Kapitel 52 - Höre die Hölle VIII
Silence war in die Dämonenwelt gekommen, um Youma zu suchen, der ihr Frage und Antwort stehen sollte, doch sie hatte etwas anderes gefunden. Ihr war nämlich zu Ohren gekommen, dass der Bannkreis gebrochen war – und das war eine Sache, die sie die Suche nach Youma vergessen ließ, denn sie musste dem auf den Grund gehen; es schien mehr als nur ein haltloses Gerücht zu sein. Die Kriegsrede Lerous hatte sie nicht gehört, doch das Verhalten der Dämonen sprach eine eindeutige Sprache: die Sprache des Krieges, weshalb sie sich nach Lerenien-Sei aufmachte, um dort mehr herauszufinden – und die Yami fand ein sehr stilles Lerenien-Sei vor, wie sie es früher bereits oft gesehen hatte; wenn ein Krieg anstand.
Aber wenn der nächste Krieg begonnen hatte, bedeutete das auch, dass Green ihre Hilfe benötigte – war das die Ursache für das konstante ungute Gefühl in ihr, das sie schon die ganze Zeit zur Rückkehr gedrängt hatte?
„Ich wusste, dass ich mich nicht geirrt hatte.“ Silence wirbelte herum, als sie diese ihr wohlbekannte Stimme hörte, und sah Youma einige Meter von ihr entfernt am Ende der Gasse stehen, in der einen Hand seine geschulterte Sense, die andere in seine Hüfte gestemmt. Sein Gesicht war ernst, doch als Silence sich herumwandte und ihn ansah, konnte er ein erfreutes Lächeln nicht unterdrücken.
„Mein Gespür täuscht mich eben nicht; ich würde meinen Zwilling überall finden. Ich habe dich sofort gespürt, als ich diese Welt betrat. Lange nicht gesehen, Silenci.“
„Ich habe keine Zeit für dich, Youma“, antwortete Silence kalt auf seine warme Begrüßung und erntete sich zufrieden die Enttäuschung Youmas, der kurz eingeschnappt wirkte.
„Gut, anscheinend teilst du meine Wiedersehensfreude nicht. Aber vielleicht kannst du mir ja helfen; deinem Verlobten einen kleinen Gefallen tun.“
„Wir sind nicht mehr verlobt.“ Der Angesprochene hob galant seine rechte Hand, an dessen Ringfinger der Verlobungsring glänzte.
„Solange wir beide unsere Ringe tragen, die eben dieses Band bezeugen, sind wir es.“ Silence ballte eben diese Hand zur Faust, an der auch sie den genannten Ring trug, doch wählte nicht darauf einzugehen und genauso wenig zu erwähnen, dass sie ihn nur noch trug, weil sie als Seele nicht in der Lage war, einen Gegenstand abzulegen, mit dem sie gestorben war. Stattdessen fragte sie ihn, um was für einen Gefallen es sich handelte, denn es interessierte sie schon, wofür er die Hilfe einer Untoten benötigte.
„Ich möchte, dass du mich zu deinem Medium bringst.“ Fragend hob Silence die Augenbraue und antwortete skeptisch:
„Ach, du willst zu Green? Weshalb? Sowieso, wieso sollte ich dich zu ihr bringen, wo ich doch weiß, dass du eine Gefahr für sie bist?“
„Du wirst mich zu ihr bringen, Silence. Ob du willst oder nicht.“ Ein spöttisches Lächeln konnte Silence nicht zurückhalten, obwohl ihre Antwort eher tragisch war:
„Und mit was willst du mir drohen? Willst du mich noch einmal umbringen?“ Es war ein Jahr vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten und damals wie jetzt schien es ein Tabuthema für Youma zu sein. Mit Reue im Blick wandte ihr Zwilling sich ab, konnte ihrem Blick nicht standhalten und wirkte plötzlich alles andere als selbstbewusst. Silence konnte es sich nicht erklären, doch sie mochte diesen Anblick nicht, obwohl er ihr eigentlich Genugtuung geben sollte.
„Ich suche jemanden“, fuhr Youma nach einer Weile mit gedämpfter Stimme fort, doch sie weiterhin nicht anschauend.
„… und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich bei deinem Medium aufhält. Die Aura der Hikari ist allerdings momentan nicht auffindbar, wahrscheinlich ist sie mit einem Ingnix ausgerüstet; doch du findest dein Medium sicherlich auch ohne ihre Aura zu spüren.“
„Ja, da hast du nicht unrecht, doch warum orientierst du dich nicht an der Aura der Person, die du suchst?“
„Weil er keine hat.“ Youma sah wieder auf und bemerkte sofort, dass Silence seinen Gedanken folgen konnte; dass sie ihn sofort verstanden hatte. Sie öffnete den Mund, doch schien sich anders zu entscheiden, besann sich und sprach dann erst:
„Bedeutet das, dass Green momentan mit Nocturn alleine ist?!“
„Ja, genau dies bedeutet es – und deswegen kann ich mir auch sicher sein, dass du mich so oder so zu ihm bringen wirst, denn wenn du dein Medium retten willst, dann musst du ohne Umschweife zu ihr gelangen.“
„Sag mal bist du völlig von Sinnen?! Wie kommst du darauf, so einen Irren wiederzubeleben?! Wie ist dir das überhaupt gelungen, ohne seine Leiche zu haben?!“
„Vielleicht sollten wir uns lieber beeilen, Silenci, anstatt solche Details zu bere-“
„Du antwortest mir gefälligst auf der Stelle!“ Diese geschrienen Worte brachten Youma umgehend zum Schweigen, denn seit seiner Kindheit war es in ihm verankert, dass er sich Silence‘ Wut beugen musste; wenn sie wütend war, tat man besser, was sie von einem verlangte. Zwar konnte Silence ihm mit nichts drohen, doch der Respekt vor ihrer Wut war zu tief in ihm verankert, als dass er sich nicht von ihr eingeschüchtert fühlte.
„Ich … brauchte seine Leiche nicht. Der Bannkreis war vollkommen ausreichend, denn in diesem war die Macht Nocturns unversehrt enthalten, welche mir als Fundament dienlich war und dazu führte, dass die Wiederbelebung ohne Komplikationen vonstattenging. Mit seiner Wiederbelebung beschädigte ich gleichzeitig den Bannkreis.“
„Verstehe. Du solltest Nocturn also für die Fürsten wiederbeleben, damit der Bannkreis bricht. Zwar mögen sie ihn nicht, aber das haben sie dann wohl in Kauf genommen.“
„Für die Fürsten? Du glaubst, dass ich mit diesem Haufen Schwachköpfe gemeinsame Sache mache? Nein, Silence, da muss ich dich enttäuschen. Ich arbeite nicht für die Fürsten. Ich arbeite für niemanden. Ich war von Beginn an nicht daran interessiert, in ihre Reihen zu treten.“
„Warst du nicht?“ Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf Youmas Gesicht aus, als er gelassen antwortete:
„Silence … wir beide sind die einzigen Kinder Luzifers, wir sind für Höheres berufen. Warum sollte ich mich mit einem solchen Posten zufriedengeben, wenn mir die gesamte Welt zusteht?“ Die Angesprochene wollte gerade mit hochgezogenen Augenbrauen antworten, als Youma ihr zu vorkam:
„Ich weiß, was du sagen willst, Silenci. Doch keine Sorge, ich bin nicht größenwahnsinnig und desillusioniert ebenfalls nicht. Ich bin mir bewusst, dass ich dieses Erbe, welches mir zusteht, nicht so ohne weiteres antreten kann; dass ich es mir hart erarbeiten muss, den Gesetzen dieser finsteren Welt folgend. Doch auch ich habe bereits nach kurzer Zeit bemerkt, dass es sich nicht lohnt, Herrscher über eine Welt zu werden, die sich selbst zerstört. Um meine Ambitionen zu erfüllen, benötige ich jedoch eine hohe Machtposition hier in dieser Welt; der Fürsten ungeachtet – und zu dieser Machtposition wird Nocturn mir verhelfen.
Und wenn wir schon einmal beim Thema sind … wir sollten aufbrechen. Ich bin noch nicht besonders vertraut mit seinem Charakter, doch habe ich bereits herausgefunden, dass er ein ziemliches Spielkind ist und es würde nicht in meine Pläne passen, wenn dein Medium bereits zum gegebenen Zeitpunkt sterben würde.“
Die erste Attacke Lycrams traf ins Ziel, da Azura nicht damit gerechnet hatte, dass Lycram sich so schnell ohne Weiteres aus ihrem Eis würde befreien können – doch noch bevor sie darüber verblüfft sein konnte, wurde sie auch schon von dem Schienbein Lycrams zu Boden geschmettert und hart schlug ihr Kopf am Kopfsteinpflaster der Straße auf – so hart, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde und ihre Sinne sich trüben; auch was Lycram seinen Dämonen unheilschwanger lachend zurief hörte sie nicht, obwohl ihr Kommunikationsgerät es übersetzte. Nur einen kurzen Augenblick schärften sich ihre Sinne wieder und sie verfluchte sie dafür, dass sie genau in dem Moment ihren Betrieb wieder aufnahmen, als Lycram sie mit einem boshaften Grinsen bedachte, dessen Bedeutung sie lieber nicht wissen wollte.
Der Fürst hatte Pelagius ignoriert, da er das kleine spärlich bekleidete Mädchen offensichtlich interessanter fand, doch eben dieser war es, den er nicht hätte ignorieren dürfen – die gleiche Attacke, die auch schon Lacrimosa verscheucht hatte, befreite nun Azura aus Lycrams Griff, als dieser förmlich von der Wasserschlange Pelagius‘ weggespült wurde. Doch gerade, als er nachsetzen wollte, schoss ein dünner schwarzer Magiestrahl direkt auf die Hand des Offiziers zu und zwang ihn so dazu, ausweichen zu müssen, da der Strahl offensichtlich dafür vorgesehen gewesen war, ihm die Hand abzureißen.
„Lycram-sama will seinen Spaß haben mit dem Mädchen, also lasse ich keine Unterbrechung zu“, verkündete der Kommandeur Lycrams, der auf Pelagius gezielt hatte und nun finster zu ihm sah – und schon einer weiteren Attacke ausweichen musste, weshalb er nicht sah, dass Azura ihre Schwierigkeiten hatte, aufzustehen. Ihr war schwindelig – und noch bevor sie darüber nachdachte, ob sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, musste sie sich auch schon übergeben, unter dem Lachen der dämonischen Zuschauer, die Lycram Azura überließen, als würde eine Elementarwächterin nur einem Fürsten zustehen. Nur wenn es Pelagius gelang, eine Lücke im Kampf gegen Lycrams Kommandeur zu schaffen, griffen sie ein, um eben diese Lücke wieder zu schließen, weshalb Lycram sich die Zeit nahm, gelassen auf die schwankende Azura zuzugehen, dabei die nassen Haare aus dem Gesicht wischend und den Zopf wieder richtend, um den Augenblick zu genießen.
Aber obwohl Azura die Angst vor seinem unheilvollen Grinsen und seinen prüfenden Blicken in ihren Knochen spürte, unterdrückte sie die Panik und es gelang ihr auch, dem ersten seiner blau leuchtenden Fäden auszuweichen, die eindeutig darauf abgezielt hatten, ihre Beine zu packen. Rückwärts war sie ausgewichen – und schon kam von hinten ein weiterer Faden, der sich um ihren Oberkörper schwang und durch die Jacke, die ihr die beiden Windwächter geliehen hatten, schnitt, durch ihren Badeanzug in ihr Fleisch. Instinktiv wollte Azura gegendrücken, doch unterdrückte diesen Drang und ließ sich stattdessen zu Boden fallen, den sie vereist hatte und somit mehrere Meter von Lycram wegrutschte, da die Straße, auf der sie sich befanden, schräg abfallend war. Aus dieser Position wollte sie ihn angreifen, doch er war schneller als die schwankende Azura, die unerschrocken auf ihn zugestürmt war, um ihn mit ihrem Finger berühren zu können, um somit Lycrams Blut zum Kochen bringen zu können – schon hatte sie ihren Finger ausgestreckt gehabt, als alle fünf Finger Lycrams Hand aufstrahlten.
Azura gelang es den ersten zwei, die es auf ihre Füße abgesehen hatte, auszuweichen, doch sie geriet ins Torkeln, weshalb es Lycrams Fäden ein Leichtes war, ihre Beute zu finden. Sie schnitten sich um Azuras Taille, gruben sich in ihre Haut und taten das Gleiche an ihren Händen - und ehe Azura sich versah, hatte Lycram sie mit den Händen über ihrem Kopf an einer Säule förmlich aufgehängt.
„So schnell ist also eine Elementarwächterin nichts anderes als ein aufgehängtes Vieh!“, verkündete Lycram seiner aufgeregten Horde, ehe er Azura dazu zwang, den Kopf zu heben, indem er sie an ihren Haaren packte und sie nach unten zog.
„Was soll ich mit ihr machen?!“, fragte er seinen Dämonen sich dabei zu ihnen umsehend:
„Es ist immerhin eine Wasserwächterin! Und Wasser können wir ja gut gebrauchen – oder soll ich ihr beibringen, was wir in unserer Welt mit Weibern machen, die sich so leicht aufhängen lassen!?“ Jedes einzelne Wort übersetzte das noch funktionierende Kommunikationsgerät Azuras und jedes Wort ließ sie blasser werden – das … das war nicht wahr, das … das hatte sie nicht gehört; nicht richtig verstanden …?! Verzweifelt traf sie für einen Augenblick lang den Blick Pelagius; eine flehende Bitte lag in ihren Augen und er wusste genau, was sie wollte, was er tat, obwohl das absolut unmöglich war, denn es verstieß gegen sämtliche Moral: Sie wollte, dass er eine so große Welle entstehen ließ, die alles unter Wasser setzte. Sie wollte fliehen, wollte sich in ihr Element flüchten, weil sie sich dort Sicherheit und Kraft erhoffte und sich darauf verließ, dass ihr Körper ihr im Wasser keinen Streich spielen würde – und von dort würde sie zurückschlagen wollen. Doch es war nicht möglich und das wusste sie: Da sie sich auf einer Schrägen befanden, würde eine solche Welle die Gebiete unter ihnen überfluten und Dämonenleben sowie Wächterleben kosten, da nicht alle so gut schwimmen konnten wie sie.
„Und keine Sorge, ich würde sie nicht töten“, fuhr Lycram breit grinsend fort, weiterhin seine Dämonen ansehend:
„Ich würde demjenigen von euch, der die meisten Wächter umgebracht hat, natürlich ein Stück von ihr abgeben!“ Ein tosendes Gebrüll schien Lycram als einstimmiges Zustimmen zu deuten, weshalb er sich nun wieder Azura zuwandte.
„Es ist lange her, dass ich eine Wächterin … habe, also enttäusch mich nicht!“ Obwohl das Kommunikationsgerät keine Schimpfwörter übersetzte, war ohne jeden Zweifel klar, was Lycram mit Azura vorhatte, weshalb die Wächterin auch vor Schreck erstarrt war und ihr Kopf nicht auf ihren Oberkörper zurücksackte, als der Fürst seine Hand von ihrem Haar löste – Pelagius rief Azura aufgeregt etwas zu, doch sie hörte ihn nicht, denn sie starrte Lycram an, völlig erstarrt, mit zusammengepressten Zähnen, die sich allerdings plötzlich zu einem Grinsen formten, als der Fürst rabiat ihre Brust packte.
„Finally you touched me!“ Und mit triumphierender Erleichterung verkündete sie:
„EVAPORZIO IDRANERTE!“ Es geschah dasselbe mit Lycrams Hand wie mit der Dämonin, die Azura zu Beginn der Schlacht getötet hatte und erfreut sah sie, wie die Haut unter Lycrams Handschuh zu brodeln begann; doch er reagierte schneller als die bereits tote Dämonin und riss seine Hand von Azura los.
Die Wut stand dem Fürsten nun ins Gesicht gemeißelt und seine Hordenmitglieder waren augenblicklich still – damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Aber mehr hatte Azura auch leider nicht geschafft; sie hatte ihn wütend gemacht und seine Hand scheinbar enorm angeheizt, denn Lycram fluchte so enorm, dass das Kommunikationsgerät kein einziges Wort übersetzen konnte. Doch das war alles und im absoluten Schweigen der Umherstehenden holte er mit der kochenden Faust aus; Azura würde wahrscheinlich von dem Schlag bewusstlos werden; hoffentlich würde sie bewusstlos werden, denn das, was folgte, wollte sie nicht erleben …
Doch der Schlag Lycrams kam nicht. Stattdessen hörte Azura eine vertraute Stimme und traute sich deshalb auch, ihre Augen zu öffnen – und sah, wie Kaira ohne zu zögern und ohne Vorwarnung Lycram attackierte.
Mit ihren violett scheinenden Sekundenzeigern – einer über jedem Handrücken schwebend – säbelte die Zeitwächterin beinahe die Luft; und zwang Lycram dazu, nur ausweichen zu können, da sie so schnell mit ihren Sekundenzeigern nachsetzte, dass es ihm nicht gelang, sie ebenfalls anzugreifen und scheinbar verdarb Kairas undurchdringlicher und souveräner Blick Lycram die Lust auf Späße. Im Gegenteil: Es schien beinahe so, dass Kaira ihn in die Enge treiben konnte, weshalb Lycram auch versuchte, Abstand zu der zielsicher herumwirbelnden Kaira zu bekommen.
„Lycram-sama, Ihr könnt Eure Hände nicht mehr benutzen! Wir sollten …“
„Fresse!“ Tatsächlich hätte Lycrams Kommandeur sich nicht einmischen sollen, denn diesen einen Augenblick hatte Kaira genutzt; violett schien die Luft um sie herum zu leuchten, ihre Augen selbst leuchteten in der Farbe ihres Elementes – –
– und sie schoss wie ein Pfeil zuerst auf den zu recht besorgten Kommandeur zu, und schneller, als dass irgendjemand etwas hatte sehen können, teilten ihre Sekundenzeiger seinen Torso kreuzförmig; sie raste mit donnernden Füßen durch die leuchtenden Überreste des Dämons, federte sich an einer Säule ab und noch mit dem Blut des eben gestorbenen Kommandeurs auf ihren Sekundenzeigern raste sie auf Lycram zu, der sich eben erst herumgewandt hatte. Wieder waren Kairas Sekundenzeiger auf den Torso eines Dämonen gerichtet; zielgenau waren sie, erbarmungslos treffen würden sie und dann hätten sie einen Fürsten weniger---
Und dann riss etwas Lycram von den Füßen; er stürzte und Kaira, die zum Sprung angesetzt hatte, sauste samt ihrer tödlichen Waffe genau über seinen Kopf hinweg.
Stoßweiße atmend, noch nicht schwächelnd, wirbelte Kaira herum, um zu sehen, was sie daran gehindert hatte, einen Fürsten umzubringen – und erblickte einen anderen Fürsten, nämlich Azzazello, der sich schützend vor seinen Bruder gestellt hatte und ihn mit seinen Fäden zu Fall gebracht hatte.
„Du hast mir offensichtlich öfter zugehört, als ich dachte, Lycram – oder war es Zufall, dass die Kugeln für die Barrieren alle zerstört waren und ich so zu dir gelangen konnte?“
„Wenn du gerade versuchst wie der coole, große, rettende Bruder rüberzukommen, scheiterst du aber, Azzazello!“ Lycram schlug die Hilfe seines Bruders aus, der ihm hatte aufhelfen wollen und versuchte trotz allem, vor seinen Dämonen eine gute Figur zu machen, denen erst jetzt wirklich bewusst wurde, dass Kaira gerade ihren Kommandeur umgebracht hatte – es war alles so schnell gegangen, dass sie auch nicht gesehen hatten, wie Azzazellos Fäden Lycram zu Fall gebracht hatten, was wahrscheinlich auch besser gewesen war für dessen Ego.
„Diese Schlampe hat es verdammt drauf“, fuhr Lycram fort und versuchte, sein angekratztes Ego hinter einem Grinsen zu verbergen, während er sich neben Azzazello stellte, darauf bedacht, ein wenig weiter vorne zu stehen als er, obwohl sein Bruder nicht verletzt zu sein schien:
„Wir können sie aber ruhig teilen und zusammen kämpfen wie in guten alten Tagen, wenn du noch mit mir mithalten kannst!“
„Lycram“, begann Azzazello und versuchte, nicht zu tadelnd zu klingen, sondern so, als würde er seine Kampffreude natürlich teilen, während er Kaira im Auge behielt, die Azura aufpäppelte, die zusammengebrochen war, nachdem Pelagius sie von der Säule geholt hatte:
„Du bist verletzt; du kannst beide Hände nicht mehr benutzen und du hast deinen ersten Kommandeur verloren. Außerdem habe ich gehört, dass die Wächter den Kampfort zu uns nach Hause verlegen wollen – also lass uns zurückkehren, solange die Barrieren zerstört sind und uns neu sammeln.“ Natürlich wollte Lycram Azzazello widersprechen, doch er tat es nicht – er sah sich um, bemerkte dann auch, dass die beiden Rotschöpfe, die er zum Zerstören der Barriere geschickt hatte, wiedergekehrt waren und richtete sich dann kurz und knapp an seine Horde:
„Die Wächter wollen bei uns kämpfen, also heißen wir sie doch bei uns willkommen; Rückzug!“
In Min Intarsier überblickte Seigi eher missgelaunt an der Seite von Shitaya die Lage unter sich. Sie hatten - wie Hizashi es ihnen befohlen hatte - den Teleportationspunkt genommen, der im Südosten der Insel lag, ein Teleportationspunkt, der dem Lazarett Min Intarsiers am nächsten lag, doch auch hier hatte der Noxzauber die Arbeit größtenteils lahmgelegt. Jene Insel lag höher als die anderen, weshalb sie einen perfekten Blick hatten auf das zerstörerische Chaos.
„Wie schrecklich“, raunte Shitaya bestürzt in die schwarze Dunkelheit hinein, doch Seigi zuckte nur unberührt die Schultern, als würde ihn das Ganze nichts angehen. Auch als Shitaya laut darüber nachdachte, welche Flanke sie zuerst nehmen sollten, reagierte Seigi so, als würde es nicht von ihm abhängen:
„Mach, was du willst, Kleiner.“ Shitaya war ein wenig überrascht, so betitelt zu werden; zum einen war Seigi jünger als er und zum anderen auch noch ein paar Zentimeter kleiner. Doch natürlich sagte Shitaya nichts, sondern begnügte sich damit, Seigi verwirrt hinterherzusehen, nachdem dieser ihm einen Klaps auf den Rücken gegeben hatte und nun einige Schritte vorwärtsging.
„Ich überlasse alles dir – und ich kümmerte mich um den Fürsten.“ Shitaya sah ihn verwirrt an, denn er hatte von den Hikari den Befehl bekommen, mit Seigi zusammenzuarbeiten und nicht das alleinige Kommando zu erhalten, doch bevor er dies sagen konnte, sah der Hikari über seine Schulter zu ihm zurück und sagte:
„Aber sag den Wächtern, die uns noch hören können, sofort, dass sie die Finger von dem Fürsten lassen sollen. Der gehört immerhin mir.“ Seigis Ruf war allen bekannt; Shitaya natürlich auch und so war er so klug, sofort die Frequenz seines Kommunikationsgerätes zu ändern und allen Wächtern, die, wie Seigi es schon passend ausgedrückt hatte, sie noch hören konnten, zu warnen, dass Seigi unterwegs war – mit Betonung darauf, dass sie ihm lieber nicht im Weg stehen sollten.
Doch obwohl dem Offizier der Ruf Seigis bewusst war, stockte ihm mitten in seiner Mitteilung der Atem, als Seigi wählte, nicht die vielen Treppenstufen herunterzurennen, sondern Anlauf nahm und wie ein Adler heruntersprang.
Die Kommandozentrale des Tempels fand langsam aber sicher zurück zu altem Glanz bezüglich ihrer Funktionalität. Zwei der insgesamt sechs einmal eins großen Wandbildschirme zeigten die momentanen Kriegshandlungen auf Sanctu Ele’saces, denn sämtliche Kommunikationsgeräte waren mit einer Kopfkamera ausgestattet, welche nun fleißig die aktuellen Kampfgegebenheiten auf zwei von den großen Bildschirmen projizierten, auf denen jedes Bild um die 20 Sekunden lang zu sehen war, ehe es von einem anderen ersetzt wurde. Einige der Aufnahmen zeugten von Sieg, andere von Hoffnung, andere von Verzweiflung oder Niederlage; andere waren blutbefleckt und anhand des Winkels war es deutlich, dass sie zu gefallenen Wächtern gehörten. Gleich unter diesem Bildschirm rechnete einer der Computer beständig aus, wie viele Wächter bereits gefallen waren. Dies konnte allerdings nur anhand derer berechnet werden, die mit einem Kommunikationsgerät ausgerüstet waren, denn dieses Gerät konnte feststellen, ob die Gehirnaktivität bei null war, was den Tod bedeutete. Daher war die Zahl auch nicht hundertprozentig akkurat, denn die, die kein solches Gerät trugen, wurden so nicht miteinbezogen in die Rechnung. Momentan lag die Zahl bei 389, doch Adir, welcher sehr auf die Zahl und die Aufnahmen achtete, rechnete damit, dass es weitaus mehr Tote waren.
Eine Videoübertragung zu seiner rechten unterbrach Adirs Gedankengänge und er wandte den Kopf, wo er Aores‘ ernstes Gesicht erkennen konnte, der sein Wort an Hizashi, Shaginai und ihn richtete:
„Im Sanctuarian ist die Lage zum momentanen Zeitpunkt stabil; ich habe mir daher erlaubt, einige meiner Ärzte in das Lazarett Min Intarsiers zu schicken – natürlich mit den nötigen Mitteln ausgerüstet, um nicht den Wahnvorstellungen zum Opfer zu fallen.“
„Eine gute Wahl“, antwortete Adir mit einem freundlichen, doch angespannten Lächeln, denn er war nicht nur mit Aores zufrieden, sondern auch mit der Anzahl der Dämonen auf Sanctu Ele’saces – diese Zahl sank nämlich und es schien ganz so, als würde sich die Lage auf dieser so wichtigen Insel stabilisieren.
„Es scheint ganz so, dass unsere Verschleierungstaktik Wirkung zeigt“, raunte Adir Shaginai zu, denn sie waren nicht mehr alleine und Tinami längst nicht mehr die einzige Klimawächterin im Raum – rund 20 andere ihres Elementes hatten sich auf einer niedriger gelegenen Etage eingefunden, die direkt mittels ein paar nach unten führenden Treppenstufen mit der Kommandozentrale verbunden war. Dort unten, jeder mit seinem eigenen Computer versehen, saßen die Klimawächter jeweils auf einem Drehstuhl und koordinierten die Magieentladungen ihrer kämpfenden Mitwächter, damit das ausgeklügelte Kriegssystem der Wächter funktionierte.
„Es war eine gute Idee von dir, die Gensou als Dämonen getarnt das Gerücht verbreiten zu lassen, wir würden einen Gegenangriff gegen Henel planen. Die Dämonen scheinen darauf reinzufallen und ziehen sich offensichtlich in heller Vorfreude zurück, obwohl die Barrieren zerstört sind.“
„Verschleierungstaktik?“, wiederholte Shaginai, Adir nicht ansehend, sondern stets die Bildschirme im Blick habend:
„Warum nennst du es so? Ich dachte eigentlich, wir Hikari würden nicht lügen dürfen?“ Adir hatte auch die Bildschirme angesehen, doch nun wirbelte er verwirrt zu Shaginai herum, den er lächeln sah.
„Was … was willst du denn damit sagen, Shaginai?“
„Shaginai-san.“ Das Gespräch der beiden Hikari wurde von Hizashi unterbrochen, doch es war nicht er, der ein Anliegen hatte, sondern Tinami, die allerdings nicht befugt war, ein Gespräch von zwei Hikari zu unterbrechen. Als sie jedoch die Aufmerksamkeit Shaginais hatte, erhob sie sich aus ihrem Stuhl, verbeugte sich kurz vor ihm und begann dann:
„Wenn Ihr es mir genehmigt, würde ich gerne dem Heerführer des Bataillons Parrasion, Saiyon-san, den Befehl geben, Ilang-san zu suchen und zu unterstützen.“ Die Stahlaugen Shaginais verengten sich und seine Körpersprache passte sich der Bedrohlichkeit der Augen an und sofort schrumpfte Tinami ein wenig.
„Weshalb? Hatten Sie nicht vor einer Stunde ein ähnliches Ersuch und wurde da nicht bereits dem zweiten Heerführer des Bataillons Lerrasion der Befehl gegeben, der Naturwächterin zur Hilfe zu eilen?“
„Doch, das ist richtig“, antwortete Tinami und beugte kurz den Kopf, um das Herunterschlucken ihres Kloßes zu verbergen:
„Nur befürchte ich, dass diese Hilfe nicht ausreichen könnte.“
„Warum benötigt eine Elementarwächterin der Natur so viel Aufsehen?“, fragte Shaginai unwirsch, denn natürlich war es ihm egal, ob die Naturwächterin, über die sie sprachen, die Verlobte seines verstorbenen Enkels war; dadurch erhielt sie bei ihm keine Begünstigungen. Als Tinami jedoch antwortete, schwieg er doch kurz:
„Weil sie schwanger ist. Sie trägt das Kind Greys in sich.“ Nur kurz schwieg Shaginai verblüfft, genau wie Adir, der über diese Nachricht erfreut schien, dann nahmen seine Augen wieder die gewohnte Härte an.
„Es spielt absolut keine Rolle, dass sie mit meinem Urenkel schwanger ist!“ Ohne Tinami weitere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte er sich ab, nahm eines der Funkgeräte und sagte bestimmt:
„Absolut keine schwangere Frau hat auf dem Schlachtfeld etwas zu suchen.“
Ein Ecience-Körper war schon etwas Feines. Einen Hikari wie Seigi machte es zu einer erbarmungslosen Tötungsmaschine: einer, die nicht gestoppt werden konnte. Von nichts und niemandem. Belanglose Dinge wie Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Schmerz oder Zögern: All dies war Seigi seit seinem Tod fremd. Er war nichts außer einer leeren Hülle; keine Organe belebten seinen Körper, keine Knochen waren nötig, um ihn zu bewegen. Das einzige Manko, das sein Ecience-Körper aufwies, war leider die Tatsache, dass er zu seinen Lebzeiten nicht genug Lichtmagie besessen hatte und er somit nicht viel Zeit in diesem Zustand verbringen konnte. Wenn er nicht kämpfte, gönnte ihm der Ecience-Körper zwei Stunden im Diesseits. Kämpfte Seigi allerdings … war die Zeit um einiges kürzer; ganz darauf ankommend, wie viel Magie der Ecience-Körper benötigte, um verletzte Stellen wieder auszubessern.
Ach, hätte er doch nur einen Magiespeicher wie White!
Aber egal, mit solchen Gedanken würde Seigi sich nicht den Spaß verderben lassen.
„Elly?“ Nur wenige Sekunden musste Seigi auf die Antwort seiner Frau warten, ehe er sie vernahm:
„Ja?“ Neben ihm tauchte das nie alternde Gesicht Elisabeths auf, in deren Augen Gewissheit darüber lag, was nun geschehen würde. Sie genoss das Kämpfen nicht. Aber sie genoss es, an seiner Seite zu sein.
„Bist du bereit? Du wirst sicherlich wieder schmutzig.“
„Das macht nichts. Machen wir uns gemeinsam schmutzig.“ Seigi grinste, als sie dies sagte, und machte sich bereit, Anlauf zu nehmen. Doch ehe er zum Sprung ansetzen konnte, unterbrach ihn Elisabeth:
„Du kannst auch die Treppe nehmen; wie jeder andere Wächter auch, Seiji.“ Wenn möglich wurde das Grinsen auf Seigis Gesicht noch breiter, ehe seine Füße sich zu bewegen begannen:
„Wieso!? Man muss doch die Vorzüge des Todes zu nutzen wissen!“ Und schon sprang der Tausendtöter vom Rand der Insel herunter und als könnte Elisabeth nicht schweben, schlang sie genau in dem Moment, in dem Seigis Füße den festen Boden verließen, die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn, während der Tausendtöter in freudiger Erwartung dem mehr als 200 Meter entfernten Boden entgegenfieberte.
Noch während er sich dem Boden in rasender Geschwindigkeit näherte, zog er ein völlig normal aussehendes Schwert aus dessen Schwertscheide heraus, welches erst, als Elisabeth ihre Arme um dieses legte, die Form änderte und zu dem Schwert wurde, mit dem Seigi berühmt und berüchtigt geworden war.
Genau in dem Moment, als Seigi in einem flachen Teich landete – ein Sturz, bei dem sich jeder normale Wächter sämtliche Knochen gebrochen hätte, welcher ihm jedoch nichts anhaben konnte – breiteten sich die weißen, teils zerbrochenen Flügel des Schwertes aus. Doch Seigi achtete nicht darauf, sondern nur auf die verschiedenen Wesen, die vor ihm standen und ihn schockiert ansahen, nachdem er so urplötzlich vom Himmel gefallen war.
Seigi festigte den Griff um sein Schwert und sagte breit grinsend mehr an Elisabeth gerichtet als an seine Opfer:
„Game start!“
Und das kleine Lämpchen des in seinem Haar platzierten Alarmsystems sprang sofort auf Rot.
Die Hikari in der Kommandozentrale des Tempels bemerkten dies sofort, denn der Computer machte sie umgehend darauf aufmerksam. Anstatt jedoch darüber bestürzt zu sein, lehnte sich Hizashi ruhig in seinem Drehstuhl nach vorne und mit eben dieser Ruhe sprach er auch in sein Mikrofon, während er, genau wie Shaginai und Adir, die Videoübertragung von Seigis Kommunikationsgerät im Auge behielt.
„Seigi, kannst du mich hören? Hizashi hier.“
„Klar und – einen Augenblick – deutlich!“ Die weißen Augen Hizashis glitten von der Videoübertragung zu einem Lageplan Min Intarsiers. Mittels ein paar Tastenkombinationen markierte Hizashi einen der schwarzen Punkte und der Computer zeigte die Akte des Fürsten, welchen Seigi eliminieren sollte.
„Zur Wiederholung: Dein Ziel ist „der rote“ Akai, Fürst des achten Gebietes von Henel. Seine Schnelligkeit ist nicht zu unterschätzen; ansonsten keine Werte von sonderlicher Bedeutung. Er befindet sich 856 Meter südwestlich von dir, Tendenz weiter steigend. Nachdem Azzazello das Chaos auf der Insel ausgenutzt und die Barriere zerstört hat, ist sie nun zwar wieder errichtet worden, weshalb er nicht in seine Welt fliehen kann, aber jede weitere Sekunde unter dem Einfluss seines Noxzaubers ist fatal!“
„Roger!“ Nun beugte sich Shaginai vor und übernahm das Wort:
„Vernichte aber dennoch jeden Dämon auf deinem Weg, Seigi!“ Obwohl sie Seigis Gesicht nicht sehen konnten, sondern nur das seiner Opfer, war das Grinsen Seigis beinahe fühlbar, als er antwortete:
„Aber natürlich! Wie sagt man so schön – nur in ihrer Auflösung zeigen Dämonen Schönheit!“
Tinami hörte diesem Gespräch nur mit halbem Ohr zu; sie hatte überraschend eine Textnachricht erhalten und als die Klimawächterin las, dass der Absender Kaira war, vergaß sie kurz alles um sich herum. Tinami hatte keine Zeit gehabt, Aufnahmen der Kämpfenden zu verfolgen, hatte aber immer die Liste mit den verstorbenen Wächtern im Auge behalten, weshalb ihr klar war, dass es Kaira gut ging und deswegen war sie überrascht, eine Textnachricht von ihr auf ihrem Privathandy zu erhalten. Doch sie wusste, was es zu bedeuten hatte; es war etwas, was nur Tinami hören durfte, ansonsten hätte Kaira sie auch per Funk erreichen können.
Die Hikari waren zum Glück alle mit Seigi beschäftigt, weshalb es niemandem auffiel, wie Tinami ihr Handy aufklappte und auch nicht, wie ihr Gesichtsausdruck mit jedem weiteren gelesenen Wort entgleiste:
„Azura wurde beinahe von Lycram vergewaltigt. Es geht ihr gut. Sie will nicht, dass es jemand erfährt. Azuras und Pelagius KGs haben aufgenommen. Lösch die Aufnahmen.“
Tinami las diese Worte immer und immer wieder, und immer wieder blieben ihre Augen an einem einzigen Wort hängen. Ihre Schwester … ihre kleine, niedliche, immer so erwachsen tuende Schwester …
Und als wollte sie das Schicksal oder der pure Zufall verspotten, kam genau in diesem Moment eine der beiden Aufnahmen neben ihr über den Bildschirm geflimmert – es musste Pelagius‘ Aufnahme sein, denn sie konnte Azura sehen. Von Weitem. Verwackelt, weil Pelagius so oft ausweichen musste, doch immer wieder versuchte, zu ihr zu gelangen, immer wieder hinsah, genau wie Tinami jetzt hinsah und Azuras starren Blick sah, als sie realisierte, was der Dämon mit ihr vorhatte … dass er sie anbot wie ein Stück Fleisch. Und schon war die Aufnahme weg, ersetzt von einer anderen, nicht weniger schrecklichen Aufnahme.
Und alles, was Tinami tun konnte, war, sie zu löschen. Eine simple Tastenkombination. Das war alles, was sie für ihre Schwester tun konnte.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so schlecht gefühlt.
Seigi fühlte sich großartig. Er war vollkommen berauscht davon, wieder auf dem Schlachtfeld zu sein. Die Pein und das Leid, den Schrecken und die Trauer, die andere Wächter in diesem Moment zu fühlen vermochten, spürte er nicht. Gefühle dieserlei waren ihm fremd, denn in diesem Moment zählte nur eins: kämpfen. Das Schwert zu schwingen, um zu töten.
Es war lange her, dass er in den Kampf geschickt worden war; der Einsatz, der Greens Leben hätte beenden sollen, war sein letzter gewesen. Zu Zeiten des Siegels gab es keine Dämonen, die Seigis Können erfordert hätten und daher hatte sein treues Schwert tatenlos in dessen Scheide geruht. Nun war es, als wäre er endlich wiedergeboren. Er war wieder auf dem Schlachtfeld, zusammen mit Elisabeth. Das spritzende rote Blut; die Klinge, die das verdammte Fleisch zerschnitt; das war ihre Trauung und das Schlachtfeld ihre Kirche.
Elisabeth teilte die brutale Zerstörungsfreude ihres Gatten nicht; alles andere als das. Dennoch unterstützte sie ihn seit ihrem Tod im wahrsten Sinne mit Leib und Seele. Dies tat sie nicht nur aus Liebe zu ihm, sondern auch aufgrund der Überzeugung, dass das Böse bekämpft werden musste – das Böse in Form von Dämonen. Die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben mit den Dämonen gemacht hatte, hatten sie davon überzeugt, dass sie ausgelöscht gehörten: der Tod Safiyas und die Besessenheit Seigis hatten sie davon überzeugt, dass sie Seigi unterstützen musste und in den vielen Jahren, Jahrhunderten, hatte sie ihre Gräuel gegen das Töten schon längst überwunden – in den Augen Seigis jedoch war sie noch genauso unschuldig wie an dem Tag, als er sie kennengelernt hatte.
Elisabeth mischte sich wie gewöhnlich nicht in die eigentlichen Kampfhandlungen ein: Seigi war sehr wohl in der Lage, seine Feinde alleine niederzustrecken. Sobald Seigi das Schwert gezogen hatte, war Elisabeth nichts anderes als eine stumme Unterstützung: eine, seine, Waffe.
Mühelos schnitt Seigi durch die Dämonen, wobei er nicht einmal darauf achtete, ob er selbst getroffen wurde. Schmerzen waren ihm fremd. Sollten sie doch sein rechtes Bein abreißen, es kam in Sekundenschnelle wieder und Seigi hatte schon lange gelernt, drei Sekunden lang auf ein Bein zu verzichten: ein Bein war vollkommen ausreichend, um den frechen und übermütigen Dämonen mit einer geschwinden Drehung in zwei zu teilen und wenn Seigi zum Stillstand kam, rannte er sofort weiter; wieder mit zwei Beinen. Eine Hand verlor er, seinen linken Arm, manchmal auch seinen rechten Arm: Doch er war beidhändig und ließ sich auch davon nicht abbringen. Die verzweifelten Taten der Dämonen amüsierten ihn, die Wächter, die ihn überrascht ansehen konnten, weil sie nicht dem Noxzauber anheimgefallen waren und in weiser Voraussicht Seigi weiträumig auswichen, andere Wächter, die in ihren Wahnvorstellungen versunken waren oder schlicht weg nicht schnell genug gehandelt hatten, wurden von Seigi als Sprungbrett zweckentfremdet – oder aus dem Weg gestoßen, denn Seigi hatte schon lange gelernt, Wächter nicht zu verletzen; zu oft hatte er dafür Ärger kassiert.
„Seigi! Nur noch 129 Meter!“
„Habe Sichtkontakt!“ Auf der Verfolgung nach Akai war Seigi nun nahe an den Rand der Insel angekommen, wo er nun seine Schritte verlangsamt hatte. Offensichtlich hatte Akai bereits Wind davon bekommen, dass der Tausendtöter sich auf Min Intarsier befand und man musste nicht besonders intelligent sein um als Fürst zu wissen, nach wem Seigis Klinge gierte – besonders wenn man Urheber eines so umfassenden Zaubers war. Akai war für seine Überheblichkeit bekannt, die ihm im letzten Krieg den Beinamen „der Rote“ gegeben hatte, doch Gerüchten zufolge hatte er sich diese Erfolge nicht selbst verdient, sondern er war ihm regelrecht in die Hände gefallen.
In dem Moment, als er von Seigi an den Rand der Insel getrieben worden war und es so schien, als wolle er sich ein Beispiel an Azzazello machen, bemerkten seine Untertanen, die dank der Gerüchte und der überaus egoistischen Regierung Akais sowieso nicht besonders begeistert von ihrem Fürsten waren, dass er auch noch eine andere Charaktereigenschaft besaß: Feigheit.
Doch Akai hatte seine Feigheit zu spät entdeckt, denn die Barriere Min Intarsiers war wieder intakt, die Kugeln wurden von Wächtern beschützt und so blieb der Fürst erstarrt stehen; wenige Meter vor dem Schutzwall, der ihm dem Weg in die Freiheit versperrte.
Er hörte Seigis Schritte hinter sich und ihm rann der Schweiß von der Stirn, der sich mit seinen roten Haaren verband, die wie eine Fackel in der Nacht leuchteten. Plötzlich, als wären sämtliche Kampfhandlungen auf Min Intarsier zum Stillstand gekommen, war wieder absolute Ruhe eingekehrt – oder versagten seine Ohren ihm den Dienst? Das einzige, was er hörte, war sein eigener Atem, der ihm stockte, als er sich herum wandte und seinem Mörder entgegenblickte, der ruhig, mit gesenktem Schwert auf ihn zuging.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, ohne dem leuchtenden Loch in seiner Brust Beachtung zu schenken, welches sich gerade wieder füllte, schritt er unbeirrt auf Akai zu. Dieser wusste natürlich, dass es keinen Sinn hatte, einen toten Hikari angreifen zu wollen, dennoch öffnete sich sein Mund und mit Wut erhob er seine Stimme:
„Verdammt nochmal, worauf wartet ihr Idioten denn!?“ Sein Wort war an seine Untertanen um ihn herum gerichtet, die bis jetzt noch nicht gehandelt hatten. Aufmerksam besahen die roten und gelben Augen die Situation, sahen von Akai zu Seigi und wieder zurück. Abwartend.
„Greift gefälligst an! Haltet ihn auf!“ Noch mitten in seinen erbosten Worte, stockte Akai der Atem, denn seine Untertanen taten genau das Gegenteil: Sie entfernten sich, machten Seigi Platz, so dass er ungehindert auf Akai zustürmen konnte. Der Fürst schien nicht glauben zu können, was passierte, denn sein Gesicht war eine Maske der Ungläubigkeit. Doch schnell verwandelte sich diese in blanke Wut und als würde er Seigi nicht bemerken, der langsam sein Schwert hob, erhob Akai noch einmal seine Stimme:
„Ihr verdammten Hurensöhne! Ihr habt es keine einzige Sekunde verdient, mich als Fürsten zu haben! Keine einzige Sekunde! Dreck seid ihr, nichts als Dreck! Nirgends …“
„Silence, please. Your garbage is killing my ears![1]“ Akai stockte der Atem und das Entsetzen kehrte zurück; es wahrte jedoch nur wenige Sekunden.
Seigi hatte ausgeholt; er setzte zum Lauf an, das Schwert durchschnitt die kühle Abendluft und das letzte, was Akai sah, war das dämonische Grinsen Seigis, als er seine teure Klinge durch den geöffneten Mund des Fürsten stieß.
Seigis triumphierende Lache erhellte die Nacht; ein Lachen, welches nicht nur jedem Dämon Angst und bange werden ließ, sondern auch den umstehenden Wächtern, die mit ansahen, wie das Blut wie eine sprudelnde Fontäne aus dem Rachen des Fürsten schoss und Seigi in But badete, ehe der Tausendtöter sein Schwert wieder senkrecht aus dem Kopf herausstieß und dem auflösenden Dämon einen Tritt gegen den Torso gab, womit er gegen die Barriere Min Intarsiers prallte und innerhalb von nur wenigen Sekunden komplett pulverisiert wurde.
Seigi lachte immer noch, als er sich schwungvoll von dem blutigen See abwandte und die nächsten Dämonen gierig anstierte. Seine Kleidung, sein Gesicht, seine Haare, waren in blutiges Rot getaucht, doch sein Grinsen war deutlich zu erkennen, welches sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte, nachdem sein Lachen endlich verklungen war.
„So, wer ist jetzt „der Rote“, huh!?“
Auch die Hikari hatten den Tod Akais auf einem der Bildschirme verfolgt; bis sich das Bild nach dem Stoß Seigis und der darauffolgenden Blutfontäne rot gefärbt hatte, da die Kamera mit Blut besudelt worden war. Keiner der anwesenden Hikari zeigte sich darüber besonders geschockt, aber auch nicht sonderlich erfreut. Sie wussten schon, warum sie Seigi ungern einsetzten.
Kaum dass Seigis Lachen verklungen war, hatte Shaginai bereits zum Mikrofon gegriffen und ihm befohlen, er solle sich wieder auf den Weg zurück machen: aber auf dem Weg so viele Dämonen in den Tod reißen wie möglich. Während Shaginai sich bereits Gedanken darum machte, wie und wann sie den Gegenangriff ausführen sollten, gewann einer der hintersten Bildschirme plötzlich Hizashis Aufmerksamkeit für sich. Dieser Bildschirm war bis jetzt außer Acht gelassen worden, denn er zeigte eine Karte von der Erde - und da dort bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Dämonen eingefallen waren, hatte man diesem Bildschirm keine Beachtung geschenkt. Doch just in dem Augenblick, als Hizashi sich herumwandte, leuchteten zwei kleine schwarze Punkte über Europa auf. Der Hikari des Wissens richtete sich unbemerkt auf und ließ seine Finger über die sich darunter befindende Tastatur gleiten, doch das Resultat gefiel ihm nicht, denn der Computer teilte ihm mit, dass keiner der beiden Punkte, welche sich nordöstlich in Richtung der russischen Grenze bewegten, einen Eintrag im System besaß; obendrein konnte der Computer auch die Rasse des einen Dämons nicht herausfinden – jedoch von dem anderen.
„Adir-san, Shaginai-san, sehen Sie sich das hier an.“ Sofort standen beide Hikari neben Hizashi und sahen auf den Bildschirm, wo nun plötzlich die Übertragung von dem Kommunikationsgerät Whites angezeigt wurde samt ihrer Position. Einen Moment schwiegen sie alle drei, als sie gebannt Whites Kampf gegen Nocturn verfolgten.
„Wie ist es den Dämonen nur gelungen, ihn wiederzubeleben?“, fragte Adir nachdenklich und stellte eine weitere Frage:
„Und vor allen Dingen verstehe ich nicht, warum sie das getan haben. Für die Fürsten ist er doch nur ein unliebsames Hindernis?“
„Fragen, deren Antworten momentan zweitrangig sind, Adir“, entgegnete Shaginai, doch in seinem Tonfall war deutlich zu vernehmen, dass es ihn auch brennend interessierte, genau wie die Frage, warum White die Kampfhandlungen plötzlich eingestellt hatte und ganz anscheinend mit diesem Dämon redete.
„Hizashi-san, könnten Sie bitte den Ton einschalten, damit wir dieses absonderliche Gespräch mit anhören können?“, fragte der stolze Hikari, doch Hizashi schüttelte den Kopf und antwortete:
„Leider nicht. Das Gerät scheint beschädigt zu sein. Eine Übertragung des Tones ist daher ein Ding der Unmöglichkeit.“ Dieses Faktum war allerdings nicht das einzige, was Hizashi in diesem Moment störte, denn wieder einmal, genau wie vor 18 Jahren, gelang es seinem Computer nicht, Nocturns Aura zu analysieren. Hizashi wusste, warum: weil er keine besaß. Aber genau das war es, was ihn störte. Es war schlichtweg unmöglich für ein magisches Wesen keine Aura zu besitzen, warum also besaß er keine? Hizashi besaß eine ähnliche Einstellung wie Karou, was offene Fragen anging: Er verabscheute sie.
„Doch das ist auch nicht der Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe“, erklärte Hizashi und machte einen Wink auf die beiden schwarzen Punkte, wo der Computer bei einem ein leeres schwarzes Feld anzeigte, doch bei dem anderen ein paar Daten gesammelt hatte: Alles bis auf die Identität war ausgefüllt.
„Bei dem Dämon, der nicht analysiert werden kann, handelt es sich um Youma. Denn die einzige Rasse, die sich nicht im System befindet, ist die Rasse der Yami, da ein solches Wesen seit dem Bestehen unseres Systems nicht existierte.“
„Scheinbar bewegt Youma sich auf White-san und ihren Kontrahenten zu“, fügte Adir hinzu, während Shaginai weiterhin missgestimmt auf die Übertragung starrte und die Frage, was ein Hikari und ein Dämon so eifrig zu bereden hatten, stand ihm förmlich in sein grimmiges Gesicht gemeißelt.
„Offensichtlich“, antwortete Hizashi und machte auf den anderen Punkt aufmerksam und mit einer Tastenkombination wurde die Rasse des Dämons rot untermalt, was Adirs und auch Shaginais Aufmerksamkeit auffing:
„Eine Lunatica?“, fragte Shaginai erstaunt und Adir fügte hinzu:
„Aber sind diese nicht schon in Shaginais Generation ausgestorben?“ Hizashi richtete sein Monokel mit einem Räuspern, ehe seine Finger sich wieder der Tastatur zuwandten und diese seine darauffolgenden Worte visuell unterstrich:
„Die Lunatika sind ein fehlgeschlagenes Genprojekt aus dem Jahre 1911; ein Genprojekt bestehend aus rund 200 Exemplaren, die, wie Adir-san richtig angenommen hat, alle ausgestorben sind, da sie, wie bereits gesagt, misslungen sind. Es könnte selbstverständlich ein Fehler des Computers sein …“ Hizashi lachte leise in sich hinein, um zu untermauern, dass dies wohl kaum der Fall sein würde, und fuhr fort:
„Doch müssen wir annehmen, dass es sich bei dieser Dämonin um ein solches Exemplar handelt. Die Gründe für ihre Existenz kann ich mir zum gegebenen Zeitpunkt nicht erklären, doch wenn meine Berechnungen der Wahrheit entsprechen, dann halte ich es für ratsamer, wenn Sie beide White-sama zur Unterstützung eilen.“
[1] Übersetzung aus dem Englischen: „Sei still. Dein Müll tötet meine Ohren!“
Aber wenn der nächste Krieg begonnen hatte, bedeutete das auch, dass Green ihre Hilfe benötigte – war das die Ursache für das konstante ungute Gefühl in ihr, das sie schon die ganze Zeit zur Rückkehr gedrängt hatte?
„Ich wusste, dass ich mich nicht geirrt hatte.“ Silence wirbelte herum, als sie diese ihr wohlbekannte Stimme hörte, und sah Youma einige Meter von ihr entfernt am Ende der Gasse stehen, in der einen Hand seine geschulterte Sense, die andere in seine Hüfte gestemmt. Sein Gesicht war ernst, doch als Silence sich herumwandte und ihn ansah, konnte er ein erfreutes Lächeln nicht unterdrücken.
„Mein Gespür täuscht mich eben nicht; ich würde meinen Zwilling überall finden. Ich habe dich sofort gespürt, als ich diese Welt betrat. Lange nicht gesehen, Silenci.“
„Ich habe keine Zeit für dich, Youma“, antwortete Silence kalt auf seine warme Begrüßung und erntete sich zufrieden die Enttäuschung Youmas, der kurz eingeschnappt wirkte.
„Gut, anscheinend teilst du meine Wiedersehensfreude nicht. Aber vielleicht kannst du mir ja helfen; deinem Verlobten einen kleinen Gefallen tun.“
„Wir sind nicht mehr verlobt.“ Der Angesprochene hob galant seine rechte Hand, an dessen Ringfinger der Verlobungsring glänzte.
„Solange wir beide unsere Ringe tragen, die eben dieses Band bezeugen, sind wir es.“ Silence ballte eben diese Hand zur Faust, an der auch sie den genannten Ring trug, doch wählte nicht darauf einzugehen und genauso wenig zu erwähnen, dass sie ihn nur noch trug, weil sie als Seele nicht in der Lage war, einen Gegenstand abzulegen, mit dem sie gestorben war. Stattdessen fragte sie ihn, um was für einen Gefallen es sich handelte, denn es interessierte sie schon, wofür er die Hilfe einer Untoten benötigte.
„Ich möchte, dass du mich zu deinem Medium bringst.“ Fragend hob Silence die Augenbraue und antwortete skeptisch:
„Ach, du willst zu Green? Weshalb? Sowieso, wieso sollte ich dich zu ihr bringen, wo ich doch weiß, dass du eine Gefahr für sie bist?“
„Du wirst mich zu ihr bringen, Silence. Ob du willst oder nicht.“ Ein spöttisches Lächeln konnte Silence nicht zurückhalten, obwohl ihre Antwort eher tragisch war:
„Und mit was willst du mir drohen? Willst du mich noch einmal umbringen?“ Es war ein Jahr vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten und damals wie jetzt schien es ein Tabuthema für Youma zu sein. Mit Reue im Blick wandte ihr Zwilling sich ab, konnte ihrem Blick nicht standhalten und wirkte plötzlich alles andere als selbstbewusst. Silence konnte es sich nicht erklären, doch sie mochte diesen Anblick nicht, obwohl er ihr eigentlich Genugtuung geben sollte.
„Ich suche jemanden“, fuhr Youma nach einer Weile mit gedämpfter Stimme fort, doch sie weiterhin nicht anschauend.
„… und ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich bei deinem Medium aufhält. Die Aura der Hikari ist allerdings momentan nicht auffindbar, wahrscheinlich ist sie mit einem Ingnix ausgerüstet; doch du findest dein Medium sicherlich auch ohne ihre Aura zu spüren.“
„Ja, da hast du nicht unrecht, doch warum orientierst du dich nicht an der Aura der Person, die du suchst?“
„Weil er keine hat.“ Youma sah wieder auf und bemerkte sofort, dass Silence seinen Gedanken folgen konnte; dass sie ihn sofort verstanden hatte. Sie öffnete den Mund, doch schien sich anders zu entscheiden, besann sich und sprach dann erst:
„Bedeutet das, dass Green momentan mit Nocturn alleine ist?!“
„Ja, genau dies bedeutet es – und deswegen kann ich mir auch sicher sein, dass du mich so oder so zu ihm bringen wirst, denn wenn du dein Medium retten willst, dann musst du ohne Umschweife zu ihr gelangen.“
„Sag mal bist du völlig von Sinnen?! Wie kommst du darauf, so einen Irren wiederzubeleben?! Wie ist dir das überhaupt gelungen, ohne seine Leiche zu haben?!“
„Vielleicht sollten wir uns lieber beeilen, Silenci, anstatt solche Details zu bere-“
„Du antwortest mir gefälligst auf der Stelle!“ Diese geschrienen Worte brachten Youma umgehend zum Schweigen, denn seit seiner Kindheit war es in ihm verankert, dass er sich Silence‘ Wut beugen musste; wenn sie wütend war, tat man besser, was sie von einem verlangte. Zwar konnte Silence ihm mit nichts drohen, doch der Respekt vor ihrer Wut war zu tief in ihm verankert, als dass er sich nicht von ihr eingeschüchtert fühlte.
„Ich … brauchte seine Leiche nicht. Der Bannkreis war vollkommen ausreichend, denn in diesem war die Macht Nocturns unversehrt enthalten, welche mir als Fundament dienlich war und dazu führte, dass die Wiederbelebung ohne Komplikationen vonstattenging. Mit seiner Wiederbelebung beschädigte ich gleichzeitig den Bannkreis.“
„Verstehe. Du solltest Nocturn also für die Fürsten wiederbeleben, damit der Bannkreis bricht. Zwar mögen sie ihn nicht, aber das haben sie dann wohl in Kauf genommen.“
„Für die Fürsten? Du glaubst, dass ich mit diesem Haufen Schwachköpfe gemeinsame Sache mache? Nein, Silence, da muss ich dich enttäuschen. Ich arbeite nicht für die Fürsten. Ich arbeite für niemanden. Ich war von Beginn an nicht daran interessiert, in ihre Reihen zu treten.“
„Warst du nicht?“ Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf Youmas Gesicht aus, als er gelassen antwortete:
„Silence … wir beide sind die einzigen Kinder Luzifers, wir sind für Höheres berufen. Warum sollte ich mich mit einem solchen Posten zufriedengeben, wenn mir die gesamte Welt zusteht?“ Die Angesprochene wollte gerade mit hochgezogenen Augenbrauen antworten, als Youma ihr zu vorkam:
„Ich weiß, was du sagen willst, Silenci. Doch keine Sorge, ich bin nicht größenwahnsinnig und desillusioniert ebenfalls nicht. Ich bin mir bewusst, dass ich dieses Erbe, welches mir zusteht, nicht so ohne weiteres antreten kann; dass ich es mir hart erarbeiten muss, den Gesetzen dieser finsteren Welt folgend. Doch auch ich habe bereits nach kurzer Zeit bemerkt, dass es sich nicht lohnt, Herrscher über eine Welt zu werden, die sich selbst zerstört. Um meine Ambitionen zu erfüllen, benötige ich jedoch eine hohe Machtposition hier in dieser Welt; der Fürsten ungeachtet – und zu dieser Machtposition wird Nocturn mir verhelfen.
Und wenn wir schon einmal beim Thema sind … wir sollten aufbrechen. Ich bin noch nicht besonders vertraut mit seinem Charakter, doch habe ich bereits herausgefunden, dass er ein ziemliches Spielkind ist und es würde nicht in meine Pläne passen, wenn dein Medium bereits zum gegebenen Zeitpunkt sterben würde.“
Die erste Attacke Lycrams traf ins Ziel, da Azura nicht damit gerechnet hatte, dass Lycram sich so schnell ohne Weiteres aus ihrem Eis würde befreien können – doch noch bevor sie darüber verblüfft sein konnte, wurde sie auch schon von dem Schienbein Lycrams zu Boden geschmettert und hart schlug ihr Kopf am Kopfsteinpflaster der Straße auf – so hart, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde und ihre Sinne sich trüben; auch was Lycram seinen Dämonen unheilschwanger lachend zurief hörte sie nicht, obwohl ihr Kommunikationsgerät es übersetzte. Nur einen kurzen Augenblick schärften sich ihre Sinne wieder und sie verfluchte sie dafür, dass sie genau in dem Moment ihren Betrieb wieder aufnahmen, als Lycram sie mit einem boshaften Grinsen bedachte, dessen Bedeutung sie lieber nicht wissen wollte.
Der Fürst hatte Pelagius ignoriert, da er das kleine spärlich bekleidete Mädchen offensichtlich interessanter fand, doch eben dieser war es, den er nicht hätte ignorieren dürfen – die gleiche Attacke, die auch schon Lacrimosa verscheucht hatte, befreite nun Azura aus Lycrams Griff, als dieser förmlich von der Wasserschlange Pelagius‘ weggespült wurde. Doch gerade, als er nachsetzen wollte, schoss ein dünner schwarzer Magiestrahl direkt auf die Hand des Offiziers zu und zwang ihn so dazu, ausweichen zu müssen, da der Strahl offensichtlich dafür vorgesehen gewesen war, ihm die Hand abzureißen.
„Lycram-sama will seinen Spaß haben mit dem Mädchen, also lasse ich keine Unterbrechung zu“, verkündete der Kommandeur Lycrams, der auf Pelagius gezielt hatte und nun finster zu ihm sah – und schon einer weiteren Attacke ausweichen musste, weshalb er nicht sah, dass Azura ihre Schwierigkeiten hatte, aufzustehen. Ihr war schwindelig – und noch bevor sie darüber nachdachte, ob sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, musste sie sich auch schon übergeben, unter dem Lachen der dämonischen Zuschauer, die Lycram Azura überließen, als würde eine Elementarwächterin nur einem Fürsten zustehen. Nur wenn es Pelagius gelang, eine Lücke im Kampf gegen Lycrams Kommandeur zu schaffen, griffen sie ein, um eben diese Lücke wieder zu schließen, weshalb Lycram sich die Zeit nahm, gelassen auf die schwankende Azura zuzugehen, dabei die nassen Haare aus dem Gesicht wischend und den Zopf wieder richtend, um den Augenblick zu genießen.
Aber obwohl Azura die Angst vor seinem unheilvollen Grinsen und seinen prüfenden Blicken in ihren Knochen spürte, unterdrückte sie die Panik und es gelang ihr auch, dem ersten seiner blau leuchtenden Fäden auszuweichen, die eindeutig darauf abgezielt hatten, ihre Beine zu packen. Rückwärts war sie ausgewichen – und schon kam von hinten ein weiterer Faden, der sich um ihren Oberkörper schwang und durch die Jacke, die ihr die beiden Windwächter geliehen hatten, schnitt, durch ihren Badeanzug in ihr Fleisch. Instinktiv wollte Azura gegendrücken, doch unterdrückte diesen Drang und ließ sich stattdessen zu Boden fallen, den sie vereist hatte und somit mehrere Meter von Lycram wegrutschte, da die Straße, auf der sie sich befanden, schräg abfallend war. Aus dieser Position wollte sie ihn angreifen, doch er war schneller als die schwankende Azura, die unerschrocken auf ihn zugestürmt war, um ihn mit ihrem Finger berühren zu können, um somit Lycrams Blut zum Kochen bringen zu können – schon hatte sie ihren Finger ausgestreckt gehabt, als alle fünf Finger Lycrams Hand aufstrahlten.
Azura gelang es den ersten zwei, die es auf ihre Füße abgesehen hatte, auszuweichen, doch sie geriet ins Torkeln, weshalb es Lycrams Fäden ein Leichtes war, ihre Beute zu finden. Sie schnitten sich um Azuras Taille, gruben sich in ihre Haut und taten das Gleiche an ihren Händen - und ehe Azura sich versah, hatte Lycram sie mit den Händen über ihrem Kopf an einer Säule förmlich aufgehängt.
„So schnell ist also eine Elementarwächterin nichts anderes als ein aufgehängtes Vieh!“, verkündete Lycram seiner aufgeregten Horde, ehe er Azura dazu zwang, den Kopf zu heben, indem er sie an ihren Haaren packte und sie nach unten zog.
„Was soll ich mit ihr machen?!“, fragte er seinen Dämonen sich dabei zu ihnen umsehend:
„Es ist immerhin eine Wasserwächterin! Und Wasser können wir ja gut gebrauchen – oder soll ich ihr beibringen, was wir in unserer Welt mit Weibern machen, die sich so leicht aufhängen lassen!?“ Jedes einzelne Wort übersetzte das noch funktionierende Kommunikationsgerät Azuras und jedes Wort ließ sie blasser werden – das … das war nicht wahr, das … das hatte sie nicht gehört; nicht richtig verstanden …?! Verzweifelt traf sie für einen Augenblick lang den Blick Pelagius; eine flehende Bitte lag in ihren Augen und er wusste genau, was sie wollte, was er tat, obwohl das absolut unmöglich war, denn es verstieß gegen sämtliche Moral: Sie wollte, dass er eine so große Welle entstehen ließ, die alles unter Wasser setzte. Sie wollte fliehen, wollte sich in ihr Element flüchten, weil sie sich dort Sicherheit und Kraft erhoffte und sich darauf verließ, dass ihr Körper ihr im Wasser keinen Streich spielen würde – und von dort würde sie zurückschlagen wollen. Doch es war nicht möglich und das wusste sie: Da sie sich auf einer Schrägen befanden, würde eine solche Welle die Gebiete unter ihnen überfluten und Dämonenleben sowie Wächterleben kosten, da nicht alle so gut schwimmen konnten wie sie.
„Und keine Sorge, ich würde sie nicht töten“, fuhr Lycram breit grinsend fort, weiterhin seine Dämonen ansehend:
„Ich würde demjenigen von euch, der die meisten Wächter umgebracht hat, natürlich ein Stück von ihr abgeben!“ Ein tosendes Gebrüll schien Lycram als einstimmiges Zustimmen zu deuten, weshalb er sich nun wieder Azura zuwandte.
„Es ist lange her, dass ich eine Wächterin … habe, also enttäusch mich nicht!“ Obwohl das Kommunikationsgerät keine Schimpfwörter übersetzte, war ohne jeden Zweifel klar, was Lycram mit Azura vorhatte, weshalb die Wächterin auch vor Schreck erstarrt war und ihr Kopf nicht auf ihren Oberkörper zurücksackte, als der Fürst seine Hand von ihrem Haar löste – Pelagius rief Azura aufgeregt etwas zu, doch sie hörte ihn nicht, denn sie starrte Lycram an, völlig erstarrt, mit zusammengepressten Zähnen, die sich allerdings plötzlich zu einem Grinsen formten, als der Fürst rabiat ihre Brust packte.
„Finally you touched me!“ Und mit triumphierender Erleichterung verkündete sie:
„EVAPORZIO IDRANERTE!“ Es geschah dasselbe mit Lycrams Hand wie mit der Dämonin, die Azura zu Beginn der Schlacht getötet hatte und erfreut sah sie, wie die Haut unter Lycrams Handschuh zu brodeln begann; doch er reagierte schneller als die bereits tote Dämonin und riss seine Hand von Azura los.
Die Wut stand dem Fürsten nun ins Gesicht gemeißelt und seine Hordenmitglieder waren augenblicklich still – damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Aber mehr hatte Azura auch leider nicht geschafft; sie hatte ihn wütend gemacht und seine Hand scheinbar enorm angeheizt, denn Lycram fluchte so enorm, dass das Kommunikationsgerät kein einziges Wort übersetzen konnte. Doch das war alles und im absoluten Schweigen der Umherstehenden holte er mit der kochenden Faust aus; Azura würde wahrscheinlich von dem Schlag bewusstlos werden; hoffentlich würde sie bewusstlos werden, denn das, was folgte, wollte sie nicht erleben …
Doch der Schlag Lycrams kam nicht. Stattdessen hörte Azura eine vertraute Stimme und traute sich deshalb auch, ihre Augen zu öffnen – und sah, wie Kaira ohne zu zögern und ohne Vorwarnung Lycram attackierte.
Mit ihren violett scheinenden Sekundenzeigern – einer über jedem Handrücken schwebend – säbelte die Zeitwächterin beinahe die Luft; und zwang Lycram dazu, nur ausweichen zu können, da sie so schnell mit ihren Sekundenzeigern nachsetzte, dass es ihm nicht gelang, sie ebenfalls anzugreifen und scheinbar verdarb Kairas undurchdringlicher und souveräner Blick Lycram die Lust auf Späße. Im Gegenteil: Es schien beinahe so, dass Kaira ihn in die Enge treiben konnte, weshalb Lycram auch versuchte, Abstand zu der zielsicher herumwirbelnden Kaira zu bekommen.
„Lycram-sama, Ihr könnt Eure Hände nicht mehr benutzen! Wir sollten …“
„Fresse!“ Tatsächlich hätte Lycrams Kommandeur sich nicht einmischen sollen, denn diesen einen Augenblick hatte Kaira genutzt; violett schien die Luft um sie herum zu leuchten, ihre Augen selbst leuchteten in der Farbe ihres Elementes – –
– und sie schoss wie ein Pfeil zuerst auf den zu recht besorgten Kommandeur zu, und schneller, als dass irgendjemand etwas hatte sehen können, teilten ihre Sekundenzeiger seinen Torso kreuzförmig; sie raste mit donnernden Füßen durch die leuchtenden Überreste des Dämons, federte sich an einer Säule ab und noch mit dem Blut des eben gestorbenen Kommandeurs auf ihren Sekundenzeigern raste sie auf Lycram zu, der sich eben erst herumgewandt hatte. Wieder waren Kairas Sekundenzeiger auf den Torso eines Dämonen gerichtet; zielgenau waren sie, erbarmungslos treffen würden sie und dann hätten sie einen Fürsten weniger---
Und dann riss etwas Lycram von den Füßen; er stürzte und Kaira, die zum Sprung angesetzt hatte, sauste samt ihrer tödlichen Waffe genau über seinen Kopf hinweg.
Stoßweiße atmend, noch nicht schwächelnd, wirbelte Kaira herum, um zu sehen, was sie daran gehindert hatte, einen Fürsten umzubringen – und erblickte einen anderen Fürsten, nämlich Azzazello, der sich schützend vor seinen Bruder gestellt hatte und ihn mit seinen Fäden zu Fall gebracht hatte.
„Du hast mir offensichtlich öfter zugehört, als ich dachte, Lycram – oder war es Zufall, dass die Kugeln für die Barrieren alle zerstört waren und ich so zu dir gelangen konnte?“
„Wenn du gerade versuchst wie der coole, große, rettende Bruder rüberzukommen, scheiterst du aber, Azzazello!“ Lycram schlug die Hilfe seines Bruders aus, der ihm hatte aufhelfen wollen und versuchte trotz allem, vor seinen Dämonen eine gute Figur zu machen, denen erst jetzt wirklich bewusst wurde, dass Kaira gerade ihren Kommandeur umgebracht hatte – es war alles so schnell gegangen, dass sie auch nicht gesehen hatten, wie Azzazellos Fäden Lycram zu Fall gebracht hatten, was wahrscheinlich auch besser gewesen war für dessen Ego.
„Diese Schlampe hat es verdammt drauf“, fuhr Lycram fort und versuchte, sein angekratztes Ego hinter einem Grinsen zu verbergen, während er sich neben Azzazello stellte, darauf bedacht, ein wenig weiter vorne zu stehen als er, obwohl sein Bruder nicht verletzt zu sein schien:
„Wir können sie aber ruhig teilen und zusammen kämpfen wie in guten alten Tagen, wenn du noch mit mir mithalten kannst!“
„Lycram“, begann Azzazello und versuchte, nicht zu tadelnd zu klingen, sondern so, als würde er seine Kampffreude natürlich teilen, während er Kaira im Auge behielt, die Azura aufpäppelte, die zusammengebrochen war, nachdem Pelagius sie von der Säule geholt hatte:
„Du bist verletzt; du kannst beide Hände nicht mehr benutzen und du hast deinen ersten Kommandeur verloren. Außerdem habe ich gehört, dass die Wächter den Kampfort zu uns nach Hause verlegen wollen – also lass uns zurückkehren, solange die Barrieren zerstört sind und uns neu sammeln.“ Natürlich wollte Lycram Azzazello widersprechen, doch er tat es nicht – er sah sich um, bemerkte dann auch, dass die beiden Rotschöpfe, die er zum Zerstören der Barriere geschickt hatte, wiedergekehrt waren und richtete sich dann kurz und knapp an seine Horde:
„Die Wächter wollen bei uns kämpfen, also heißen wir sie doch bei uns willkommen; Rückzug!“
In Min Intarsier überblickte Seigi eher missgelaunt an der Seite von Shitaya die Lage unter sich. Sie hatten - wie Hizashi es ihnen befohlen hatte - den Teleportationspunkt genommen, der im Südosten der Insel lag, ein Teleportationspunkt, der dem Lazarett Min Intarsiers am nächsten lag, doch auch hier hatte der Noxzauber die Arbeit größtenteils lahmgelegt. Jene Insel lag höher als die anderen, weshalb sie einen perfekten Blick hatten auf das zerstörerische Chaos.
„Wie schrecklich“, raunte Shitaya bestürzt in die schwarze Dunkelheit hinein, doch Seigi zuckte nur unberührt die Schultern, als würde ihn das Ganze nichts angehen. Auch als Shitaya laut darüber nachdachte, welche Flanke sie zuerst nehmen sollten, reagierte Seigi so, als würde es nicht von ihm abhängen:
„Mach, was du willst, Kleiner.“ Shitaya war ein wenig überrascht, so betitelt zu werden; zum einen war Seigi jünger als er und zum anderen auch noch ein paar Zentimeter kleiner. Doch natürlich sagte Shitaya nichts, sondern begnügte sich damit, Seigi verwirrt hinterherzusehen, nachdem dieser ihm einen Klaps auf den Rücken gegeben hatte und nun einige Schritte vorwärtsging.
„Ich überlasse alles dir – und ich kümmerte mich um den Fürsten.“ Shitaya sah ihn verwirrt an, denn er hatte von den Hikari den Befehl bekommen, mit Seigi zusammenzuarbeiten und nicht das alleinige Kommando zu erhalten, doch bevor er dies sagen konnte, sah der Hikari über seine Schulter zu ihm zurück und sagte:
„Aber sag den Wächtern, die uns noch hören können, sofort, dass sie die Finger von dem Fürsten lassen sollen. Der gehört immerhin mir.“ Seigis Ruf war allen bekannt; Shitaya natürlich auch und so war er so klug, sofort die Frequenz seines Kommunikationsgerätes zu ändern und allen Wächtern, die, wie Seigi es schon passend ausgedrückt hatte, sie noch hören konnten, zu warnen, dass Seigi unterwegs war – mit Betonung darauf, dass sie ihm lieber nicht im Weg stehen sollten.
Doch obwohl dem Offizier der Ruf Seigis bewusst war, stockte ihm mitten in seiner Mitteilung der Atem, als Seigi wählte, nicht die vielen Treppenstufen herunterzurennen, sondern Anlauf nahm und wie ein Adler heruntersprang.
Die Kommandozentrale des Tempels fand langsam aber sicher zurück zu altem Glanz bezüglich ihrer Funktionalität. Zwei der insgesamt sechs einmal eins großen Wandbildschirme zeigten die momentanen Kriegshandlungen auf Sanctu Ele’saces, denn sämtliche Kommunikationsgeräte waren mit einer Kopfkamera ausgestattet, welche nun fleißig die aktuellen Kampfgegebenheiten auf zwei von den großen Bildschirmen projizierten, auf denen jedes Bild um die 20 Sekunden lang zu sehen war, ehe es von einem anderen ersetzt wurde. Einige der Aufnahmen zeugten von Sieg, andere von Hoffnung, andere von Verzweiflung oder Niederlage; andere waren blutbefleckt und anhand des Winkels war es deutlich, dass sie zu gefallenen Wächtern gehörten. Gleich unter diesem Bildschirm rechnete einer der Computer beständig aus, wie viele Wächter bereits gefallen waren. Dies konnte allerdings nur anhand derer berechnet werden, die mit einem Kommunikationsgerät ausgerüstet waren, denn dieses Gerät konnte feststellen, ob die Gehirnaktivität bei null war, was den Tod bedeutete. Daher war die Zahl auch nicht hundertprozentig akkurat, denn die, die kein solches Gerät trugen, wurden so nicht miteinbezogen in die Rechnung. Momentan lag die Zahl bei 389, doch Adir, welcher sehr auf die Zahl und die Aufnahmen achtete, rechnete damit, dass es weitaus mehr Tote waren.
Eine Videoübertragung zu seiner rechten unterbrach Adirs Gedankengänge und er wandte den Kopf, wo er Aores‘ ernstes Gesicht erkennen konnte, der sein Wort an Hizashi, Shaginai und ihn richtete:
„Im Sanctuarian ist die Lage zum momentanen Zeitpunkt stabil; ich habe mir daher erlaubt, einige meiner Ärzte in das Lazarett Min Intarsiers zu schicken – natürlich mit den nötigen Mitteln ausgerüstet, um nicht den Wahnvorstellungen zum Opfer zu fallen.“
„Eine gute Wahl“, antwortete Adir mit einem freundlichen, doch angespannten Lächeln, denn er war nicht nur mit Aores zufrieden, sondern auch mit der Anzahl der Dämonen auf Sanctu Ele’saces – diese Zahl sank nämlich und es schien ganz so, als würde sich die Lage auf dieser so wichtigen Insel stabilisieren.
„Es scheint ganz so, dass unsere Verschleierungstaktik Wirkung zeigt“, raunte Adir Shaginai zu, denn sie waren nicht mehr alleine und Tinami längst nicht mehr die einzige Klimawächterin im Raum – rund 20 andere ihres Elementes hatten sich auf einer niedriger gelegenen Etage eingefunden, die direkt mittels ein paar nach unten führenden Treppenstufen mit der Kommandozentrale verbunden war. Dort unten, jeder mit seinem eigenen Computer versehen, saßen die Klimawächter jeweils auf einem Drehstuhl und koordinierten die Magieentladungen ihrer kämpfenden Mitwächter, damit das ausgeklügelte Kriegssystem der Wächter funktionierte.
„Es war eine gute Idee von dir, die Gensou als Dämonen getarnt das Gerücht verbreiten zu lassen, wir würden einen Gegenangriff gegen Henel planen. Die Dämonen scheinen darauf reinzufallen und ziehen sich offensichtlich in heller Vorfreude zurück, obwohl die Barrieren zerstört sind.“
„Verschleierungstaktik?“, wiederholte Shaginai, Adir nicht ansehend, sondern stets die Bildschirme im Blick habend:
„Warum nennst du es so? Ich dachte eigentlich, wir Hikari würden nicht lügen dürfen?“ Adir hatte auch die Bildschirme angesehen, doch nun wirbelte er verwirrt zu Shaginai herum, den er lächeln sah.
„Was … was willst du denn damit sagen, Shaginai?“
„Shaginai-san.“ Das Gespräch der beiden Hikari wurde von Hizashi unterbrochen, doch es war nicht er, der ein Anliegen hatte, sondern Tinami, die allerdings nicht befugt war, ein Gespräch von zwei Hikari zu unterbrechen. Als sie jedoch die Aufmerksamkeit Shaginais hatte, erhob sie sich aus ihrem Stuhl, verbeugte sich kurz vor ihm und begann dann:
„Wenn Ihr es mir genehmigt, würde ich gerne dem Heerführer des Bataillons Parrasion, Saiyon-san, den Befehl geben, Ilang-san zu suchen und zu unterstützen.“ Die Stahlaugen Shaginais verengten sich und seine Körpersprache passte sich der Bedrohlichkeit der Augen an und sofort schrumpfte Tinami ein wenig.
„Weshalb? Hatten Sie nicht vor einer Stunde ein ähnliches Ersuch und wurde da nicht bereits dem zweiten Heerführer des Bataillons Lerrasion der Befehl gegeben, der Naturwächterin zur Hilfe zu eilen?“
„Doch, das ist richtig“, antwortete Tinami und beugte kurz den Kopf, um das Herunterschlucken ihres Kloßes zu verbergen:
„Nur befürchte ich, dass diese Hilfe nicht ausreichen könnte.“
„Warum benötigt eine Elementarwächterin der Natur so viel Aufsehen?“, fragte Shaginai unwirsch, denn natürlich war es ihm egal, ob die Naturwächterin, über die sie sprachen, die Verlobte seines verstorbenen Enkels war; dadurch erhielt sie bei ihm keine Begünstigungen. Als Tinami jedoch antwortete, schwieg er doch kurz:
„Weil sie schwanger ist. Sie trägt das Kind Greys in sich.“ Nur kurz schwieg Shaginai verblüfft, genau wie Adir, der über diese Nachricht erfreut schien, dann nahmen seine Augen wieder die gewohnte Härte an.
„Es spielt absolut keine Rolle, dass sie mit meinem Urenkel schwanger ist!“ Ohne Tinami weitere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte er sich ab, nahm eines der Funkgeräte und sagte bestimmt:
„Absolut keine schwangere Frau hat auf dem Schlachtfeld etwas zu suchen.“
Ein Ecience-Körper war schon etwas Feines. Einen Hikari wie Seigi machte es zu einer erbarmungslosen Tötungsmaschine: einer, die nicht gestoppt werden konnte. Von nichts und niemandem. Belanglose Dinge wie Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Schmerz oder Zögern: All dies war Seigi seit seinem Tod fremd. Er war nichts außer einer leeren Hülle; keine Organe belebten seinen Körper, keine Knochen waren nötig, um ihn zu bewegen. Das einzige Manko, das sein Ecience-Körper aufwies, war leider die Tatsache, dass er zu seinen Lebzeiten nicht genug Lichtmagie besessen hatte und er somit nicht viel Zeit in diesem Zustand verbringen konnte. Wenn er nicht kämpfte, gönnte ihm der Ecience-Körper zwei Stunden im Diesseits. Kämpfte Seigi allerdings … war die Zeit um einiges kürzer; ganz darauf ankommend, wie viel Magie der Ecience-Körper benötigte, um verletzte Stellen wieder auszubessern.
Ach, hätte er doch nur einen Magiespeicher wie White!
Aber egal, mit solchen Gedanken würde Seigi sich nicht den Spaß verderben lassen.
„Elly?“ Nur wenige Sekunden musste Seigi auf die Antwort seiner Frau warten, ehe er sie vernahm:
„Ja?“ Neben ihm tauchte das nie alternde Gesicht Elisabeths auf, in deren Augen Gewissheit darüber lag, was nun geschehen würde. Sie genoss das Kämpfen nicht. Aber sie genoss es, an seiner Seite zu sein.
„Bist du bereit? Du wirst sicherlich wieder schmutzig.“
„Das macht nichts. Machen wir uns gemeinsam schmutzig.“ Seigi grinste, als sie dies sagte, und machte sich bereit, Anlauf zu nehmen. Doch ehe er zum Sprung ansetzen konnte, unterbrach ihn Elisabeth:
„Du kannst auch die Treppe nehmen; wie jeder andere Wächter auch, Seiji.“ Wenn möglich wurde das Grinsen auf Seigis Gesicht noch breiter, ehe seine Füße sich zu bewegen begannen:
„Wieso!? Man muss doch die Vorzüge des Todes zu nutzen wissen!“ Und schon sprang der Tausendtöter vom Rand der Insel herunter und als könnte Elisabeth nicht schweben, schlang sie genau in dem Moment, in dem Seigis Füße den festen Boden verließen, die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn, während der Tausendtöter in freudiger Erwartung dem mehr als 200 Meter entfernten Boden entgegenfieberte.
Noch während er sich dem Boden in rasender Geschwindigkeit näherte, zog er ein völlig normal aussehendes Schwert aus dessen Schwertscheide heraus, welches erst, als Elisabeth ihre Arme um dieses legte, die Form änderte und zu dem Schwert wurde, mit dem Seigi berühmt und berüchtigt geworden war.
Genau in dem Moment, als Seigi in einem flachen Teich landete – ein Sturz, bei dem sich jeder normale Wächter sämtliche Knochen gebrochen hätte, welcher ihm jedoch nichts anhaben konnte – breiteten sich die weißen, teils zerbrochenen Flügel des Schwertes aus. Doch Seigi achtete nicht darauf, sondern nur auf die verschiedenen Wesen, die vor ihm standen und ihn schockiert ansahen, nachdem er so urplötzlich vom Himmel gefallen war.
Seigi festigte den Griff um sein Schwert und sagte breit grinsend mehr an Elisabeth gerichtet als an seine Opfer:
„Game start!“
Und das kleine Lämpchen des in seinem Haar platzierten Alarmsystems sprang sofort auf Rot.
Die Hikari in der Kommandozentrale des Tempels bemerkten dies sofort, denn der Computer machte sie umgehend darauf aufmerksam. Anstatt jedoch darüber bestürzt zu sein, lehnte sich Hizashi ruhig in seinem Drehstuhl nach vorne und mit eben dieser Ruhe sprach er auch in sein Mikrofon, während er, genau wie Shaginai und Adir, die Videoübertragung von Seigis Kommunikationsgerät im Auge behielt.
„Seigi, kannst du mich hören? Hizashi hier.“
„Klar und – einen Augenblick – deutlich!“ Die weißen Augen Hizashis glitten von der Videoübertragung zu einem Lageplan Min Intarsiers. Mittels ein paar Tastenkombinationen markierte Hizashi einen der schwarzen Punkte und der Computer zeigte die Akte des Fürsten, welchen Seigi eliminieren sollte.
„Zur Wiederholung: Dein Ziel ist „der rote“ Akai, Fürst des achten Gebietes von Henel. Seine Schnelligkeit ist nicht zu unterschätzen; ansonsten keine Werte von sonderlicher Bedeutung. Er befindet sich 856 Meter südwestlich von dir, Tendenz weiter steigend. Nachdem Azzazello das Chaos auf der Insel ausgenutzt und die Barriere zerstört hat, ist sie nun zwar wieder errichtet worden, weshalb er nicht in seine Welt fliehen kann, aber jede weitere Sekunde unter dem Einfluss seines Noxzaubers ist fatal!“
„Roger!“ Nun beugte sich Shaginai vor und übernahm das Wort:
„Vernichte aber dennoch jeden Dämon auf deinem Weg, Seigi!“ Obwohl sie Seigis Gesicht nicht sehen konnten, sondern nur das seiner Opfer, war das Grinsen Seigis beinahe fühlbar, als er antwortete:
„Aber natürlich! Wie sagt man so schön – nur in ihrer Auflösung zeigen Dämonen Schönheit!“
Tinami hörte diesem Gespräch nur mit halbem Ohr zu; sie hatte überraschend eine Textnachricht erhalten und als die Klimawächterin las, dass der Absender Kaira war, vergaß sie kurz alles um sich herum. Tinami hatte keine Zeit gehabt, Aufnahmen der Kämpfenden zu verfolgen, hatte aber immer die Liste mit den verstorbenen Wächtern im Auge behalten, weshalb ihr klar war, dass es Kaira gut ging und deswegen war sie überrascht, eine Textnachricht von ihr auf ihrem Privathandy zu erhalten. Doch sie wusste, was es zu bedeuten hatte; es war etwas, was nur Tinami hören durfte, ansonsten hätte Kaira sie auch per Funk erreichen können.
Die Hikari waren zum Glück alle mit Seigi beschäftigt, weshalb es niemandem auffiel, wie Tinami ihr Handy aufklappte und auch nicht, wie ihr Gesichtsausdruck mit jedem weiteren gelesenen Wort entgleiste:
„Azura wurde beinahe von Lycram vergewaltigt. Es geht ihr gut. Sie will nicht, dass es jemand erfährt. Azuras und Pelagius KGs haben aufgenommen. Lösch die Aufnahmen.“
Tinami las diese Worte immer und immer wieder, und immer wieder blieben ihre Augen an einem einzigen Wort hängen. Ihre Schwester … ihre kleine, niedliche, immer so erwachsen tuende Schwester …
Und als wollte sie das Schicksal oder der pure Zufall verspotten, kam genau in diesem Moment eine der beiden Aufnahmen neben ihr über den Bildschirm geflimmert – es musste Pelagius‘ Aufnahme sein, denn sie konnte Azura sehen. Von Weitem. Verwackelt, weil Pelagius so oft ausweichen musste, doch immer wieder versuchte, zu ihr zu gelangen, immer wieder hinsah, genau wie Tinami jetzt hinsah und Azuras starren Blick sah, als sie realisierte, was der Dämon mit ihr vorhatte … dass er sie anbot wie ein Stück Fleisch. Und schon war die Aufnahme weg, ersetzt von einer anderen, nicht weniger schrecklichen Aufnahme.
Und alles, was Tinami tun konnte, war, sie zu löschen. Eine simple Tastenkombination. Das war alles, was sie für ihre Schwester tun konnte.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so schlecht gefühlt.
Seigi fühlte sich großartig. Er war vollkommen berauscht davon, wieder auf dem Schlachtfeld zu sein. Die Pein und das Leid, den Schrecken und die Trauer, die andere Wächter in diesem Moment zu fühlen vermochten, spürte er nicht. Gefühle dieserlei waren ihm fremd, denn in diesem Moment zählte nur eins: kämpfen. Das Schwert zu schwingen, um zu töten.
Es war lange her, dass er in den Kampf geschickt worden war; der Einsatz, der Greens Leben hätte beenden sollen, war sein letzter gewesen. Zu Zeiten des Siegels gab es keine Dämonen, die Seigis Können erfordert hätten und daher hatte sein treues Schwert tatenlos in dessen Scheide geruht. Nun war es, als wäre er endlich wiedergeboren. Er war wieder auf dem Schlachtfeld, zusammen mit Elisabeth. Das spritzende rote Blut; die Klinge, die das verdammte Fleisch zerschnitt; das war ihre Trauung und das Schlachtfeld ihre Kirche.
Elisabeth teilte die brutale Zerstörungsfreude ihres Gatten nicht; alles andere als das. Dennoch unterstützte sie ihn seit ihrem Tod im wahrsten Sinne mit Leib und Seele. Dies tat sie nicht nur aus Liebe zu ihm, sondern auch aufgrund der Überzeugung, dass das Böse bekämpft werden musste – das Böse in Form von Dämonen. Die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben mit den Dämonen gemacht hatte, hatten sie davon überzeugt, dass sie ausgelöscht gehörten: der Tod Safiyas und die Besessenheit Seigis hatten sie davon überzeugt, dass sie Seigi unterstützen musste und in den vielen Jahren, Jahrhunderten, hatte sie ihre Gräuel gegen das Töten schon längst überwunden – in den Augen Seigis jedoch war sie noch genauso unschuldig wie an dem Tag, als er sie kennengelernt hatte.
Elisabeth mischte sich wie gewöhnlich nicht in die eigentlichen Kampfhandlungen ein: Seigi war sehr wohl in der Lage, seine Feinde alleine niederzustrecken. Sobald Seigi das Schwert gezogen hatte, war Elisabeth nichts anderes als eine stumme Unterstützung: eine, seine, Waffe.
Mühelos schnitt Seigi durch die Dämonen, wobei er nicht einmal darauf achtete, ob er selbst getroffen wurde. Schmerzen waren ihm fremd. Sollten sie doch sein rechtes Bein abreißen, es kam in Sekundenschnelle wieder und Seigi hatte schon lange gelernt, drei Sekunden lang auf ein Bein zu verzichten: ein Bein war vollkommen ausreichend, um den frechen und übermütigen Dämonen mit einer geschwinden Drehung in zwei zu teilen und wenn Seigi zum Stillstand kam, rannte er sofort weiter; wieder mit zwei Beinen. Eine Hand verlor er, seinen linken Arm, manchmal auch seinen rechten Arm: Doch er war beidhändig und ließ sich auch davon nicht abbringen. Die verzweifelten Taten der Dämonen amüsierten ihn, die Wächter, die ihn überrascht ansehen konnten, weil sie nicht dem Noxzauber anheimgefallen waren und in weiser Voraussicht Seigi weiträumig auswichen, andere Wächter, die in ihren Wahnvorstellungen versunken waren oder schlicht weg nicht schnell genug gehandelt hatten, wurden von Seigi als Sprungbrett zweckentfremdet – oder aus dem Weg gestoßen, denn Seigi hatte schon lange gelernt, Wächter nicht zu verletzen; zu oft hatte er dafür Ärger kassiert.
„Seigi! Nur noch 129 Meter!“
„Habe Sichtkontakt!“ Auf der Verfolgung nach Akai war Seigi nun nahe an den Rand der Insel angekommen, wo er nun seine Schritte verlangsamt hatte. Offensichtlich hatte Akai bereits Wind davon bekommen, dass der Tausendtöter sich auf Min Intarsier befand und man musste nicht besonders intelligent sein um als Fürst zu wissen, nach wem Seigis Klinge gierte – besonders wenn man Urheber eines so umfassenden Zaubers war. Akai war für seine Überheblichkeit bekannt, die ihm im letzten Krieg den Beinamen „der Rote“ gegeben hatte, doch Gerüchten zufolge hatte er sich diese Erfolge nicht selbst verdient, sondern er war ihm regelrecht in die Hände gefallen.
In dem Moment, als er von Seigi an den Rand der Insel getrieben worden war und es so schien, als wolle er sich ein Beispiel an Azzazello machen, bemerkten seine Untertanen, die dank der Gerüchte und der überaus egoistischen Regierung Akais sowieso nicht besonders begeistert von ihrem Fürsten waren, dass er auch noch eine andere Charaktereigenschaft besaß: Feigheit.
Doch Akai hatte seine Feigheit zu spät entdeckt, denn die Barriere Min Intarsiers war wieder intakt, die Kugeln wurden von Wächtern beschützt und so blieb der Fürst erstarrt stehen; wenige Meter vor dem Schutzwall, der ihm dem Weg in die Freiheit versperrte.
Er hörte Seigis Schritte hinter sich und ihm rann der Schweiß von der Stirn, der sich mit seinen roten Haaren verband, die wie eine Fackel in der Nacht leuchteten. Plötzlich, als wären sämtliche Kampfhandlungen auf Min Intarsier zum Stillstand gekommen, war wieder absolute Ruhe eingekehrt – oder versagten seine Ohren ihm den Dienst? Das einzige, was er hörte, war sein eigener Atem, der ihm stockte, als er sich herum wandte und seinem Mörder entgegenblickte, der ruhig, mit gesenktem Schwert auf ihn zuging.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, ohne dem leuchtenden Loch in seiner Brust Beachtung zu schenken, welches sich gerade wieder füllte, schritt er unbeirrt auf Akai zu. Dieser wusste natürlich, dass es keinen Sinn hatte, einen toten Hikari angreifen zu wollen, dennoch öffnete sich sein Mund und mit Wut erhob er seine Stimme:
„Verdammt nochmal, worauf wartet ihr Idioten denn!?“ Sein Wort war an seine Untertanen um ihn herum gerichtet, die bis jetzt noch nicht gehandelt hatten. Aufmerksam besahen die roten und gelben Augen die Situation, sahen von Akai zu Seigi und wieder zurück. Abwartend.
„Greift gefälligst an! Haltet ihn auf!“ Noch mitten in seinen erbosten Worte, stockte Akai der Atem, denn seine Untertanen taten genau das Gegenteil: Sie entfernten sich, machten Seigi Platz, so dass er ungehindert auf Akai zustürmen konnte. Der Fürst schien nicht glauben zu können, was passierte, denn sein Gesicht war eine Maske der Ungläubigkeit. Doch schnell verwandelte sich diese in blanke Wut und als würde er Seigi nicht bemerken, der langsam sein Schwert hob, erhob Akai noch einmal seine Stimme:
„Ihr verdammten Hurensöhne! Ihr habt es keine einzige Sekunde verdient, mich als Fürsten zu haben! Keine einzige Sekunde! Dreck seid ihr, nichts als Dreck! Nirgends …“
„Silence, please. Your garbage is killing my ears![1]“ Akai stockte der Atem und das Entsetzen kehrte zurück; es wahrte jedoch nur wenige Sekunden.
Seigi hatte ausgeholt; er setzte zum Lauf an, das Schwert durchschnitt die kühle Abendluft und das letzte, was Akai sah, war das dämonische Grinsen Seigis, als er seine teure Klinge durch den geöffneten Mund des Fürsten stieß.
Seigis triumphierende Lache erhellte die Nacht; ein Lachen, welches nicht nur jedem Dämon Angst und bange werden ließ, sondern auch den umstehenden Wächtern, die mit ansahen, wie das Blut wie eine sprudelnde Fontäne aus dem Rachen des Fürsten schoss und Seigi in But badete, ehe der Tausendtöter sein Schwert wieder senkrecht aus dem Kopf herausstieß und dem auflösenden Dämon einen Tritt gegen den Torso gab, womit er gegen die Barriere Min Intarsiers prallte und innerhalb von nur wenigen Sekunden komplett pulverisiert wurde.
Seigi lachte immer noch, als er sich schwungvoll von dem blutigen See abwandte und die nächsten Dämonen gierig anstierte. Seine Kleidung, sein Gesicht, seine Haare, waren in blutiges Rot getaucht, doch sein Grinsen war deutlich zu erkennen, welches sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte, nachdem sein Lachen endlich verklungen war.
„So, wer ist jetzt „der Rote“, huh!?“
Auch die Hikari hatten den Tod Akais auf einem der Bildschirme verfolgt; bis sich das Bild nach dem Stoß Seigis und der darauffolgenden Blutfontäne rot gefärbt hatte, da die Kamera mit Blut besudelt worden war. Keiner der anwesenden Hikari zeigte sich darüber besonders geschockt, aber auch nicht sonderlich erfreut. Sie wussten schon, warum sie Seigi ungern einsetzten.
Kaum dass Seigis Lachen verklungen war, hatte Shaginai bereits zum Mikrofon gegriffen und ihm befohlen, er solle sich wieder auf den Weg zurück machen: aber auf dem Weg so viele Dämonen in den Tod reißen wie möglich. Während Shaginai sich bereits Gedanken darum machte, wie und wann sie den Gegenangriff ausführen sollten, gewann einer der hintersten Bildschirme plötzlich Hizashis Aufmerksamkeit für sich. Dieser Bildschirm war bis jetzt außer Acht gelassen worden, denn er zeigte eine Karte von der Erde - und da dort bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Dämonen eingefallen waren, hatte man diesem Bildschirm keine Beachtung geschenkt. Doch just in dem Augenblick, als Hizashi sich herumwandte, leuchteten zwei kleine schwarze Punkte über Europa auf. Der Hikari des Wissens richtete sich unbemerkt auf und ließ seine Finger über die sich darunter befindende Tastatur gleiten, doch das Resultat gefiel ihm nicht, denn der Computer teilte ihm mit, dass keiner der beiden Punkte, welche sich nordöstlich in Richtung der russischen Grenze bewegten, einen Eintrag im System besaß; obendrein konnte der Computer auch die Rasse des einen Dämons nicht herausfinden – jedoch von dem anderen.
„Adir-san, Shaginai-san, sehen Sie sich das hier an.“ Sofort standen beide Hikari neben Hizashi und sahen auf den Bildschirm, wo nun plötzlich die Übertragung von dem Kommunikationsgerät Whites angezeigt wurde samt ihrer Position. Einen Moment schwiegen sie alle drei, als sie gebannt Whites Kampf gegen Nocturn verfolgten.
„Wie ist es den Dämonen nur gelungen, ihn wiederzubeleben?“, fragte Adir nachdenklich und stellte eine weitere Frage:
„Und vor allen Dingen verstehe ich nicht, warum sie das getan haben. Für die Fürsten ist er doch nur ein unliebsames Hindernis?“
„Fragen, deren Antworten momentan zweitrangig sind, Adir“, entgegnete Shaginai, doch in seinem Tonfall war deutlich zu vernehmen, dass es ihn auch brennend interessierte, genau wie die Frage, warum White die Kampfhandlungen plötzlich eingestellt hatte und ganz anscheinend mit diesem Dämon redete.
„Hizashi-san, könnten Sie bitte den Ton einschalten, damit wir dieses absonderliche Gespräch mit anhören können?“, fragte der stolze Hikari, doch Hizashi schüttelte den Kopf und antwortete:
„Leider nicht. Das Gerät scheint beschädigt zu sein. Eine Übertragung des Tones ist daher ein Ding der Unmöglichkeit.“ Dieses Faktum war allerdings nicht das einzige, was Hizashi in diesem Moment störte, denn wieder einmal, genau wie vor 18 Jahren, gelang es seinem Computer nicht, Nocturns Aura zu analysieren. Hizashi wusste, warum: weil er keine besaß. Aber genau das war es, was ihn störte. Es war schlichtweg unmöglich für ein magisches Wesen keine Aura zu besitzen, warum also besaß er keine? Hizashi besaß eine ähnliche Einstellung wie Karou, was offene Fragen anging: Er verabscheute sie.
„Doch das ist auch nicht der Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe“, erklärte Hizashi und machte einen Wink auf die beiden schwarzen Punkte, wo der Computer bei einem ein leeres schwarzes Feld anzeigte, doch bei dem anderen ein paar Daten gesammelt hatte: Alles bis auf die Identität war ausgefüllt.
„Bei dem Dämon, der nicht analysiert werden kann, handelt es sich um Youma. Denn die einzige Rasse, die sich nicht im System befindet, ist die Rasse der Yami, da ein solches Wesen seit dem Bestehen unseres Systems nicht existierte.“
„Scheinbar bewegt Youma sich auf White-san und ihren Kontrahenten zu“, fügte Adir hinzu, während Shaginai weiterhin missgestimmt auf die Übertragung starrte und die Frage, was ein Hikari und ein Dämon so eifrig zu bereden hatten, stand ihm förmlich in sein grimmiges Gesicht gemeißelt.
„Offensichtlich“, antwortete Hizashi und machte auf den anderen Punkt aufmerksam und mit einer Tastenkombination wurde die Rasse des Dämons rot untermalt, was Adirs und auch Shaginais Aufmerksamkeit auffing:
„Eine Lunatica?“, fragte Shaginai erstaunt und Adir fügte hinzu:
„Aber sind diese nicht schon in Shaginais Generation ausgestorben?“ Hizashi richtete sein Monokel mit einem Räuspern, ehe seine Finger sich wieder der Tastatur zuwandten und diese seine darauffolgenden Worte visuell unterstrich:
„Die Lunatika sind ein fehlgeschlagenes Genprojekt aus dem Jahre 1911; ein Genprojekt bestehend aus rund 200 Exemplaren, die, wie Adir-san richtig angenommen hat, alle ausgestorben sind, da sie, wie bereits gesagt, misslungen sind. Es könnte selbstverständlich ein Fehler des Computers sein …“ Hizashi lachte leise in sich hinein, um zu untermauern, dass dies wohl kaum der Fall sein würde, und fuhr fort:
„Doch müssen wir annehmen, dass es sich bei dieser Dämonin um ein solches Exemplar handelt. Die Gründe für ihre Existenz kann ich mir zum gegebenen Zeitpunkt nicht erklären, doch wenn meine Berechnungen der Wahrheit entsprechen, dann halte ich es für ratsamer, wenn Sie beide White-sama zur Unterstützung eilen.“
[1] Übersetzung aus dem Englischen: „Sei still. Dein Müll tötet meine Ohren!“