?“ Green schüttelte den Kopf, doch genau in dem Moment, wo sie dies tat, ging ihr ein Licht auf: ein Licht, welches sich deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegelte und Silence zu einem Grinsen brachte.
„Genau, Green, du hast es erfasst.“
Die Bewegungen Feullés waren nicht ihre eigenen: Es waren Nocturns. Feullé musste Nocturns Magie kopiert und in sich aufgenommen haben, doch war selbst nicht in der Lage, diese einzusetzen. Doch Nocturn, dem es ein leichtes war, Körper nach seinem Belieben zu steuern, konnte sie selbstverständlich kontrollieren; immerhin war es seine eigene Magie, die als kopierte Form in Feullé wohnte. Mit anderen Worten war Feullé eine Kopie Nocturns, solange er sie steuerte. Doch offensichtlich hatte dies auch seine Nachteile, denn Nocturn schien nicht in der Lage zu sein, sowohl selbst zu 100% zu kämpfen und Feullé zu 100% kämpfen zu lassen: Seine Reaktionen hatten nachgelassen, so dass White den Nachteil, dass sie 18 Jahre lang nicht trainiert hatte, nun nicht mehr spüren konnte. Nein, nun war sie sogar im Vorteil, wie es schien.
„Wie nett von dir, dass du dich treffen lässt, anstatt dass sie getroffen wird – was bist du doch für ein großartiger Vater!“ Genau wie so viele andere Male zuvor waren White und Nocturn in einen Nahkampf vertieft: Nocturn ausgerüstet mit etwa zehn Zentimeter längeren Fingernägel, während Whites weiße Lichtmagie ihre Hände schützend umgab, mit denen sie seine Stichattacken geschickt und mit hohem Tempo parierte.
„Oh, vielen Dank, das fasse ich als Kompliment auf!“, entgegnete Nocturn grinsend, was White allerdings nicht so witzig fand:
„Es – war – keines!“ Zeitgleich mit dem Aussprechen der jeweiligen Worte leuchteten Zeichen auf Whites Handflächen auf und hätte Nocturn nicht in genau diesem Moment Feullé dazu gebracht, hoch in die Luft zu springen, um eine seiner Lieblingstechniken auszuführen, hätte er Whites nächste Attacke erkannt und hätte dagegen handeln können. Nun aber wurde er von der Lichtsalve erfasst, mehrere Meter in die Luft geworfen und landete weniger elegant in der feuchten Erde.
Gerade als der Flötenspieler sich wieder aufrichten wollte, wurde er von der Spitze von Whites kreuzförmigem Stab zurück in den Boden gepresst, welcher von vier pulsierenden Heiligenscheinen umgeben wurde und einen unheimlichen Schimmer auf Whites Gesicht warf, der ihre Unbarmherzigkeit mit einem heiligen Licht untermalte.
„Ich werde dich nicht fragen, warum du Grey umgebracht hast“, zischte White, sich bewusst, dass sie nicht von den anderen Kämpfenden gehört wurden:
„Aber ich frage dich, was du vorhast; was du bezweckst und ich verlange eine Antwort.“ Nocturn, der zuvor eher verdutzt den pulsierenden Stab auf seiner Brust angesehen hatte, brachte sich nun wieder zu einem heimtückischen Lächeln:
„Du verlangst eine Antwort? Oh, mein Engel, ich verlange auch nach so vielem und es wird mir verwehrt.“
„Wechsle nicht das Thema.“ Der Druck auf seiner Brust wurde stärker.
„Vielleicht ist es das Thema?“
„Fordere mich nicht heraus, Nocturn; sei dir deiner Position bewusst und gib mir eine Antwort oder ich entlade meine gesamte Lichtmagie in dir.“ Whites Stimme war weiterhin gefasst, doch der Stab verriet, dass sie ihre Drohung ernst meinte, denn ein weiterer Heiligenschein legte sich um diesen. Nocturn lachte kurz, schien aber ansonsten keine sonderlich große Furcht vor der Drohung zu haben und schnell stellte sich auch heraus, weshalb: Obwohl sie Nocturn vor sich finster anstarrte, spürte sie auf einmal eine kalte Hand auf ihrer stabführenden Hand und erschrocken blickte sie sich über die Schulter und sah in das lächelnde Gesicht Nocturns, obwohl sie deutlich spürte, dass er immer noch unter ihr lag.
„Du hast wohl vergessen, dass ich Illusionsmagie beherrsche, nicht wahr, White? Das passiert jedem mal.“ Böse funkelte White den Dämon an, welcher nur knapp zehn Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war, doch hatte nicht vor, zurückzuweichen: Ihr Blick sprach Bände, die diese Tat ersetzten.
„Ich werde dich aufzuhalten wissen, Nocturn. Egal, was du vorhast!“ Die vielen Jahren, in denen sie gegeneinander gekämpft hatten, hatten sich ausgezahlt – denn White war klar, dass der Nocturn, der hinter ihr stand, die Kopie war; und nicht der unter ihrem Stab, weshalb sie ohne zu zögern ihre gesamte Magie genau dort entlud:
„ILLURIE IMAGNE!“ Whites Gespür hatte sie nicht getäuscht; nicht der Nocturn, der sich unter ihrem Stab befunden hatte, war die Kopie gewesen - sondern der hinter ihr, was sie ganz einfach daran bemerkt hatte, dass sich der Nocturn am Boden nicht aufgelöst hatte, nachdem sie sich von ihm abgewandt hatte. Die Attacke Whites hatte ins Ziel getroffen; es war ihm nicht gelungen, auszuweichen.
Doch, noch während die vier Heiligenscheine sich in ihm entluden, sammelte Nocturn unter Schmerzen in seinen Fäusten schwarze Magie, die, als sie die gleiche Kraft erreicht hatte wie die von White, die ihre abblockte und sie in den Himmel schickte, wo sie diesen für einen Moment lang zum Tage machte.
„Ahahahahahaha! Wie in alten Tagen!“ Nocturn war vor ihrem Augen verschwunden und tauchte nun genau vor ihr in der Luft schwebend auf, und obwohl er von der Attacke mitgenommen aussah, so schien er über die momentane Situation erfreut zu sein, denn es schwang ein Lachen mit, als er fortfuhr:
„So, du willst mich also aufhalten, mein Engel?“
„Das werde ich. Ich werde Green die Wahrheit über den Tod ihres Bruders erzählen und deinem widerlichen Theaterstück ein Ende bereiten.“ Noch einmal lachte Nocturn, wobei ihm ein wenig Blut von den Lippen tropfte, welches er sich wegleckte, ehe er sich herunterbeugte, um White nun von Angesicht zu Angesicht anzusehen:
„Du willst deiner Tochter die Wahrheit sagen? Nur zu, White. Tu es. Wir beide wissen, wie das enden wird …“ Er legte eine kurze dramatische Pause ein, in der er beide Hände nach ihr ausstreckte, ohne sie zu berühren; eine Tat, die White nur mit Kälte erwiderte, doch es befand sich noch etwas anderes verborgen hinter dieser kühlen Fassade, etwas, das Nocturn liebend gerne herauslocken wollte und würde: Denn es gab keine schönere Inspiration, als Whites Verzweiflung zu sehen - wenn auch nur für einen kurzen Moment, verborgen hinter ihrer antrainierten Hikari-Fassade.
„Lass es uns zusammen ausmalen, komm, machen wir das zusammen. Stellen wir uns vor, du sagst ihr die Wahrheit und damit erfährt sie, dass ich der Verantwortliche für den Tod ihres Bruders bin. Was wird die kleine Green dann tun? Sie hing sehr an ihrem großen Bruder, nicht wahr, White? Hab ich nicht recht? Doch, natürlich habe ich recht, denn ich habe die Zuneigung beider in ihren Gedanken gesehen; auch die sündigen deines Sohnes, ja, auch diese. Inzest gehört sich wirklich nicht, White, das hättest du ihm doch beibringen sollen, dann wäre dem Armen einiges erspart geblieben!“ Der Dämon lachte boshaft und mit schief gelegtem Kopf, ehe er fortfuhr:
„Oder hoffst du etwa darauf, dass der Halbdämon – wie war noch mal sein Name; Blue? – selbst bemerkt, dass er nicht der Mörder war? Oh, White, nein; du kennst meine Fähigkeiten, du weißt doch, wie meine Kunst ist! Während wir hier reden, ist meine künstlich erschaffene Erinnerung dabei, sich in seinen Fluss der Erinnerungen einzuflechten – und warum sollte er an ihr zweifeln? Ich habe meine Hausarbeit gemacht, das verspreche ich dir! Ich habe an alles gedacht, an wirklich alles – ich mag es doch so, an Details zu feilen, haha! Gerüche, Geräusche und natürlich Gespräche, wobei mir die Gedanken des kleinen Bruders behilflich waren… Und Blues Gewissen erledigt den Rest, denn für einen Dämon hat er eigentlich ein außergewöhnlich ausgeprägtes Gewissen. Er wird nie an seinen eigenen Erinnerungen zweifeln und sich immer weiter in seine Schuld hineinsteigern… setze nicht auf eine Karte, die bereits verloren ist.“
„Ich „setze“ auch nicht auf ein Wesen, welches das Herz meiner Tochter gebrochen hat –“, erwiderte White mit leicht wütender Stimme, doch Nocturn kam ihr zuvor:
„Nicht alle Dinge sind immer wie sie zu sein scheinen, aber ja, natürlich, wir Dämonen haben ja keine Gefühle und darüber wollen Wächter ja auch nicht reden – also, White, zurück zu Green … was glaubst du, würde deine Tochter tun? Ja. Ja … ich denke das gleiche wie du. Und was glaubst du würde ich dann tun? Du kennst mich, du weißt genau, was ich tun würde …“ Nocturn lachte weiter: das widerlichste Lachen, das sie von ihm kannte, das Lachen, das von Wahnsinn und Infamie zeugte und dieses, zusammen mit seinen stechenden, roten Augen, welche Wort für Wort immer kleiner und durchdringender wurden, samt seinem breiten Grinsen, zerbrach ihre kühle Fassade Stück für Stück:
„Eigentlich … weiß ich nicht, was ich tun würde. Ich bin kreativ, das weißt du, White! Ich bin sehr kreativ. Und Green, die kleine Green, ist immerhin die letzte, die letzte, die mir für meine Nocturne fehlt! Ich würde mir was ganz Besonderes einfallen lassen, das verspreche ich dir! Es wird der Höhepunkt! Der Höhepunkt sage ich dir!“
White gelang es nicht zu antworten, denn genau in dem Moment, wo Nocturns manische Lache seinen Höhepunkt erreichte, ertönte der spitze Schrei eines Mädchens.
Nocturn wirbelte alarmiert herum, obwohl ihm bewusst war, was passiert war. Er hatte sich gehen lassen; Feullé und die Kontrolle ihres Körpers vergessen und diese Chance hatte Shaginai zu nutzen gewusst. Feullé war genau in dem Moment, als Nocturn sich seinem Wahnsinn hingeben hatte und somit ihren Körper losgelassen hatte, zu Boden gestürzt, als wüsste sie nicht selbst, wie sie ihre Beine dazu brachte zu stehen und schrie, nun da Shaginai sein blitzendes Schwert gegen sie richtete.
Nocturn fluchte entsetzt, sich seiner Schuld bewusst und –
„Waffen fallen lassen!“
Es war Youmas Stimme und alle sahen im gleichen Moment, dass er das Glöckchen Adirs in seiner Faust hielt.
[1] Franz. „Vater“