Kapitel 51 - Höre die Hölle VII
„M-Mutter!?“
„White!“ Nocturns Gesichtszüge hatten sich augenblicklich entspannt, als er Whites Aura gespürt hatte – und genauso augenblicklich war Green für ihn komplett uninteressant geworden, weshalb sie auch sofort die Kontrolle über ihren Körper zurückerhalten hatte. Einen Augenblick lang blieb Nocturn in der Luft hängen, und wenn Green nicht zu sehr von ihrer eigenen Erleichterung betäubt und eingenommen gewesen wäre, so wäre ihr Nocturns seliger Tonfall aufgefallen – oder wie viel Ergriffenheit und Freude er in die Betonung ihres Namens gelegt hatte.
Green sah nicht das, was er in diesem Moment wahrscheinlich sah: Sie achtete nicht darauf, wie ihre weißen Haare im Wind hinter ihr her wirbelten, achtete nicht auf die Falten des weißen Kleides, welches ihren Körper betonte und gleichzeitig alles verbarg. Auch die undurchdringliche Härte in ihren weißen Augen bemerkte sie nicht, die Shaginais ähnlicher denn je sahen, als sie Nocturns Blick erwiderten und seinen Bewegungen folgten, als dieser wieder landete und auf sie zu eilte. Nein, Green sah das alles nicht; sie sah nur ihre Mutter, die endlich kam, um ihnen zu helfen, um sie zu beschützen, die sie vor diesem Albtraum bewahren würde und – die Firey helfen konnte, weil Green es nicht konnte.
„Endlich, White, endlich! Du hast mich warten lassen! Ich bin schon einen Monat wieder am Leben, weißt du eigentlich, wie schrecklich das war? Wie sehr ich dich vermisst habe? Aber nein, nein, eigentlich kommst du genau zum richtigen Zeitpunkt, entschuldige, ich wollte dir keinen Vorwurf machen, mein Engel, meine White, meine Heilige …“
Ihr Blick wurde augenblicklich härter und als hätte sie es ihm befohlen, verstummte er nicht nur sofort, sondern blieb auch sofort stehen und wirkte sogar ein wenig eingeschüchtert und enttäuscht, dass sie seine Wiedersehensfreude nicht teilte. Green hatte keine Ahnung, was er alles in ihrem Blick las, aber er sagte ihm offensichtlich, dass er zurückweichen sollte, denn das tat er und erst, als White sah, dass er seine Hände auf dem Rücken platzierte, kehrte sie ihm den Rücken zu. Er unternahm nichts, als White sich zu den beiden Mädchen herunterbeugte, folgte nur aufmerksam jeder einzelnen Bewegung ihres Körpers, bemerkte jedes einzelne Mal, wo sie blinzelte, jede Strähne ihres Haares, das sich bewegte.
Nocturn fühlte den unbändigen Drang, sich auf sie zu stürzen, sie zu umarmen, sie an sich zu drücken, ihren Körper zu berühren, ihren Duft in sich aufzunehmen, doch er war wie gelähmt – gelähmt von seiner eigenen Faszination und der unbändigen Wiedersehensfreude.
White war sich dessen nicht bewusst; wollte sich dessen nicht bewusst sein und doch wandte sie ihm unbesorgt den Rücken zu, ignorierte ihn förmlich. Denn obwohl sie keinen Einblick in Nocturns aufgewühltes Seelenleben hatte, so wusste sie, dass er sie nicht angreifen würde. Sie kannte ihn. Ironischerweise wahrscheinlich besser als jedes andere Lebewesen.
„Green, ganz ruhig, mein Mädchen. Alles ist gut, deine Freundin wird es überleben, weine nicht.“ Doch Green konnte die Tränen nicht zurückhalten, die nun unbändig an ihrem Gesicht herunterliefen und sich mit dem Schmutz und dem Blut vermischten, während sie den strahlenden Händen ihrer Mutter dabei zusah, wie sie Fireys Oberkörper abtasteten, an einigen Stellen verharrten und leicht über jenen Stellen kreisten.
„M-Mutter, wie … wie ist das möglich!? Wie ... wie kannst du Firey heilen …? Und deine Aura, sie ist so …“ White lächelte beruhigend, doch sah Green nicht an, da sie sich auf die Heilung konzentrierte, und antwortete:
„Das erkläre ich dir später, wenn wir Zuhause sind.“ Zuhause! Oh, wie gut das klang, wie Musik, wie wunderbare Musik …
„Sie hat zwei gebrochene Rippen …“, stellte White fest, während ihre leuchtenden Fingerspitzen über Fireys Körper fuhren.
„… und sehr viel Blut verloren. Das Blut kann ich nicht wiederherstellen, doch die gebrochenen Rippen habe ich heilen können. In akuter Lebensgefahr schwebt sie nicht, doch sie sollte dennoch so schnell es geht ins Sanctuarian eingeliefert werden.“ Green nickte, nach wie vor immer wieder einen nervösen Blick zu Nocturn werfend, den White weiterhin gekonnt ignorierte. Stattdessen richtete sie wieder ihr Wort an ihre Tochter:
„Bleib du nun bitte hier bei Firey-san.“ Die Hikari richtete sich auf, wobei ihr langer Rock um sie herum wirbelte. Green sah zu ihr auf und bemerkte eine kühle Entschlossenheit in den Augen ihrer Mutter.
„Ich werde Tee trinken gehen.“
Irgendwo in der Dämonenwelt, abseits von jeglichen Kämpfen und Auseinandersetzungen, richtete sich plötzlich ein Halbdämon auf, als wäre er von einer Wespe gestochen worden. Silver hatte nur ein einziges Mal geblinzelt, ehe ihm klar wurde, dass etwas absolut nicht richtig sein konnte – er war in der Dämonenwelt! Warum, wieso, wie war er hierher gekommen? War er nicht gerade noch in Litauen gewesen? Hatte er nicht … hatte er nicht mit Firey gesprochen?
„Silver-sama!“ Der Angesprochene drehte sich beinahe erschrocken zu der Quelle der Stimme herum und sah Rui neben sich hocken. Erst in diesem Moment bemerkte er, wo er war – er befand sich an dem Ort, von dem aus er auch die Dämonenwelt verlassen hatte. Der Kampf, den Azuma, Karou und er sich geliefert hatten, hatte das Gebiet deutlich gezeichnet, und obwohl keine Kampfhandlungen mehr im Gange waren, schien die Erde sich immer noch ätzend zu beklagen und ihren Schmerz zu bejammern.
„Was … zur … Hölle. Was zur Hölle ist passiert?“ Silver richtete sich nun gänzlich auf; ein wenig wackelig auf den Beinen und mit Kopfschmerzen, was Rui ihm nachtat, und sichtlich verwirrt sah der Rotschopf sich um, versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er zwang sich dazu, nachzudenken und die geschehenen Ereignisse logisch anzuordnen: Er war mit Firey nach Litauen geflohen, sie wollte ihm etwas erzählen, doch dann … was passierte dann? Er wurde von etwas niedergeschlagen, nein, von jemandem. Hatte dieser Jemand ihn auch wieder in die Dämonenwelt gebracht? Aber wozu? Und was war mit Firey geschehen? Silver konnte sich nicht daran erinnern, ob er zuerst niedergeschlagen worden war, oder sie …
„Vielleicht sollten wir erst einmal nach Hause gehen, Silver-sama?“
„Das … ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.“ Und mit diesen Worten teleportierten Silver und Rui sich gleichzeitig auf die Rückseite von Ri-Ils Anwesen, wo er allerdings nicht lange verweilte, sondern sofort weiterging, um das große Anwesen zu umrunden und zum Innenhof zu gelangen, wo er nicht darauf achtete, wie verdächtig ruhig es war; anders als Rui, die sofort stehen blieb und sich fragend umsah. Sie stellte auch die offensichtliche Frage, wo denn alle hin währen, doch Silver überhörte sie.
Er wollte sofort in sein Zimmer, denn kaum hatten sie Ri-Ils Anwesen erreicht, hatte er es gespürt – das, was er seit Tagen, gefühlten Wochen, nicht gespürt hatte. Die Aura seines Bruders.
Doch bevor er seinen Schlüssel hervorholte, wandte er sich noch einmal zu Rui herum, die sich nach wie vor besorgt umsah.
„Finde heraus, was hier los ist. In Ordnung, Rui?“ Sein Interesse daran, was passiert war, war eher mittelmäßig, doch er wollte alleine mit seinem Bruder reden. Er musste ihm von Firey erzählen; dass sie extra gekommen war, um ihm etwas zu erzählen – er wusste zwar nicht was, aber dass es enorm wichtig war und mit Green zu tun hatte. Immerhin schien die Nachricht nicht nur für Silvers Ohren gewesen zu sein, sondern besonders für Blues … Vielleicht würden sie sich zusammen einen Reim daraus machen können, und wenn nicht, dann brauchte Silver auf jeden Fall jemanden, mit dem er darüber reden konnte – und sowieso musste er seinem Bruder die Leviten lesen, dass er ihn einfach so verlassen hatte, ohne einen Ton zu sagen.
Beschwingt, vielleicht ein wenig zu inbrünstig, öffnete Silver die Tür zu deren kleinem, rechteckigen Zimmer und wollte sogleich den Namen seines Bruders rufen, als etwas ihn zum Schweigen brachte.
Unter seinen Füßen klebte Blut. Der ganze Teppich war übersät von Blutflecken, die eine blutige Spur zu Blue formten, der in dem unteren Etagenbett lag und zu schlafen schien. Er hatte sich nicht umgezogen, lag in seiner kompletten Uniform regungslos auf dem Bett – nur seine Stiefel lagen neben ihm auf dem Boden.
Silver roch sofort, dass das Blut Blues Eigenes war. Er war verletzt – aber wovon? Mit wem hatte er gekämpft?
Die Tür hinter Silver fiel zu und erschrak nicht nur ihn selbst, der gebannt seinen schlafenden Bruder angestarrt hatte, sondern auch Blue, der zusammenzuckte. Der Rotschopf sagte nichts, blieb an der Tür stehen und sah seinem Bruder zu, wie er sich unter Stöhnen und offensichtlichen Kopfschmerzen aufrichtete, die Füße auf den blutbefleckten Boden aufsetzte, um daraufhin seine Hand in seinem Pony zu vergraben.
„Mein Kopf …“ Erst da schien Silver seine Stimme wiederzufinden. Er schüttelte den Kopf, versuchte ein Grinsen hervorzuzaubern und sagte neckisch:
„Sag mir nicht, dass du getrunken hast, Aniki! Hast du dir daraufhin etwa mit irgendeinem Saufbold einen Kampf geliefert? Du siehst ganz schön fertig aus.“ Er lachte, doch sein Lachen klang künstlich – er glaubte selbst nicht daran. Silver spürte bereits, dass ihm die Wahrheit nicht gefallen würde – dass er sie eigentlich nicht hören wollte. Doch sie kam. Zerstörerisch und unbarmherzig stürzte die Wahrheit auf Silver hinab und erdrückte ihn:
„Ich habe Grey umgebracht.“
Genauso ruhig, wie White gekommen war, so verließ sie Green jetzt auch wieder. Nur einen kurzen Augenblick hatte Green das dringende Bedürfnis, ihre Hände nach ihrer Mutter auszustrecken und sie darum zu bitten, bei ihr zu bleiben. Doch sie tat es nicht, unterdrückte diesen Impuls, denn sie wusste, dass sie nun nicht an der Reihe war – dass ein Kampf, der beinahe ein ganzes Jahrzehnt angedauert hatte, nun fortgesetzt werden würde.
Ruhig, ohne zurückzuschrecken, schritt White auf Nocturn zu, der sie nach wie vor aufmerksam ansah. Erst als sie um die fünf Meter von ihm entfernt war, blieb sie stehen, schweigend, den Blick nun jedoch erwidernd. Green konnte nicht klar beurteilen, wie lange sie dort einfach nur standen und sich ansahen, bis White die Stille brach. Die Worte konnte Green nicht hören, zu weit war sie dafür entfernt und so hörte sie auch die ersten Worte, die White nach 18 Jahren an Nocturn richtete, nicht;
„Sorge dafür, dass meine Tochter kein Wort von unserem Gespräch mit anhören kann.“ Verwundert hoben sich Nocturns Augenbrauen; anscheinend waren dies nicht die Worte, die er erwartet hatte, zu hören. Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf seinem spitzen Gesicht aus, als er antwortete:
„Hast du etwa Geheimnisse vor ihr, Ma’chere?“ Er lächelte zufrieden, als er das letzte Wort formte, darüber erfreut, es wieder benutzen zu können. Whites Augen blieben jedoch hart, und ohne dass sie etwas erwidern musste, fügte Nocturn sich, indem er die Schultern hob.
„Ich will mit dir reden“, sagte White ohne einen Hauch von Freundlichkeit, ohne einen Hauch von Gefühl. Nocturn ließ sich davon nicht abschrecken – nein, er freute sich eher darüber.
„Wenn du ein Gespräch wünscht, White, dann sollten wir vielleicht einen gemütlicheren Ort aufsuchen. In Rue de Rivoli hat ein sehr gemütliches Café geöffnet. Die Kuchen dort werden dir garantiert auch gefallen, mein Engel!“
„Ich bin nicht hier, um alte Zeiten aufleben zu lassen“, entgegnete White hart auf die heiteren Worte Nocturns, der sich davon nicht einschüchtern ließ. Doch die Hikari kam ihm zuvor:
„Ich verlange die Wahrheit von dir. Ich verlange, dass du mir die Wahrheit über Greys Tod erzählst.“
„Das ist ein Witz.“ Auf Silvers Gesicht befand sich ein Lächeln: ein leeres, hohles Lächeln, das zu seiner Maske der Ungläubigkeit passte. Blue sah diese Maske jedoch nicht. Er saß mit nach unten gebeugtem Kopf auf seinem Bett, die Arme auf seinen Knien abstützend.
„Nein, das ist es nicht.“ Auch die Stimme Blues war hohl. Sie war ruhig, aber auch ein wenig schwach. Ohne seinen Blick von Blue zu nehmen, durchstreifte der Rotschopf das Zimmer und setzte sich vor Blue auf den Boden, ohne es bewusst zu realisieren.
„Du hast … Grey umgebracht.“
„Ja.“
„Du hast Green-chans großen Bruder umgebracht.“ Dieses Mal antwortete Blue nicht und schnell verfielen sie in ein Schweigen. Silver wusste, dass es wahr war – dass sein Bruder es tatsächlich getan hatte. Dennoch spürte er nichts in sich, was ihn wunderte. Keine Wut war in seinem Bauch zu spüren. Keine Abscheu, keine Gräuel. Er war einfach … geschockt – und gelähmt von dem Schock.
„Warum?“ Keine Betonung lag in den Worten Silvers. Es war nichts als eine simple Frage. Die Antwort war von der gleichen Einfachheit geprägt:
„Er wusste es. Er wusste alles. Irgendwie hat er es herausgefunden, ich weiß nicht wie. Er wollte es Green sagen und dann wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, ehe die Hohen es erfahren hätten. Ich musste es tun. Ich musste ihn aufhalten. Niemand darf die Wahrheit erfahren. Ansonsten …“
„Deswegen hast du ihn umgebracht. Weil er … alles wusste.“
„Ja.“ Wieder schwiegen sie. Silver wollte gar nicht mehr erfahren, doch die Fragen purzelten aus seinem Mund:
„Warum warst du überhaupt im Tempel?“ Blue antwortete nicht sofort, sondern erst nach ein paar Sekunden:
„Ich wollte … ich wollte Green sehen. Ich habe sie vermisst.“ Erst in diesem Moment erwachte etwas in Silver. Ein Gefühl kam empor; er wusste nicht, was für eines es war, konnte es nicht klar definieren. Aber etwas passte nicht … irgendetwas passte nicht, doch er wusste nicht, was es war. Denk nach Silver, denk nach!
Doch Silvers Gedanken wurden jäh unterbrochen; von einer Faust, die die Wand rammte. Erschrocken sah der Rotschopf auf und sah seinen Bruder, wie der Zorn und die Verzweiflung plötzlich sein Gesicht überrannten:
„Ich hätte ich es nicht tun dürfen! Es hätte nicht passieren dürfen! Ich hätte mit Grey reden sollen, noch mehr, als ich es getan habe! Doch er beharrte darauf! Beharrte darauf, dass Green es erfahren musste und dass das alles geklärt werden musste! Sagte, ich könne im Tempel bleiben, dich würde man schon holen können. Wie naiv er war! Als ob die Hohen es zulassen würden! Als ob die Hohen, als ob Ri-Il es zulassen würde, dass wir irgendwo in den Wolken versteckt leben könnten, glücklich sein könnten! Auf ewig versteckt, während Green auf dem Schlachtfeld kämpft! Wie lange dachte er würde das gut laufen!? Ich wollte ihn aufhalten, wollte ihn nur aufhalten … damit du kommen könntest und ihm die Erinnerungen wegnehmen könntest … Doch er griff mich an, wollte mich mit Gewalt dort festhalten! Meinte, ich solle nicht so egoistisch sein. Er sagte … er sagte, dass ich Greens strahlendes Lächeln zurückbringen musste … Als ob das möglich wäre! Als ob das für MICH möglich ist! Und dann … ich musste mich doch wehren. Er wollte mich da lassen, wollte mich in irgendeinen Kerker sperren und die gesamte Wahrheit aus mir herauspressen, damit Green sie hört … warum hat er denn nur nicht eingesehen, dass Green diese Wahrheit nicht hören darf … warum hat er denn nur nicht verstanden, dass es so viel besser ist … dass ich nicht derjenige bin, der Greens Lächeln jemals wieder zurückbringen kann … Ich darf nicht bei ihr sein. Ich bringe ihr nichts als Schmerz.“ Ruhe senkte sich über Blue. Die Faust fiel herunter und landete auf dem Bett. Silver hatte seinen verzweifelten Worten gelauscht, ohne etwas zu sagen. Doch als Blue schwieg, konnte er eine Frage nicht zurückhalten. Eine Frage, die vielleicht unsinnig war, aber Blue aus seinen Gedanken weckte:
„Wie bist du eigentlich in den Tempel gekommen? Die Sicherheitsvorkehrungen sind doch wieder aktiv, also … wir sind keine Ausnahmen mehr?“ Blue hatte den Kopf erhoben und sah ihn nun verwundert an. Im ersten Moment war es eine Verwunderung, als ob er sich fragte, ob Silver ihm überhaupt zugehört hatte, doch dann dachte er länger über die Frage nach – und dann geschah etwas Eigenartiges auf seinem Gesicht, was Silver nur für eine Sekunde oder zwei sah: Seine Augen wurden plötzlich leer und dann … schien ihn etwas enorm zu schmerzen. Doch gerade als Silver ihn fragen wollte, was mit ihm los war, öffnete die Tür sich mit einem Ruck und völlig außer Atem stand Rui in der Tür. Beide Halbdämonen sahen sie verwirrt an und Rui gönnte sich keine Atempause, ehe sie folgende Worte verkündete:
„Wir sind im Krieg! Ohne dass wir es bemerkt haben, hat der Krieg angefangen!“
„Dein Sohn muss ganz schön schwach sein, wenn er sich bereits am ersten Tag des Krieges töten lässt. Haben deine Kinder denn gar nichts von dir geerbt? Deine kleine Tochter kam nicht mal auf die Idee, auf Japanisch zu denken, um mich damit aus ihren Gedanken auszuschließen.“ White ließ sich von diesen Worten nicht provozieren. Mit einer eisernen Ruhe erwiderte sie seinen herausfordernden Blick, denn sie wusste, dass Nocturn sie nur aus der Reserve locken wollte. Er wollte ihre Wut sehen, wollte ihren Hass spüren; er verlangte danach festzustellen, dass er diese bitteren Gefühle immer noch in ihr wecken konnte.
„Nocturn, ich weiß, dass du es warst, der meinen Sohn tötete.“
„Ah, ich liebe es, meinen Namen geformt von deinen Lippen zu hören, mein Engel!“ Er grinste wie ein kleines Kind, ehe er weiter machte:
„Aber ich sollte wohl mein Beileid aussprechen, nicht wahr, White? Immerhin ist dein Sohn gestorben. Mir ist zu Ohren gekommen, er sei talentiert gewesen, ein netter großer Bruder und sicherlich ein guter Sohn, auf den du stolz warst. Und so einfach gestorben. Bevor der Krieg überhaupt begann …“ Beide Arme streckte Nocturn aus und bewegte sich plötzlich auf White zu, während er fortfuhr mit seinen spöttischen Worten:
„Ja, er war ein wirklich guter Wächter. Ganz wie sein Vater. Beide riefen sie kein einziges Mal um Hilfe. Beide flehten nicht. Beide waren dreist. Beide verärgerten mich. Beide mussten sterben.“
Mit Freude, ja, mit tiefer Befriedigung bemerkte Nocturn sofort die Veränderung in Whites Gesicht bei der Erkenntnis, dass ihr Verdacht richtig gewesen war - und schon keimte die Wut über den Hohn in Nocturns Stimme in ihr empor, wurde jedoch sofort von ihrer verbissenen Ruhe verschluckt – genau wie die Verzweiflung und die Vorstellung, wie Grey gestorben war.
Ja, Nocturn hatte nie vorgehabt, es ihr zu verschweigen. Dieser Anblick, dieses Schauspiel der Gefühle in der doch so in sich gekehrten White, die er, nur er, wecken konnte, war einfach zu inspirierend!
Er hatte keine Hemmungen ihr näher zu kommen. Unerschrocken tat er einen Schritt vor den anderen und ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, setzte er fort:
„Selbst als dein Sohn verstand, was hinter meinem kleinen Bolero verborgen lag, versuchte er nicht zu fliehen, obwohl ihm da bereits klar war, dass der Halbdämon ihn umbringen würde! Oh, es war so einfach, White, so einfach! Ich befürchtete ja bereits, dass ich aus der Übung gekommen wäre – haha! – aber Blue fügte sich mir so bereitwillig, als hätte er nur darauf gewartet, dass jemand Fäden um ihn legt. Du hättest dabei sein sollen, White, es war wirklich ein atemberaubendes Schauspiel! Wie dein Sohn immer wieder versuchte, auf den Halbdämon einzureden, obwohl er wusste, dass er sein Mörder werden würde!“ Von seinen eigenen Worten berauscht, begann Nocturn plötzlich zu lachen; ein Lachen voller Boshaftigkeit, voller Freude darüber, wie erfolgreich er dieses Drama inszeniert hatte und beinahe in Ekstase fuhr der Flötenspieler fort:
„Als ob der kleine Halbdämon sich aus meinen Fäden befreien könnte! Als ob er dazu in der Lage gewesen wäre! Nein, nichts spürte er, nichts hörte er – ohne mit der Wimper zu zucken, griff er den armen Grey immer wieder an! Wir richteten ein ganz schönes Blutbad an, aber das hast du sicherlich schon gesehen, nicht wahr, White?“
Und ganz plötzlich schwieg Nocturn. Er senkte seinen Kopf wieder, den er angehoben hatte, um sie von oben herab anzusehen und sein boshaftes Grinsen formte sich zu einem fast schon ruhigen Lächeln:
„Hat es dich an Kanori erinnert, White? Komm, sag es mir, sag mir, ob ich alles richtig gemacht habe … Habe ich mich an alle Details gehalten? Habe ich es gut inszeniert? Tat es weh? Sag es mir! Sag es mir!“ Dies brachte das doch so gut versiegelte Fass zum Überlaufen. Die gekünstelte Ruhe in Whites Augen zerbrach und von einem Moment zum anderen hatte sie plötzlich wieder ihre Waffe in der Hand – die Waffe, die nun auf Nocturn zuschnellte, der dieser geschickt und mit einem wahnsinnigen Grinsen seitlich auswich. Doch anstatt den Stab zurückzuziehen, wirbelte sie ihn seitlich, wollte Nocturn an der Hüfte erwischen, ehe er wieder an einem anderen Punkt auftauchen würde, doch war zu langsam. Als der Stab auf Nocturn zusauste, sprang dieser hoch und landete direkt auf ihm, allerdings berührten nur die Spitzen seiner schwarzen Stiefel das weiße Material des Stabes. Aus dieser Position heraus, grinste er sie neckend und mit einer Spur Boshaftigkeit an, stemmte die Arme in die Hüfte und konstatierte:
„Du bist aus der Übung, White! Aber das ist ja auch nicht weiter verwunderlich – für mich ist es, als wäre es gestern gewesen, dass wir gegeneinander gekämpft haben, aber für dich sind 18 lange Jahre vergangen!“ Nocturn hatte recht; dessen war White sich bewusst. In den letzten 18 Jahren hatte sie kein einziges Mal ihre Waffe geschwungen, geschweige denn trainiert. Zwar hatte sie ihre Lichtmagie wieder, doch es war ein befremdliches Gefühl und es fiel ihr schwer, ihre neuen Grenzen einzuschätzen. Aus diesem Grund ärgerte sie sich bereits darüber, dass sie den Kampf eröffnet hatte, dass ihre Gefühle mit ihr durchgebrannt waren – hätte sie nur Ruhe bewahrt, dann hätte sie ihn vielleicht mit Worten dazu bringen können, von einem Kampf abzusehen. Jetzt musste sie darauf vertrauen, dass ihr Ecience-Körper lange genug erhalten blieb und die Tatsache, dass sie erst kürzlich eine flächenumfassende Barriere erschaffen hatte, war nicht gerade hilfreich. Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, wie viel Lichtmagie sie noch übrig hatte – vor allen Dingen, weil sie ihren Ecience-Körper noch nie bis an dessen Äußerstes gedrängt hatte.
White musste es drauf ankommen lassen. Sie musste ihre Lichtmagie anwenden, ob sie und ihr Ecience-Körper das nun wollten oder nicht.
Von ihrem Standpunkt aus hatte Green dabei zugesehen, wie Nocturn und White miteinander gesprochen hatten, während sie die ohnmächtige Firey in den Armen gehalten hatte. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie nichts von dem Gespräch der beiden hören konnte, da sie einfach nur annahm, dass sie nichts hören konnte, weil die beiden zu weit weg waren. Doch als sie sah, dass White die Kampfhandlungen eröffnet hatte, richtete sie sich zusammen mit Firey auf, bereit zu handeln, falls sie Abstand nehmen musste.
Doch lange stand sie nicht aufrecht, denn sobald sie sich aufgerichtet hatte, sah sie – nur für einen kurzen Augenblick – dass die Hände und Arme ihrer Mutter aufstrahlten – und schon im nächsten Moment fiel sie samt Firey auf die Knie, niedergerungen von einer kräftigen Druckwelle und hätte sie nicht sofort aus Reflex ihre Augen geschlossen, hätte sie mit eigenen Augen gesehen, dass der gesamte Umkreis plötzlich von einer hellen Lichtkugel erleuchtet worden war.
Spüren konnte Green die Magie, die über Firey und sie hinwegfegte, jedoch schon und auch, dass es nicht allein Lichtmagie war, sondern auch die Magie Nocturns. Der enorme Druck fegte den blauen Hut von Green Kopf und ließ ihre nussbraunen Haare wild um sie herum wirbeln. Höchstwahrscheinlich hatte Nocturn ebenfalls eine magieintensive Attacke gegen die von White eingesetzt, was zu einer Explosion geführt hatte – genau, wie Green es damals in der Spieluhr ihrer Mutter gesehen hatte. Es aber live und in Farbe zu sehen und zu spüren, war nochmal eine ganz andere Größenordnung!
Doch keiner der beiden Kontrahenten gönnte sich in irgendeiner Art eine Verschnaufpause und es war Green absolut unverständlich, wie sie nach so einer großen Entladung von Magie immer noch aufrecht stehen geschweige denn einfach weiter kämpfen konnten. Kaum, dass der Druck verschwunden war, setzte Nocturn mit einer Salve von schwarz glühenden Strahlen nach, denen White geschickt auswich; ein Schauspiel, dem Green ungläubig folgte – sie wäre gewiss von allen fünf getroffen worden! Nocturn wurde von White und einem – wie Green vermutete – Light Spirit, der mindestens doppelt so groß war wie Greens, getroffen, woraufhin er in die Luft geworfen wurde, wo er sich jedoch nach mehreren Meter Flug auffing und zum Gegenangriff ausholte. White wich aus, doch Nocturn tauchte hinter ihr auf, von wo aus er sie mit einer gezielten Bewegung seines Ellenbogens seitlings zu Boden warf – und als wäre nichts geschehen, griff ihre Mutter sofort wieder vom Boden aus an, mit einer für Green unbekannten Attacke, die Nocturn im ersten Moment mit seiner eigenen Magie blockte, sich aber doch anders entschied und der Attacke stattdessen auswich. Green erschreckte sich plötzlich, als Nocturn einige Meter von ihr entfernt auftauchte, jedoch nicht auf sie achtete, da er damit beschäftigt war, White auszuweichen, die mit ihrem Stab auf ihn gezielt hatte. Mit einer Hand auf Greens Schulter sprang er geschickt über sie hinweg, und noch während er verkehrt herum in der Luft hing, entfesselte er wieder eine Strahlenattacke, der White diesmal nicht auswich, da sie Green zu nah war, sondern sie mit einer leuchtenden Hand auffing und sie mit einem entschlossenen Hieb umleitete, so dass der geackerte Boden von einem weiteren hässlichen Krater entstellt wurde. Und so schnell, wie sie vor der fassungslosen Green aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden.
„S-Sieh dir das an, Firey… das ist Wahnsinn. Das ist absoluter Wahnsinn!“ Die Stimme Greens zitterte und natürlich war ihr klar, dass Firey sie nicht hören konnte, doch sie musste dieses Spektakel einfach kommentieren. Für sie ergab es überhaupt keinen Sinn, wie beide, obwohl sie bereits öfter von der Magie des anderen niedergerungen worden waren, so schnell wieder aufstehen konnten und mit der gleichen Entschlossenheit und Kraft den Kampf fortsetzen konnten! Das einzige, was Green feststellen konnte, war, dass deren Kleidung in Mitleidenschaft gezogen wurde, was besonders bei White deutlich war, da sie immerhin ein sehr helles Kleid trug, welches nun mit braunen und schwarzen Flecken übersät war. Allerdings sah man keine Verletzungen, anders als bei Nocturn, dessen Kleidung blutgetränkt war, dank einer Attacke Whites, die seine Hüfte gestreift hatte. Keinen Moment zweifelte Green daran, dass sie beide gleich stark waren; gleich übermächtig – und diese von ihr als Tatsache befundene Erkenntnis schockierte sie.
Doch die Wahrheit sah anders aus. White war Nocturn unterlegen. Die 18 Jahre, in denen sie nicht gekämpft hatte, waren eine zu lange Zeit gewesen; sie waren nicht länger ebenbürtig. Zwar war ihre Lichtmagie noch genauso mächtig wie vor 18 Jahren, aber sie war wahrlich eingerostet, nicht zu vergleichen mit der Zeit, wo die beiden sich fast in jeder Nacht bekämpft hatten; Nächte, in denen sie jede Technik des anderen auswendig lernten, jede Gewohnheit, jedes Ausweichmanöver. Sie versuchte, Nocturn mit ihrer Lichtmagie auf Distanz zu halten, denn sie wusste, dass sie einem Nahkampf nicht standhalten würde. Zwar konnte sie nicht sterben und konnte ebenfalls keinen Schmerz oder Kraftlosigkeit verspüren, aber jedes Mal, wenn er sie traf, benötigte der Ecience-Körper Lichtmagie, um die getroffenen Stellen wiederherzustellen – ein Prozess, der unkontrollierbar war und automatisch geschah; ein Faktum, das White absolut nicht gefiel.
Nocturn legte es deutlich auf einen Nahkampf an. Sie spürte es; sein Verlangen, zu beweisen, dass er stärker war als sie.
Als die Hikari ihm gerade schwungvoll ausgewichen war, sah sie aus den Augenwinkeln, dass er die Fingernägel seiner linken Hand verlängerte und obwohl sie es sah, konnte sie nichts dagegen tun, dass drei seiner scharfen Nägel ihren Oberkörper durchbohrten.
Kein Schmerz, kein Japsen, kein Blut war zu hören oder zu sehen, als die Fingernägel aus ihrem Rücken wieder hervorbrachen – nur Greens erstickter Schrei. Willentlich hatte Nocturn direkt auf Whites Herz gezielt und dieses nicht nur getroffen, sondern auch durchbohrt.
White, die noch nie zuvor so deutlich bewiesen bekommen hatte, dass sie tot war starrte verblüfft den Punkt an, wo die drei Fingernägel ihren Oberkörper durchbohrt hatten, während Nocturn schweigend ihr Gesicht beobachtete, ehe er die Fingernägel an seinen Fingerspitzen abbrach und White somit einige Schritte zurückstolperte, die Fingernägel aber nach wie vor in ihrem Herzen steckend.
„Dein Herz schlägt nicht mehr, Ma‘chere“, konstatierte Nocturn traurig, als wäre es ihm erst jetzt plötzlich bewusst geworden.
„Du bist tot.“ White achtete nicht auf seine Worte, sondern berührte zögerlich die Fingernägel. Es war ein wahrlich merkwürdiges Gefühl: Auf der einen Seite spürte sie gar nichts, aber mit eigenen Augen zu sehen, dass sie kampfunfähig sein sollte, dass sie ein weiteres Mal gestorben sein müsste … Doch sie war bereits tot; sie war nichts anderes als eine leblose Hülle.
Sie schluckte, denn das Gefühl bereitete ihr Übelkeit und sie musste sich zwingen, sich nicht davon beirren zu lassen, um mit entschlossenen Händen die Fingernägel zu packen und heraus zu ziehen, aus dem Punkt heraus, wo einst ihr Herz saß. Die langen Fingernägel warf sie zu Boden; eine Tat, die Nocturn aufmerksam mit seinen glühenden Augen verfolgte.
„Lass uns weiter machen.“ Nocturn reagierte nicht auf ihre Worte, sondern besah weiterhin seine ehemaligen Fingernägel, an denen kein einziger Tropfen Blut klebte und er hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, dass er eine Gänsehaut hatte.
„Wozu?“, antwortete der Flötenspieler ruhig.
„Damit ich dich ein weiteres Mal in die Hölle befördern kann. Dorthin, wo du hingehörst.“ Ein ironisches Lächeln breitete sich auf Nocturns Gesicht aus und er schien in sich hinein zu lachen, doch antworten tat er nicht.
„Ich weiß, dass ich dir unterlegen bin“, fuhr White mit kalten Augen fort:
„Doch deine Ausdauer geht irgendwann zur Neige. Meine dagegen bleibt standhaft.“
„Das ist doch eine wunderschöne Vorstellung. Auf ewig mit dir kämpfen; auf ewig in einem flammenden Tanz verbunden …“ Anscheinend hatte Nocturn eher ein begrenztes Wissen, was die Ecience-Körper anging, doch das wunderte sie nicht sonderlich. Immerhin hatte das nie zur Debatte gestanden und White hatte nicht im Sinn, nun eine zu führen.
„Doch ich wundere mich über deine Worte“, sagte Nocturn plötzlich und sah nun endlich auf, um Whites Blick zu erwidern:
„Pflegtest du nicht immer zu sagen, dass Rache kein erstrebenswertes Ziel ist? Dass ein solch niederes Bedürfnis dich nicht lenkt? Ist es etwa jetzt etwas anderes, weil ich nun auch für den Tod deines Sohnes verantwortlich bin?“ Einen Moment lang schwieg White, obwohl die Antwort, die sie schlussendlich über die Lippen brachte, ihr von Anfang an klar war, ohne dass sie lange darüber hätte nachdenken müssen:
„In all den Jahren habe ich deine Worte nie vergessen; deinen schrecklichen Schwur, dass du alles, was mir lieb und teuer ist, auslöschen würdest. Deswegen bin ich mir bewusst, dass Greys Tod … nur den Anfang darstellt. Ich weiß nicht, welch boshafte Pläne du verfolgst, doch ich weiß, dass Green nur vor dir sicher sein kann, wenn ich dich auslösche. Welche Gefühle ich mit dem Akt verbinde, sind zweitrangig. Wichtig ist, dass du nicht in der Lage sein wirst, Green in deinen Wahnsinn hinabzustürzen.“ Auch Nocturn schwieg, ehe er auf diese Worte reagierte; mit einem boshaften Lachen, welches jedoch schnell in ein fast ratloses Schulterzucken überging:
„Ach, White, meine liebste, teuerste White! Deine Tochter hat sich bereits selbst in die unheilvolle Teufelsspirale des Wahnsinns gestürzt. Merkst du das nicht? Alles, was für mich zu tun übrig bleibt, ist, ein wenig nachzuhelfen, nichts weiter. Das Unheil, das du vor 18 Jahren verhindern wolltest, ist auch ohne meine Hilfe eingetroffen. Doch du hast recht! Ich verfolge einen Plan; einen Plan, in welchem deine kleine Tochter eine tragende Hauptrolle spielen wird. Denn vergiss nicht! Meine Nocturne, mein Meisterwerk, das Werk, das ich mit dem Tod des elendigen Windwächters begann, ist noch nicht abgeschlossen – nein, eine Strophe ist noch übrig, eine Strophe muss noch geschrieben werden!“ Kaum, dass diese Worte ausgesprochen wurden, erwiderte White sie bereits mit einer felsenfesten Entschlossenheit in der Stimme:
„Nein! Ich werde nicht zulassen, dass dieses teuflische Werk jemals zur Vollendung gebracht wird! Niemals!“ Und wieder brachten ihre Worte den Flötenspieler dazu, zu lachen und noch während das Lachen die feuchte Abendluft durchschnitt, streckte Nocturn seine linke Hand weit hinter sich aus und im selben Moment, wie die Hikari ihren Stab aufleuchten ließ, verlängerten sich die Fingernägel des Dämons zu einer unheilvollen Länge.
„Oh ja, mein Engel! Das ist genau das, was ich von dir hören will! Versuch, mich aufzuhalten! Versuche es! Inspiriere mich! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich deine Worte inspirieren! AHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHA!“
Doch die erwünschte Inspiration blieb aus – gerade in dem Moment, in dem der Stab und die Fingernägel aufeinander zusausten, wurde der Stab plötzlich hoch in die Luft geschleudert und landete direkt vor Green; senkrecht in die Erde gebohrt und geschockt sah Green die Waffe ihrer Mutter an, welche sie jedoch schnell an sich nahm, sich bewusst, dass der Stab immerhin das Glöckchen ihrer Mutter war.
Genauso verwirrt sahen auch White und Nocturn aus; der Letztere hatte offensichtlich nicht dazu beigetragen, dass Whites Waffe nun mehrere Meter von ihr entfernt in den Armen Greens lag. White, die sich reflexartig nach ihrer Waffe umgesehen hatte, bemerkte erst nach Nocturn, was der Grund für die plötzliche Wendung war: denn auch Nocturns Angriff war unterbrochen worden und plötzlich fand er die Hand, die er eben noch zum Angriff hatte benutzen wollen, von einer anderen Hand festgehalten.
Wütend, weil er die Aura erkannt hatte, ehe er die Person ansah, die hinter ihm stand, blickte er über die Schulter, und während er sich aus deren Griff frei riss, fragte er wütend:
„Kannst du mir sagen, was das hier soll?!“ Als Nocturn dies sagte, wandte White sich wieder herum, denn auch sie hatte nun die ihr unbekannte Aura vernommen; eine ziemlich starke, unbekannte Aura und sie war daher auch nicht überrascht, als sie die Person als Youma identifizierte.
Einige Meter entfernt hatte Green im gleichen Moment, in welchem sie den Stab ihrer Mutter an sich genommen hatte, ebenfalls Besuch erhalten: eine Stimme, die sie überaus erleichtert willkommen hieß:
„Ist dir was passiert, Green?“ Wenn es möglich gewesen wäre, würde Green sich Silence am liebsten in die Arme werfen, doch stattdessen drückte sie nur den Stab ihrer Mutter fester an sich und antwortete:
„Weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau …“ Gerne hätte sie die Wahrheit gesagt: dass ihre Beine zitterten und sie die Furcht immer noch nicht verlassen hatte; doch ihre Furcht auszusprechen und sich dieser bekennen, war ihr weitaus unwillkommener, als dass Silence ihre Gedanken las: was sie ganz offensichtlich tat, denn sie schwieg einige Sekunden, ehe sie sagte:
„Du hast dich tapfer geschlagen.“ Nein, hatte sie nicht, absolut nicht. In diesem Moment wünschte Green sich zum ersten Mal Silence‘ harte Kritik und nicht aufmunternde Worte, denn sie wusste, dass sie sie nicht verdient hatte. Green war sich sicher, dass Silence diese Gedanken ebenfalls las, doch sie erwiderte nichts darauf; nur einen Augenblick lang besah Silence sich Green und die ohnmächtige Firey aufmerksam, ehe sie ihren Blick abwandte und wie die junge Hikari ihre Aufmerksamkeit auf das Schlachtfeld richtete.
„Was das hier soll? Eine solche Frage sollte ich eher an dich richten!“, lautete Youmas Antwort auf Nocturns erboste Worte. Doch anstatt diesem Zeit zu lassen, zu antworten, fuhr Youma ebenso gereizt fort:
„Was führst du hier für einen sinnlosen Kampf? Hast du nicht begriffen, dass man bereits verstorbene Hikari nicht bekämpfen kann und es somit ein absolut sinnloses Unterfangen ist, es zu tun?“ Dass Youma dort auftauchte, bestätigte Whites Theorie: Er also war es, dem sie es zu verdanken hatte, dass Nocturn wieder lebte. Warum er es getan hatte, konnte sie sich nicht erklären, doch Fakt war, dass diese Kombination von zwei so starken Dämonen alles andere als positiv war. Ihre Waffe war momentan zu weit von ihr entfernt, doch sie vertraute Green, dass sie auf ihren Stab und ihr Glöckchen aufpassen konnte – und sie war keine Hikari, die ohne ihren Stab nicht kämpfen konnte.
Hizashi hatte den Hikari vor einigen Monaten erklärt, dass ihre Lichtmagie nicht sonderlich effektiv auf Youma sein würde, da er das Blut einer Wächterin in sich trug, die obendrein auch noch ihr natürlicher Gegenpol war. Deutlich erinnerte sie sich an Hizashis Worte, dass es sehr wahrscheinlich war, dass deren Lichtmagie nur 35% vom eigentlichen Schaden anrichten würde. Mit anderen Worten waren die Kampfvorausetzungen nicht gut. Ihr Ecience-Körper schien zwar noch nicht an seine Grenzen gestoßen zu sein, doch lange konnte es nicht mehr dauern ...
Ganz offensichtlich hatte Youma allerdings nicht vor, Nocturn im Kampf zu unterstützen oder sich selbst irgendwie in einen Kampf einzumischen:
„Anstatt hier rumzuspielen, sollten wir lieber zurückkehren.“ Die Art, wie er das letzte Wort betonte, ließ White darauf schließen, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen; etwas, was nicht für Whites Ohren bestimmt gewesen war. Doch Nocturn achtete nicht auf die gereizten Worte Youmas, ignorierte ihn regelrecht, indem er einige Schritte vorging, eine elegante Pose vollführte und erklärte:
„Wenn ich vorstellen darf, Ma’chere: Das ist Youma, derjenige, der so überaus freundlich war, mich wiederzubeleben.“ Täuschte White sich, oder war da eine Spur Sarkasmus zu hören?
„Und wie es scheint, ist er ein ziemlicher Spielverderber.“ Der Halbdämon schien alles andere als darüber erfreut zu sein, dass Nocturn ihn White vorgestellt hatte, doch anstatt deren Worten zu lauschen, richtete White ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes, oder genauer gesagt, jemand anderes: ein Mädchen. Einige Meter hinter Youma befand sich ein Mädchen, welches White nicht eher aufgefallen war, da sie keine Aura besaß. Doch ganz unzweifelhaft war sie eine Dämonin, worauf ihre großen, roten Augen hinwiesen und als sie hinter Youmas Schatten hervortrat, sah White auch, weshalb sie keine Aura spüren konnte: In der Hand des kleinen Mädchens lag ein roter Ingnix. Kaum, dass White sie klar erkennen konnte, fiel ihr auch auf, dass sie sich beim Alter des Mädchens geirrt haben musste. Denn obwohl sie ein kindliches Gesicht hatte und eine eher geringe Körpergröße, hatte sie den Körper einer jungen Frau, welcher unter einem blauen Rüschenkleid verborgen lag. Ihre Haare waren auffällig hell; ein sehr helles blond, welches unter einem blauen Barett hervorlugte. Sie wirkte unschuldig und sehr unsicher; ganz anders als andere Dämonen, die White auf dem Schlachtfeld getroffen und bekämpft hatte. Ihre Augen verrieten einen schüchternen Charakter und sie waren glasig, als würde sie jeden Moment Tränen vergießen.
Verwundert beobachtete White das fremde Mädchen; beobachtete ihre unsicheren, ja fast tollpatschigen Bewegungen, als sie sich hinter Youma vorbei schlich, um hinter Nocturn zu gelangen.
Er bemerkte sie nun ebenfalls und White war wahrlich überrascht, ihn plötzlich lächeln zu sehen; es war ein warmes Lächeln, ein Lächeln, welches sie selten von ihm gesehen hatte. Zu ihrer Überraschung hob er das unsichere Mädchen hoch in seine Arme und wandte sich daraufhin zu White herum, da er natürlich ihren fragenden Blick bemerkt hatte:
„…und dieses überaus reizende Wesen ist meine Tochter: Feullé Le Noires.“
„White!“ Nocturns Gesichtszüge hatten sich augenblicklich entspannt, als er Whites Aura gespürt hatte – und genauso augenblicklich war Green für ihn komplett uninteressant geworden, weshalb sie auch sofort die Kontrolle über ihren Körper zurückerhalten hatte. Einen Augenblick lang blieb Nocturn in der Luft hängen, und wenn Green nicht zu sehr von ihrer eigenen Erleichterung betäubt und eingenommen gewesen wäre, so wäre ihr Nocturns seliger Tonfall aufgefallen – oder wie viel Ergriffenheit und Freude er in die Betonung ihres Namens gelegt hatte.
Green sah nicht das, was er in diesem Moment wahrscheinlich sah: Sie achtete nicht darauf, wie ihre weißen Haare im Wind hinter ihr her wirbelten, achtete nicht auf die Falten des weißen Kleides, welches ihren Körper betonte und gleichzeitig alles verbarg. Auch die undurchdringliche Härte in ihren weißen Augen bemerkte sie nicht, die Shaginais ähnlicher denn je sahen, als sie Nocturns Blick erwiderten und seinen Bewegungen folgten, als dieser wieder landete und auf sie zu eilte. Nein, Green sah das alles nicht; sie sah nur ihre Mutter, die endlich kam, um ihnen zu helfen, um sie zu beschützen, die sie vor diesem Albtraum bewahren würde und – die Firey helfen konnte, weil Green es nicht konnte.
„Endlich, White, endlich! Du hast mich warten lassen! Ich bin schon einen Monat wieder am Leben, weißt du eigentlich, wie schrecklich das war? Wie sehr ich dich vermisst habe? Aber nein, nein, eigentlich kommst du genau zum richtigen Zeitpunkt, entschuldige, ich wollte dir keinen Vorwurf machen, mein Engel, meine White, meine Heilige …“
Ihr Blick wurde augenblicklich härter und als hätte sie es ihm befohlen, verstummte er nicht nur sofort, sondern blieb auch sofort stehen und wirkte sogar ein wenig eingeschüchtert und enttäuscht, dass sie seine Wiedersehensfreude nicht teilte. Green hatte keine Ahnung, was er alles in ihrem Blick las, aber er sagte ihm offensichtlich, dass er zurückweichen sollte, denn das tat er und erst, als White sah, dass er seine Hände auf dem Rücken platzierte, kehrte sie ihm den Rücken zu. Er unternahm nichts, als White sich zu den beiden Mädchen herunterbeugte, folgte nur aufmerksam jeder einzelnen Bewegung ihres Körpers, bemerkte jedes einzelne Mal, wo sie blinzelte, jede Strähne ihres Haares, das sich bewegte.
Nocturn fühlte den unbändigen Drang, sich auf sie zu stürzen, sie zu umarmen, sie an sich zu drücken, ihren Körper zu berühren, ihren Duft in sich aufzunehmen, doch er war wie gelähmt – gelähmt von seiner eigenen Faszination und der unbändigen Wiedersehensfreude.
White war sich dessen nicht bewusst; wollte sich dessen nicht bewusst sein und doch wandte sie ihm unbesorgt den Rücken zu, ignorierte ihn förmlich. Denn obwohl sie keinen Einblick in Nocturns aufgewühltes Seelenleben hatte, so wusste sie, dass er sie nicht angreifen würde. Sie kannte ihn. Ironischerweise wahrscheinlich besser als jedes andere Lebewesen.
„Green, ganz ruhig, mein Mädchen. Alles ist gut, deine Freundin wird es überleben, weine nicht.“ Doch Green konnte die Tränen nicht zurückhalten, die nun unbändig an ihrem Gesicht herunterliefen und sich mit dem Schmutz und dem Blut vermischten, während sie den strahlenden Händen ihrer Mutter dabei zusah, wie sie Fireys Oberkörper abtasteten, an einigen Stellen verharrten und leicht über jenen Stellen kreisten.
„M-Mutter, wie … wie ist das möglich!? Wie ... wie kannst du Firey heilen …? Und deine Aura, sie ist so …“ White lächelte beruhigend, doch sah Green nicht an, da sie sich auf die Heilung konzentrierte, und antwortete:
„Das erkläre ich dir später, wenn wir Zuhause sind.“ Zuhause! Oh, wie gut das klang, wie Musik, wie wunderbare Musik …
„Sie hat zwei gebrochene Rippen …“, stellte White fest, während ihre leuchtenden Fingerspitzen über Fireys Körper fuhren.
„… und sehr viel Blut verloren. Das Blut kann ich nicht wiederherstellen, doch die gebrochenen Rippen habe ich heilen können. In akuter Lebensgefahr schwebt sie nicht, doch sie sollte dennoch so schnell es geht ins Sanctuarian eingeliefert werden.“ Green nickte, nach wie vor immer wieder einen nervösen Blick zu Nocturn werfend, den White weiterhin gekonnt ignorierte. Stattdessen richtete sie wieder ihr Wort an ihre Tochter:
„Bleib du nun bitte hier bei Firey-san.“ Die Hikari richtete sich auf, wobei ihr langer Rock um sie herum wirbelte. Green sah zu ihr auf und bemerkte eine kühle Entschlossenheit in den Augen ihrer Mutter.
„Ich werde Tee trinken gehen.“
Irgendwo in der Dämonenwelt, abseits von jeglichen Kämpfen und Auseinandersetzungen, richtete sich plötzlich ein Halbdämon auf, als wäre er von einer Wespe gestochen worden. Silver hatte nur ein einziges Mal geblinzelt, ehe ihm klar wurde, dass etwas absolut nicht richtig sein konnte – er war in der Dämonenwelt! Warum, wieso, wie war er hierher gekommen? War er nicht gerade noch in Litauen gewesen? Hatte er nicht … hatte er nicht mit Firey gesprochen?
„Silver-sama!“ Der Angesprochene drehte sich beinahe erschrocken zu der Quelle der Stimme herum und sah Rui neben sich hocken. Erst in diesem Moment bemerkte er, wo er war – er befand sich an dem Ort, von dem aus er auch die Dämonenwelt verlassen hatte. Der Kampf, den Azuma, Karou und er sich geliefert hatten, hatte das Gebiet deutlich gezeichnet, und obwohl keine Kampfhandlungen mehr im Gange waren, schien die Erde sich immer noch ätzend zu beklagen und ihren Schmerz zu bejammern.
„Was … zur … Hölle. Was zur Hölle ist passiert?“ Silver richtete sich nun gänzlich auf; ein wenig wackelig auf den Beinen und mit Kopfschmerzen, was Rui ihm nachtat, und sichtlich verwirrt sah der Rotschopf sich um, versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er zwang sich dazu, nachzudenken und die geschehenen Ereignisse logisch anzuordnen: Er war mit Firey nach Litauen geflohen, sie wollte ihm etwas erzählen, doch dann … was passierte dann? Er wurde von etwas niedergeschlagen, nein, von jemandem. Hatte dieser Jemand ihn auch wieder in die Dämonenwelt gebracht? Aber wozu? Und was war mit Firey geschehen? Silver konnte sich nicht daran erinnern, ob er zuerst niedergeschlagen worden war, oder sie …
„Vielleicht sollten wir erst einmal nach Hause gehen, Silver-sama?“
„Das … ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.“ Und mit diesen Worten teleportierten Silver und Rui sich gleichzeitig auf die Rückseite von Ri-Ils Anwesen, wo er allerdings nicht lange verweilte, sondern sofort weiterging, um das große Anwesen zu umrunden und zum Innenhof zu gelangen, wo er nicht darauf achtete, wie verdächtig ruhig es war; anders als Rui, die sofort stehen blieb und sich fragend umsah. Sie stellte auch die offensichtliche Frage, wo denn alle hin währen, doch Silver überhörte sie.
Er wollte sofort in sein Zimmer, denn kaum hatten sie Ri-Ils Anwesen erreicht, hatte er es gespürt – das, was er seit Tagen, gefühlten Wochen, nicht gespürt hatte. Die Aura seines Bruders.
Doch bevor er seinen Schlüssel hervorholte, wandte er sich noch einmal zu Rui herum, die sich nach wie vor besorgt umsah.
„Finde heraus, was hier los ist. In Ordnung, Rui?“ Sein Interesse daran, was passiert war, war eher mittelmäßig, doch er wollte alleine mit seinem Bruder reden. Er musste ihm von Firey erzählen; dass sie extra gekommen war, um ihm etwas zu erzählen – er wusste zwar nicht was, aber dass es enorm wichtig war und mit Green zu tun hatte. Immerhin schien die Nachricht nicht nur für Silvers Ohren gewesen zu sein, sondern besonders für Blues … Vielleicht würden sie sich zusammen einen Reim daraus machen können, und wenn nicht, dann brauchte Silver auf jeden Fall jemanden, mit dem er darüber reden konnte – und sowieso musste er seinem Bruder die Leviten lesen, dass er ihn einfach so verlassen hatte, ohne einen Ton zu sagen.
Beschwingt, vielleicht ein wenig zu inbrünstig, öffnete Silver die Tür zu deren kleinem, rechteckigen Zimmer und wollte sogleich den Namen seines Bruders rufen, als etwas ihn zum Schweigen brachte.
Unter seinen Füßen klebte Blut. Der ganze Teppich war übersät von Blutflecken, die eine blutige Spur zu Blue formten, der in dem unteren Etagenbett lag und zu schlafen schien. Er hatte sich nicht umgezogen, lag in seiner kompletten Uniform regungslos auf dem Bett – nur seine Stiefel lagen neben ihm auf dem Boden.
Silver roch sofort, dass das Blut Blues Eigenes war. Er war verletzt – aber wovon? Mit wem hatte er gekämpft?
Die Tür hinter Silver fiel zu und erschrak nicht nur ihn selbst, der gebannt seinen schlafenden Bruder angestarrt hatte, sondern auch Blue, der zusammenzuckte. Der Rotschopf sagte nichts, blieb an der Tür stehen und sah seinem Bruder zu, wie er sich unter Stöhnen und offensichtlichen Kopfschmerzen aufrichtete, die Füße auf den blutbefleckten Boden aufsetzte, um daraufhin seine Hand in seinem Pony zu vergraben.
„Mein Kopf …“ Erst da schien Silver seine Stimme wiederzufinden. Er schüttelte den Kopf, versuchte ein Grinsen hervorzuzaubern und sagte neckisch:
„Sag mir nicht, dass du getrunken hast, Aniki! Hast du dir daraufhin etwa mit irgendeinem Saufbold einen Kampf geliefert? Du siehst ganz schön fertig aus.“ Er lachte, doch sein Lachen klang künstlich – er glaubte selbst nicht daran. Silver spürte bereits, dass ihm die Wahrheit nicht gefallen würde – dass er sie eigentlich nicht hören wollte. Doch sie kam. Zerstörerisch und unbarmherzig stürzte die Wahrheit auf Silver hinab und erdrückte ihn:
„Ich habe Grey umgebracht.“
Genauso ruhig, wie White gekommen war, so verließ sie Green jetzt auch wieder. Nur einen kurzen Augenblick hatte Green das dringende Bedürfnis, ihre Hände nach ihrer Mutter auszustrecken und sie darum zu bitten, bei ihr zu bleiben. Doch sie tat es nicht, unterdrückte diesen Impuls, denn sie wusste, dass sie nun nicht an der Reihe war – dass ein Kampf, der beinahe ein ganzes Jahrzehnt angedauert hatte, nun fortgesetzt werden würde.
Ruhig, ohne zurückzuschrecken, schritt White auf Nocturn zu, der sie nach wie vor aufmerksam ansah. Erst als sie um die fünf Meter von ihm entfernt war, blieb sie stehen, schweigend, den Blick nun jedoch erwidernd. Green konnte nicht klar beurteilen, wie lange sie dort einfach nur standen und sich ansahen, bis White die Stille brach. Die Worte konnte Green nicht hören, zu weit war sie dafür entfernt und so hörte sie auch die ersten Worte, die White nach 18 Jahren an Nocturn richtete, nicht;
„Sorge dafür, dass meine Tochter kein Wort von unserem Gespräch mit anhören kann.“ Verwundert hoben sich Nocturns Augenbrauen; anscheinend waren dies nicht die Worte, die er erwartet hatte, zu hören. Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf seinem spitzen Gesicht aus, als er antwortete:
„Hast du etwa Geheimnisse vor ihr, Ma’chere?“ Er lächelte zufrieden, als er das letzte Wort formte, darüber erfreut, es wieder benutzen zu können. Whites Augen blieben jedoch hart, und ohne dass sie etwas erwidern musste, fügte Nocturn sich, indem er die Schultern hob.
„Ich will mit dir reden“, sagte White ohne einen Hauch von Freundlichkeit, ohne einen Hauch von Gefühl. Nocturn ließ sich davon nicht abschrecken – nein, er freute sich eher darüber.
„Wenn du ein Gespräch wünscht, White, dann sollten wir vielleicht einen gemütlicheren Ort aufsuchen. In Rue de Rivoli hat ein sehr gemütliches Café geöffnet. Die Kuchen dort werden dir garantiert auch gefallen, mein Engel!“
„Ich bin nicht hier, um alte Zeiten aufleben zu lassen“, entgegnete White hart auf die heiteren Worte Nocturns, der sich davon nicht einschüchtern ließ. Doch die Hikari kam ihm zuvor:
„Ich verlange die Wahrheit von dir. Ich verlange, dass du mir die Wahrheit über Greys Tod erzählst.“
„Das ist ein Witz.“ Auf Silvers Gesicht befand sich ein Lächeln: ein leeres, hohles Lächeln, das zu seiner Maske der Ungläubigkeit passte. Blue sah diese Maske jedoch nicht. Er saß mit nach unten gebeugtem Kopf auf seinem Bett, die Arme auf seinen Knien abstützend.
„Nein, das ist es nicht.“ Auch die Stimme Blues war hohl. Sie war ruhig, aber auch ein wenig schwach. Ohne seinen Blick von Blue zu nehmen, durchstreifte der Rotschopf das Zimmer und setzte sich vor Blue auf den Boden, ohne es bewusst zu realisieren.
„Du hast … Grey umgebracht.“
„Ja.“
„Du hast Green-chans großen Bruder umgebracht.“ Dieses Mal antwortete Blue nicht und schnell verfielen sie in ein Schweigen. Silver wusste, dass es wahr war – dass sein Bruder es tatsächlich getan hatte. Dennoch spürte er nichts in sich, was ihn wunderte. Keine Wut war in seinem Bauch zu spüren. Keine Abscheu, keine Gräuel. Er war einfach … geschockt – und gelähmt von dem Schock.
„Warum?“ Keine Betonung lag in den Worten Silvers. Es war nichts als eine simple Frage. Die Antwort war von der gleichen Einfachheit geprägt:
„Er wusste es. Er wusste alles. Irgendwie hat er es herausgefunden, ich weiß nicht wie. Er wollte es Green sagen und dann wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, ehe die Hohen es erfahren hätten. Ich musste es tun. Ich musste ihn aufhalten. Niemand darf die Wahrheit erfahren. Ansonsten …“
„Deswegen hast du ihn umgebracht. Weil er … alles wusste.“
„Ja.“ Wieder schwiegen sie. Silver wollte gar nicht mehr erfahren, doch die Fragen purzelten aus seinem Mund:
„Warum warst du überhaupt im Tempel?“ Blue antwortete nicht sofort, sondern erst nach ein paar Sekunden:
„Ich wollte … ich wollte Green sehen. Ich habe sie vermisst.“ Erst in diesem Moment erwachte etwas in Silver. Ein Gefühl kam empor; er wusste nicht, was für eines es war, konnte es nicht klar definieren. Aber etwas passte nicht … irgendetwas passte nicht, doch er wusste nicht, was es war. Denk nach Silver, denk nach!
Doch Silvers Gedanken wurden jäh unterbrochen; von einer Faust, die die Wand rammte. Erschrocken sah der Rotschopf auf und sah seinen Bruder, wie der Zorn und die Verzweiflung plötzlich sein Gesicht überrannten:
„Ich hätte ich es nicht tun dürfen! Es hätte nicht passieren dürfen! Ich hätte mit Grey reden sollen, noch mehr, als ich es getan habe! Doch er beharrte darauf! Beharrte darauf, dass Green es erfahren musste und dass das alles geklärt werden musste! Sagte, ich könne im Tempel bleiben, dich würde man schon holen können. Wie naiv er war! Als ob die Hohen es zulassen würden! Als ob die Hohen, als ob Ri-Il es zulassen würde, dass wir irgendwo in den Wolken versteckt leben könnten, glücklich sein könnten! Auf ewig versteckt, während Green auf dem Schlachtfeld kämpft! Wie lange dachte er würde das gut laufen!? Ich wollte ihn aufhalten, wollte ihn nur aufhalten … damit du kommen könntest und ihm die Erinnerungen wegnehmen könntest … Doch er griff mich an, wollte mich mit Gewalt dort festhalten! Meinte, ich solle nicht so egoistisch sein. Er sagte … er sagte, dass ich Greens strahlendes Lächeln zurückbringen musste … Als ob das möglich wäre! Als ob das für MICH möglich ist! Und dann … ich musste mich doch wehren. Er wollte mich da lassen, wollte mich in irgendeinen Kerker sperren und die gesamte Wahrheit aus mir herauspressen, damit Green sie hört … warum hat er denn nur nicht eingesehen, dass Green diese Wahrheit nicht hören darf … warum hat er denn nur nicht verstanden, dass es so viel besser ist … dass ich nicht derjenige bin, der Greens Lächeln jemals wieder zurückbringen kann … Ich darf nicht bei ihr sein. Ich bringe ihr nichts als Schmerz.“ Ruhe senkte sich über Blue. Die Faust fiel herunter und landete auf dem Bett. Silver hatte seinen verzweifelten Worten gelauscht, ohne etwas zu sagen. Doch als Blue schwieg, konnte er eine Frage nicht zurückhalten. Eine Frage, die vielleicht unsinnig war, aber Blue aus seinen Gedanken weckte:
„Wie bist du eigentlich in den Tempel gekommen? Die Sicherheitsvorkehrungen sind doch wieder aktiv, also … wir sind keine Ausnahmen mehr?“ Blue hatte den Kopf erhoben und sah ihn nun verwundert an. Im ersten Moment war es eine Verwunderung, als ob er sich fragte, ob Silver ihm überhaupt zugehört hatte, doch dann dachte er länger über die Frage nach – und dann geschah etwas Eigenartiges auf seinem Gesicht, was Silver nur für eine Sekunde oder zwei sah: Seine Augen wurden plötzlich leer und dann … schien ihn etwas enorm zu schmerzen. Doch gerade als Silver ihn fragen wollte, was mit ihm los war, öffnete die Tür sich mit einem Ruck und völlig außer Atem stand Rui in der Tür. Beide Halbdämonen sahen sie verwirrt an und Rui gönnte sich keine Atempause, ehe sie folgende Worte verkündete:
„Wir sind im Krieg! Ohne dass wir es bemerkt haben, hat der Krieg angefangen!“
„Dein Sohn muss ganz schön schwach sein, wenn er sich bereits am ersten Tag des Krieges töten lässt. Haben deine Kinder denn gar nichts von dir geerbt? Deine kleine Tochter kam nicht mal auf die Idee, auf Japanisch zu denken, um mich damit aus ihren Gedanken auszuschließen.“ White ließ sich von diesen Worten nicht provozieren. Mit einer eisernen Ruhe erwiderte sie seinen herausfordernden Blick, denn sie wusste, dass Nocturn sie nur aus der Reserve locken wollte. Er wollte ihre Wut sehen, wollte ihren Hass spüren; er verlangte danach festzustellen, dass er diese bitteren Gefühle immer noch in ihr wecken konnte.
„Nocturn, ich weiß, dass du es warst, der meinen Sohn tötete.“
„Ah, ich liebe es, meinen Namen geformt von deinen Lippen zu hören, mein Engel!“ Er grinste wie ein kleines Kind, ehe er weiter machte:
„Aber ich sollte wohl mein Beileid aussprechen, nicht wahr, White? Immerhin ist dein Sohn gestorben. Mir ist zu Ohren gekommen, er sei talentiert gewesen, ein netter großer Bruder und sicherlich ein guter Sohn, auf den du stolz warst. Und so einfach gestorben. Bevor der Krieg überhaupt begann …“ Beide Arme streckte Nocturn aus und bewegte sich plötzlich auf White zu, während er fortfuhr mit seinen spöttischen Worten:
„Ja, er war ein wirklich guter Wächter. Ganz wie sein Vater. Beide riefen sie kein einziges Mal um Hilfe. Beide flehten nicht. Beide waren dreist. Beide verärgerten mich. Beide mussten sterben.“
Mit Freude, ja, mit tiefer Befriedigung bemerkte Nocturn sofort die Veränderung in Whites Gesicht bei der Erkenntnis, dass ihr Verdacht richtig gewesen war - und schon keimte die Wut über den Hohn in Nocturns Stimme in ihr empor, wurde jedoch sofort von ihrer verbissenen Ruhe verschluckt – genau wie die Verzweiflung und die Vorstellung, wie Grey gestorben war.
Ja, Nocturn hatte nie vorgehabt, es ihr zu verschweigen. Dieser Anblick, dieses Schauspiel der Gefühle in der doch so in sich gekehrten White, die er, nur er, wecken konnte, war einfach zu inspirierend!
Er hatte keine Hemmungen ihr näher zu kommen. Unerschrocken tat er einen Schritt vor den anderen und ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, setzte er fort:
„Selbst als dein Sohn verstand, was hinter meinem kleinen Bolero verborgen lag, versuchte er nicht zu fliehen, obwohl ihm da bereits klar war, dass der Halbdämon ihn umbringen würde! Oh, es war so einfach, White, so einfach! Ich befürchtete ja bereits, dass ich aus der Übung gekommen wäre – haha! – aber Blue fügte sich mir so bereitwillig, als hätte er nur darauf gewartet, dass jemand Fäden um ihn legt. Du hättest dabei sein sollen, White, es war wirklich ein atemberaubendes Schauspiel! Wie dein Sohn immer wieder versuchte, auf den Halbdämon einzureden, obwohl er wusste, dass er sein Mörder werden würde!“ Von seinen eigenen Worten berauscht, begann Nocturn plötzlich zu lachen; ein Lachen voller Boshaftigkeit, voller Freude darüber, wie erfolgreich er dieses Drama inszeniert hatte und beinahe in Ekstase fuhr der Flötenspieler fort:
„Als ob der kleine Halbdämon sich aus meinen Fäden befreien könnte! Als ob er dazu in der Lage gewesen wäre! Nein, nichts spürte er, nichts hörte er – ohne mit der Wimper zu zucken, griff er den armen Grey immer wieder an! Wir richteten ein ganz schönes Blutbad an, aber das hast du sicherlich schon gesehen, nicht wahr, White?“
Und ganz plötzlich schwieg Nocturn. Er senkte seinen Kopf wieder, den er angehoben hatte, um sie von oben herab anzusehen und sein boshaftes Grinsen formte sich zu einem fast schon ruhigen Lächeln:
„Hat es dich an Kanori erinnert, White? Komm, sag es mir, sag mir, ob ich alles richtig gemacht habe … Habe ich mich an alle Details gehalten? Habe ich es gut inszeniert? Tat es weh? Sag es mir! Sag es mir!“ Dies brachte das doch so gut versiegelte Fass zum Überlaufen. Die gekünstelte Ruhe in Whites Augen zerbrach und von einem Moment zum anderen hatte sie plötzlich wieder ihre Waffe in der Hand – die Waffe, die nun auf Nocturn zuschnellte, der dieser geschickt und mit einem wahnsinnigen Grinsen seitlich auswich. Doch anstatt den Stab zurückzuziehen, wirbelte sie ihn seitlich, wollte Nocturn an der Hüfte erwischen, ehe er wieder an einem anderen Punkt auftauchen würde, doch war zu langsam. Als der Stab auf Nocturn zusauste, sprang dieser hoch und landete direkt auf ihm, allerdings berührten nur die Spitzen seiner schwarzen Stiefel das weiße Material des Stabes. Aus dieser Position heraus, grinste er sie neckend und mit einer Spur Boshaftigkeit an, stemmte die Arme in die Hüfte und konstatierte:
„Du bist aus der Übung, White! Aber das ist ja auch nicht weiter verwunderlich – für mich ist es, als wäre es gestern gewesen, dass wir gegeneinander gekämpft haben, aber für dich sind 18 lange Jahre vergangen!“ Nocturn hatte recht; dessen war White sich bewusst. In den letzten 18 Jahren hatte sie kein einziges Mal ihre Waffe geschwungen, geschweige denn trainiert. Zwar hatte sie ihre Lichtmagie wieder, doch es war ein befremdliches Gefühl und es fiel ihr schwer, ihre neuen Grenzen einzuschätzen. Aus diesem Grund ärgerte sie sich bereits darüber, dass sie den Kampf eröffnet hatte, dass ihre Gefühle mit ihr durchgebrannt waren – hätte sie nur Ruhe bewahrt, dann hätte sie ihn vielleicht mit Worten dazu bringen können, von einem Kampf abzusehen. Jetzt musste sie darauf vertrauen, dass ihr Ecience-Körper lange genug erhalten blieb und die Tatsache, dass sie erst kürzlich eine flächenumfassende Barriere erschaffen hatte, war nicht gerade hilfreich. Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, wie viel Lichtmagie sie noch übrig hatte – vor allen Dingen, weil sie ihren Ecience-Körper noch nie bis an dessen Äußerstes gedrängt hatte.
White musste es drauf ankommen lassen. Sie musste ihre Lichtmagie anwenden, ob sie und ihr Ecience-Körper das nun wollten oder nicht.
Von ihrem Standpunkt aus hatte Green dabei zugesehen, wie Nocturn und White miteinander gesprochen hatten, während sie die ohnmächtige Firey in den Armen gehalten hatte. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie nichts von dem Gespräch der beiden hören konnte, da sie einfach nur annahm, dass sie nichts hören konnte, weil die beiden zu weit weg waren. Doch als sie sah, dass White die Kampfhandlungen eröffnet hatte, richtete sie sich zusammen mit Firey auf, bereit zu handeln, falls sie Abstand nehmen musste.
Doch lange stand sie nicht aufrecht, denn sobald sie sich aufgerichtet hatte, sah sie – nur für einen kurzen Augenblick – dass die Hände und Arme ihrer Mutter aufstrahlten – und schon im nächsten Moment fiel sie samt Firey auf die Knie, niedergerungen von einer kräftigen Druckwelle und hätte sie nicht sofort aus Reflex ihre Augen geschlossen, hätte sie mit eigenen Augen gesehen, dass der gesamte Umkreis plötzlich von einer hellen Lichtkugel erleuchtet worden war.
Spüren konnte Green die Magie, die über Firey und sie hinwegfegte, jedoch schon und auch, dass es nicht allein Lichtmagie war, sondern auch die Magie Nocturns. Der enorme Druck fegte den blauen Hut von Green Kopf und ließ ihre nussbraunen Haare wild um sie herum wirbeln. Höchstwahrscheinlich hatte Nocturn ebenfalls eine magieintensive Attacke gegen die von White eingesetzt, was zu einer Explosion geführt hatte – genau, wie Green es damals in der Spieluhr ihrer Mutter gesehen hatte. Es aber live und in Farbe zu sehen und zu spüren, war nochmal eine ganz andere Größenordnung!
Doch keiner der beiden Kontrahenten gönnte sich in irgendeiner Art eine Verschnaufpause und es war Green absolut unverständlich, wie sie nach so einer großen Entladung von Magie immer noch aufrecht stehen geschweige denn einfach weiter kämpfen konnten. Kaum, dass der Druck verschwunden war, setzte Nocturn mit einer Salve von schwarz glühenden Strahlen nach, denen White geschickt auswich; ein Schauspiel, dem Green ungläubig folgte – sie wäre gewiss von allen fünf getroffen worden! Nocturn wurde von White und einem – wie Green vermutete – Light Spirit, der mindestens doppelt so groß war wie Greens, getroffen, woraufhin er in die Luft geworfen wurde, wo er sich jedoch nach mehreren Meter Flug auffing und zum Gegenangriff ausholte. White wich aus, doch Nocturn tauchte hinter ihr auf, von wo aus er sie mit einer gezielten Bewegung seines Ellenbogens seitlings zu Boden warf – und als wäre nichts geschehen, griff ihre Mutter sofort wieder vom Boden aus an, mit einer für Green unbekannten Attacke, die Nocturn im ersten Moment mit seiner eigenen Magie blockte, sich aber doch anders entschied und der Attacke stattdessen auswich. Green erschreckte sich plötzlich, als Nocturn einige Meter von ihr entfernt auftauchte, jedoch nicht auf sie achtete, da er damit beschäftigt war, White auszuweichen, die mit ihrem Stab auf ihn gezielt hatte. Mit einer Hand auf Greens Schulter sprang er geschickt über sie hinweg, und noch während er verkehrt herum in der Luft hing, entfesselte er wieder eine Strahlenattacke, der White diesmal nicht auswich, da sie Green zu nah war, sondern sie mit einer leuchtenden Hand auffing und sie mit einem entschlossenen Hieb umleitete, so dass der geackerte Boden von einem weiteren hässlichen Krater entstellt wurde. Und so schnell, wie sie vor der fassungslosen Green aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden.
„S-Sieh dir das an, Firey… das ist Wahnsinn. Das ist absoluter Wahnsinn!“ Die Stimme Greens zitterte und natürlich war ihr klar, dass Firey sie nicht hören konnte, doch sie musste dieses Spektakel einfach kommentieren. Für sie ergab es überhaupt keinen Sinn, wie beide, obwohl sie bereits öfter von der Magie des anderen niedergerungen worden waren, so schnell wieder aufstehen konnten und mit der gleichen Entschlossenheit und Kraft den Kampf fortsetzen konnten! Das einzige, was Green feststellen konnte, war, dass deren Kleidung in Mitleidenschaft gezogen wurde, was besonders bei White deutlich war, da sie immerhin ein sehr helles Kleid trug, welches nun mit braunen und schwarzen Flecken übersät war. Allerdings sah man keine Verletzungen, anders als bei Nocturn, dessen Kleidung blutgetränkt war, dank einer Attacke Whites, die seine Hüfte gestreift hatte. Keinen Moment zweifelte Green daran, dass sie beide gleich stark waren; gleich übermächtig – und diese von ihr als Tatsache befundene Erkenntnis schockierte sie.
Doch die Wahrheit sah anders aus. White war Nocturn unterlegen. Die 18 Jahre, in denen sie nicht gekämpft hatte, waren eine zu lange Zeit gewesen; sie waren nicht länger ebenbürtig. Zwar war ihre Lichtmagie noch genauso mächtig wie vor 18 Jahren, aber sie war wahrlich eingerostet, nicht zu vergleichen mit der Zeit, wo die beiden sich fast in jeder Nacht bekämpft hatten; Nächte, in denen sie jede Technik des anderen auswendig lernten, jede Gewohnheit, jedes Ausweichmanöver. Sie versuchte, Nocturn mit ihrer Lichtmagie auf Distanz zu halten, denn sie wusste, dass sie einem Nahkampf nicht standhalten würde. Zwar konnte sie nicht sterben und konnte ebenfalls keinen Schmerz oder Kraftlosigkeit verspüren, aber jedes Mal, wenn er sie traf, benötigte der Ecience-Körper Lichtmagie, um die getroffenen Stellen wiederherzustellen – ein Prozess, der unkontrollierbar war und automatisch geschah; ein Faktum, das White absolut nicht gefiel.
Nocturn legte es deutlich auf einen Nahkampf an. Sie spürte es; sein Verlangen, zu beweisen, dass er stärker war als sie.
Als die Hikari ihm gerade schwungvoll ausgewichen war, sah sie aus den Augenwinkeln, dass er die Fingernägel seiner linken Hand verlängerte und obwohl sie es sah, konnte sie nichts dagegen tun, dass drei seiner scharfen Nägel ihren Oberkörper durchbohrten.
Kein Schmerz, kein Japsen, kein Blut war zu hören oder zu sehen, als die Fingernägel aus ihrem Rücken wieder hervorbrachen – nur Greens erstickter Schrei. Willentlich hatte Nocturn direkt auf Whites Herz gezielt und dieses nicht nur getroffen, sondern auch durchbohrt.
White, die noch nie zuvor so deutlich bewiesen bekommen hatte, dass sie tot war starrte verblüfft den Punkt an, wo die drei Fingernägel ihren Oberkörper durchbohrt hatten, während Nocturn schweigend ihr Gesicht beobachtete, ehe er die Fingernägel an seinen Fingerspitzen abbrach und White somit einige Schritte zurückstolperte, die Fingernägel aber nach wie vor in ihrem Herzen steckend.
„Dein Herz schlägt nicht mehr, Ma‘chere“, konstatierte Nocturn traurig, als wäre es ihm erst jetzt plötzlich bewusst geworden.
„Du bist tot.“ White achtete nicht auf seine Worte, sondern berührte zögerlich die Fingernägel. Es war ein wahrlich merkwürdiges Gefühl: Auf der einen Seite spürte sie gar nichts, aber mit eigenen Augen zu sehen, dass sie kampfunfähig sein sollte, dass sie ein weiteres Mal gestorben sein müsste … Doch sie war bereits tot; sie war nichts anderes als eine leblose Hülle.
Sie schluckte, denn das Gefühl bereitete ihr Übelkeit und sie musste sich zwingen, sich nicht davon beirren zu lassen, um mit entschlossenen Händen die Fingernägel zu packen und heraus zu ziehen, aus dem Punkt heraus, wo einst ihr Herz saß. Die langen Fingernägel warf sie zu Boden; eine Tat, die Nocturn aufmerksam mit seinen glühenden Augen verfolgte.
„Lass uns weiter machen.“ Nocturn reagierte nicht auf ihre Worte, sondern besah weiterhin seine ehemaligen Fingernägel, an denen kein einziger Tropfen Blut klebte und er hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, dass er eine Gänsehaut hatte.
„Wozu?“, antwortete der Flötenspieler ruhig.
„Damit ich dich ein weiteres Mal in die Hölle befördern kann. Dorthin, wo du hingehörst.“ Ein ironisches Lächeln breitete sich auf Nocturns Gesicht aus und er schien in sich hinein zu lachen, doch antworten tat er nicht.
„Ich weiß, dass ich dir unterlegen bin“, fuhr White mit kalten Augen fort:
„Doch deine Ausdauer geht irgendwann zur Neige. Meine dagegen bleibt standhaft.“
„Das ist doch eine wunderschöne Vorstellung. Auf ewig mit dir kämpfen; auf ewig in einem flammenden Tanz verbunden …“ Anscheinend hatte Nocturn eher ein begrenztes Wissen, was die Ecience-Körper anging, doch das wunderte sie nicht sonderlich. Immerhin hatte das nie zur Debatte gestanden und White hatte nicht im Sinn, nun eine zu führen.
„Doch ich wundere mich über deine Worte“, sagte Nocturn plötzlich und sah nun endlich auf, um Whites Blick zu erwidern:
„Pflegtest du nicht immer zu sagen, dass Rache kein erstrebenswertes Ziel ist? Dass ein solch niederes Bedürfnis dich nicht lenkt? Ist es etwa jetzt etwas anderes, weil ich nun auch für den Tod deines Sohnes verantwortlich bin?“ Einen Moment lang schwieg White, obwohl die Antwort, die sie schlussendlich über die Lippen brachte, ihr von Anfang an klar war, ohne dass sie lange darüber hätte nachdenken müssen:
„In all den Jahren habe ich deine Worte nie vergessen; deinen schrecklichen Schwur, dass du alles, was mir lieb und teuer ist, auslöschen würdest. Deswegen bin ich mir bewusst, dass Greys Tod … nur den Anfang darstellt. Ich weiß nicht, welch boshafte Pläne du verfolgst, doch ich weiß, dass Green nur vor dir sicher sein kann, wenn ich dich auslösche. Welche Gefühle ich mit dem Akt verbinde, sind zweitrangig. Wichtig ist, dass du nicht in der Lage sein wirst, Green in deinen Wahnsinn hinabzustürzen.“ Auch Nocturn schwieg, ehe er auf diese Worte reagierte; mit einem boshaften Lachen, welches jedoch schnell in ein fast ratloses Schulterzucken überging:
„Ach, White, meine liebste, teuerste White! Deine Tochter hat sich bereits selbst in die unheilvolle Teufelsspirale des Wahnsinns gestürzt. Merkst du das nicht? Alles, was für mich zu tun übrig bleibt, ist, ein wenig nachzuhelfen, nichts weiter. Das Unheil, das du vor 18 Jahren verhindern wolltest, ist auch ohne meine Hilfe eingetroffen. Doch du hast recht! Ich verfolge einen Plan; einen Plan, in welchem deine kleine Tochter eine tragende Hauptrolle spielen wird. Denn vergiss nicht! Meine Nocturne, mein Meisterwerk, das Werk, das ich mit dem Tod des elendigen Windwächters begann, ist noch nicht abgeschlossen – nein, eine Strophe ist noch übrig, eine Strophe muss noch geschrieben werden!“ Kaum, dass diese Worte ausgesprochen wurden, erwiderte White sie bereits mit einer felsenfesten Entschlossenheit in der Stimme:
„Nein! Ich werde nicht zulassen, dass dieses teuflische Werk jemals zur Vollendung gebracht wird! Niemals!“ Und wieder brachten ihre Worte den Flötenspieler dazu, zu lachen und noch während das Lachen die feuchte Abendluft durchschnitt, streckte Nocturn seine linke Hand weit hinter sich aus und im selben Moment, wie die Hikari ihren Stab aufleuchten ließ, verlängerten sich die Fingernägel des Dämons zu einer unheilvollen Länge.
„Oh ja, mein Engel! Das ist genau das, was ich von dir hören will! Versuch, mich aufzuhalten! Versuche es! Inspiriere mich! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich deine Worte inspirieren! AHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHA!“
Doch die erwünschte Inspiration blieb aus – gerade in dem Moment, in dem der Stab und die Fingernägel aufeinander zusausten, wurde der Stab plötzlich hoch in die Luft geschleudert und landete direkt vor Green; senkrecht in die Erde gebohrt und geschockt sah Green die Waffe ihrer Mutter an, welche sie jedoch schnell an sich nahm, sich bewusst, dass der Stab immerhin das Glöckchen ihrer Mutter war.
Genauso verwirrt sahen auch White und Nocturn aus; der Letztere hatte offensichtlich nicht dazu beigetragen, dass Whites Waffe nun mehrere Meter von ihr entfernt in den Armen Greens lag. White, die sich reflexartig nach ihrer Waffe umgesehen hatte, bemerkte erst nach Nocturn, was der Grund für die plötzliche Wendung war: denn auch Nocturns Angriff war unterbrochen worden und plötzlich fand er die Hand, die er eben noch zum Angriff hatte benutzen wollen, von einer anderen Hand festgehalten.
Wütend, weil er die Aura erkannt hatte, ehe er die Person ansah, die hinter ihm stand, blickte er über die Schulter, und während er sich aus deren Griff frei riss, fragte er wütend:
„Kannst du mir sagen, was das hier soll?!“ Als Nocturn dies sagte, wandte White sich wieder herum, denn auch sie hatte nun die ihr unbekannte Aura vernommen; eine ziemlich starke, unbekannte Aura und sie war daher auch nicht überrascht, als sie die Person als Youma identifizierte.
Einige Meter entfernt hatte Green im gleichen Moment, in welchem sie den Stab ihrer Mutter an sich genommen hatte, ebenfalls Besuch erhalten: eine Stimme, die sie überaus erleichtert willkommen hieß:
„Ist dir was passiert, Green?“ Wenn es möglich gewesen wäre, würde Green sich Silence am liebsten in die Arme werfen, doch stattdessen drückte sie nur den Stab ihrer Mutter fester an sich und antwortete:
„Weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau …“ Gerne hätte sie die Wahrheit gesagt: dass ihre Beine zitterten und sie die Furcht immer noch nicht verlassen hatte; doch ihre Furcht auszusprechen und sich dieser bekennen, war ihr weitaus unwillkommener, als dass Silence ihre Gedanken las: was sie ganz offensichtlich tat, denn sie schwieg einige Sekunden, ehe sie sagte:
„Du hast dich tapfer geschlagen.“ Nein, hatte sie nicht, absolut nicht. In diesem Moment wünschte Green sich zum ersten Mal Silence‘ harte Kritik und nicht aufmunternde Worte, denn sie wusste, dass sie sie nicht verdient hatte. Green war sich sicher, dass Silence diese Gedanken ebenfalls las, doch sie erwiderte nichts darauf; nur einen Augenblick lang besah Silence sich Green und die ohnmächtige Firey aufmerksam, ehe sie ihren Blick abwandte und wie die junge Hikari ihre Aufmerksamkeit auf das Schlachtfeld richtete.
„Was das hier soll? Eine solche Frage sollte ich eher an dich richten!“, lautete Youmas Antwort auf Nocturns erboste Worte. Doch anstatt diesem Zeit zu lassen, zu antworten, fuhr Youma ebenso gereizt fort:
„Was führst du hier für einen sinnlosen Kampf? Hast du nicht begriffen, dass man bereits verstorbene Hikari nicht bekämpfen kann und es somit ein absolut sinnloses Unterfangen ist, es zu tun?“ Dass Youma dort auftauchte, bestätigte Whites Theorie: Er also war es, dem sie es zu verdanken hatte, dass Nocturn wieder lebte. Warum er es getan hatte, konnte sie sich nicht erklären, doch Fakt war, dass diese Kombination von zwei so starken Dämonen alles andere als positiv war. Ihre Waffe war momentan zu weit von ihr entfernt, doch sie vertraute Green, dass sie auf ihren Stab und ihr Glöckchen aufpassen konnte – und sie war keine Hikari, die ohne ihren Stab nicht kämpfen konnte.
Hizashi hatte den Hikari vor einigen Monaten erklärt, dass ihre Lichtmagie nicht sonderlich effektiv auf Youma sein würde, da er das Blut einer Wächterin in sich trug, die obendrein auch noch ihr natürlicher Gegenpol war. Deutlich erinnerte sie sich an Hizashis Worte, dass es sehr wahrscheinlich war, dass deren Lichtmagie nur 35% vom eigentlichen Schaden anrichten würde. Mit anderen Worten waren die Kampfvorausetzungen nicht gut. Ihr Ecience-Körper schien zwar noch nicht an seine Grenzen gestoßen zu sein, doch lange konnte es nicht mehr dauern ...
Ganz offensichtlich hatte Youma allerdings nicht vor, Nocturn im Kampf zu unterstützen oder sich selbst irgendwie in einen Kampf einzumischen:
„Anstatt hier rumzuspielen, sollten wir lieber zurückkehren.“ Die Art, wie er das letzte Wort betonte, ließ White darauf schließen, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen; etwas, was nicht für Whites Ohren bestimmt gewesen war. Doch Nocturn achtete nicht auf die gereizten Worte Youmas, ignorierte ihn regelrecht, indem er einige Schritte vorging, eine elegante Pose vollführte und erklärte:
„Wenn ich vorstellen darf, Ma’chere: Das ist Youma, derjenige, der so überaus freundlich war, mich wiederzubeleben.“ Täuschte White sich, oder war da eine Spur Sarkasmus zu hören?
„Und wie es scheint, ist er ein ziemlicher Spielverderber.“ Der Halbdämon schien alles andere als darüber erfreut zu sein, dass Nocturn ihn White vorgestellt hatte, doch anstatt deren Worten zu lauschen, richtete White ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes, oder genauer gesagt, jemand anderes: ein Mädchen. Einige Meter hinter Youma befand sich ein Mädchen, welches White nicht eher aufgefallen war, da sie keine Aura besaß. Doch ganz unzweifelhaft war sie eine Dämonin, worauf ihre großen, roten Augen hinwiesen und als sie hinter Youmas Schatten hervortrat, sah White auch, weshalb sie keine Aura spüren konnte: In der Hand des kleinen Mädchens lag ein roter Ingnix. Kaum, dass White sie klar erkennen konnte, fiel ihr auch auf, dass sie sich beim Alter des Mädchens geirrt haben musste. Denn obwohl sie ein kindliches Gesicht hatte und eine eher geringe Körpergröße, hatte sie den Körper einer jungen Frau, welcher unter einem blauen Rüschenkleid verborgen lag. Ihre Haare waren auffällig hell; ein sehr helles blond, welches unter einem blauen Barett hervorlugte. Sie wirkte unschuldig und sehr unsicher; ganz anders als andere Dämonen, die White auf dem Schlachtfeld getroffen und bekämpft hatte. Ihre Augen verrieten einen schüchternen Charakter und sie waren glasig, als würde sie jeden Moment Tränen vergießen.
Verwundert beobachtete White das fremde Mädchen; beobachtete ihre unsicheren, ja fast tollpatschigen Bewegungen, als sie sich hinter Youma vorbei schlich, um hinter Nocturn zu gelangen.
Er bemerkte sie nun ebenfalls und White war wahrlich überrascht, ihn plötzlich lächeln zu sehen; es war ein warmes Lächeln, ein Lächeln, welches sie selten von ihm gesehen hatte. Zu ihrer Überraschung hob er das unsichere Mädchen hoch in seine Arme und wandte sich daraufhin zu White herum, da er natürlich ihren fragenden Blick bemerkt hatte:
„…und dieses überaus reizende Wesen ist meine Tochter: Feullé Le Noires.“