Kapitel 48 - Höre die Hölle IV
Es gab keinen Augenblick, in dem Tinami darüber nachdenken durfte, wie sehr ihr Körper schmerzte; wie schwer ihr Kopf war, dass sogar ihre Augen brannten oder wie es möglich war, dass sich ihre tauben Finger immer noch bewegten. Keine überflüssigen Gedanken durfte sie in ihrem Gehirn zulassen; ihre Schmerzen durfte sie nicht merken und genauso wenig den Gedanken verfolgen, was passieren würde, wenn sie versagte, wenn sie diesem äußerst gerissenen Dämon erliegen würde ... sie durfte nicht daran denken. Ebenso wenig machte sie sich Gedanken darüber, was danach passieren würde, was mit ihr passieren würde - wie sie sich selbst und ihr System vor den Hikari rechtfertigen sollte.
Nein, denn jeder Funke ihres Seins und jede Zelle ihres Gehirns kämpfte - kämpfte so eisern, so verbissen, wie es noch nie in ihrem Leben gekämpft hatte.
So hatte sie auch nicht bemerkt, dass Ryô den Raum verlassen hatte und sie damit mutterseelenallein war - ja, sie realisierte nicht einmal, wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie sich in den Kampf gestürzt hatte. Doch umso tiefer sie vordrang, umso weiter sie gegen Karou vorrückte, umso mehr verlangte ihr Körper verzweifelt die Aufmerksamkeit seiner Herrin. Tinami hörte nicht, wollte es nicht hören, denn sie kämpfte.
Es war kein gewöhnlicher Kampf; wären andere Wächter in diesem Moment anwesend, sie würden nichts anderes sehen als eine überaus konzentriert arbeitende Klimawächterin. Wenn sie jedoch genauer hinsehen würden, würden sie sich wahrscheinlich aber über ihre starren Augen wundern, und wenn sie die besagte Klimawächterin länger beobachten würden, würde ihnen auffallen, dass sie nicht blinzelte, was auch die Erklärung dafür war, dass ihre Augen brannten und ein gelegentliches Zucken durch ihre Augäpfel ging. Andere ihres Elementes wüssten, was die Erklärung war, denn sie konnten den erbitterten Kampf auf den vielen großen Bildschirmen erahnen - für Unerfahrene zeigten die Bildschirme nichts anderes als ein Chaos von herumtänzelnden Zeichen - nicht nur die des Wächtertums, sondern auch verschiedene Buchstaben der menschlichen und dämonischen Alphabete, Zahlen und Schriftzeichen - auf schwarzem Untergrund, sowohl senkrecht nach unten und wie nach oben laufend, horizontal von einer Seite zur nächsten.
Zwar blickten Tinamis starre Augen direkt auf dieses chaotische Zahlen- und Zeichen-Universum, doch sehen tat sie es nicht. Sie sah nur Schwärze um sich. Die Schwärze eines anderen Universums, einer anderen vom Computer erschaffenen, virtuellen Sphäre. Sie war im Nachteil. Es war bereits zu viel Zeit vergangen. Die Schwärze symbolisierte die feindliche Übernahme; die Schwärze war es, die man Akurice nannte. Ein Hologramm ihrer selbst befand sich mitten in dieser Schwärze; dieses Hologramm ward geschaffen mit ihrer eigenen Magie und mit der Hilfe der ausgeklügelten Technik ehemaliger Kikou, die das Armband erfunden hatten, durch welches die Kikou sich mit den Computern mittels der sich in ihren Blutbahnen befindenden Magie verbinden konnten. Dies war notwendig gewesen, nachdem die Dämonen als Kontermittel gegen das durchkonstruierte Computersystem der Wächter Akurice - wie die Wächter es nannten, um die Schwärze begreiflicher zu machen - erschaffen hatten. Gänzlich schwarz war dieser virtuelle "Ort" allerdings nicht; unter den durchscheinenden Füßen des Hologramms leuchtete derselbe Wirrwarr an Zahlen und Buchstaben, wie man ihn auch auf den Bildschirmen vorfand, in einem matten, goldenen Licht. Die letzte verzweifelte Resistenz gegen die von "oben" herabsinkende Schwärze, wie Tinami klar war; genauso wie ihr bewusst war, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte.
Außerhalb der virtuellen Sphäre gewannen Tinamis Finger an Schnelligkeit; Beschwörungen wurden in die Tastatur gehämmert, die das Hologramm Tinamis in einem goldenen Schein aufleuchten ließen; einem Leuchten, welches ihren gesamten virtuellen Körper umgab und sie über dem "Grund" schweben ließ. Kurz hatte sie die Augen noch konzentriert geschlossen gehalten, nur um sie jetzt wieder zu öffnen: In ihren Händen hielt Tinami nun einen enorm langen, golden pulsierenden Speer, an dessen einem Ende sich ein Ring von fast einem Meter Durchmesser befand. Da alles nur eine gekünstelte Welt war, wog der Speer nichts, und mühelos wirbelte Tinami das dünne Instrument über ihrem Kopf, um es dann entschlossen in den Boden zu rammen. Der Boden gab nach, schien plötzlich aus Wasser zu sein, denn er vibrierte wie eine sich kräuselnde, aber ölige Wasseroberfläche, als der goldene Speer in ihn gerammt wurde und nun festzustecken schien. Erleichtert, aber auch mit einem Hauch von Triumph, lächelte Tinami in der Leere schwebend, als sie sah, wie sich das goldene Leuchten von dem Punkt aus ausbreitete, wo sie den Speer in den Boden gerammt hatte und die Schwärze Stück für Stück, Pixel für Pixel, zum Bersten brachte.
Schwarze Pixel wirbelten um sie herum, langsam wurde es heller, die Sphäre wurde wieder golden - hatte sie es gescha-
Mit Wucht packte etwas - eine Hand?! - ihr virtuelles Fußgelenk, riss mit unheimlicher Kraft an ihrem Gelenk, zog Tinami in die Tiefe, ihre Hände lösten sich von dem Speer, der goldene Reinigungsprozess kam augenblicklich zum Stillstand, und noch ehe Tinami schreien konnte, wurde sie in die Schwärze hinab gerissen.
Tinamis sich in der Realität befindender Körper reagierte sofort und könnte sie sich einen Moment von dem Bildschirm abwenden, um ihr Armband anzusehen, so hätte dieses ihr mitgeteilt, dass dessen Kugel sich plötzlich verfärbt hatte und nun nicht länger gelb, sondern orange war - sie müsste die Verbindung unterbrechen, sie sollte es tun, ansonsten würde sie auch hinabgerissen werden, so wie ihr virtuelles Ich ...
Nein, das würde sie nicht tun - sie musste weiterkämpfen, zurück an die Oberfläche, wieder Kontakt zum Speer aufbauen ...
Obwohl ihr Geist festhielt an diesem Gedanken, war ihr Körper nicht sonderlich begeistert davon, und obwohl Tinami ihn nicht beachten wollte, kam sie nicht drum herum, ein starkes Stechen in ihrer Brust zu spüren und als sie sich abwesend mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte sie kalten Schweiß. Ein ferner Teil ihres Gehirns wusste, was diese Schmerzen zu bedeuten hatten, immerhin hatte sie eine ärztliche Ausbildung absolviert, doch auch dies beachtete sie nicht, durfte sie nicht beachten, auch wenn ihr Unterbewusstsein von einer plötzlichen Angst gestochen wurde und aufflammte.
Sie musste an die Oberfläche - Atemnot, sie hatte Atemnot, sie bekam keine Luft, das Stechen wurde schlimmer, sie musste die Verbindung kappen ... an die Oberfläche, an die Oberfläche!
Oh Gott, sie wusste, was es war und die Angst überflutete sie, genau wie das Wasser, was ihr den Atem raubte. Der Schmerz in ihrer Brust flammte auf, breitete sich in ihrem linken Arm aus, und obwohl Tinami es nicht sah, wusste sie, dass der leuchtende Punkt auf rot gesprungen war. Mit der letzten Kraft ihres Körpers musste sie sich vom Computer trennen... nein, das konnte sie nicht. Sie konnte es nicht. Sie musste an die Oberfläche, der Speer. Wenn sie die Verbindung jetzt kappte... Das Wächtertum... die Hikari... sie verließen sich doch auf sie. Sie konnte sie nicht enttäuschen ... Kaira hatte ihr geglaubt, vertraute ihr ... sie würde enttäuscht sein, so schrecklich enttäuscht, wenn sie erfuhr, dass Tinami gescheitert war. Irgendwo da draußen kämpfte sie, machte sich keine Sorgen um Tinami, denn sie wusste, sie würde es schon schaffen.
Ja, sie musste es schaffen. Um Kaira zu sehen. Um ihr zu sagen, wie glorreich sie gesiegt hatte. Sie musste es schaffen. Streck die Hand aus, streck die Hand aus! Atme, ATME!
Mit gezielten Schritten raste Aores zusammen mit seiner Gattin die vielen Treppen herunter, um in die Eingangshalle des Sanctuarians zu gelangen - er hätte auch den Fahrstuhl nehmen können, um so schneller in den Eingangsbereich zu gelangen, doch tat dies nicht, da der Fahrstuhl bereits abgeschaltet war. Auch wenn er viele Stufen hinter sich gelassen hatte, gönnte er sich keine Verschnaufpause; er war auch keinen Augenblick schockiert über das heillose Chaos, welches ihn begrüßte, sobald er unten angekommen war: Er war vielmehr verärgert darüber.
Die Eingangshalle war gefüllt mit Verletzen, Angehörigen, sterbenden Wächtern und Wächtern, die bereits tot waren. Der sonst so saubere Boden war dreckig vom vergossenen Blut, vom Schlamm und Ruß. Aores sah auf den ersten geübten Blick, dass Hilfe bei vielen der Verletzten bereits zu spät kam: Sie waren von dem ersten Hagelangriff getroffen worden und das Bluten der offenen Fleischwunden konnte nicht mehr gestillt werden, die abgerissenen Körperteile unmöglich wieder angenäht werden. Auf der anderen Seite sah er auch einige unter ihnen, die nicht so schlimm verletzt waren, als dass sie es sich erlauben konnten, sich hier aufzuhalten und die Zeit der Ärzte unnötig in Anspruch zu nehmen. Missgestimmt bemerkte Aores auch, dass sein sonst so geübtes Personal hektisch hin und her flitzte - und das, obwohl sie hier in der Eingangshalle überhaupt nichts zu suchen hatten, sondern alle bei ihrer Arbeit sein sollten.
Der Grund für das Chaos waren nicht die vielen Verletzten oder die bereits Verstorbenen, sondern die Fragen derer, die noch fragen konnten. Cecilie hatte ihm zwar gesagt, dass sie alle die gleichen Fragen stellten, aber dass es so schlimm wäre, hätte er nicht für möglich gehalten. Kaum, dass er heruntergekommen war, hörte er es bereits den Singsang der Verwirrung und Panik:
"Wie können die Dämonen uns angreifen?"
"Warum ist der Bannkreis nicht mehr intakt?"
"Die Frist ist doch noch gar nicht abgelaufen?"
"Wo ist unsere Hikari?"
"Warum haben wir keinen Kontakt zum Tempel?"
"Wieso heilt unsere Hikari uns nicht?"
Kein Wunder, dass sein geschultes Personal sich nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte, wenn es immer wieder von panischen Wächtern angefallen wurde und auf deren Fragen keine Antwort geben konnte. Aber ganz offensichtlich kannte Cecile ihren Mann gut, denn sie fragte ihn, ob er ein Mikrofon brauchte. Aber nein, das brauchte er nicht. Seine Stimme würde vollkommen ausreichen:
"RUHE!"
Und sofort hielt das Chaos inne: Alle Augen lagen auf Aores, welcher mit Wissen und Wollen auf der Treppe stehen geblieben war, damit auch alle ihn sehen konnten - auf jeden Fall die, die noch sehen konnten.
"Ich gebe hiermit allen Ärzten die Erlaubnis, jeden, der weitere dumme Fragen stellt, als Letztes zu behandeln, denn wenn derjenige noch in der Lage ist, dumme Fragen zu stellen, geht es ihm ja offensichtlich gut!" Wenn es möglich war, wurde es noch ruhiger, doch Aores war noch längst nicht fertig:
"Jeder, der noch kämpfen kann, wird diesen Saal sofort verlassen - und zwar zum Haupteingang raus! Und damit meine ich auch die Angehörigen, denn ihr helft euren verletzten Wächtern nicht, indem ihr hier rumsitzt und heult! Ihr behindert hier nur den Betrieb, geht also raus und kämpft - SOFORT!" Wie nicht anders von Aores erwartet, folgten die Wächter seinem Befehl und unter Aores strengem Blick leerte sich die Halle hastig, bis nur noch sein Personal übrig blieb und die, die wirklich Hilfe brauchten - und das schnell.
"Die drei dumm herumstehenden Tempelwächter zu meiner Linken werden jetzt sofort die Leichen in den Leichenkeller verfrachten und mit dem Desinfizieren beginnen; ihr werdet in den nächsten Tagen genug zu tun haben, ihr könnt also schon anfangen!" Aores hatte diese Worte plötzlich so schnell ausgesprochen, dass niemand, der es nicht gewohnt war, mit ihm zu arbeiten, ihn wohl verstanden hätte. Sein Personal jedoch handelte und stellte keine Fragen, denn nun musste alles schnell gehen.
"Alle anderen wissen, was sie zu tun haben und die, die es nicht wissen, haben hier nichts zu suchen und können sich zu ihren Mitwächtern auf das Schlachtfeld begeben!" Auf Aores Worte folgten stets Taten - auch in diesem Fall, und plötzlich widmeten sich alle wieder ihrer eigentlichen Arbeit. Während Aores skeptisch das Treiben beobachtete, richtete seine Frau sich nun an ihn:
"Operationsaal A?"
"Operationsaal A. Und beeil dich!"
Pelagius hatte sich nun von seinen Eltern getrennt und kämpfte sich alleine durch die angreifenden Dämonen. Es gab keinen Plan, den die Wächter verfolgten, keine ungefähre Richtung, welche sie hätten einschlagen können - sie kämpften einfach nur; verteidigten das, was ihre Heimat war, ohne daran denken zu dürfen, dass diese mehr und mehr in sich verfiel.
Einigen Tempelwächtern war es gelungen, sich in Sicherheit zu bringen, doch viele Leichen lagen zerquetschst auf dem blutigen Boden, zusammen mit denen der Gefallenen. Das Kreischen der Kinder, die von ihren Tempelwächtern gerade noch mit deren Leben beschützt worden waren, flammte immer wieder auf, doch verstummte schnell, als auch sie getötet wurden, während das sonst so klare Wasser der Kanäle sich rot färbte; zerfetzte Körperteile klatschten auf die Straße und in das reine Trinkwasser Sanctu Ele'saces, als weitere Strahlenattacken hernieder donnerten, Häuser zerstörten und Wächter töteten. Niemand hatte Zeit, sich um den Schaden zu kümmern; niemand hatte Zeit, die Trümmer der einst so schönen Häuser zu beweinen und zu untersuchen, sicherzugehen, dass niemand darunter begraben worden war. Niemand hatte Zeit, auf die am Boden liegenden Leichen zu achten. Womöglich traten sie auf ihre Angehörigen, auf ihren eigenen Tempelwächter, auf ihr Kind, doch niemand konnte darauf achten; die Stiefel vieler waren rot gefärbt, so wie ihre Hände - sofern sie noch beide besaßen.
Auch Pelagius achtete nicht darauf, dass seine eigentlich sonst immer so schön polierten Stiefel nun völlig blutverschmiert waren: Er konzentrierte sich gänzlich darauf, so viele Dämonen wie nur möglich zu töten - und wie es sich für einen Offizier gehörte, war er darin auch sehr effektiv. Er war als sehr agiler Kämpfer bekannt und war daher auch noch nicht von irgendeiner Attacke getroffen worden: seitdem er sich von seinen Eltern getrennt hatte, war er stets in Bewegung gewesen; stets Attacken ausweichend, stets angreifend. Seine schnellen Beine brachten ihn von einem Dämon zum nächsten, die seine Hände schnell auslöschten, ehe seine Feinde bemerkten, dass er sich überhaupt auf sie stürzte, denn er war ein Meister des geheimen Tötens. Zwar war er am talentiertesten darin, Tsunami-ähnliche Wellen entstehen zu lassen, aber dass er diese an Ort und Stelle nicht anwenden konnte, war ihm bewusst - im Allgemeinen wussten alle Wächter, auch ohne mit der Kommandozentrale in Verbindung zu stehen, welche Attacken sie anwenden sollten und welche nicht. Obwohl der Hass auf die Dämonen, die ihre geliebte Heimat zerstörten, für das Blut und die Toten verantwortlich waren, alle erneut packte und sie zu leidenschaftlichen Tötungsversuchen ermutigte wie ein sich verbreitendes Feuer, wussten sie alle, dass sie ihrem feurigen Hass noch nicht Form geben durften - dafür war der Gegenangriff da. Jetzt galt es zu beschützen; das zu retten, was noch gerettet werden konnte. Die einen Wächter griffen an, andere verhalfen den Tempelwächtern und den Kindern zur Flucht, Wächter gaben sich gegenseitig Deckung: sie waren alle für den Ernstfall trainiert worden - und sie waren gut trainiert worden.
Stattdessen wandte Pelagius eine Technik an, die sein Vater ihm beigebracht hatte: Die linke Hand wurde dabei von einer Kugel aus Wasser umschlossen, die der Offizier vor sich hielt und zu einer tödlichen Waffe umfunktionieren würde. Durch Schnippbewegungen des rechten Zeigefingers am Mantel der Wasserkugel lösten sich kleine Wasserfetzen von ihm und schossen wie Pistolengeschosse auf die Köpfe der Dämonen zu, um deren Köpfe bei einem Treffer in einem Wassergefängnis einzuschließen. Ganz egal wie sehr sie sich wehrten, waren sie dazu verdammt, zu ersticken. Das einzige, was sie vorm Ersticken retten konnte, wäre, wenn sie Pelagius vorher töten würden, doch der Offizier des Wassers war so schnell auf und davon, dass sie ihrem Schicksal nicht entkommen konnten.
Doch gerade als Pelagius wieder drei Dämonen ertränkt hatte, blieb er abrupt stehen. Nicht weil er stehen bleiben wollte, sondern weil ihn etwas am Weitergehen hinderte. Er spürte es, noch bevor er es mit eigenen Augen sah: Seine Füße waren vereist und hastig arbeitete das Eis sich empor.
"Ihr habt selbst schuld. Ihr hättet mich nicht von meinem Logenplatz herunterjagen sollen." Es waren Lacrimosas Worte, die der Kommunikator an Pelagius' Kopf für ihn übersetzte, welche sie mit einem amüsierten Lachen untermalte, während auch andere Wächter Pelagius' Schicksal teilten; sowie fünf Dämonen, aber auf diese schien Lacrimosa, die Herrin des Eises, offensichtlich keine Rücksicht zu nehmen - augenscheinlich nicht ihre eigene Horde. Einige waren bereits völlig zu Eis erstarrt und auch der Offizier des Wassers sah keinen Ausweg für sich; Eis war zwar auch nichts anderes als Wasser, aber er war nicht in der Lage, die Temperatur von Wasser zu manipulieren.
Seine Hände waren noch nicht vom Eis überzogen, doch die Attacke, mit welcher er Lacrimosa angreifen wollte, hatte nicht den gewünschten Effekt, denn die Fürstin hatte die auf sie zufliegende Kugel einfach mit Grazie zu Eis verwandelt, wodurch sie mit einem spöttischen "Klonk" auf den vereisten Boden schmetterte und zerborst.
Aufgrund von Pelagius' Verzweiflungstat wurde sie allerdings auf ihn aufmerksam, und sobald ihre gelben Augen den Wächter erblickt hatten, hielt das Eis knapp unter seinem hastig schlagenden Herzen inne; seine Arme und Hände waren allerdings von einer dicken Eisschicht umgeben, weshalb er auch nichts anderes tun konnte, als verblüfft zuzusehen, wie Lacrimosa wie eine Eiskunstläuferin über den vereisten Platz glitt, dabei mit Eleganz die vereisten Wächter umwirbelnd, bis sie kichernd vor Pelagius stehen blieb.
"Was für ein hübscher Mann du doch bist!" Prüfend nahm sie den doch recht überraschten Pelagius ins Auge, sich von dem Krachen und Donnern der Schlacht nicht in ihrer Arbeit ablenken lassend. Ohne dass Pelagius etwas dagegen tun konnte, legte sie ihre lila lackierten Fingernägel unter sein Kinn und legte somit sein Kopf in verschiedene Winkel, um ihn genauer betrachten zu können, dabei seinen angewiderten Blick komplett ignorierend.
"Ihr seid zwar nicht sonderlich stattlich, aber hübsch seid ihr Wächter ja, das muss man euch lassen." Da Pelagius sich viel auf sein Aussehen einbildete, fühlte er sich selbstverständlich nicht von diesen Worten beleidigt, auch wenn sie aus dem Mund einer Dämonin stammten. Doch als Lacrimosa den Griff um sein Gesicht festigte und sein Gesicht näher an das ihre zerrte, entstellte seine Abscheu seine sonst so schönen Gesichtszüge:
"Ich wüsste zu gerne, was für hübsche Mädchen dabei herauskämen ... Warum sehen unsere Männer nur nicht so aus? Dann wären sie wenigstens was fürs Auge."
"Because they are our men." Lacrimosa wirbelte herum, doch es war bereits zu spät: Im gleichen Moment, in welchem diese Worte gesagt worden waren, war Azura ebenso elegant wie Lacrimosa zuvor einige Meter hinter ihr mit den Zehenspitzen auf der eisigen Oberfläche gelandet und augenblicklich schmolz das Eis unter ihren Füßen dahin. Für die eingefrorenen Wächter kam jede Hilfe zu spät; aufgetaut, aber tot, schlugen ihre Leichen auf dem Boden auf, aber nun, da Pelagius ebenfalls wieder aufgetaut war und beide Hände wieder freihatte, zögerte er keine Sekunde, um sich den Schmeichelleien Lacrimosas zu entziehen und schlagfertig auf diese zu antworten:
"NATRICE, EXSOLVE DEFORMITATEM!"1 Da auf dem Platz außer Azura kein lebender Wächter mehr war, erlaubte Pelagius sich selbst, eine Attacke des größeren Kalibers anzuwenden, wohlwissend, dass das Wasser für Azura keine Gefahr darstellen würde.
Das sich auf dem Platz befindende, eben noch gefrorene Wasser, sammelte sich rasch um Pelagius herum einer riesigen Schlange gleich, welche sich bei seinen Worten teilte und vermehrte und auf Geheiß ihres Meisters auf Lacrimosa zusauste wie eine sehr zielgenaue Tsunami-Welle bestehend aus abertausenden, kleinen Wasserschlangen - ein Tsunami, der auch ins Ziel traf und Lacrimosa tatsächlich vom Platz fegte.
Auch Azura drohte, von der Flut getroffen zu werden, doch sie verhinderte, weggespült zu werden, indem sie die Temperatur des Wassers ansteigen ließ und es verdampfte, ehe es sie erreichte.
Sich bewusst, dass dies der perfekte Moment war, um sofort mit einer weiteren Attacke nachzusetzen, eilten die beiden Wasserwächter zum Rand des Platzes, wo Treppenstufen herunterführten und von welchen nun das Wasser heruntertropfte - doch von Lacrimosa war nichts zu sehen.
"Sie hat das Wasser vereist, ehe sie darin ertrunken ist", sagte Azura, ein wenig außer Atem und machte einen Wink zu den letzten Stufen der Treppe, welche tatsächlich von einer Eisschicht überzogen waren. Da beide ihre Aura nicht in der Nähe spüren konnten, nutzte Pelagius den Moment, um sich für die Rettung zu bedanken.
"Wenn ich die Temperatur des Wassers so regulieren könnte, wie du es kannst, hätte ich diese peinliche Bredouille umgehen können."
"Danke, das habe ich meinem Vater zu verdanken. Er war ein Kikou. Ich kann zwar das Wetter nicht manipulieren wie sie, aber für die Temperatur reicht es gerade noch. Dafür kann ich keine so beeindruckenden Wellen herbeischwören wie du." Und sie musste zugeben, dass sie das doch ziemlich störte, denn einen Tsunami entstehen zu lassen war für einen Wasserwächter die Bedingung für den ersten Rang, weshalb Azura auch nur den zweiten besaß.
Anstatt aber nun ein Gespräch mit ihrem Kollegen zu beginnen, schob Azura ihre nassen, blauen Haare hinter ihr Ohr und orderte:
"Lass uns zusammen zur Straße des Klimas vordringen. Ich habe gehört, dass unsere Feinde bis dahin vorgedrungen sind. Sie dürfen auch gar keinen Fall weiter gelangen!"
"KLARIETTE!" Wenn die erste Heerführerin von Lacrimosas Horde ihren Namen hörte und noch dazu in eben dieser Tonlage gerufen, wusste sie, dass sie gefälligst bei ihrer Fürstin sein sollte und das am besten vor einer Minute. Sie war eigentlich gerade dabei gewesen, einem Naturwächter die geerbten Schmuckstücke seiner Mutter zu rauben, doch sie ließ alles stehen und liegen, um dem Ruf ihrer Schwester umgehend Folge zu leisten. Dank ihres außerordentlich feinen Gehörs fand sie auch schnell zu Lacrimosa, welche sich einen neuen Turm gesucht hatte, um Klariette mit zugekehrtem Rücken zu begrüßen und schon von Weitem bemerkte die geübte Klariette, dass ihre Herrin überaus wütend war, weshalb ihr Tonfall beruhigend war, als sie sie fragte, was denn los wäre, ob sie womöglich verletzt wäre ...
"Ich brauche einen Spiegel! Und ich brauche meine Schminke!" Jeder andere wäre wohl verwundert, eine solche Aufforderung mitten in der Kriegseröffnung zu hören zu bekommen, doch Klariette war es nicht, allerdings war sie nervös, denn ...
"Ich kann dir leider weder das eine noch das andere geben, Lacrimosa."
"Was soll das heißen!? Hast du meinen Schminkkoffer denn nicht dabei, obwohl ich dich darum gebeten habe!?"
"Doch... schon. Aber ich habe ihn ... nun ja, verloren." Ein beängstigendes Schweigen trat ein, denn Klariette wusste sehr wohl, wie wichtig das Aussehen für Lacrimosa war. Es war ja sogar so, dass niemand außer ihren Zofen sie sehen durfte, ehe ihre Haare und ihre Schminke nicht so perfekt saßen, wie sie es haben wollte. Klariette kannte ihre Schwester allerdings gut genug, um zu wissen, dass sie nicht schwieg, weil sie wütend auf sie war, sondern deshalb, weil sie traurig war. Ihr Schminkkoffer war ihr Ein und Alles, denn jedes Teil war selbst von ihr ausgesucht gewesen - und Lacrimosa mochte Schminke. Sie mochte sie sehr. Sie mochte es auch gerne, ihre Schwestern zu schminken, weshalb Klariette den Verlust des Koffers ebenfalls beweinte, wenn auch um einiges weniger dramatisch als Lacrimosa.
"I-Ich werde ihn suchen ..."
"Nein. Schon gut, ich ... will nicht, dass dir etwas passiert, nur weil du nach etwas suchst." Die beiden Dämoninen schienen es aufgrund ihres dramatischen Gesprächs nicht zu bemerken, doch unbemerkt hatte ein Windwächter die Chance auf Ruhm gewittert, als er die scheinbar abgelenkte Lacrimosa entdeckte. Fürsten zu töten brachte Ehre mit sich und Lacrimosa machte keine alarmierende Anzeichen darauf, dass sie den Wächter bemerkt hatte... nach wie vor hielt sie die von ihm abgewandte Hand über ihr im Schatten liegendes Gesicht und war somit völlig---
Gerade als er die erste Silbe seiner Beschwörung aufsagen wollte, durchbohrte eine Eislanze seinen Torso.
"Wir haben aber ganz viel neuen Schmuck sammeln können und Lycram haben wir auch ein paar Mal treffen können und ich meine gesehen zu haben, dass sein Arm unbrauchbar ist ...", fuhr Klarriete nachdenklich fort, ohne auf die Störung des nun toten Wächters einzugehen; sie bewunderte eher, wie elegant Lacrimosa trotz ihrer Gefühlslage die blutige Eislanze wieder senkte und sie schmelzen ließ, als wäre nichts geschehen.
"Was soll ich denn mit Juwelen, wenn ich meinen Schminkkoffer nicht habe und mich nicht passend schminken kann!?" Klariette sah mit bedrücktem Herzen wie Lacrimosa beide Hände vor ihr Gesicht schlug und tatsächlich erbittert anfing zu weinen; so sehr, dass sie beinahe mitweinen wollte.
"Das mit Lycram heitert mich auf und ... es ist auch gut, dass es dir gut geht, aber ... mein Schminkkoffer! Mein geliebter Schminkkoffer!" Theatralisch, wie Lacrimosa ab und zu war, beschränkte sie sich nun nicht mehr nur darauf, erbittert zu weinen, sondern regelrecht zu heulen. Doch so schnell es bei ihr kam, so schnell verschwand es auch wieder, jedoch war sie nach wie vor nicht gewillt, sich zu ihr herumzudrehen; wahrscheinlich, weil ihre Schminke jetzt nur noch mehr verlaufen war als sowieso schon. Traurig, immer noch mit verweinter Stimme teilte sie ihrer Heerführerin mit, dass sie sich erst mal zurückziehen würde. Ungeschminkt würde sie nicht kämpfen.
Sie hatte zum Glück noch einen zweiten Koffer.
Während sich die Wächter auf Sanctu Ele'saces noch relativ gut schlugen, war auf Min Intarsier ein wahres Gemetzel losgebrochen. Selbst die besten Wächter waren hilflos, wenn die Dämonen sie und ihre Familie regelrecht noch im Bett liegend töteten, denn nicht viele waren vom Einbruch der Barriere geweckt worden und selbst für die, die es bemerkt hatten, kam jede Warnung zu spät. Natürlich breitete das Bewusstsein, dass ihre Heimat von Dämonen überfallen wurde, sich schnell aus - besonders da die Horde Akais nicht sonderlich darauf achtete, irgendetwas leise zu machen, weshalb auch Azzazello darauf verzichtete, seine Hordenmitglieder zum Stillsein zu animieren.
Diejenigen, die dort lebten, wo Akais Horde zuerst angriff, hatten absolut keine Chance. Unter Jubel und Getöse wurden die Wächter, egal ob Familienvater, Mutter, Tochter oder Neugeborenes aus ihren Betten gerissen und getötet, ehe sie überhaupt verstanden was geschah. Andere wurden unter jubelndem Geschrei hinaus auf die Straße gezerrt, dort gefoltert, Kinder gewaltsam von ihren Eltern getrennt und vor ihren schockierten Augen auf grausamste Weise getötet. Von diesem Schrecken geweckt, versuchten die, die weiter innen auf den Inseln lebten, ihre schwächeren Familienmitglieder hastig in Sicherheit zu bringen und genau wie auf Sanctu Ele'saces ihre Tempelwächter mit ihren Kindern loszuschicken, ehe diese ein ähnliches Schicksal teilten, doch die Panik war ausgebrochen.
Als mehr als 15 Minuten nach dem Einbruch der Barriere es endlich jemanden gelang, die Alarmglocken zu läuten, war es bereits zu spät, um noch irgendetwas aufzuhalten. Das sonst so grüne, friedliche und wohlduftende Min Intarsier badete bereits in Blut und Schrecken.
In Schlafanzügen und Morgenröcken wehrten sich die überrumpelten Wächter mit Händen und Füßen, doch es gab auf dieser Insel einfach nicht genügend gut ausgebildete Kämpfer: Verstärkung wurde dringend benötigt, doch niemand kam. Niemand reagierte auf die verzweifelten Hilferufe der sterbenden Wächter. Unkontrolliert wurden sie abgeschlachtet wie die Tiere oder dienten dem aufgestauten Frust der Dämonen als Ablenkung.
Auch Ilang musste einen Hilferuf unterdrücken. Nach wie vor befand die Naturwächterin sich in der Hauptzentrale Min Intarsiers und schlitterte förmlich über dessen Parkettboden, während sie die Flucht ergriff.
Sie war keine feige Wächterin. Nein, sie war eigentlich immer mutig gewesen und wäre niemals vor einem Kampf geflohen, aber nun hatte sie keine andere Wahl. Sie musste das aufkeimende Leben in ihr mit allen Mitteln beschützen, sie durfte nicht zulassen, dass ihr und somit Greys Kind irgendetwas zustieß ...
Immer wieder kreiste dieser Gedanke durch ihren Kopf, während sie die Treppen herunterstürzte in dem immer wieder bebenden Gebäude. Das Licht war vor wenigen Minuten ausgefallen, doch die großen Fenster wurden von den Magieentladungen vor dem Gebäude erleuchtet, weshalb Ilang ohne Probleme ihren Weg durch das Gebäude fand. Sie nahm den gleichen Weg, den Green vor wenigen Stunden gerannt war; nämlich zum Teleportationspunkt der Zentrale, denn sie konnte nicht ahnen, dass das Teleportieren zusammen mit der Kommunikation ausgefallen war. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie in den Tempel gelangen konnte und dass sie und ihr Kind dort in Sicherheit wären. Daher machte Ilang sich auch keine Gedanken darum, dass das Gebäude verdächtig leer war, denn sie glaubte, dass sich die sonst doch verweilenden Wächter in den Tempel zurückgezogen hatten. Nicht nur im Traum dachte sie daran, dass die einzigen Wächter, die zum Zeitpunkt des Angriffes noch in der Zentrale gewesen waren, Tempelwächter waren, welche sich bereits heillos in die Schutzkammern geflüchtet hatten, denn die Zentrale lag am Ende der Insel, am weitesten entfernt vom Schrecken. Nur wenige Tempelwächter waren mutig genug gewesen, sich nicht in die Schutzkammern zu begeben, sondern zum Lazarett, welches in der Nähe der Zentrale lag - wohlwissend, dass man dort nun sicherlich alle helfenden Hände gebrauchen konnte, die es gab; wenn es den Verletzten denn gelang, dorthinzukommen, ohne vorher in lachende Hände zu fallen.
Doch daran dachte Ilang nicht. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie nur zum Teleportationspunkt gelangen müsste und dann wäre sie in Sicherheit. Diese Hoffnung wurde ihr dann natürlich schnell genommen, denn als sie in dem Raum im ersten Stock ankam, bemerkte sie, dass nicht nur das Kommunizieren mit dem Tempel nicht mehr möglich war, sondern auch alles andere nicht ...
Beinahe ohnmächtig sank sie auf die Knie und der schreckliche Krach, die entfernten Schreie, dröhnten plötzlich wieder auf sie ein, obwohl sie sie vorher noch ignoriert hatte, als wäre das gar nicht ihr Problem. Doch es war ihr Problem. Denn nun verstand sie, dass sie auf dieser dem Untergang geweihten Insel gefangen war und sie und ihr Kind genauso sterben würden wie die anderen Wächter.
Ilang hatte keine Ahnung, wo sich hier die Schutzkammern befanden. Sie kannte die des Tempels, aber nicht die von Min Intarsier und es war kein Tempelwächter aufzufinden, der ihr den Weg hätte weisen können - und sie spürte so viele Auren, dass es für sie unmöglich war, sich an diesen zu orientieren, um die Schutzkammern zu finden.
Sie konnte nicht fliehen.
Sie konnte sich nicht verstecken.
Sie konnte nur kämpfen - und dabei überleben oder sterben.
Und die Gelegenheit, das Schicksal herauszufordern, erhielt sie auch sofort, als die erste Gruppe Dämonen die Zentrale stürmte und die am Boden kauernde Ilang entdeckte.
1 "Wasserschlange, erlöse die Hässlichkeit!" (Latein)
Nein, denn jeder Funke ihres Seins und jede Zelle ihres Gehirns kämpfte - kämpfte so eisern, so verbissen, wie es noch nie in ihrem Leben gekämpft hatte.
So hatte sie auch nicht bemerkt, dass Ryô den Raum verlassen hatte und sie damit mutterseelenallein war - ja, sie realisierte nicht einmal, wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie sich in den Kampf gestürzt hatte. Doch umso tiefer sie vordrang, umso weiter sie gegen Karou vorrückte, umso mehr verlangte ihr Körper verzweifelt die Aufmerksamkeit seiner Herrin. Tinami hörte nicht, wollte es nicht hören, denn sie kämpfte.
Es war kein gewöhnlicher Kampf; wären andere Wächter in diesem Moment anwesend, sie würden nichts anderes sehen als eine überaus konzentriert arbeitende Klimawächterin. Wenn sie jedoch genauer hinsehen würden, würden sie sich wahrscheinlich aber über ihre starren Augen wundern, und wenn sie die besagte Klimawächterin länger beobachten würden, würde ihnen auffallen, dass sie nicht blinzelte, was auch die Erklärung dafür war, dass ihre Augen brannten und ein gelegentliches Zucken durch ihre Augäpfel ging. Andere ihres Elementes wüssten, was die Erklärung war, denn sie konnten den erbitterten Kampf auf den vielen großen Bildschirmen erahnen - für Unerfahrene zeigten die Bildschirme nichts anderes als ein Chaos von herumtänzelnden Zeichen - nicht nur die des Wächtertums, sondern auch verschiedene Buchstaben der menschlichen und dämonischen Alphabete, Zahlen und Schriftzeichen - auf schwarzem Untergrund, sowohl senkrecht nach unten und wie nach oben laufend, horizontal von einer Seite zur nächsten.
Zwar blickten Tinamis starre Augen direkt auf dieses chaotische Zahlen- und Zeichen-Universum, doch sehen tat sie es nicht. Sie sah nur Schwärze um sich. Die Schwärze eines anderen Universums, einer anderen vom Computer erschaffenen, virtuellen Sphäre. Sie war im Nachteil. Es war bereits zu viel Zeit vergangen. Die Schwärze symbolisierte die feindliche Übernahme; die Schwärze war es, die man Akurice nannte. Ein Hologramm ihrer selbst befand sich mitten in dieser Schwärze; dieses Hologramm ward geschaffen mit ihrer eigenen Magie und mit der Hilfe der ausgeklügelten Technik ehemaliger Kikou, die das Armband erfunden hatten, durch welches die Kikou sich mit den Computern mittels der sich in ihren Blutbahnen befindenden Magie verbinden konnten. Dies war notwendig gewesen, nachdem die Dämonen als Kontermittel gegen das durchkonstruierte Computersystem der Wächter Akurice - wie die Wächter es nannten, um die Schwärze begreiflicher zu machen - erschaffen hatten. Gänzlich schwarz war dieser virtuelle "Ort" allerdings nicht; unter den durchscheinenden Füßen des Hologramms leuchtete derselbe Wirrwarr an Zahlen und Buchstaben, wie man ihn auch auf den Bildschirmen vorfand, in einem matten, goldenen Licht. Die letzte verzweifelte Resistenz gegen die von "oben" herabsinkende Schwärze, wie Tinami klar war; genauso wie ihr bewusst war, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte.
Außerhalb der virtuellen Sphäre gewannen Tinamis Finger an Schnelligkeit; Beschwörungen wurden in die Tastatur gehämmert, die das Hologramm Tinamis in einem goldenen Schein aufleuchten ließen; einem Leuchten, welches ihren gesamten virtuellen Körper umgab und sie über dem "Grund" schweben ließ. Kurz hatte sie die Augen noch konzentriert geschlossen gehalten, nur um sie jetzt wieder zu öffnen: In ihren Händen hielt Tinami nun einen enorm langen, golden pulsierenden Speer, an dessen einem Ende sich ein Ring von fast einem Meter Durchmesser befand. Da alles nur eine gekünstelte Welt war, wog der Speer nichts, und mühelos wirbelte Tinami das dünne Instrument über ihrem Kopf, um es dann entschlossen in den Boden zu rammen. Der Boden gab nach, schien plötzlich aus Wasser zu sein, denn er vibrierte wie eine sich kräuselnde, aber ölige Wasseroberfläche, als der goldene Speer in ihn gerammt wurde und nun festzustecken schien. Erleichtert, aber auch mit einem Hauch von Triumph, lächelte Tinami in der Leere schwebend, als sie sah, wie sich das goldene Leuchten von dem Punkt aus ausbreitete, wo sie den Speer in den Boden gerammt hatte und die Schwärze Stück für Stück, Pixel für Pixel, zum Bersten brachte.
Schwarze Pixel wirbelten um sie herum, langsam wurde es heller, die Sphäre wurde wieder golden - hatte sie es gescha-
Mit Wucht packte etwas - eine Hand?! - ihr virtuelles Fußgelenk, riss mit unheimlicher Kraft an ihrem Gelenk, zog Tinami in die Tiefe, ihre Hände lösten sich von dem Speer, der goldene Reinigungsprozess kam augenblicklich zum Stillstand, und noch ehe Tinami schreien konnte, wurde sie in die Schwärze hinab gerissen.
Tinamis sich in der Realität befindender Körper reagierte sofort und könnte sie sich einen Moment von dem Bildschirm abwenden, um ihr Armband anzusehen, so hätte dieses ihr mitgeteilt, dass dessen Kugel sich plötzlich verfärbt hatte und nun nicht länger gelb, sondern orange war - sie müsste die Verbindung unterbrechen, sie sollte es tun, ansonsten würde sie auch hinabgerissen werden, so wie ihr virtuelles Ich ...
Nein, das würde sie nicht tun - sie musste weiterkämpfen, zurück an die Oberfläche, wieder Kontakt zum Speer aufbauen ...
Obwohl ihr Geist festhielt an diesem Gedanken, war ihr Körper nicht sonderlich begeistert davon, und obwohl Tinami ihn nicht beachten wollte, kam sie nicht drum herum, ein starkes Stechen in ihrer Brust zu spüren und als sie sich abwesend mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte sie kalten Schweiß. Ein ferner Teil ihres Gehirns wusste, was diese Schmerzen zu bedeuten hatten, immerhin hatte sie eine ärztliche Ausbildung absolviert, doch auch dies beachtete sie nicht, durfte sie nicht beachten, auch wenn ihr Unterbewusstsein von einer plötzlichen Angst gestochen wurde und aufflammte.
Sie musste an die Oberfläche - Atemnot, sie hatte Atemnot, sie bekam keine Luft, das Stechen wurde schlimmer, sie musste die Verbindung kappen ... an die Oberfläche, an die Oberfläche!
Oh Gott, sie wusste, was es war und die Angst überflutete sie, genau wie das Wasser, was ihr den Atem raubte. Der Schmerz in ihrer Brust flammte auf, breitete sich in ihrem linken Arm aus, und obwohl Tinami es nicht sah, wusste sie, dass der leuchtende Punkt auf rot gesprungen war. Mit der letzten Kraft ihres Körpers musste sie sich vom Computer trennen... nein, das konnte sie nicht. Sie konnte es nicht. Sie musste an die Oberfläche, der Speer. Wenn sie die Verbindung jetzt kappte... Das Wächtertum... die Hikari... sie verließen sich doch auf sie. Sie konnte sie nicht enttäuschen ... Kaira hatte ihr geglaubt, vertraute ihr ... sie würde enttäuscht sein, so schrecklich enttäuscht, wenn sie erfuhr, dass Tinami gescheitert war. Irgendwo da draußen kämpfte sie, machte sich keine Sorgen um Tinami, denn sie wusste, sie würde es schon schaffen.
Ja, sie musste es schaffen. Um Kaira zu sehen. Um ihr zu sagen, wie glorreich sie gesiegt hatte. Sie musste es schaffen. Streck die Hand aus, streck die Hand aus! Atme, ATME!
Mit gezielten Schritten raste Aores zusammen mit seiner Gattin die vielen Treppen herunter, um in die Eingangshalle des Sanctuarians zu gelangen - er hätte auch den Fahrstuhl nehmen können, um so schneller in den Eingangsbereich zu gelangen, doch tat dies nicht, da der Fahrstuhl bereits abgeschaltet war. Auch wenn er viele Stufen hinter sich gelassen hatte, gönnte er sich keine Verschnaufpause; er war auch keinen Augenblick schockiert über das heillose Chaos, welches ihn begrüßte, sobald er unten angekommen war: Er war vielmehr verärgert darüber.
Die Eingangshalle war gefüllt mit Verletzen, Angehörigen, sterbenden Wächtern und Wächtern, die bereits tot waren. Der sonst so saubere Boden war dreckig vom vergossenen Blut, vom Schlamm und Ruß. Aores sah auf den ersten geübten Blick, dass Hilfe bei vielen der Verletzten bereits zu spät kam: Sie waren von dem ersten Hagelangriff getroffen worden und das Bluten der offenen Fleischwunden konnte nicht mehr gestillt werden, die abgerissenen Körperteile unmöglich wieder angenäht werden. Auf der anderen Seite sah er auch einige unter ihnen, die nicht so schlimm verletzt waren, als dass sie es sich erlauben konnten, sich hier aufzuhalten und die Zeit der Ärzte unnötig in Anspruch zu nehmen. Missgestimmt bemerkte Aores auch, dass sein sonst so geübtes Personal hektisch hin und her flitzte - und das, obwohl sie hier in der Eingangshalle überhaupt nichts zu suchen hatten, sondern alle bei ihrer Arbeit sein sollten.
Der Grund für das Chaos waren nicht die vielen Verletzten oder die bereits Verstorbenen, sondern die Fragen derer, die noch fragen konnten. Cecilie hatte ihm zwar gesagt, dass sie alle die gleichen Fragen stellten, aber dass es so schlimm wäre, hätte er nicht für möglich gehalten. Kaum, dass er heruntergekommen war, hörte er es bereits den Singsang der Verwirrung und Panik:
"Wie können die Dämonen uns angreifen?"
"Warum ist der Bannkreis nicht mehr intakt?"
"Die Frist ist doch noch gar nicht abgelaufen?"
"Wo ist unsere Hikari?"
"Warum haben wir keinen Kontakt zum Tempel?"
"Wieso heilt unsere Hikari uns nicht?"
Kein Wunder, dass sein geschultes Personal sich nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte, wenn es immer wieder von panischen Wächtern angefallen wurde und auf deren Fragen keine Antwort geben konnte. Aber ganz offensichtlich kannte Cecile ihren Mann gut, denn sie fragte ihn, ob er ein Mikrofon brauchte. Aber nein, das brauchte er nicht. Seine Stimme würde vollkommen ausreichen:
"RUHE!"
Und sofort hielt das Chaos inne: Alle Augen lagen auf Aores, welcher mit Wissen und Wollen auf der Treppe stehen geblieben war, damit auch alle ihn sehen konnten - auf jeden Fall die, die noch sehen konnten.
"Ich gebe hiermit allen Ärzten die Erlaubnis, jeden, der weitere dumme Fragen stellt, als Letztes zu behandeln, denn wenn derjenige noch in der Lage ist, dumme Fragen zu stellen, geht es ihm ja offensichtlich gut!" Wenn es möglich war, wurde es noch ruhiger, doch Aores war noch längst nicht fertig:
"Jeder, der noch kämpfen kann, wird diesen Saal sofort verlassen - und zwar zum Haupteingang raus! Und damit meine ich auch die Angehörigen, denn ihr helft euren verletzten Wächtern nicht, indem ihr hier rumsitzt und heult! Ihr behindert hier nur den Betrieb, geht also raus und kämpft - SOFORT!" Wie nicht anders von Aores erwartet, folgten die Wächter seinem Befehl und unter Aores strengem Blick leerte sich die Halle hastig, bis nur noch sein Personal übrig blieb und die, die wirklich Hilfe brauchten - und das schnell.
"Die drei dumm herumstehenden Tempelwächter zu meiner Linken werden jetzt sofort die Leichen in den Leichenkeller verfrachten und mit dem Desinfizieren beginnen; ihr werdet in den nächsten Tagen genug zu tun haben, ihr könnt also schon anfangen!" Aores hatte diese Worte plötzlich so schnell ausgesprochen, dass niemand, der es nicht gewohnt war, mit ihm zu arbeiten, ihn wohl verstanden hätte. Sein Personal jedoch handelte und stellte keine Fragen, denn nun musste alles schnell gehen.
"Alle anderen wissen, was sie zu tun haben und die, die es nicht wissen, haben hier nichts zu suchen und können sich zu ihren Mitwächtern auf das Schlachtfeld begeben!" Auf Aores Worte folgten stets Taten - auch in diesem Fall, und plötzlich widmeten sich alle wieder ihrer eigentlichen Arbeit. Während Aores skeptisch das Treiben beobachtete, richtete seine Frau sich nun an ihn:
"Operationsaal A?"
"Operationsaal A. Und beeil dich!"
Pelagius hatte sich nun von seinen Eltern getrennt und kämpfte sich alleine durch die angreifenden Dämonen. Es gab keinen Plan, den die Wächter verfolgten, keine ungefähre Richtung, welche sie hätten einschlagen können - sie kämpften einfach nur; verteidigten das, was ihre Heimat war, ohne daran denken zu dürfen, dass diese mehr und mehr in sich verfiel.
Einigen Tempelwächtern war es gelungen, sich in Sicherheit zu bringen, doch viele Leichen lagen zerquetschst auf dem blutigen Boden, zusammen mit denen der Gefallenen. Das Kreischen der Kinder, die von ihren Tempelwächtern gerade noch mit deren Leben beschützt worden waren, flammte immer wieder auf, doch verstummte schnell, als auch sie getötet wurden, während das sonst so klare Wasser der Kanäle sich rot färbte; zerfetzte Körperteile klatschten auf die Straße und in das reine Trinkwasser Sanctu Ele'saces, als weitere Strahlenattacken hernieder donnerten, Häuser zerstörten und Wächter töteten. Niemand hatte Zeit, sich um den Schaden zu kümmern; niemand hatte Zeit, die Trümmer der einst so schönen Häuser zu beweinen und zu untersuchen, sicherzugehen, dass niemand darunter begraben worden war. Niemand hatte Zeit, auf die am Boden liegenden Leichen zu achten. Womöglich traten sie auf ihre Angehörigen, auf ihren eigenen Tempelwächter, auf ihr Kind, doch niemand konnte darauf achten; die Stiefel vieler waren rot gefärbt, so wie ihre Hände - sofern sie noch beide besaßen.
Auch Pelagius achtete nicht darauf, dass seine eigentlich sonst immer so schön polierten Stiefel nun völlig blutverschmiert waren: Er konzentrierte sich gänzlich darauf, so viele Dämonen wie nur möglich zu töten - und wie es sich für einen Offizier gehörte, war er darin auch sehr effektiv. Er war als sehr agiler Kämpfer bekannt und war daher auch noch nicht von irgendeiner Attacke getroffen worden: seitdem er sich von seinen Eltern getrennt hatte, war er stets in Bewegung gewesen; stets Attacken ausweichend, stets angreifend. Seine schnellen Beine brachten ihn von einem Dämon zum nächsten, die seine Hände schnell auslöschten, ehe seine Feinde bemerkten, dass er sich überhaupt auf sie stürzte, denn er war ein Meister des geheimen Tötens. Zwar war er am talentiertesten darin, Tsunami-ähnliche Wellen entstehen zu lassen, aber dass er diese an Ort und Stelle nicht anwenden konnte, war ihm bewusst - im Allgemeinen wussten alle Wächter, auch ohne mit der Kommandozentrale in Verbindung zu stehen, welche Attacken sie anwenden sollten und welche nicht. Obwohl der Hass auf die Dämonen, die ihre geliebte Heimat zerstörten, für das Blut und die Toten verantwortlich waren, alle erneut packte und sie zu leidenschaftlichen Tötungsversuchen ermutigte wie ein sich verbreitendes Feuer, wussten sie alle, dass sie ihrem feurigen Hass noch nicht Form geben durften - dafür war der Gegenangriff da. Jetzt galt es zu beschützen; das zu retten, was noch gerettet werden konnte. Die einen Wächter griffen an, andere verhalfen den Tempelwächtern und den Kindern zur Flucht, Wächter gaben sich gegenseitig Deckung: sie waren alle für den Ernstfall trainiert worden - und sie waren gut trainiert worden.
Stattdessen wandte Pelagius eine Technik an, die sein Vater ihm beigebracht hatte: Die linke Hand wurde dabei von einer Kugel aus Wasser umschlossen, die der Offizier vor sich hielt und zu einer tödlichen Waffe umfunktionieren würde. Durch Schnippbewegungen des rechten Zeigefingers am Mantel der Wasserkugel lösten sich kleine Wasserfetzen von ihm und schossen wie Pistolengeschosse auf die Köpfe der Dämonen zu, um deren Köpfe bei einem Treffer in einem Wassergefängnis einzuschließen. Ganz egal wie sehr sie sich wehrten, waren sie dazu verdammt, zu ersticken. Das einzige, was sie vorm Ersticken retten konnte, wäre, wenn sie Pelagius vorher töten würden, doch der Offizier des Wassers war so schnell auf und davon, dass sie ihrem Schicksal nicht entkommen konnten.
Doch gerade als Pelagius wieder drei Dämonen ertränkt hatte, blieb er abrupt stehen. Nicht weil er stehen bleiben wollte, sondern weil ihn etwas am Weitergehen hinderte. Er spürte es, noch bevor er es mit eigenen Augen sah: Seine Füße waren vereist und hastig arbeitete das Eis sich empor.
"Ihr habt selbst schuld. Ihr hättet mich nicht von meinem Logenplatz herunterjagen sollen." Es waren Lacrimosas Worte, die der Kommunikator an Pelagius' Kopf für ihn übersetzte, welche sie mit einem amüsierten Lachen untermalte, während auch andere Wächter Pelagius' Schicksal teilten; sowie fünf Dämonen, aber auf diese schien Lacrimosa, die Herrin des Eises, offensichtlich keine Rücksicht zu nehmen - augenscheinlich nicht ihre eigene Horde. Einige waren bereits völlig zu Eis erstarrt und auch der Offizier des Wassers sah keinen Ausweg für sich; Eis war zwar auch nichts anderes als Wasser, aber er war nicht in der Lage, die Temperatur von Wasser zu manipulieren.
Seine Hände waren noch nicht vom Eis überzogen, doch die Attacke, mit welcher er Lacrimosa angreifen wollte, hatte nicht den gewünschten Effekt, denn die Fürstin hatte die auf sie zufliegende Kugel einfach mit Grazie zu Eis verwandelt, wodurch sie mit einem spöttischen "Klonk" auf den vereisten Boden schmetterte und zerborst.
Aufgrund von Pelagius' Verzweiflungstat wurde sie allerdings auf ihn aufmerksam, und sobald ihre gelben Augen den Wächter erblickt hatten, hielt das Eis knapp unter seinem hastig schlagenden Herzen inne; seine Arme und Hände waren allerdings von einer dicken Eisschicht umgeben, weshalb er auch nichts anderes tun konnte, als verblüfft zuzusehen, wie Lacrimosa wie eine Eiskunstläuferin über den vereisten Platz glitt, dabei mit Eleganz die vereisten Wächter umwirbelnd, bis sie kichernd vor Pelagius stehen blieb.
"Was für ein hübscher Mann du doch bist!" Prüfend nahm sie den doch recht überraschten Pelagius ins Auge, sich von dem Krachen und Donnern der Schlacht nicht in ihrer Arbeit ablenken lassend. Ohne dass Pelagius etwas dagegen tun konnte, legte sie ihre lila lackierten Fingernägel unter sein Kinn und legte somit sein Kopf in verschiedene Winkel, um ihn genauer betrachten zu können, dabei seinen angewiderten Blick komplett ignorierend.
"Ihr seid zwar nicht sonderlich stattlich, aber hübsch seid ihr Wächter ja, das muss man euch lassen." Da Pelagius sich viel auf sein Aussehen einbildete, fühlte er sich selbstverständlich nicht von diesen Worten beleidigt, auch wenn sie aus dem Mund einer Dämonin stammten. Doch als Lacrimosa den Griff um sein Gesicht festigte und sein Gesicht näher an das ihre zerrte, entstellte seine Abscheu seine sonst so schönen Gesichtszüge:
"Ich wüsste zu gerne, was für hübsche Mädchen dabei herauskämen ... Warum sehen unsere Männer nur nicht so aus? Dann wären sie wenigstens was fürs Auge."
"Because they are our men." Lacrimosa wirbelte herum, doch es war bereits zu spät: Im gleichen Moment, in welchem diese Worte gesagt worden waren, war Azura ebenso elegant wie Lacrimosa zuvor einige Meter hinter ihr mit den Zehenspitzen auf der eisigen Oberfläche gelandet und augenblicklich schmolz das Eis unter ihren Füßen dahin. Für die eingefrorenen Wächter kam jede Hilfe zu spät; aufgetaut, aber tot, schlugen ihre Leichen auf dem Boden auf, aber nun, da Pelagius ebenfalls wieder aufgetaut war und beide Hände wieder freihatte, zögerte er keine Sekunde, um sich den Schmeichelleien Lacrimosas zu entziehen und schlagfertig auf diese zu antworten:
"NATRICE, EXSOLVE DEFORMITATEM!"1 Da auf dem Platz außer Azura kein lebender Wächter mehr war, erlaubte Pelagius sich selbst, eine Attacke des größeren Kalibers anzuwenden, wohlwissend, dass das Wasser für Azura keine Gefahr darstellen würde.
Das sich auf dem Platz befindende, eben noch gefrorene Wasser, sammelte sich rasch um Pelagius herum einer riesigen Schlange gleich, welche sich bei seinen Worten teilte und vermehrte und auf Geheiß ihres Meisters auf Lacrimosa zusauste wie eine sehr zielgenaue Tsunami-Welle bestehend aus abertausenden, kleinen Wasserschlangen - ein Tsunami, der auch ins Ziel traf und Lacrimosa tatsächlich vom Platz fegte.
Auch Azura drohte, von der Flut getroffen zu werden, doch sie verhinderte, weggespült zu werden, indem sie die Temperatur des Wassers ansteigen ließ und es verdampfte, ehe es sie erreichte.
Sich bewusst, dass dies der perfekte Moment war, um sofort mit einer weiteren Attacke nachzusetzen, eilten die beiden Wasserwächter zum Rand des Platzes, wo Treppenstufen herunterführten und von welchen nun das Wasser heruntertropfte - doch von Lacrimosa war nichts zu sehen.
"Sie hat das Wasser vereist, ehe sie darin ertrunken ist", sagte Azura, ein wenig außer Atem und machte einen Wink zu den letzten Stufen der Treppe, welche tatsächlich von einer Eisschicht überzogen waren. Da beide ihre Aura nicht in der Nähe spüren konnten, nutzte Pelagius den Moment, um sich für die Rettung zu bedanken.
"Wenn ich die Temperatur des Wassers so regulieren könnte, wie du es kannst, hätte ich diese peinliche Bredouille umgehen können."
"Danke, das habe ich meinem Vater zu verdanken. Er war ein Kikou. Ich kann zwar das Wetter nicht manipulieren wie sie, aber für die Temperatur reicht es gerade noch. Dafür kann ich keine so beeindruckenden Wellen herbeischwören wie du." Und sie musste zugeben, dass sie das doch ziemlich störte, denn einen Tsunami entstehen zu lassen war für einen Wasserwächter die Bedingung für den ersten Rang, weshalb Azura auch nur den zweiten besaß.
Anstatt aber nun ein Gespräch mit ihrem Kollegen zu beginnen, schob Azura ihre nassen, blauen Haare hinter ihr Ohr und orderte:
"Lass uns zusammen zur Straße des Klimas vordringen. Ich habe gehört, dass unsere Feinde bis dahin vorgedrungen sind. Sie dürfen auch gar keinen Fall weiter gelangen!"
"KLARIETTE!" Wenn die erste Heerführerin von Lacrimosas Horde ihren Namen hörte und noch dazu in eben dieser Tonlage gerufen, wusste sie, dass sie gefälligst bei ihrer Fürstin sein sollte und das am besten vor einer Minute. Sie war eigentlich gerade dabei gewesen, einem Naturwächter die geerbten Schmuckstücke seiner Mutter zu rauben, doch sie ließ alles stehen und liegen, um dem Ruf ihrer Schwester umgehend Folge zu leisten. Dank ihres außerordentlich feinen Gehörs fand sie auch schnell zu Lacrimosa, welche sich einen neuen Turm gesucht hatte, um Klariette mit zugekehrtem Rücken zu begrüßen und schon von Weitem bemerkte die geübte Klariette, dass ihre Herrin überaus wütend war, weshalb ihr Tonfall beruhigend war, als sie sie fragte, was denn los wäre, ob sie womöglich verletzt wäre ...
"Ich brauche einen Spiegel! Und ich brauche meine Schminke!" Jeder andere wäre wohl verwundert, eine solche Aufforderung mitten in der Kriegseröffnung zu hören zu bekommen, doch Klariette war es nicht, allerdings war sie nervös, denn ...
"Ich kann dir leider weder das eine noch das andere geben, Lacrimosa."
"Was soll das heißen!? Hast du meinen Schminkkoffer denn nicht dabei, obwohl ich dich darum gebeten habe!?"
"Doch... schon. Aber ich habe ihn ... nun ja, verloren." Ein beängstigendes Schweigen trat ein, denn Klariette wusste sehr wohl, wie wichtig das Aussehen für Lacrimosa war. Es war ja sogar so, dass niemand außer ihren Zofen sie sehen durfte, ehe ihre Haare und ihre Schminke nicht so perfekt saßen, wie sie es haben wollte. Klariette kannte ihre Schwester allerdings gut genug, um zu wissen, dass sie nicht schwieg, weil sie wütend auf sie war, sondern deshalb, weil sie traurig war. Ihr Schminkkoffer war ihr Ein und Alles, denn jedes Teil war selbst von ihr ausgesucht gewesen - und Lacrimosa mochte Schminke. Sie mochte sie sehr. Sie mochte es auch gerne, ihre Schwestern zu schminken, weshalb Klariette den Verlust des Koffers ebenfalls beweinte, wenn auch um einiges weniger dramatisch als Lacrimosa.
"I-Ich werde ihn suchen ..."
"Nein. Schon gut, ich ... will nicht, dass dir etwas passiert, nur weil du nach etwas suchst." Die beiden Dämoninen schienen es aufgrund ihres dramatischen Gesprächs nicht zu bemerken, doch unbemerkt hatte ein Windwächter die Chance auf Ruhm gewittert, als er die scheinbar abgelenkte Lacrimosa entdeckte. Fürsten zu töten brachte Ehre mit sich und Lacrimosa machte keine alarmierende Anzeichen darauf, dass sie den Wächter bemerkt hatte... nach wie vor hielt sie die von ihm abgewandte Hand über ihr im Schatten liegendes Gesicht und war somit völlig---
Gerade als er die erste Silbe seiner Beschwörung aufsagen wollte, durchbohrte eine Eislanze seinen Torso.
"Wir haben aber ganz viel neuen Schmuck sammeln können und Lycram haben wir auch ein paar Mal treffen können und ich meine gesehen zu haben, dass sein Arm unbrauchbar ist ...", fuhr Klarriete nachdenklich fort, ohne auf die Störung des nun toten Wächters einzugehen; sie bewunderte eher, wie elegant Lacrimosa trotz ihrer Gefühlslage die blutige Eislanze wieder senkte und sie schmelzen ließ, als wäre nichts geschehen.
"Was soll ich denn mit Juwelen, wenn ich meinen Schminkkoffer nicht habe und mich nicht passend schminken kann!?" Klariette sah mit bedrücktem Herzen wie Lacrimosa beide Hände vor ihr Gesicht schlug und tatsächlich erbittert anfing zu weinen; so sehr, dass sie beinahe mitweinen wollte.
"Das mit Lycram heitert mich auf und ... es ist auch gut, dass es dir gut geht, aber ... mein Schminkkoffer! Mein geliebter Schminkkoffer!" Theatralisch, wie Lacrimosa ab und zu war, beschränkte sie sich nun nicht mehr nur darauf, erbittert zu weinen, sondern regelrecht zu heulen. Doch so schnell es bei ihr kam, so schnell verschwand es auch wieder, jedoch war sie nach wie vor nicht gewillt, sich zu ihr herumzudrehen; wahrscheinlich, weil ihre Schminke jetzt nur noch mehr verlaufen war als sowieso schon. Traurig, immer noch mit verweinter Stimme teilte sie ihrer Heerführerin mit, dass sie sich erst mal zurückziehen würde. Ungeschminkt würde sie nicht kämpfen.
Sie hatte zum Glück noch einen zweiten Koffer.
Während sich die Wächter auf Sanctu Ele'saces noch relativ gut schlugen, war auf Min Intarsier ein wahres Gemetzel losgebrochen. Selbst die besten Wächter waren hilflos, wenn die Dämonen sie und ihre Familie regelrecht noch im Bett liegend töteten, denn nicht viele waren vom Einbruch der Barriere geweckt worden und selbst für die, die es bemerkt hatten, kam jede Warnung zu spät. Natürlich breitete das Bewusstsein, dass ihre Heimat von Dämonen überfallen wurde, sich schnell aus - besonders da die Horde Akais nicht sonderlich darauf achtete, irgendetwas leise zu machen, weshalb auch Azzazello darauf verzichtete, seine Hordenmitglieder zum Stillsein zu animieren.
Diejenigen, die dort lebten, wo Akais Horde zuerst angriff, hatten absolut keine Chance. Unter Jubel und Getöse wurden die Wächter, egal ob Familienvater, Mutter, Tochter oder Neugeborenes aus ihren Betten gerissen und getötet, ehe sie überhaupt verstanden was geschah. Andere wurden unter jubelndem Geschrei hinaus auf die Straße gezerrt, dort gefoltert, Kinder gewaltsam von ihren Eltern getrennt und vor ihren schockierten Augen auf grausamste Weise getötet. Von diesem Schrecken geweckt, versuchten die, die weiter innen auf den Inseln lebten, ihre schwächeren Familienmitglieder hastig in Sicherheit zu bringen und genau wie auf Sanctu Ele'saces ihre Tempelwächter mit ihren Kindern loszuschicken, ehe diese ein ähnliches Schicksal teilten, doch die Panik war ausgebrochen.
Als mehr als 15 Minuten nach dem Einbruch der Barriere es endlich jemanden gelang, die Alarmglocken zu läuten, war es bereits zu spät, um noch irgendetwas aufzuhalten. Das sonst so grüne, friedliche und wohlduftende Min Intarsier badete bereits in Blut und Schrecken.
In Schlafanzügen und Morgenröcken wehrten sich die überrumpelten Wächter mit Händen und Füßen, doch es gab auf dieser Insel einfach nicht genügend gut ausgebildete Kämpfer: Verstärkung wurde dringend benötigt, doch niemand kam. Niemand reagierte auf die verzweifelten Hilferufe der sterbenden Wächter. Unkontrolliert wurden sie abgeschlachtet wie die Tiere oder dienten dem aufgestauten Frust der Dämonen als Ablenkung.
Auch Ilang musste einen Hilferuf unterdrücken. Nach wie vor befand die Naturwächterin sich in der Hauptzentrale Min Intarsiers und schlitterte förmlich über dessen Parkettboden, während sie die Flucht ergriff.
Sie war keine feige Wächterin. Nein, sie war eigentlich immer mutig gewesen und wäre niemals vor einem Kampf geflohen, aber nun hatte sie keine andere Wahl. Sie musste das aufkeimende Leben in ihr mit allen Mitteln beschützen, sie durfte nicht zulassen, dass ihr und somit Greys Kind irgendetwas zustieß ...
Immer wieder kreiste dieser Gedanke durch ihren Kopf, während sie die Treppen herunterstürzte in dem immer wieder bebenden Gebäude. Das Licht war vor wenigen Minuten ausgefallen, doch die großen Fenster wurden von den Magieentladungen vor dem Gebäude erleuchtet, weshalb Ilang ohne Probleme ihren Weg durch das Gebäude fand. Sie nahm den gleichen Weg, den Green vor wenigen Stunden gerannt war; nämlich zum Teleportationspunkt der Zentrale, denn sie konnte nicht ahnen, dass das Teleportieren zusammen mit der Kommunikation ausgefallen war. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie in den Tempel gelangen konnte und dass sie und ihr Kind dort in Sicherheit wären. Daher machte Ilang sich auch keine Gedanken darum, dass das Gebäude verdächtig leer war, denn sie glaubte, dass sich die sonst doch verweilenden Wächter in den Tempel zurückgezogen hatten. Nicht nur im Traum dachte sie daran, dass die einzigen Wächter, die zum Zeitpunkt des Angriffes noch in der Zentrale gewesen waren, Tempelwächter waren, welche sich bereits heillos in die Schutzkammern geflüchtet hatten, denn die Zentrale lag am Ende der Insel, am weitesten entfernt vom Schrecken. Nur wenige Tempelwächter waren mutig genug gewesen, sich nicht in die Schutzkammern zu begeben, sondern zum Lazarett, welches in der Nähe der Zentrale lag - wohlwissend, dass man dort nun sicherlich alle helfenden Hände gebrauchen konnte, die es gab; wenn es den Verletzten denn gelang, dorthinzukommen, ohne vorher in lachende Hände zu fallen.
Doch daran dachte Ilang nicht. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie nur zum Teleportationspunkt gelangen müsste und dann wäre sie in Sicherheit. Diese Hoffnung wurde ihr dann natürlich schnell genommen, denn als sie in dem Raum im ersten Stock ankam, bemerkte sie, dass nicht nur das Kommunizieren mit dem Tempel nicht mehr möglich war, sondern auch alles andere nicht ...
Beinahe ohnmächtig sank sie auf die Knie und der schreckliche Krach, die entfernten Schreie, dröhnten plötzlich wieder auf sie ein, obwohl sie sie vorher noch ignoriert hatte, als wäre das gar nicht ihr Problem. Doch es war ihr Problem. Denn nun verstand sie, dass sie auf dieser dem Untergang geweihten Insel gefangen war und sie und ihr Kind genauso sterben würden wie die anderen Wächter.
Ilang hatte keine Ahnung, wo sich hier die Schutzkammern befanden. Sie kannte die des Tempels, aber nicht die von Min Intarsier und es war kein Tempelwächter aufzufinden, der ihr den Weg hätte weisen können - und sie spürte so viele Auren, dass es für sie unmöglich war, sich an diesen zu orientieren, um die Schutzkammern zu finden.
Sie konnte nicht fliehen.
Sie konnte sich nicht verstecken.
Sie konnte nur kämpfen - und dabei überleben oder sterben.
Und die Gelegenheit, das Schicksal herauszufordern, erhielt sie auch sofort, als die erste Gruppe Dämonen die Zentrale stürmte und die am Boden kauernde Ilang entdeckte.
1 "Wasserschlange, erlöse die Hässlichkeit!" (Latein)