Kapitel 39 - Versprochen ist versprochen
Noch 18 Tage bis zum 8ten Elementarkrieg
"Ach, Schatz, zieh doch nicht so ein Gesicht! Es wird sicherlich schön." Die Worte seiner geliebten Ehefrau konnten Shitaya nicht aufheitern und daher beschäftigte er sich schmollend weiterhin mit den Haaren seiner kleinen Tochter Shia, welche auf dem Schoß ihres Vaters hockte. Er und Shia waren die einzigen, die nicht fleißig dabei waren, den Umzug vorzubereiten. Shia half aus verständlichen Gründen nicht, immerhin war sie noch zu klein und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Umzug. Ganz anders als Saiyon, der durch das gesamte Haus sauste und sogar deren Tempelwächterin an Fleiß übertraf, welche mit dem Enthusiasmus des Windwächters kaum mithalten konnte.
"Ich bin einfach dagegen. Der Tempel ist nicht der richtige Ort für unsere Tochter", antwortete Shitaya und drückte Shia an sich, als wäre sie ein Kuscheltier. Sie saßen zusammen auf dem letzten Stuhl ihrer ehemaligen Stube als die letzten Verbleibenden.
"Es ist das politische Machtzentrum unseres Reiches", entgegnete Säil tadelnd und fuhr fort:
"Es ist eine Ehre, dass wir dort leben dürfen, sogar ohne es beantragen zu müssen! Du solltest dich nicht beschweren."
"Eben deshalb beschwere ich mich." Säil seufzte und ein erschöpftes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
"Ich weiß, dass du dich in das Haus auf Espiritou del Aire verliebt hast, aber Espiritou del Aire wir wenn überhaupt dann frühestens in 50 Jahren fertiggestellt werden - jetzt, wo wir bald im Krieg sind. Du musst doch einsehen, dass wir, und vor allen Dingen Shia, im Tempel am besten aufgehoben sind!" Natürlich wusste Shitaya, dass seine Frau recht hatte und daher war seine Antwort eher ein Gegrummel als eine wohl artikulierte Antwort.
Säil befreite Shia aus der Umarmung ihres Vaters und setzte das kleine Mädchen auf dem Teppich ab, wo sie sich sofort daran machte, fröhlich herumzukrabbeln.
"Es ist doch egal, wo wir wohnen", sagte Säil lächelnd und beugte sich zu ihrem Mann herunter, damit er gezwungen war, in ihr Gesicht zu sehen, was ihn sofort ebenfalls zu einem Lächeln brachte.
"Hauptsache, wir haben uns."
Noch 17 Tage bis zum 8ten Elementarkrieg
Ein leises Seufzen entglitt dem Windwächter, doch es wurde zum Glück von dem allgemeinen Gerede am Tisch verschluckt. Es war ein gedämpftes Gerede; ein Gerede, welches den Speisesaal ausfüllte, ohne aufdringlich zu wirken. Natürlich herrschte keine Unruhe; sowohl die Offiziere als auch die Elementarwächter waren gut erzogen; und die, die es nicht waren, waren zu sehr mit dem vorzüglichen Mahl beschäftigt, als dass sie sich mit dem Reden beschäftigen würden.
Es war das erste gemeinsame Essen der Offiziere und der Elementarwächter; das gemeinsame Abendessen war üblich, um die freundschaftlichen und partnerschaftlichen Bände zwischen ihnen zu stärken. Immerhin waren sie die beiden stärksten Fraktionen des Wächtertums und mussten stets zusammenarbeiten. Was sie so oder so tun mussten, ob sie sich nun liebten oder hassten, aber eine freundschaftliche Basis war natürlich wünschenswert.
Das gemeinsame Essen zu Abend war daher von Wichtigkeit und diente nicht nur dem Stillen des Appetites. Obendrein war es üblich, dass Elementarwächter und Offiziere oftmals den Bund der Ehe eingingen und in dieser Generation schien dies ebenfalls zuzutreffen, denn es war doch recht auffällig, wie viele weibliche Elementarwächter es gab, wozu die Offiziere im Gegenzug alle männlich waren - dies war ein Gedanke, der Saiyon durch den Kopf schoss, während er sich wieder seiner Forelle zuwandte.
Ukario hatte ihm nämlich am Nachmittag offenbart, dass es doch langsam auch für ihn an der Zeit wäre, sich zu binden - und warum nicht eine Elementarwächterin als Frau nehmen?
Dies schien nicht nur Ukario so zu sehen, sondern auch die vier seiner Kollegen, die genau wie er alleinstehend waren: Cebir und Kaira unterhielten sich angestrengt und schienen sich prächtig zu verstehen, während Magnus mit seiner Sitznachbarin diskutierte, doch Saiyon fiel sofort auf, dass Tinami an nichts weiterem außer dem Thema selbst interessiert war.
Saiyon selbst sprach mit niemanden; rechts neben ihm saß Azura, ebenso single, wie Saiyon wusste, da Ukario ihm dies lang und breit vorgelegt hatte, und schien mit ihren Meeresfrüchten zufrieden zu sein; Pelagius, welcher sie immer mal wieder verstohlen ansah, lag scheinbar nicht im Bereich ihres Interesses; obwohl sich der Windwächter denken konnte, dass Pelagius es nicht aus eigenem Antrieb heraus tat, sondern weil er mal wieder einen Einlauf von seinem Vater erhalten hatte.
Grey saß links neben ihm und aß seinen Fisch mit Schweigen, etwas was Saiyon nicht gerade behagte. Sollte er mit ihm reden? Aber wie sollte er ein Gespräch anfangen? Welches Thema sollte er wählen? Es gab nur eine Sache, die er mit Grey besprechen konnte... aber er konnte Grey ja wohl nicht am Tisch den Vorschlag unterbreiten, dass er doch der perfekte Ehemann für dessen Schwester wäre.
Nein, dachte Saiyon, das war gewiss nicht das, was er wollte.
Stattdessen nahm er einen Bissen von seiner Forelle und tauschte ein, zwei Blicke mit Shitaya aus, der mit Ilang sprach, aber dennoch in der Lage war, seinem Bruder mitzuteilen, dass er gefälligst seinen Mund aufmachen sollte. Gerade als Saiyon mit Blicken etwas erwidern wollte, hörte er, wie sich die Tür öffnete und er war der erste, der seinen Kopf zu eben dieser wandte.
Im gleichen Moment, wo Green im Türrahmen erschienen war, waren sämtliche Gespräche sofort verstummt, was sie zu verwundern schien, denn sie verharrte einen Augenblick in ihrem Gang und sah fragend in die Runde.
"Entschuldigt die Verspätung." Selbst eine solch simple Aussage ließ Saiyons Herz hüpfen, obwohl ihre Stimme desinteressiert klang und es ihr überhaupt nicht leid tat, dass sie zu spät gekommen war. Doch darum kümmerte Saiyon sich nicht: er war einfach nur froh darüber, dass sie da war und noch wohler wurde ihm zumute, als sie sich zwei Stühle von ihm entfernt, neben Grey, hinsetzte. Erst da fiel Saiyon besorgt auf, dass sie erschöpft aussah, was sein eher zurückhaltendes Lächeln untermalte, als er seinen Kopf zur Begrüßung neigte, wie die anderen es ebenfalls taten.
"Lasst euch nicht stören", erwiderte Green mit einem gelassenen Lächeln und kaum, dass die Gespräche wieder den Raum erfüllten, wandte sie sich an ihren Bruder und Saiyon war plötzlich unheimlich froh über seinen Logenplatz, denn so war er in der Lage mitzuhören, was sie besprachen. Doch da wurde er enttäuscht, denn sie besprachen nichts; jedenfalls nicht mit Worten, nur ein zwei Blicke und ein Nicken Greys wurden ausgetauscht, ehe Green sich ihrem Essen widmete.
Das Essen hatte wiederrum bei Saiyon an Interesse verloren und so diente dies nun nur noch als Vorwand. Während er so tat, als würde ihm die Forelle unheimlich gut schmecken, beobachtete er seine Angebetete aus den Augenwinkeln.
Jeden einzelnen Millimeter Greens nahm er in sich auf; ihre zusammen geflochtenen Haare, welche nach oben gesteckt worden waren und so ihren nackten Hals und Schultern entblößten. Es schien so, als wäre sie gerade erst vom Training zurück und als hätte sie sich in aller Eile umgezogen, denn ihre Brust hob und senkte sich in einem schnellen, unruhigen Takt und sie bediente sich eher an dem Wasser als am Essen selbst, in welchem sie eher desinteressiert herumstocherte. Ob sie keinen Fisch mochte? Wenn dies so war, dann konnte sie es gut verstecken, denn sie verzog keine Miene; ihr Gesicht war wie ein Gemälde... es zeigte keine Regungen, kein Lächeln lag auf ihren schmalen Lippen und das Blau ihrer Augen tief und unergründlich... Saiyon seufzte tief und ein Hauch von unerträglicher Sehnsucht lag verborgen in diesem Ausbruch von Verzückung. Wieder träumte er davon, wie er auf dem Platz saß, den Grey nun einnahm, so lange bis sie einen Verlobten hatte; träumte davon, wie er diesem stillen, doch so wunderschönen Gemälde Leben einhauchte, ein kleines Lächeln hervor bringen würde, wenn er unter dem Tisch und vor allen Blicken verborgen ihre Hand nahm, sie drückte...
Doch die Realität riss ihn aus dieser Traumwelt, als ihm bewusst wurde, dass Grey nicht nur den Platz des zukünftigen Verlobten reservierte, sondern auch wie ein Schutzwall fungierte. Kein Mann, der an der Hand Greens interessiert war, würde diese auch nur zu Gesicht bekommen, wenn er nicht erst an Grey vorbeikam. Ohne seinen Segen war eine Heirat, ja, sogar das Anhalten um Greens Hand vollkommen unmöglich und nichts anderes außer einem Traumschloss.
Und obwohl Saiyon nun die geeigneten Fähigkeiten vorweisen konnte, war er sich sicher, dass Grey ihn nicht mochte - und erst recht nicht als seinen zukünftigen Schwager. Auch Ukario hatte ihn entmutigt, immerhin hatte er nicht im Traum daran gedacht, dass Saiyon der richtige für die Hikari war. Sein Bruder, ja. Wenn Shitaya nicht bereits Familienvater wäre, dann wäre er perfekt gewesen... auch jetzt wieder verstand er sich prächtig mit allen Anwesenden, so extrovertiert wie er war.
Doch Saiyon konnte ihm deswegen nicht böse sein; aber ein wenig Eifersucht war sicherlich erlaubt.
"Du musst endlich mit Grey-sama reden", sagte Shitaya, als sie zwei Stunden später mit den anderen im abendlichen Wintergarten waren und noch zusammen einen Tee tranken, wozu es reichlich Gebäck gab für diejenigen, die sich nicht bereits am Fischbankett den Magen vollgeschlagen hatten. Saiyon hatte seinen Früchtetee noch gar nicht probiert; zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, Green dabei zuzusehen, wie sie sich mit Firey unterhielt und war vollkommen von dem kleinen Lächeln ihrerseits fasziniert gewesen, welches ab und zu auf ihrem Gesicht auftauchte, um sich dann wieder aufzulösen.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich nicht mag", antwortete Saiyon und dachte wieder daran, als er ihn damals vor dem Eingang der Bibliothek getroffen hatte; an seinen finsteren Blick, als er ihm offenbart hatte, dass er sich keine Hoffnungen zu machen brauchte - ging es eigentlich noch direkter?
"Das findest du nur heraus, wenn du mit ihm sprichst. Worauf hast du denn die ganze Zeit hingearbeitet, wenn du dich jetzt vor einem einfachen Gespräch fürchtest? Nur darauf, dass du unsere Hikari-sama die ganze Zeit anstarrst wie ein schmachtender Idiot?"
"Oh glaub mir", antwortete Saiyon seufzend, der seinen Blick nach wie vor nicht von Green abwenden konnte:
"Es macht mich sehr glücklich, sie einfach nur ansehen zu dürfen..."
"Oh nein, das tut es nicht. Das, was du spürst, ist kein Glück, sondern Sehnsucht und diese wird sich, sobald wir wieder zuhause sind - eh, ich meine in unserem Gemächern - in Trauer verwandeln." Der Angesprochene antwortete darauf nicht. Was sollte er auch antworten? Er wusste immerhin, dass sein Bruder letzten Endes recht behalten würde. Daher wandte er seinen Blick von Green ab, nur um ihn verstohlen auf Grey zu richten, welcher zusammen mit Ilang auf dem Sofa saß und mit Magnus sprach. Dieser Moment wahrte allerdings nicht lange, ehe Saiyon sich kopfschüttelnd wieder abwandte.
"Was soll ich ihm denn sagen?!", fragte Saiyon und seine Stimme verriet, dass er aus irgendeinem Grund aufgeregt war - eine Aufregung, die Shitaya nicht nachvollziehen konnte.
"Du sagst einfach, dass du ein Wächter bist, der seine Schwester liebt und dass du sie heiraten willst."
"Aus deinem Munde klingt das so einfach...", antwortete der Windwächter säuerlich.
"Weil es das ist. Du kannst ja nur eine Abfuhr erhalten." Bei dem Gedanken daran, eine Abfuhr zu erhalten, wurde Saiyon ganz schlecht und sein Gesicht erbleichte. Er nahm einen großen Schluck seines Tees um dem abzuhelfen, doch es brachte nichts; es führte nur dazu, dass er sich verschluckte. Während Saiyon damit beschäftigt war zu husten und wieder Luft zu bekommen, stemmte Shitaya seine Hände in seine Hüfte und entschied sich mit einem Seufzen, dass es Zeit war, dass er tat, was ein großer Bruder zu tun hatte.
So kam es, dass Shitaya nicht mehr vor ihm stand, als Saiyon sich wieder aufrichtete und zu seinem Entsetzen fand er ihn neben Grey sitzend, anscheinend in ein nettes Gespräch verwickelt. Saiyon war zu weit von ihnen entfernt, als dass er mithören könnte, was sie besprachen, aber es schien nicht so, als ob Shitaya Grey erzählte, dass sein kleiner Bruder es auf dem Platz neben der Hikari abgesehen hatte, denn ansonsten hätte Greys Gesicht sicherlich nicht ein so gelassenes Lächeln gezeigt.
Das Gespräch wahrte keine zwei Minuten, ehe Shitaya sich wieder erhob und zu seinem Bruder zurück schritt, welcher sich seit seinem Entfernen keinen Schritt bewegt hatte und erst aus seinem Salzstatuendasein erwachte, als sein Bruder ihm offenbarte, dass er morgen um 16 Uhr einen Termin mit Grey hatte.
"So einfach geht das, mein kleiner Bruder", fügte Shitaya grinsend hinzu und mit kläglicher Stimme antwortete Saiyon:
"Du willst, dass ich früh sterbe, Aniki. Ich wusste es schon immer." Lachend schlug Shitaya seinem Bruder auf dem Rücken, mit den Worten, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Doch alleine der Gedanke, dass morgen der Tag der Entscheidung war, ließ ihn erbleichen.
Etwas weiter von ihnen entfernt stand Firey nun alleine, da Green zu Grey gegangen war, um sich zu ihm zu gesellen, kaum dass Shitaya ihn verlassen hatte. Lange war sie allerdings nicht alleine, denn kaum, dass sie sich dazu entschloss, sich noch ein paar Kekse zu genehmigen, tauchte Azuma neben ihr auf, gekleidet in seiner braunen Uniform und mit einem breiten Grinsen.
"Henel ist geil, ich sag's dir!" Er und der Offizier des Schutzes, Minare, waren die einzigen Wächter, die an diesem Abend nicht zugegen gewesen waren; wie an so vielen anderen Abenden ebenfalls. Man konnte behaupten, dass sie sehr fleißige Spione waren und zu aller Überraschung konnte Minare Azumas Taktlosigkeit im Zaum halten.
Dieses Mal schien die Ausbeute allerdings etwas anderes zu sein als nur Zahlen und Fakten. Denn Firey bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Minare sofort zum Hikarigeschwisterpärchen hinsteuerte, mit einem ernsten Gesicht, welches sich auf Greens und Greys Gesicht übertrug, als er ihnen etwas flüsternd mitteilte.
"Ich mag die Atmosphäre irgendwie und das Prinzip des Stärkeren finde ich..." Firey unterbrach Azuma in seinem kleinen Vortrag:
"Gibt es etwas Neues aus Henel?" Einen kurzen Augenblick sah er sie fragend an, ehe sich ein Lächeln ausbreitete.
"Du weißt, Fireyskat, dass ich zum Schweigen beordert bin." Firey verdrehte die Augen, im gleichen Moment, wie sie bemerkte, dass Green den Raum verließ, während Grey ernst mit Ilang sprach, aber anscheinend dort blieb.
"Wenn du mir einen Kuss gibst, überleg ich's mir!" Langsam sah der Rotschopf wieder Azuma an, der ihr bereits zeigte, wo er wollte, dass sie ihn küsste; auf die linke Wange.
"Vergiss es, Azuma. Das sind mir keine Informationen der Welt wert! Wenn der Krieg morgen ausbricht, werde ich das schon früh genug erfahren."
"Wir haben ja noch 17 Tage." Firey wählte seinen Tonfall zu überhören, welcher fast so klang, als könnte er den Tag in 17 Tagen, den 15ten September, einen Samstag, nicht mehr erwarten. Firey jedoch spürte wie ihre Beine wackelig wurden, wenn sie nur daran dachte. In 17 Tagen würde der Krieg anfangen... war sie bereit? Bereit dafür, jeden Tag ihr Leben aufs Spiel zu setzen?
Sie wusste es nicht; wollte es eigentlich auch nicht herausfinden. Aber in 17 Tagen würde sie es unweigerlich tun.
"Darf ich das nochmal haben, Youma hält sich in Lerenien-Sei auf?!" Green bejahte dies, nachdem sie Itzumi förmlich aus dem Zimmer geworfen hatte und sich selbst den Haarschmuck aus den Haaren riss; mit der einen Hand nach der Bürste greifend, mit der anderen ihren Kleiderschrank aufstoßend.
"Ja, das hab ich gerade von Minare erfahren, direkt aus Henel kommend. Zur gleichen Zeit wie Lerou uns den Krieg angekündigt hat, wurde Youma in Lerenien-Sei gesehen und nun rate mal, mit wem er sich die Zeit vertrieb!" Die Bürste wurde zwischen die Zähne geklemmt, im gleichen Moment, in dem das Korsett auf den Boden flog und sie bereute es, Itzumi rausgeschickt zu haben, denn es stellte sich schon als schwer heraus, ohne Hilfe das neue Kleid anzuziehen, da Greys Kleider grundsätzlichen hinten geschlossen wurden.
"Mit wem?", frage Silence, ebenso unruhig wie Green es war, welche die Bürste in die Hände nahm, um diese kurz durch ihre Haare zu jagen:
"Mit Karou! Und wenn ich richtig zugehört habe, ist das doch die rechte Hand von Lerou, oder?" Etwas regte sich in dem Gesicht von Silence; eine Erkenntnis zeigte sich auf ihren feinen Gesichtszügen, eine Erkenntnis, welche ihr offensichtlich nicht gefiel.
"Oh, Youma, das willst du doch nicht wirklich..." Der beunruhigte Tonfall löste das gleiche Gefühl in Green aus und einen Moment verharrte sie in ihrem Versuch, sich umzuziehen.
"Was meinst du?" Silence sah nach unten, womit ihr Gesicht im Schatten ihrer Haare lag, als sie ihr antwortete:
"Als du damals vor mehr als einem Jahr meine Vergangenheit erfahren hast, hast du auch erfahren, dass... Youma der Thron in Henel zusteht. Mein biologischer Vater hätte es sein sollen, doch nach seinem Tod hat der damalige Dämonenherrscher Youma zu seinem Erbfolger ernannt."
"Aber Youma kann doch nicht im Ernst annehmen, dass er dieses Recht noch nach was weiß ich wie vielen Jahren noch hat? Ich meine, so dumm kann er doch nicht sein!?"
"Nein", sagte Silence und sah wieder auf; eine finstere Vorahnung in ihrem Blick.
"Aber ambitioniert. Als wir uns wiedersahen nach all den Äonen, hat er mir gesagt, dass er vorhat, den Thron in Henel einzunehmen."
"Und das sagst du mir erst jetzt? Gibt es noch irgendwelche Dinge, dir ihr besprochen habt, als du meinen Körper genommen hast, die ich vielleicht wissen sollte?!"
"...Ich glaube nicht, dass Youma in nächster Zeit irgendwie in die Nähe des Throns gelangt oder es nur in Erwägung zieht. Ihm wird klar sein, dass es viel praktischer ist, Lerou zu kontrollieren, genau wie die anderen Fürsten es tun. Ich habe die ganze Zeit angenommen, dass er mit einem der Fürsten unter einer Decke steckt; aber scheinbar ist es die Majestät selbst, oder eher dessen Anhang, für den er arbeitet, was wiederrum bedeutet, dass es Karou ist, der die Fäden in den Händen hält - daher kam vielleicht Lerous fixe Idee mit dem Bannkreis und der eigenständigen Kriegserklärung." Green setzte sich erst einmal auf ihrem Bett ab, ihre Ankleidung abbrechend und nachdenklich antwortend:
"Es bleibt aber immer noch die Frage, wie Youma das Siegel brechen will." Ebenso grüblerisch wie Green sah auch Silence aus, als sie sich von ihrem Medium abwandte und in den düsteren Himmel hinaussah.
"Das kann ich mir auch nicht erklären. Er ist eigentlich kein Profi auf diesem Gebiet und es ist immer noch ein Rätsel, wo sich das Gegenstück zu unserem Bannkreis überhaupt in Henel befindet. Leider kenne ich Karou nicht besonders... daher kann ich mir auch nicht erklären, was er von einem erneuten Krieg haben sollte, immerhin kann er ja nicht an ihm teilnehmen und warum sollte er sich Youma, einen Halbwächter, auf dem Thron wünschen?"
"Zu viele Fragen nach meinen Geschmack. Ich werde jetzt jedenfalls meine Verwandtschaft aufsuchen und ihnen erzählen, dass Youma auch noch eine andere Gefahr außer für den Bannkreis sein könnte." Sie seufzte erschöpft:
"Ich hoffe, du hast recht mit Youma. Ich finde Lerou als König um einiges sympathischer als einen verrückten Sensenmann." Gerade als sie sich wieder dem Anziehen zuwenden wollte, unterbrach Silence sie von ihrem Vorhaben:
"Ich werde Youma aufsuchen und ihn zur Rede stellen." Das Kleid hatte abermals an Interesse verloren, als Green Silence überrascht fragte, wie sie auf die Idee kam, dass Youma ihr irgendetwas sagen würde.
"Wenn ich mich hartnäckig zeige und es richtig anstelle, wird ihm vielleicht etwas herausrutschen. Immerhin liebt er mich nach wie vor." Die Hikari fand diese Idee nicht gut, absolut nicht gut und das sah man auch in ihrem Gesicht, welches dies deutlich widerspiegelte.
"Warum gefällt dir das nicht?", fragte Silence, die den Widerwillen ihres Mediums natürlich sofort bemerkt hatte. Was sie jedoch überraschte, war, dass Green ein wenig rot wurde; auch ihre Antwort kam erst zögernd:
"Der Krieg fängt bald an und... naja..."
"Du willst mich deshalb gerne in der Nähe haben", beendete Silence ihren Satz und konnte ein erschöpftes, aber auch nachgebendes Lächeln nicht unterdrücken.
"Lass uns sagen", sagte Silence und grinste nun ein wenig neckisch:
"Dass ich keine Großraumsuche unternehmen werde. Wenn ich Youma in innerhalb von zwei Tagen nicht gefunden habe, werde ich sofort zurückkehren. Der Krieg bricht erst in 17 Tagen aus, bis dahin bin ich drei Mal zurück und wir können auch noch trainieren, wenn du darauf bestehst." Das Training war nicht Greens größtes Anliegen, genauer gesagt, war es ihr eigentlich egal, denn mit Shaginai trainierte sie sowieso ununterbrochen. Doch Silence war die einzige Person, der sie offen sagen konnte, dass auch sie als Hikari Angst hatte. Firey war zwar ihre beste Freundin, aber ihr gegenüber konnte sie keine Schwäche zeigen, denn sie waren nicht nur Freundinnen, sondern auch Elementarwächterin und Hikari und sie wollte Firey nicht noch mehr Unsicherheit aufbürden.
Doch Green gab nach. Immerhin sah sie ein, dass sie diese kleine Chance nutzen sollten und dass sie ihren Egoismus zurückhalten musste.
Es waren ja nur zwei Tage.
Noch 16 Tage bis zum 8ten Elementarkrieg
Am nächsten Abend hatte Grey einen gänzlich anderen Kampf auszukämpfen; nicht nur, dass es um seine Gesundheit im Moment nicht gut stand und er wieder einmal erhöhte Temperatur hatte, er hatte auch einen Entschluss zu fassen. Einen Entschluss, der ihm so gar nicht gefallen wollte.
Er lehnte mit dem Kopf an der kühlen Glasscheibe, um seiner Stirn ein wenig Kühlung zu gönnen, während er eine Akte in seiner Hand hielt, welche Ryô ihm gerade gebracht hatte. Dieser stand noch im Raum, zusammen mit Ilang, welche neben Grey an einem runden Tisch saß und Grey genau wie Ryô besorgt musterte; beide gespannt auf Greys Entscheidung.
Nach mehreren Minuten, in denen Grey sich die Stirn zermalmte, seufzte er schließlich und gab Ryô die Akte zurück, welcher er nur einen kurzen Blick gegönnt hatte, denn er kannte deren Inhalt nur allzu gut. Ihm schien etwas klar geworden zu sein, dennoch sagte er nichts, als er sich Ilang gegenüber in den Sessel setzte, sich nach hinten lehnte und einen Moment die Augen schloss.
Ein fast schon unbarmherziger Akt, denn die beiden Wächter brannten darauf, seinen Entschluss zu hören. Erst nach verstrichenen Sekunden öffnete er die Augen wieder und sagte im gleichen Moment:
"Ich werde mit Green reden."
Und das tat er auch. Er hatte Ryô losgeschickt, um Itzumi Bescheid zu geben, dass er seine Schwester am Nordbalkon treffen wollte. Bevor er zu diesem Treffen gehen konnte, überredeten Ryô und Greys zukünftige Frau ihn zu einer Hühnersuppe, welche er mit einem Lächeln heruntergeschluckt hatte, um ihnen danach zu vergewissern, dass es ihm doch gleich viel besser ging.
Dies war gelogen, denn die Suppe hatte genau das Gegenteil bewirkt; jetzt war ihm noch heißer als zuvor und seine Stirn schien zu glühen, obwohl es recht kühl war draußen auf dem nördlichsten Balkon, wo er auf Green wartete.
Er musste sich nicht ausmalen, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagen würde, wer an diesem Nachmittag bei ihm zu Besuch gewesen war und besonders, wenn er ihr vom dem Inhalt des Gespräches erzählte: ihr widerwilliges Gesicht zeichnete sich bereits vor seinem inneren Auge ab.
Auch Grey gefiel es nicht; absolut nicht, aber es war das Beste. Es musste getan werden.
"Onii-chan?"
Grey schreckte aus seinen Gedanken empor und sah seine Schwester an der Glastür stehen. Sie trug das weiße Nachtkleid, welches er vor einem Jahr geschneidert hatte, um es dann nach dem Kampf mit Blue, welcher ironischerweise an diesem Balkon sein Ende gefunden hatte, nach dem gleichen Schnittmuster noch einmal zu schneidern. Sie hatte sich wohl beeilt hierhin zu gelangen, denn sie hatte sich nur einen Morgenmantel umgelegt. Kein Wunder, es war immerhin bereits nach neun.
"Green", begann Grey mit einem tadelnden Tonfall:
"Du kannst doch nicht im Nachtgewand durch den Tempel gehen. Was, wenn dich so jemand sieht? So darf dich nur dein Zukünftiger sehen."
"Keine Sorge, mich hat niemand gesehen", antwortete Green, während sie auf ihren Bruder zuging und sich zu ihm an die Brüstung gesellte. Sie wollte gerade fortfahren, als sich Sorge auf ihrem Gesicht abzeichnete:
"Du siehst aber gar nicht gut aus..." Grey winkte mit der Hand ab, mit welcher er sich gerade noch den Schweiß von der Stirn gewischt hatte und sagte lächelnd, dass er nur mal wieder erhöhte Temperatur hatte und dass dies kein Grund zur Sorge war. Dies beruhigte seine Schwester gewiss nicht, die ihm obendrein ansah, dass es ein schwieriges Gespräch werden würde. Das Gesprächsthema war ihm offensichtlich unangenehm; es stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, welches er abwandte, als er den Blick seiner Schwester bemerkte und in den Nachthimmel sah.
"Grey, was ist los? Ist irgendetwas passiert?" Er schüttelte den Kopf und seufzte tief, abermals ohne Blickkontakt zu seiner Schwester, welche langsam besorgt wurde. Gerade als sie ein weiteres Mal nachfragen wollte, sagte er:
"Du bist jetzt schon alt genug..." Ein skeptisches "wofür" brannte auf Greens Zunge, denn sie verstand die Anspielung sofort und sofort verstand sie auch, dass ihr das Gespräch wirklich nicht gefallen würde. Bevor sie ihn jedoch fragen konnte, fuhr er bereits fort:
"Heute Nachmittag hat ein Wächter um deine Hand angehalten. Er hat mich von seiner Aufrichtigkeit überzeugt, doch obwohl ich eurer Heirat meinen Segen gebe, möchte ich nicht über dich entscheiden und lasse dich selbst wählen." Es war offensichtlich, wie wenig Green von diesen Worten hielt, dass es ihr egal war, wie aufrichtig der besagte Wächter war und dass sie sich nach wie vor gegen eine Heirat sträubte. Doch obwohl Grey dies so deutlich in ihrem Gesicht ablesen konnte, fragte sie, um wen es sich handelte und ob sie diese Person kannte.
"Ja, du kennst ihn. Es ist Saiyon, der hat um deine Hand angehalten hat." Greens Hand rutschte vom Geländer, als sie ihn verblüfft anstarrte.
"Um meine Hand? Er will mich... heiraten?", fragte die Hikari, als wüsste sie nicht, was dies bedeutete. Grey seufzte ein weiteres Mal, glücklich schien er nicht darüber zu sein.
"Ja, das ist wohl sein Bestreben." Die Überraschung wich und zum Vorschein kam der Blick, den Grey erwartet hatte zu sehen: Skepsis und Widerwille. Doch ehe sie diesen ausdrücken konnte, fragte sie ihren Bruder, was er davon hielt.
"Er ist ein ausgezeichneter Wächter, unsere Vorfahren werden es garantiert gutheißen, wenn du ihn zu deinem Gemahl nimmst. Nein, Green, unterbrich mich bitte nicht", sagte er, als Green den Mund öffnete, um zu widersprechen und fuhr fort:
"Du weißt, dass mir das nicht am wichtigsten ist; du bist mir am wichtigsten. Und ich glaube, dir würde ein Mann an deiner Seite gut tun. Jemand, der dich liebt und ich weiß, dass Saiyon-san es tut. Und du magst ihn doch auch, nicht wahr?"
"Wenn ich jeden heiraten würde, den ich mag, dann hätte ich viele Ehemänner."
"Green, ich meine es ernst."
"Oh, glaub mir, ich auch."
"Aber du..." Er schwieg, scheinbar beschämt darüber, was er sagen wollte. Doch Green hatte es bemerkt und nahm ihm die Worte ab:
"Ja, Grey, ich verliebe mich sowieso nicht mehr. Aber das heißt nicht, dass sich meine Meinung über Zwangsehen geändert hat. Ich heirate niemanden, den ich nicht liebe."
"Ich zwinge dich nicht...", entgegnete Grey ein wenig erschüttert über Greens indirekten Vorwurf.
"Nein, du nicht. Aber die Hikaris werden es früher oder später tun. Großvater hat es auch schon öfter angedeutet."
"Und was willst du dann antworten?" Langsam zuckte Green mit den Schultern. Diese Chance ergriff Grey:
"Wäre es dann nicht besser, jemanden zum Gemahl zu nehmen, von dem du weißt, dass dessen Gefühle aufrichtig sind und den du selbst sympathisch findest?" Green wandte sich von ihrem Bruder ab, weil sie wusste, dass er recht hatte. Natürlich hatte er recht. Sie hatte sich für das Dasein einer Hikari entschieden und damit verbunden war nicht nur das Herrschen, sondern auch zu heiraten und vor allen Dingen dem Wächtertum einen Lichterben zu schenken. Doch just in diesem Moment konnte sie sich weder als Gemahlin noch als Mutter vorstellen und obwohl sie Saiyon nett fand, gefiel ihr der Gedanke überhaupt nicht, dass er der Gegenpart in dieser Zukunft sein sollte.
"Ich weiß nicht, ob ich ihn sympathisch genug finde, um ihn zu heiraten..." Grey spürte, dass er auf dem richtigen Weg war. Ihr Widerwille hatte sich zurückgezogen; sie hatte wohl eingesehen, dass sie nicht drum herum kam, einen Mann zu heiraten. Doch auch wenn Grey jetzt die Chance hatte, sie zu überreden, war dies genau das, was er nicht wollte. Er wollte sie weder zu einer Hochzeit zwingen, noch wollte er sie dazu überreden. Sie sollte selbst entscheiden.
"Green..." Er streckte die Hand nach ihr aus, legte sie um ihren Kopf und drückte sie vorsichtig an sich. Verwundert sah sie ihn an, doch schwieg, denn sie mochte es, von ihrem Bruder umarmt zu werden; sie konnte immerhin nicht wissen, wie schwer ihm dieses Gespräch fiel, wie schwer es ihm fiel, sie jemand anderem zu überlassen und dass es immer noch ein wenig schmerzte, wenn er sie berührte.
"Wenn ich einmal nicht mehr da sein werde, dann möchte ich dich in liebenden Armen wissen." Geschockt hob Green sofort den Kopf und entgegnete aufgebracht:
"Grey, du bist doch wohl nicht ernsthaft krank?!" Verblüfft über ihren Gefühlsausbruch lachte er in sich hinein und streichelte ihren Kopf. Lächelnd antwortete er:
"Nein, keine Sorge, das bin ich nicht. Aber bald fängt der achte Elementarkrieg an, wir ziehen täglich an die Front und bringen unsere Leben in Gefahr. Es wäre naiv, nicht an die Möglichkeit zu denken, dass uns etwas zustoßen könnte. Jeder von uns könnte..."
"Bitte, rede doch nicht darüber...", unterbrach sie ihren Bruder, indem sie ihn nun auch umarmte und ihn fest an sich drückte, ihr Gesicht in seinem Oberteil vergraben. Verblüfft über ihre plötzliche Reaktion sah er sie erstaunt an, bis seine Gesichtszüge vor Rührung erweichten und er sie nun sanft lächelnd in den Arm nahm.
"Ich pass auf mich auf." Zögernd blickte sie auf und mit Sorge bemerkte er, dass ihre Augen glasig geworden waren. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte:
"Aber Green, nun weine doch nicht!"
"Du musst es mir versprechen!" Mit glasigen Augen blickte sie ihren Bruder eindringlich an, welcher ihr nicht sofort folgen konnte. Doch dann grinste er ein wenig und entgegnete:
"Ich verspreche es dir. Aber nur wenn du mir versprichst, dass du dir Gedanken über Saiyon-san machst." Green seufzte erschöpft; scheinbar hatte sie den wahren Hintergrund des Gespräches bereits erfolgreich verdrängt.
"Gut", sagte die Hikari und löste sich von ihrem Bruder, um stur ihre Hände in ihre Hüften zu stemmen:
"Ich verspreche dir, dass ich mir ein paar Gedanken mache."
"Wirst du mir übermorgen um die gleiche Zeit deine Entscheidung mitteilen?" Erschöpft seufzte sie, doch bejahte dies. Gerade als Grey fortfahren wollte, streckte seine Schwester plötzlich den kleinen Finger aus, um deren Versprechen zu besiegeln. Verwirrt starrte Grey den Finger vor seinem Gesicht an; scheinbar war dies keine Geste, die unter Wächtern normal war.
"Wir müssen unser Versprechen doch besiegeln, Grey!" Ein wenig zurückhaltend ahmte Grey die Bewegung Greens nach und wurde noch verwirrter, als seine Schwester deren Versprechen besiegelte, indem sie ihren kleinen Finger mit dem seinen verband.
"Versprochen ist versprochen und darf nicht gebrochen werden!"
Zur gleichen Zeit wie Grey und Green in den Armen des jeweils anderen lagen, nahmen Yuuki und Firey noch an einer abendlichen Lektion Ignes' teil, welche eine Wiederholung einer anderen Lektüre war, die sie bereits früh in ihrem Lehrgang gehabt hatten und da diese von besonderer Wichtigkeit war und der Krieg immer näher rückte, hatte Ignes beschlossen, es noch einmal zu wiederholen. Da Firey sich dessen Wichtigkeit bewusst war, ließ sie die erste Lektüre noch einmal Revue passieren, als sie auf dem Weg zu ihrem Gemach war.
Zu dem damaligen Zeitpunkt waren weder Azuma, noch Yuuki und auch Firey noch keinen Rang aufgestiegen, sondern gerade erst angefangen. Ignes hatte damals gesagt, dass der Stoff vielleicht ein wenig schwer werden würde für die jungen Wächter, aber da man immer auf alles vorbereitet sein müsste, würde er eben diesen Stoff dennoch mit ihnen durchgehen, auch auf die Gefahr hin, dass sie es noch nicht verstehen könnten.
Das Thema war der Aufbau eines Schlachtfeldes.
Firey erinnerte sich noch daran, dass es geschneit hatte und dass ihre Füße froren, da sie und ihre zwei Kameraden zuvor noch im Schnee trainiert hatten. Ein Tempelwächter, den Firey nicht kannte, hatte ihnen Tee gebracht, welchen Firey dankend entgegennahm, während Ignes sich an das Pult lehnte, anstatt sich hinter es zu setzen: eine typische Gewohnheit von ihm, denn er hatte eine Tendenz dafür, oft auf und ab zu gehen, während er sie die Theorie hinter der Praxis lehrte.
Ignes wartete, bis sie alle drei einen Schluck des dampfenden Tees genommen hatten und begann dann, ohne seinen eigenen anzurühren:
"Ich sage euch von vorneherein: das, was ich euch nun berichte, ist von allergrößter Wichtigkeit. Solltet ihr dies nicht beherrschen, könnt ihr nicht am Krieg teilnehmen, da ihr so eine Gefahr für eure Mitwächter wäret. Ich möchte daher, dass ihr euch meine Worte so gut einprägt, dass ihr sie im Schlafe könnt." Sofort stellte Firey ihre Teetasse ab, als fürchtete sie, die Wärme der Tasse könnte sie womöglich ablenken. Azuma dagegen lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als würde er sich auf eine langweilige Stunde vorbereiten.
"Wie lautet eure Definition eines Schlachtfeldes?" Alle drei warfen sich einen verwirrten Blick zu und ein wenig zögernd wählte Firey zu antworten:
"Ehm... der Ort, an dem der Kampf stattfindet."
"Und wo wir uns alle die Köpfe einschlagen, haha!", fügte Azuma lachend hinzu, was Ignes dazu brachte, genervt mit den Augen zu himmeln, woraufhin er erwiderte:
"Um genau solch eine Unkoordiniertheit zu vermeiden, wurde im sechsten Elementarkrieg das System eingeführt, welches ich euch nun erläutern werde und welches ihr niemals vergessen dürft. Als Beispiel nehmen wir eine computergenerierte, in Henel stattfindende Schlacht: 500 Dämonen gegen 150 Wächter, um das Rechnen zu erleichtern." Azuma lehnte sich skeptisch in seinem Stuhl vor:
"Rechnen?! Wir sollen rechnen?!" Auch Firey und Yuuki schienen verwirrt, doch Ignes schien ihnen keine Antwort geben zu wollen. Stattdessen holte er eine kleine Fernbedienung aus seiner Jackentasche hervor, betätigte ein paar Knöpfe, woraufhin rechts neben ihm das Hologramm einer quadratischen Fläche erschien.
"Natürlich ist dies eine sehr vereinfachte Darstellung; die Realität ist viel komplexer als dieses Quadrat. Doch so müsst ihr euch ein Schlachtfeld vorstellen." Ungläubig beugten sich nun alle drei Elementarwächter vor, um das sich drehende Feld von Nahem zu betrachten, während Ignes fortfuhr, nachdem er sich nun auch einen Schluck von seinem Tee genehmigt hatte:
"Ein jedes Schlachtfeld wird von unseren Computern in kleinere Quadrate unterteilt, ähnlich wie ein Schachbrett." Während er dies sagte, veränderte sich das große Quadrat und unterteilte sich, genau wie Ignes es sagte, in kleine Quadrate:
"Ein Wächter ist ein Quadrat: da Dämonen jedoch größer sind als wir und teilweise monströse Ausmaße annehmen können, nehmen sie oft mehr als ein Quadrat ein. In unserem Beispiel nimmt der Dämon drei Quadrate ein." Kaum hatte er dies gesagt, leuchteten drei Quadrate rot vor den Augen der Elementarwächter auf, im gleichen Moment, wie auch ein weiteres Quadrat vor dem Dämon aufleuchtete; allerdings in blau.
"Auf einem Schlachtfeld, welches nur aus euch selbst und einem Dämon besteht, dürft ihr nach Belieben handeln und müsst dieses System nicht beachten. Sollten allerdings weitere Wächter auf dem Feld sein..." Sechs weitere Quadrate leuchteten auf, als er dies sagte:
"Seid ihr gezwungen, Rücksicht auf das System zu nehmen. Stellen wir uns vor, ein Erdwächter, welche auf Flächenangriffe spezialisiert sind, würde einfach seine Attacken entfesseln. Was meint ihr würde geschehen?" Alle drei wandten sich von dem Hologramm ab und es war Yuuki, der antwortete:
"Er würde zwar den Dämon ausschalten können, würde aber seine Mitwächter in Gefahr bringen, was natürlich nicht so besonders wünschenswert wäre und ich weiß jetzt schon, dass ich mich auf dem Schlachtfeld gewiss nicht in Azumas Nähe aufhalten werde: ich bin doch nicht lebensmüde!" Es war offensichtlich, dass Yuuki fortfahren wollte, doch gerade als er Luft für dieses Vorhaben einsog, unterbrach ihn Ignes eilends:
"Genau, Yuuki-sama, Sie haben es erfasst. Ihr müsst bei einer Schlacht stets bedenken, dass sich noch andere Wächter auf dem Feld befinden, wenn ihr flächendeckende Angriffe ausführen wollt, ansonsten lauft ihr in Gefahr, eure Mitwächter zu verletzen, schlimmstenfalls sogar zu töten und erinnert euch, als wir die heiligen Regeln durchnahmen: auf den Tod eines Mitwächters steht die Todesstrafe! Auch in diesem Fall! Denn wenn ihr das System missachtet gilt es als mutwillig und ihr werdet als Gefahr für das Wächtertum eingestuft. Um dem vorzubeugen und damit Leben zu sichern, wurde dieses System erfunden, welches nicht nur euch und eure Feinde als Quadrate erfasst, sondern auch eure Flächenangriffe.
Nehmen wir an, der Wächter in unserem Beispiel sei Azuma-sama und die Attacke, die er gegen den Dämon anwenden möchte wäre die Standardattacke der Erdwächter: Caspicitra Saxido: Caspicitra Saxido besitzt einen Angriffszirkel von 20 Metern und weil ein Quadrat auf dem Schlachtfeld gleich einem Quadratmeter ist, bedeutet das, dass Caspicitra Saxido 20 Quadrate einnehmen würde. Wie ihr auf dem Hologramm seht, befinden sich in unserem Beispiel 6 Wächter in diesem Radius. Würde der unüberlegte Erdwächter seine Attacke anwenden, so würde er diese 6 entweder schwer verletzen oder gar umbringen." Scharf sah er Azuma an, der zufällig in diesem Augenblick vom Hologramm aufsah:
"Und das ist natürlich nicht wünschenswert, nicht wahr, Azuma-sama?" Der Erdwächter wählte, darauf nicht einzugehen und fragte daher:
"Aber wenn wir in einen Kampf verwickelt sind, haben wir doch gar keine Zeit an Quadrate und Rechtecke zu denken. Wie soll das denn bitteschön funktionieren?" Als hätte Ignes nur auf diese Frage gewartet, holte er ein schwarzes Headset hervor, welches er Firey reichte. Die Erklärung, was es mit dem eigentlich ziemlich normal aussehenden Kommunikationsgerät auf sich hatte, folgte sofort:
"Jeder sich auf dem Schlachtfeld befindenden Wächter trägt ein solches Headset; ohne ein solches ist es euch strengstens untersagt, am Kampf teilzunehmen, da ihr ohne es keine Befehle erhalten könnt, wenn ihr euch zu weit entfernen solltet. Ihr werdet jeder solch ein Gerät vor dem Betreten des Schlachtfeldes von eurem Kommandanten erhalten. Sollte es während des Kampfes beschädigt werden, so dürft ihr nur Nahkampfangriffe anwenden, denn diese großen und gleichzeitig gefährlichen Flächenangriffe müssen vor jedem Einsatz - außer ihr befindet euch in einem abgeschnittenen Duell - beantragt werden."
"Wie bitte?!" Wieder ignorierte Ignes Azuma, der nun erschrocken aufgefahren war:
"Ihr müsst euch keine Gedanken der Effektivität wegen machen. Unsere Klimawächter, welche dafür verantwortlich sind, sind überaus effizient. Ihnen ist auch dieses kluge System zu verdanken", sagte Ignes und holte im gleichen Atemzug einen weiteren Gegenstand aus seiner Jackentasche heraus, welcher nun nicht nach einem Alltagsgegenstand aussah: es sah aus wie ein kleiner, um die 15 Zentimeter großer Kristall, welcher an beiden Enden eine schwarze Kappe besaß, während das Innere blau pulsierte:
"Ein solches Instrument wird vor jeder Schlacht vom Kommandeur in den Boden gerammt, wodurch das Schlachtfeld berechnet wird. Je nach Größe des Feldes kann dies ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, das ist leider wahr. Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass ihr in dieser Zeit keine Flächenangriffe anwenden dürft, nicht wahr? Eine elektronische Stimme wird euch mittels des Headsets darüber informieren, wann ihr Beantragungen stellen könnt." Beinahe enttäuscht ließ sich Azuma zurück in seinen Stuhl fallen, eine Tat, welche Ignes' nicht unbemerkt blieb:
"Azuma-sama, bitte bedenkt, dass das System auch Euer Leben sichert. Selbstverständlich ist es eine Einschränkung, doch es ist eine Einschränkung, welche letztendlich zum Sieg führen wird. Daher lege ich es euch allen drei nahe, euch daran zu halten, denn wenn auch nur einer das System missachtet, funktioniert es nicht mehr und glauben sie mir, unsere verehrten Hikari sind sehr streng." Er schwieg kurz, mit der Absicht seine Worte auf die drei Schüler wirken zu lassen und sagte dann, nachdem er seinen Tee ausgetrunken hatte:
"Es existieren natürlich besondere Auflagen: das Dasein eines Schutzwächters zum Beispiel, welcher andere Wächter vor euren Angriffen schützen kann und noch weitere. Aber dazu ein anderes Mal."
Firey rauchte nach wie vor der Kopf, nachdem sie eben diesen Unterrichtsstoff noch einmal durchgegangen waren, obwohl sie bereits fleißig darauf vorbereitet wurde, durch diverse Tests, die die Stärke ihrer Attacken gemessen hatte. Die erlernten Attacken eines jeden Wächters wurden im Zentralcomputer gespeichert und in den Kämpfen regelmäßig durch die Headsets aktualisiert. Ignes hatte bei den Tests betont, dass es natürlich gut sein konnte, dass gewisse Angriffe durch Adrenalin oder Todesangst stärker ausfallen konnten als berechnet, weshalb aus Vorsichtsmaßnahmen immer drei Quadrate mehr berechnet wurden als eigentlich notwendig. Doch Firey zweifelte daran, dass sie irgendwelche Probleme mit Beantragungen haben würde - im Vergleich zu den Angriffen Azumas, welche teilweise über 20 Quadrate einnahmen, waren ihre eigenen mickrig.
Die junge Feuerwächterin war vollkommen in ihren Gedanken versunken, als sie auf dem Rückweg von Yuukis Gemach war, welches im nördlichen Ende des Tempels lag, wo sie ihn nach dem Unterricht hinbegleitet hatte, da es auf dem Weg zu ihrem eigenen Zimmer lag.
Es war purer Zufall.
Doch sie entdeckte die beiden Geschwister auf dem Nordbalkon.
Kurz blieb sie stehen, natürlich ohne die Absicht, sie zu belauschen und eigentlich wollte sie auch sofort weiter gehen, doch als sie Saiyons Namen hörte, war es, als würde ihr Körper sich instinktiv hinter einer der Säulen verbergen, von wo aus man sie nicht sehen konnte, sich aber wunderbar das Gespräch mit anhören konnte, da die beiden Wächter die Glastür nicht hinter sich geschlossen hatten.
Firey wusste, sie sollte sich dafür schämen, dass sie die beiden heimlich belauschte; doch die Neugierde hatte sie gepackt und ließ sich nicht unterdrücken.
Lange stand sie allerdings nicht dort. Genauer gesagt nur solange, bis sie, genau wie Grey, bemerkte, dass Greens Widerwillen bröckelte. Wieder handelte sie instinktiv und ohne darüber nachzudenken, kam sie aus ihrem Versteck hervor und rannte in Richtung von Azumas Zimmer davon.
"Ach, Schatz, zieh doch nicht so ein Gesicht! Es wird sicherlich schön." Die Worte seiner geliebten Ehefrau konnten Shitaya nicht aufheitern und daher beschäftigte er sich schmollend weiterhin mit den Haaren seiner kleinen Tochter Shia, welche auf dem Schoß ihres Vaters hockte. Er und Shia waren die einzigen, die nicht fleißig dabei waren, den Umzug vorzubereiten. Shia half aus verständlichen Gründen nicht, immerhin war sie noch zu klein und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Umzug. Ganz anders als Saiyon, der durch das gesamte Haus sauste und sogar deren Tempelwächterin an Fleiß übertraf, welche mit dem Enthusiasmus des Windwächters kaum mithalten konnte.
"Ich bin einfach dagegen. Der Tempel ist nicht der richtige Ort für unsere Tochter", antwortete Shitaya und drückte Shia an sich, als wäre sie ein Kuscheltier. Sie saßen zusammen auf dem letzten Stuhl ihrer ehemaligen Stube als die letzten Verbleibenden.
"Es ist das politische Machtzentrum unseres Reiches", entgegnete Säil tadelnd und fuhr fort:
"Es ist eine Ehre, dass wir dort leben dürfen, sogar ohne es beantragen zu müssen! Du solltest dich nicht beschweren."
"Eben deshalb beschwere ich mich." Säil seufzte und ein erschöpftes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
"Ich weiß, dass du dich in das Haus auf Espiritou del Aire verliebt hast, aber Espiritou del Aire wir wenn überhaupt dann frühestens in 50 Jahren fertiggestellt werden - jetzt, wo wir bald im Krieg sind. Du musst doch einsehen, dass wir, und vor allen Dingen Shia, im Tempel am besten aufgehoben sind!" Natürlich wusste Shitaya, dass seine Frau recht hatte und daher war seine Antwort eher ein Gegrummel als eine wohl artikulierte Antwort.
Säil befreite Shia aus der Umarmung ihres Vaters und setzte das kleine Mädchen auf dem Teppich ab, wo sie sich sofort daran machte, fröhlich herumzukrabbeln.
"Es ist doch egal, wo wir wohnen", sagte Säil lächelnd und beugte sich zu ihrem Mann herunter, damit er gezwungen war, in ihr Gesicht zu sehen, was ihn sofort ebenfalls zu einem Lächeln brachte.
"Hauptsache, wir haben uns."
Noch 17 Tage bis zum 8ten Elementarkrieg
Ein leises Seufzen entglitt dem Windwächter, doch es wurde zum Glück von dem allgemeinen Gerede am Tisch verschluckt. Es war ein gedämpftes Gerede; ein Gerede, welches den Speisesaal ausfüllte, ohne aufdringlich zu wirken. Natürlich herrschte keine Unruhe; sowohl die Offiziere als auch die Elementarwächter waren gut erzogen; und die, die es nicht waren, waren zu sehr mit dem vorzüglichen Mahl beschäftigt, als dass sie sich mit dem Reden beschäftigen würden.
Es war das erste gemeinsame Essen der Offiziere und der Elementarwächter; das gemeinsame Abendessen war üblich, um die freundschaftlichen und partnerschaftlichen Bände zwischen ihnen zu stärken. Immerhin waren sie die beiden stärksten Fraktionen des Wächtertums und mussten stets zusammenarbeiten. Was sie so oder so tun mussten, ob sie sich nun liebten oder hassten, aber eine freundschaftliche Basis war natürlich wünschenswert.
Das gemeinsame Essen zu Abend war daher von Wichtigkeit und diente nicht nur dem Stillen des Appetites. Obendrein war es üblich, dass Elementarwächter und Offiziere oftmals den Bund der Ehe eingingen und in dieser Generation schien dies ebenfalls zuzutreffen, denn es war doch recht auffällig, wie viele weibliche Elementarwächter es gab, wozu die Offiziere im Gegenzug alle männlich waren - dies war ein Gedanke, der Saiyon durch den Kopf schoss, während er sich wieder seiner Forelle zuwandte.
Ukario hatte ihm nämlich am Nachmittag offenbart, dass es doch langsam auch für ihn an der Zeit wäre, sich zu binden - und warum nicht eine Elementarwächterin als Frau nehmen?
Dies schien nicht nur Ukario so zu sehen, sondern auch die vier seiner Kollegen, die genau wie er alleinstehend waren: Cebir und Kaira unterhielten sich angestrengt und schienen sich prächtig zu verstehen, während Magnus mit seiner Sitznachbarin diskutierte, doch Saiyon fiel sofort auf, dass Tinami an nichts weiterem außer dem Thema selbst interessiert war.
Saiyon selbst sprach mit niemanden; rechts neben ihm saß Azura, ebenso single, wie Saiyon wusste, da Ukario ihm dies lang und breit vorgelegt hatte, und schien mit ihren Meeresfrüchten zufrieden zu sein; Pelagius, welcher sie immer mal wieder verstohlen ansah, lag scheinbar nicht im Bereich ihres Interesses; obwohl sich der Windwächter denken konnte, dass Pelagius es nicht aus eigenem Antrieb heraus tat, sondern weil er mal wieder einen Einlauf von seinem Vater erhalten hatte.
Grey saß links neben ihm und aß seinen Fisch mit Schweigen, etwas was Saiyon nicht gerade behagte. Sollte er mit ihm reden? Aber wie sollte er ein Gespräch anfangen? Welches Thema sollte er wählen? Es gab nur eine Sache, die er mit Grey besprechen konnte... aber er konnte Grey ja wohl nicht am Tisch den Vorschlag unterbreiten, dass er doch der perfekte Ehemann für dessen Schwester wäre.
Nein, dachte Saiyon, das war gewiss nicht das, was er wollte.
Stattdessen nahm er einen Bissen von seiner Forelle und tauschte ein, zwei Blicke mit Shitaya aus, der mit Ilang sprach, aber dennoch in der Lage war, seinem Bruder mitzuteilen, dass er gefälligst seinen Mund aufmachen sollte. Gerade als Saiyon mit Blicken etwas erwidern wollte, hörte er, wie sich die Tür öffnete und er war der erste, der seinen Kopf zu eben dieser wandte.
Im gleichen Moment, wo Green im Türrahmen erschienen war, waren sämtliche Gespräche sofort verstummt, was sie zu verwundern schien, denn sie verharrte einen Augenblick in ihrem Gang und sah fragend in die Runde.
"Entschuldigt die Verspätung." Selbst eine solch simple Aussage ließ Saiyons Herz hüpfen, obwohl ihre Stimme desinteressiert klang und es ihr überhaupt nicht leid tat, dass sie zu spät gekommen war. Doch darum kümmerte Saiyon sich nicht: er war einfach nur froh darüber, dass sie da war und noch wohler wurde ihm zumute, als sie sich zwei Stühle von ihm entfernt, neben Grey, hinsetzte. Erst da fiel Saiyon besorgt auf, dass sie erschöpft aussah, was sein eher zurückhaltendes Lächeln untermalte, als er seinen Kopf zur Begrüßung neigte, wie die anderen es ebenfalls taten.
"Lasst euch nicht stören", erwiderte Green mit einem gelassenen Lächeln und kaum, dass die Gespräche wieder den Raum erfüllten, wandte sie sich an ihren Bruder und Saiyon war plötzlich unheimlich froh über seinen Logenplatz, denn so war er in der Lage mitzuhören, was sie besprachen. Doch da wurde er enttäuscht, denn sie besprachen nichts; jedenfalls nicht mit Worten, nur ein zwei Blicke und ein Nicken Greys wurden ausgetauscht, ehe Green sich ihrem Essen widmete.
Das Essen hatte wiederrum bei Saiyon an Interesse verloren und so diente dies nun nur noch als Vorwand. Während er so tat, als würde ihm die Forelle unheimlich gut schmecken, beobachtete er seine Angebetete aus den Augenwinkeln.
Jeden einzelnen Millimeter Greens nahm er in sich auf; ihre zusammen geflochtenen Haare, welche nach oben gesteckt worden waren und so ihren nackten Hals und Schultern entblößten. Es schien so, als wäre sie gerade erst vom Training zurück und als hätte sie sich in aller Eile umgezogen, denn ihre Brust hob und senkte sich in einem schnellen, unruhigen Takt und sie bediente sich eher an dem Wasser als am Essen selbst, in welchem sie eher desinteressiert herumstocherte. Ob sie keinen Fisch mochte? Wenn dies so war, dann konnte sie es gut verstecken, denn sie verzog keine Miene; ihr Gesicht war wie ein Gemälde... es zeigte keine Regungen, kein Lächeln lag auf ihren schmalen Lippen und das Blau ihrer Augen tief und unergründlich... Saiyon seufzte tief und ein Hauch von unerträglicher Sehnsucht lag verborgen in diesem Ausbruch von Verzückung. Wieder träumte er davon, wie er auf dem Platz saß, den Grey nun einnahm, so lange bis sie einen Verlobten hatte; träumte davon, wie er diesem stillen, doch so wunderschönen Gemälde Leben einhauchte, ein kleines Lächeln hervor bringen würde, wenn er unter dem Tisch und vor allen Blicken verborgen ihre Hand nahm, sie drückte...
Doch die Realität riss ihn aus dieser Traumwelt, als ihm bewusst wurde, dass Grey nicht nur den Platz des zukünftigen Verlobten reservierte, sondern auch wie ein Schutzwall fungierte. Kein Mann, der an der Hand Greens interessiert war, würde diese auch nur zu Gesicht bekommen, wenn er nicht erst an Grey vorbeikam. Ohne seinen Segen war eine Heirat, ja, sogar das Anhalten um Greens Hand vollkommen unmöglich und nichts anderes außer einem Traumschloss.
Und obwohl Saiyon nun die geeigneten Fähigkeiten vorweisen konnte, war er sich sicher, dass Grey ihn nicht mochte - und erst recht nicht als seinen zukünftigen Schwager. Auch Ukario hatte ihn entmutigt, immerhin hatte er nicht im Traum daran gedacht, dass Saiyon der richtige für die Hikari war. Sein Bruder, ja. Wenn Shitaya nicht bereits Familienvater wäre, dann wäre er perfekt gewesen... auch jetzt wieder verstand er sich prächtig mit allen Anwesenden, so extrovertiert wie er war.
Doch Saiyon konnte ihm deswegen nicht böse sein; aber ein wenig Eifersucht war sicherlich erlaubt.
"Du musst endlich mit Grey-sama reden", sagte Shitaya, als sie zwei Stunden später mit den anderen im abendlichen Wintergarten waren und noch zusammen einen Tee tranken, wozu es reichlich Gebäck gab für diejenigen, die sich nicht bereits am Fischbankett den Magen vollgeschlagen hatten. Saiyon hatte seinen Früchtetee noch gar nicht probiert; zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, Green dabei zuzusehen, wie sie sich mit Firey unterhielt und war vollkommen von dem kleinen Lächeln ihrerseits fasziniert gewesen, welches ab und zu auf ihrem Gesicht auftauchte, um sich dann wieder aufzulösen.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich nicht mag", antwortete Saiyon und dachte wieder daran, als er ihn damals vor dem Eingang der Bibliothek getroffen hatte; an seinen finsteren Blick, als er ihm offenbart hatte, dass er sich keine Hoffnungen zu machen brauchte - ging es eigentlich noch direkter?
"Das findest du nur heraus, wenn du mit ihm sprichst. Worauf hast du denn die ganze Zeit hingearbeitet, wenn du dich jetzt vor einem einfachen Gespräch fürchtest? Nur darauf, dass du unsere Hikari-sama die ganze Zeit anstarrst wie ein schmachtender Idiot?"
"Oh glaub mir", antwortete Saiyon seufzend, der seinen Blick nach wie vor nicht von Green abwenden konnte:
"Es macht mich sehr glücklich, sie einfach nur ansehen zu dürfen..."
"Oh nein, das tut es nicht. Das, was du spürst, ist kein Glück, sondern Sehnsucht und diese wird sich, sobald wir wieder zuhause sind - eh, ich meine in unserem Gemächern - in Trauer verwandeln." Der Angesprochene antwortete darauf nicht. Was sollte er auch antworten? Er wusste immerhin, dass sein Bruder letzten Endes recht behalten würde. Daher wandte er seinen Blick von Green ab, nur um ihn verstohlen auf Grey zu richten, welcher zusammen mit Ilang auf dem Sofa saß und mit Magnus sprach. Dieser Moment wahrte allerdings nicht lange, ehe Saiyon sich kopfschüttelnd wieder abwandte.
"Was soll ich ihm denn sagen?!", fragte Saiyon und seine Stimme verriet, dass er aus irgendeinem Grund aufgeregt war - eine Aufregung, die Shitaya nicht nachvollziehen konnte.
"Du sagst einfach, dass du ein Wächter bist, der seine Schwester liebt und dass du sie heiraten willst."
"Aus deinem Munde klingt das so einfach...", antwortete der Windwächter säuerlich.
"Weil es das ist. Du kannst ja nur eine Abfuhr erhalten." Bei dem Gedanken daran, eine Abfuhr zu erhalten, wurde Saiyon ganz schlecht und sein Gesicht erbleichte. Er nahm einen großen Schluck seines Tees um dem abzuhelfen, doch es brachte nichts; es führte nur dazu, dass er sich verschluckte. Während Saiyon damit beschäftigt war zu husten und wieder Luft zu bekommen, stemmte Shitaya seine Hände in seine Hüfte und entschied sich mit einem Seufzen, dass es Zeit war, dass er tat, was ein großer Bruder zu tun hatte.
So kam es, dass Shitaya nicht mehr vor ihm stand, als Saiyon sich wieder aufrichtete und zu seinem Entsetzen fand er ihn neben Grey sitzend, anscheinend in ein nettes Gespräch verwickelt. Saiyon war zu weit von ihnen entfernt, als dass er mithören könnte, was sie besprachen, aber es schien nicht so, als ob Shitaya Grey erzählte, dass sein kleiner Bruder es auf dem Platz neben der Hikari abgesehen hatte, denn ansonsten hätte Greys Gesicht sicherlich nicht ein so gelassenes Lächeln gezeigt.
Das Gespräch wahrte keine zwei Minuten, ehe Shitaya sich wieder erhob und zu seinem Bruder zurück schritt, welcher sich seit seinem Entfernen keinen Schritt bewegt hatte und erst aus seinem Salzstatuendasein erwachte, als sein Bruder ihm offenbarte, dass er morgen um 16 Uhr einen Termin mit Grey hatte.
"So einfach geht das, mein kleiner Bruder", fügte Shitaya grinsend hinzu und mit kläglicher Stimme antwortete Saiyon:
"Du willst, dass ich früh sterbe, Aniki. Ich wusste es schon immer." Lachend schlug Shitaya seinem Bruder auf dem Rücken, mit den Worten, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Doch alleine der Gedanke, dass morgen der Tag der Entscheidung war, ließ ihn erbleichen.
Etwas weiter von ihnen entfernt stand Firey nun alleine, da Green zu Grey gegangen war, um sich zu ihm zu gesellen, kaum dass Shitaya ihn verlassen hatte. Lange war sie allerdings nicht alleine, denn kaum, dass sie sich dazu entschloss, sich noch ein paar Kekse zu genehmigen, tauchte Azuma neben ihr auf, gekleidet in seiner braunen Uniform und mit einem breiten Grinsen.
"Henel ist geil, ich sag's dir!" Er und der Offizier des Schutzes, Minare, waren die einzigen Wächter, die an diesem Abend nicht zugegen gewesen waren; wie an so vielen anderen Abenden ebenfalls. Man konnte behaupten, dass sie sehr fleißige Spione waren und zu aller Überraschung konnte Minare Azumas Taktlosigkeit im Zaum halten.
Dieses Mal schien die Ausbeute allerdings etwas anderes zu sein als nur Zahlen und Fakten. Denn Firey bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Minare sofort zum Hikarigeschwisterpärchen hinsteuerte, mit einem ernsten Gesicht, welches sich auf Greens und Greys Gesicht übertrug, als er ihnen etwas flüsternd mitteilte.
"Ich mag die Atmosphäre irgendwie und das Prinzip des Stärkeren finde ich..." Firey unterbrach Azuma in seinem kleinen Vortrag:
"Gibt es etwas Neues aus Henel?" Einen kurzen Augenblick sah er sie fragend an, ehe sich ein Lächeln ausbreitete.
"Du weißt, Fireyskat, dass ich zum Schweigen beordert bin." Firey verdrehte die Augen, im gleichen Moment, wie sie bemerkte, dass Green den Raum verließ, während Grey ernst mit Ilang sprach, aber anscheinend dort blieb.
"Wenn du mir einen Kuss gibst, überleg ich's mir!" Langsam sah der Rotschopf wieder Azuma an, der ihr bereits zeigte, wo er wollte, dass sie ihn küsste; auf die linke Wange.
"Vergiss es, Azuma. Das sind mir keine Informationen der Welt wert! Wenn der Krieg morgen ausbricht, werde ich das schon früh genug erfahren."
"Wir haben ja noch 17 Tage." Firey wählte seinen Tonfall zu überhören, welcher fast so klang, als könnte er den Tag in 17 Tagen, den 15ten September, einen Samstag, nicht mehr erwarten. Firey jedoch spürte wie ihre Beine wackelig wurden, wenn sie nur daran dachte. In 17 Tagen würde der Krieg anfangen... war sie bereit? Bereit dafür, jeden Tag ihr Leben aufs Spiel zu setzen?
Sie wusste es nicht; wollte es eigentlich auch nicht herausfinden. Aber in 17 Tagen würde sie es unweigerlich tun.
"Darf ich das nochmal haben, Youma hält sich in Lerenien-Sei auf?!" Green bejahte dies, nachdem sie Itzumi förmlich aus dem Zimmer geworfen hatte und sich selbst den Haarschmuck aus den Haaren riss; mit der einen Hand nach der Bürste greifend, mit der anderen ihren Kleiderschrank aufstoßend.
"Ja, das hab ich gerade von Minare erfahren, direkt aus Henel kommend. Zur gleichen Zeit wie Lerou uns den Krieg angekündigt hat, wurde Youma in Lerenien-Sei gesehen und nun rate mal, mit wem er sich die Zeit vertrieb!" Die Bürste wurde zwischen die Zähne geklemmt, im gleichen Moment, in dem das Korsett auf den Boden flog und sie bereute es, Itzumi rausgeschickt zu haben, denn es stellte sich schon als schwer heraus, ohne Hilfe das neue Kleid anzuziehen, da Greys Kleider grundsätzlichen hinten geschlossen wurden.
"Mit wem?", frage Silence, ebenso unruhig wie Green es war, welche die Bürste in die Hände nahm, um diese kurz durch ihre Haare zu jagen:
"Mit Karou! Und wenn ich richtig zugehört habe, ist das doch die rechte Hand von Lerou, oder?" Etwas regte sich in dem Gesicht von Silence; eine Erkenntnis zeigte sich auf ihren feinen Gesichtszügen, eine Erkenntnis, welche ihr offensichtlich nicht gefiel.
"Oh, Youma, das willst du doch nicht wirklich..." Der beunruhigte Tonfall löste das gleiche Gefühl in Green aus und einen Moment verharrte sie in ihrem Versuch, sich umzuziehen.
"Was meinst du?" Silence sah nach unten, womit ihr Gesicht im Schatten ihrer Haare lag, als sie ihr antwortete:
"Als du damals vor mehr als einem Jahr meine Vergangenheit erfahren hast, hast du auch erfahren, dass... Youma der Thron in Henel zusteht. Mein biologischer Vater hätte es sein sollen, doch nach seinem Tod hat der damalige Dämonenherrscher Youma zu seinem Erbfolger ernannt."
"Aber Youma kann doch nicht im Ernst annehmen, dass er dieses Recht noch nach was weiß ich wie vielen Jahren noch hat? Ich meine, so dumm kann er doch nicht sein!?"
"Nein", sagte Silence und sah wieder auf; eine finstere Vorahnung in ihrem Blick.
"Aber ambitioniert. Als wir uns wiedersahen nach all den Äonen, hat er mir gesagt, dass er vorhat, den Thron in Henel einzunehmen."
"Und das sagst du mir erst jetzt? Gibt es noch irgendwelche Dinge, dir ihr besprochen habt, als du meinen Körper genommen hast, die ich vielleicht wissen sollte?!"
"...Ich glaube nicht, dass Youma in nächster Zeit irgendwie in die Nähe des Throns gelangt oder es nur in Erwägung zieht. Ihm wird klar sein, dass es viel praktischer ist, Lerou zu kontrollieren, genau wie die anderen Fürsten es tun. Ich habe die ganze Zeit angenommen, dass er mit einem der Fürsten unter einer Decke steckt; aber scheinbar ist es die Majestät selbst, oder eher dessen Anhang, für den er arbeitet, was wiederrum bedeutet, dass es Karou ist, der die Fäden in den Händen hält - daher kam vielleicht Lerous fixe Idee mit dem Bannkreis und der eigenständigen Kriegserklärung." Green setzte sich erst einmal auf ihrem Bett ab, ihre Ankleidung abbrechend und nachdenklich antwortend:
"Es bleibt aber immer noch die Frage, wie Youma das Siegel brechen will." Ebenso grüblerisch wie Green sah auch Silence aus, als sie sich von ihrem Medium abwandte und in den düsteren Himmel hinaussah.
"Das kann ich mir auch nicht erklären. Er ist eigentlich kein Profi auf diesem Gebiet und es ist immer noch ein Rätsel, wo sich das Gegenstück zu unserem Bannkreis überhaupt in Henel befindet. Leider kenne ich Karou nicht besonders... daher kann ich mir auch nicht erklären, was er von einem erneuten Krieg haben sollte, immerhin kann er ja nicht an ihm teilnehmen und warum sollte er sich Youma, einen Halbwächter, auf dem Thron wünschen?"
"Zu viele Fragen nach meinen Geschmack. Ich werde jetzt jedenfalls meine Verwandtschaft aufsuchen und ihnen erzählen, dass Youma auch noch eine andere Gefahr außer für den Bannkreis sein könnte." Sie seufzte erschöpft:
"Ich hoffe, du hast recht mit Youma. Ich finde Lerou als König um einiges sympathischer als einen verrückten Sensenmann." Gerade als sie sich wieder dem Anziehen zuwenden wollte, unterbrach Silence sie von ihrem Vorhaben:
"Ich werde Youma aufsuchen und ihn zur Rede stellen." Das Kleid hatte abermals an Interesse verloren, als Green Silence überrascht fragte, wie sie auf die Idee kam, dass Youma ihr irgendetwas sagen würde.
"Wenn ich mich hartnäckig zeige und es richtig anstelle, wird ihm vielleicht etwas herausrutschen. Immerhin liebt er mich nach wie vor." Die Hikari fand diese Idee nicht gut, absolut nicht gut und das sah man auch in ihrem Gesicht, welches dies deutlich widerspiegelte.
"Warum gefällt dir das nicht?", fragte Silence, die den Widerwillen ihres Mediums natürlich sofort bemerkt hatte. Was sie jedoch überraschte, war, dass Green ein wenig rot wurde; auch ihre Antwort kam erst zögernd:
"Der Krieg fängt bald an und... naja..."
"Du willst mich deshalb gerne in der Nähe haben", beendete Silence ihren Satz und konnte ein erschöpftes, aber auch nachgebendes Lächeln nicht unterdrücken.
"Lass uns sagen", sagte Silence und grinste nun ein wenig neckisch:
"Dass ich keine Großraumsuche unternehmen werde. Wenn ich Youma in innerhalb von zwei Tagen nicht gefunden habe, werde ich sofort zurückkehren. Der Krieg bricht erst in 17 Tagen aus, bis dahin bin ich drei Mal zurück und wir können auch noch trainieren, wenn du darauf bestehst." Das Training war nicht Greens größtes Anliegen, genauer gesagt, war es ihr eigentlich egal, denn mit Shaginai trainierte sie sowieso ununterbrochen. Doch Silence war die einzige Person, der sie offen sagen konnte, dass auch sie als Hikari Angst hatte. Firey war zwar ihre beste Freundin, aber ihr gegenüber konnte sie keine Schwäche zeigen, denn sie waren nicht nur Freundinnen, sondern auch Elementarwächterin und Hikari und sie wollte Firey nicht noch mehr Unsicherheit aufbürden.
Doch Green gab nach. Immerhin sah sie ein, dass sie diese kleine Chance nutzen sollten und dass sie ihren Egoismus zurückhalten musste.
Es waren ja nur zwei Tage.
Noch 16 Tage bis zum 8ten Elementarkrieg
Am nächsten Abend hatte Grey einen gänzlich anderen Kampf auszukämpfen; nicht nur, dass es um seine Gesundheit im Moment nicht gut stand und er wieder einmal erhöhte Temperatur hatte, er hatte auch einen Entschluss zu fassen. Einen Entschluss, der ihm so gar nicht gefallen wollte.
Er lehnte mit dem Kopf an der kühlen Glasscheibe, um seiner Stirn ein wenig Kühlung zu gönnen, während er eine Akte in seiner Hand hielt, welche Ryô ihm gerade gebracht hatte. Dieser stand noch im Raum, zusammen mit Ilang, welche neben Grey an einem runden Tisch saß und Grey genau wie Ryô besorgt musterte; beide gespannt auf Greys Entscheidung.
Nach mehreren Minuten, in denen Grey sich die Stirn zermalmte, seufzte er schließlich und gab Ryô die Akte zurück, welcher er nur einen kurzen Blick gegönnt hatte, denn er kannte deren Inhalt nur allzu gut. Ihm schien etwas klar geworden zu sein, dennoch sagte er nichts, als er sich Ilang gegenüber in den Sessel setzte, sich nach hinten lehnte und einen Moment die Augen schloss.
Ein fast schon unbarmherziger Akt, denn die beiden Wächter brannten darauf, seinen Entschluss zu hören. Erst nach verstrichenen Sekunden öffnete er die Augen wieder und sagte im gleichen Moment:
"Ich werde mit Green reden."
Und das tat er auch. Er hatte Ryô losgeschickt, um Itzumi Bescheid zu geben, dass er seine Schwester am Nordbalkon treffen wollte. Bevor er zu diesem Treffen gehen konnte, überredeten Ryô und Greys zukünftige Frau ihn zu einer Hühnersuppe, welche er mit einem Lächeln heruntergeschluckt hatte, um ihnen danach zu vergewissern, dass es ihm doch gleich viel besser ging.
Dies war gelogen, denn die Suppe hatte genau das Gegenteil bewirkt; jetzt war ihm noch heißer als zuvor und seine Stirn schien zu glühen, obwohl es recht kühl war draußen auf dem nördlichsten Balkon, wo er auf Green wartete.
Er musste sich nicht ausmalen, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagen würde, wer an diesem Nachmittag bei ihm zu Besuch gewesen war und besonders, wenn er ihr vom dem Inhalt des Gespräches erzählte: ihr widerwilliges Gesicht zeichnete sich bereits vor seinem inneren Auge ab.
Auch Grey gefiel es nicht; absolut nicht, aber es war das Beste. Es musste getan werden.
"Onii-chan?"
Grey schreckte aus seinen Gedanken empor und sah seine Schwester an der Glastür stehen. Sie trug das weiße Nachtkleid, welches er vor einem Jahr geschneidert hatte, um es dann nach dem Kampf mit Blue, welcher ironischerweise an diesem Balkon sein Ende gefunden hatte, nach dem gleichen Schnittmuster noch einmal zu schneidern. Sie hatte sich wohl beeilt hierhin zu gelangen, denn sie hatte sich nur einen Morgenmantel umgelegt. Kein Wunder, es war immerhin bereits nach neun.
"Green", begann Grey mit einem tadelnden Tonfall:
"Du kannst doch nicht im Nachtgewand durch den Tempel gehen. Was, wenn dich so jemand sieht? So darf dich nur dein Zukünftiger sehen."
"Keine Sorge, mich hat niemand gesehen", antwortete Green, während sie auf ihren Bruder zuging und sich zu ihm an die Brüstung gesellte. Sie wollte gerade fortfahren, als sich Sorge auf ihrem Gesicht abzeichnete:
"Du siehst aber gar nicht gut aus..." Grey winkte mit der Hand ab, mit welcher er sich gerade noch den Schweiß von der Stirn gewischt hatte und sagte lächelnd, dass er nur mal wieder erhöhte Temperatur hatte und dass dies kein Grund zur Sorge war. Dies beruhigte seine Schwester gewiss nicht, die ihm obendrein ansah, dass es ein schwieriges Gespräch werden würde. Das Gesprächsthema war ihm offensichtlich unangenehm; es stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, welches er abwandte, als er den Blick seiner Schwester bemerkte und in den Nachthimmel sah.
"Grey, was ist los? Ist irgendetwas passiert?" Er schüttelte den Kopf und seufzte tief, abermals ohne Blickkontakt zu seiner Schwester, welche langsam besorgt wurde. Gerade als sie ein weiteres Mal nachfragen wollte, sagte er:
"Du bist jetzt schon alt genug..." Ein skeptisches "wofür" brannte auf Greens Zunge, denn sie verstand die Anspielung sofort und sofort verstand sie auch, dass ihr das Gespräch wirklich nicht gefallen würde. Bevor sie ihn jedoch fragen konnte, fuhr er bereits fort:
"Heute Nachmittag hat ein Wächter um deine Hand angehalten. Er hat mich von seiner Aufrichtigkeit überzeugt, doch obwohl ich eurer Heirat meinen Segen gebe, möchte ich nicht über dich entscheiden und lasse dich selbst wählen." Es war offensichtlich, wie wenig Green von diesen Worten hielt, dass es ihr egal war, wie aufrichtig der besagte Wächter war und dass sie sich nach wie vor gegen eine Heirat sträubte. Doch obwohl Grey dies so deutlich in ihrem Gesicht ablesen konnte, fragte sie, um wen es sich handelte und ob sie diese Person kannte.
"Ja, du kennst ihn. Es ist Saiyon, der hat um deine Hand angehalten hat." Greens Hand rutschte vom Geländer, als sie ihn verblüfft anstarrte.
"Um meine Hand? Er will mich... heiraten?", fragte die Hikari, als wüsste sie nicht, was dies bedeutete. Grey seufzte ein weiteres Mal, glücklich schien er nicht darüber zu sein.
"Ja, das ist wohl sein Bestreben." Die Überraschung wich und zum Vorschein kam der Blick, den Grey erwartet hatte zu sehen: Skepsis und Widerwille. Doch ehe sie diesen ausdrücken konnte, fragte sie ihren Bruder, was er davon hielt.
"Er ist ein ausgezeichneter Wächter, unsere Vorfahren werden es garantiert gutheißen, wenn du ihn zu deinem Gemahl nimmst. Nein, Green, unterbrich mich bitte nicht", sagte er, als Green den Mund öffnete, um zu widersprechen und fuhr fort:
"Du weißt, dass mir das nicht am wichtigsten ist; du bist mir am wichtigsten. Und ich glaube, dir würde ein Mann an deiner Seite gut tun. Jemand, der dich liebt und ich weiß, dass Saiyon-san es tut. Und du magst ihn doch auch, nicht wahr?"
"Wenn ich jeden heiraten würde, den ich mag, dann hätte ich viele Ehemänner."
"Green, ich meine es ernst."
"Oh, glaub mir, ich auch."
"Aber du..." Er schwieg, scheinbar beschämt darüber, was er sagen wollte. Doch Green hatte es bemerkt und nahm ihm die Worte ab:
"Ja, Grey, ich verliebe mich sowieso nicht mehr. Aber das heißt nicht, dass sich meine Meinung über Zwangsehen geändert hat. Ich heirate niemanden, den ich nicht liebe."
"Ich zwinge dich nicht...", entgegnete Grey ein wenig erschüttert über Greens indirekten Vorwurf.
"Nein, du nicht. Aber die Hikaris werden es früher oder später tun. Großvater hat es auch schon öfter angedeutet."
"Und was willst du dann antworten?" Langsam zuckte Green mit den Schultern. Diese Chance ergriff Grey:
"Wäre es dann nicht besser, jemanden zum Gemahl zu nehmen, von dem du weißt, dass dessen Gefühle aufrichtig sind und den du selbst sympathisch findest?" Green wandte sich von ihrem Bruder ab, weil sie wusste, dass er recht hatte. Natürlich hatte er recht. Sie hatte sich für das Dasein einer Hikari entschieden und damit verbunden war nicht nur das Herrschen, sondern auch zu heiraten und vor allen Dingen dem Wächtertum einen Lichterben zu schenken. Doch just in diesem Moment konnte sie sich weder als Gemahlin noch als Mutter vorstellen und obwohl sie Saiyon nett fand, gefiel ihr der Gedanke überhaupt nicht, dass er der Gegenpart in dieser Zukunft sein sollte.
"Ich weiß nicht, ob ich ihn sympathisch genug finde, um ihn zu heiraten..." Grey spürte, dass er auf dem richtigen Weg war. Ihr Widerwille hatte sich zurückgezogen; sie hatte wohl eingesehen, dass sie nicht drum herum kam, einen Mann zu heiraten. Doch auch wenn Grey jetzt die Chance hatte, sie zu überreden, war dies genau das, was er nicht wollte. Er wollte sie weder zu einer Hochzeit zwingen, noch wollte er sie dazu überreden. Sie sollte selbst entscheiden.
"Green..." Er streckte die Hand nach ihr aus, legte sie um ihren Kopf und drückte sie vorsichtig an sich. Verwundert sah sie ihn an, doch schwieg, denn sie mochte es, von ihrem Bruder umarmt zu werden; sie konnte immerhin nicht wissen, wie schwer ihm dieses Gespräch fiel, wie schwer es ihm fiel, sie jemand anderem zu überlassen und dass es immer noch ein wenig schmerzte, wenn er sie berührte.
"Wenn ich einmal nicht mehr da sein werde, dann möchte ich dich in liebenden Armen wissen." Geschockt hob Green sofort den Kopf und entgegnete aufgebracht:
"Grey, du bist doch wohl nicht ernsthaft krank?!" Verblüfft über ihren Gefühlsausbruch lachte er in sich hinein und streichelte ihren Kopf. Lächelnd antwortete er:
"Nein, keine Sorge, das bin ich nicht. Aber bald fängt der achte Elementarkrieg an, wir ziehen täglich an die Front und bringen unsere Leben in Gefahr. Es wäre naiv, nicht an die Möglichkeit zu denken, dass uns etwas zustoßen könnte. Jeder von uns könnte..."
"Bitte, rede doch nicht darüber...", unterbrach sie ihren Bruder, indem sie ihn nun auch umarmte und ihn fest an sich drückte, ihr Gesicht in seinem Oberteil vergraben. Verblüfft über ihre plötzliche Reaktion sah er sie erstaunt an, bis seine Gesichtszüge vor Rührung erweichten und er sie nun sanft lächelnd in den Arm nahm.
"Ich pass auf mich auf." Zögernd blickte sie auf und mit Sorge bemerkte er, dass ihre Augen glasig geworden waren. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte:
"Aber Green, nun weine doch nicht!"
"Du musst es mir versprechen!" Mit glasigen Augen blickte sie ihren Bruder eindringlich an, welcher ihr nicht sofort folgen konnte. Doch dann grinste er ein wenig und entgegnete:
"Ich verspreche es dir. Aber nur wenn du mir versprichst, dass du dir Gedanken über Saiyon-san machst." Green seufzte erschöpft; scheinbar hatte sie den wahren Hintergrund des Gespräches bereits erfolgreich verdrängt.
"Gut", sagte die Hikari und löste sich von ihrem Bruder, um stur ihre Hände in ihre Hüften zu stemmen:
"Ich verspreche dir, dass ich mir ein paar Gedanken mache."
"Wirst du mir übermorgen um die gleiche Zeit deine Entscheidung mitteilen?" Erschöpft seufzte sie, doch bejahte dies. Gerade als Grey fortfahren wollte, streckte seine Schwester plötzlich den kleinen Finger aus, um deren Versprechen zu besiegeln. Verwirrt starrte Grey den Finger vor seinem Gesicht an; scheinbar war dies keine Geste, die unter Wächtern normal war.
"Wir müssen unser Versprechen doch besiegeln, Grey!" Ein wenig zurückhaltend ahmte Grey die Bewegung Greens nach und wurde noch verwirrter, als seine Schwester deren Versprechen besiegelte, indem sie ihren kleinen Finger mit dem seinen verband.
"Versprochen ist versprochen und darf nicht gebrochen werden!"
Zur gleichen Zeit wie Grey und Green in den Armen des jeweils anderen lagen, nahmen Yuuki und Firey noch an einer abendlichen Lektion Ignes' teil, welche eine Wiederholung einer anderen Lektüre war, die sie bereits früh in ihrem Lehrgang gehabt hatten und da diese von besonderer Wichtigkeit war und der Krieg immer näher rückte, hatte Ignes beschlossen, es noch einmal zu wiederholen. Da Firey sich dessen Wichtigkeit bewusst war, ließ sie die erste Lektüre noch einmal Revue passieren, als sie auf dem Weg zu ihrem Gemach war.
Zu dem damaligen Zeitpunkt waren weder Azuma, noch Yuuki und auch Firey noch keinen Rang aufgestiegen, sondern gerade erst angefangen. Ignes hatte damals gesagt, dass der Stoff vielleicht ein wenig schwer werden würde für die jungen Wächter, aber da man immer auf alles vorbereitet sein müsste, würde er eben diesen Stoff dennoch mit ihnen durchgehen, auch auf die Gefahr hin, dass sie es noch nicht verstehen könnten.
Das Thema war der Aufbau eines Schlachtfeldes.
Firey erinnerte sich noch daran, dass es geschneit hatte und dass ihre Füße froren, da sie und ihre zwei Kameraden zuvor noch im Schnee trainiert hatten. Ein Tempelwächter, den Firey nicht kannte, hatte ihnen Tee gebracht, welchen Firey dankend entgegennahm, während Ignes sich an das Pult lehnte, anstatt sich hinter es zu setzen: eine typische Gewohnheit von ihm, denn er hatte eine Tendenz dafür, oft auf und ab zu gehen, während er sie die Theorie hinter der Praxis lehrte.
Ignes wartete, bis sie alle drei einen Schluck des dampfenden Tees genommen hatten und begann dann, ohne seinen eigenen anzurühren:
"Ich sage euch von vorneherein: das, was ich euch nun berichte, ist von allergrößter Wichtigkeit. Solltet ihr dies nicht beherrschen, könnt ihr nicht am Krieg teilnehmen, da ihr so eine Gefahr für eure Mitwächter wäret. Ich möchte daher, dass ihr euch meine Worte so gut einprägt, dass ihr sie im Schlafe könnt." Sofort stellte Firey ihre Teetasse ab, als fürchtete sie, die Wärme der Tasse könnte sie womöglich ablenken. Azuma dagegen lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als würde er sich auf eine langweilige Stunde vorbereiten.
"Wie lautet eure Definition eines Schlachtfeldes?" Alle drei warfen sich einen verwirrten Blick zu und ein wenig zögernd wählte Firey zu antworten:
"Ehm... der Ort, an dem der Kampf stattfindet."
"Und wo wir uns alle die Köpfe einschlagen, haha!", fügte Azuma lachend hinzu, was Ignes dazu brachte, genervt mit den Augen zu himmeln, woraufhin er erwiderte:
"Um genau solch eine Unkoordiniertheit zu vermeiden, wurde im sechsten Elementarkrieg das System eingeführt, welches ich euch nun erläutern werde und welches ihr niemals vergessen dürft. Als Beispiel nehmen wir eine computergenerierte, in Henel stattfindende Schlacht: 500 Dämonen gegen 150 Wächter, um das Rechnen zu erleichtern." Azuma lehnte sich skeptisch in seinem Stuhl vor:
"Rechnen?! Wir sollen rechnen?!" Auch Firey und Yuuki schienen verwirrt, doch Ignes schien ihnen keine Antwort geben zu wollen. Stattdessen holte er eine kleine Fernbedienung aus seiner Jackentasche hervor, betätigte ein paar Knöpfe, woraufhin rechts neben ihm das Hologramm einer quadratischen Fläche erschien.
"Natürlich ist dies eine sehr vereinfachte Darstellung; die Realität ist viel komplexer als dieses Quadrat. Doch so müsst ihr euch ein Schlachtfeld vorstellen." Ungläubig beugten sich nun alle drei Elementarwächter vor, um das sich drehende Feld von Nahem zu betrachten, während Ignes fortfuhr, nachdem er sich nun auch einen Schluck von seinem Tee genehmigt hatte:
"Ein jedes Schlachtfeld wird von unseren Computern in kleinere Quadrate unterteilt, ähnlich wie ein Schachbrett." Während er dies sagte, veränderte sich das große Quadrat und unterteilte sich, genau wie Ignes es sagte, in kleine Quadrate:
"Ein Wächter ist ein Quadrat: da Dämonen jedoch größer sind als wir und teilweise monströse Ausmaße annehmen können, nehmen sie oft mehr als ein Quadrat ein. In unserem Beispiel nimmt der Dämon drei Quadrate ein." Kaum hatte er dies gesagt, leuchteten drei Quadrate rot vor den Augen der Elementarwächter auf, im gleichen Moment, wie auch ein weiteres Quadrat vor dem Dämon aufleuchtete; allerdings in blau.
"Auf einem Schlachtfeld, welches nur aus euch selbst und einem Dämon besteht, dürft ihr nach Belieben handeln und müsst dieses System nicht beachten. Sollten allerdings weitere Wächter auf dem Feld sein..." Sechs weitere Quadrate leuchteten auf, als er dies sagte:
"Seid ihr gezwungen, Rücksicht auf das System zu nehmen. Stellen wir uns vor, ein Erdwächter, welche auf Flächenangriffe spezialisiert sind, würde einfach seine Attacken entfesseln. Was meint ihr würde geschehen?" Alle drei wandten sich von dem Hologramm ab und es war Yuuki, der antwortete:
"Er würde zwar den Dämon ausschalten können, würde aber seine Mitwächter in Gefahr bringen, was natürlich nicht so besonders wünschenswert wäre und ich weiß jetzt schon, dass ich mich auf dem Schlachtfeld gewiss nicht in Azumas Nähe aufhalten werde: ich bin doch nicht lebensmüde!" Es war offensichtlich, dass Yuuki fortfahren wollte, doch gerade als er Luft für dieses Vorhaben einsog, unterbrach ihn Ignes eilends:
"Genau, Yuuki-sama, Sie haben es erfasst. Ihr müsst bei einer Schlacht stets bedenken, dass sich noch andere Wächter auf dem Feld befinden, wenn ihr flächendeckende Angriffe ausführen wollt, ansonsten lauft ihr in Gefahr, eure Mitwächter zu verletzen, schlimmstenfalls sogar zu töten und erinnert euch, als wir die heiligen Regeln durchnahmen: auf den Tod eines Mitwächters steht die Todesstrafe! Auch in diesem Fall! Denn wenn ihr das System missachtet gilt es als mutwillig und ihr werdet als Gefahr für das Wächtertum eingestuft. Um dem vorzubeugen und damit Leben zu sichern, wurde dieses System erfunden, welches nicht nur euch und eure Feinde als Quadrate erfasst, sondern auch eure Flächenangriffe.
Nehmen wir an, der Wächter in unserem Beispiel sei Azuma-sama und die Attacke, die er gegen den Dämon anwenden möchte wäre die Standardattacke der Erdwächter: Caspicitra Saxido: Caspicitra Saxido besitzt einen Angriffszirkel von 20 Metern und weil ein Quadrat auf dem Schlachtfeld gleich einem Quadratmeter ist, bedeutet das, dass Caspicitra Saxido 20 Quadrate einnehmen würde. Wie ihr auf dem Hologramm seht, befinden sich in unserem Beispiel 6 Wächter in diesem Radius. Würde der unüberlegte Erdwächter seine Attacke anwenden, so würde er diese 6 entweder schwer verletzen oder gar umbringen." Scharf sah er Azuma an, der zufällig in diesem Augenblick vom Hologramm aufsah:
"Und das ist natürlich nicht wünschenswert, nicht wahr, Azuma-sama?" Der Erdwächter wählte, darauf nicht einzugehen und fragte daher:
"Aber wenn wir in einen Kampf verwickelt sind, haben wir doch gar keine Zeit an Quadrate und Rechtecke zu denken. Wie soll das denn bitteschön funktionieren?" Als hätte Ignes nur auf diese Frage gewartet, holte er ein schwarzes Headset hervor, welches er Firey reichte. Die Erklärung, was es mit dem eigentlich ziemlich normal aussehenden Kommunikationsgerät auf sich hatte, folgte sofort:
"Jeder sich auf dem Schlachtfeld befindenden Wächter trägt ein solches Headset; ohne ein solches ist es euch strengstens untersagt, am Kampf teilzunehmen, da ihr ohne es keine Befehle erhalten könnt, wenn ihr euch zu weit entfernen solltet. Ihr werdet jeder solch ein Gerät vor dem Betreten des Schlachtfeldes von eurem Kommandanten erhalten. Sollte es während des Kampfes beschädigt werden, so dürft ihr nur Nahkampfangriffe anwenden, denn diese großen und gleichzeitig gefährlichen Flächenangriffe müssen vor jedem Einsatz - außer ihr befindet euch in einem abgeschnittenen Duell - beantragt werden."
"Wie bitte?!" Wieder ignorierte Ignes Azuma, der nun erschrocken aufgefahren war:
"Ihr müsst euch keine Gedanken der Effektivität wegen machen. Unsere Klimawächter, welche dafür verantwortlich sind, sind überaus effizient. Ihnen ist auch dieses kluge System zu verdanken", sagte Ignes und holte im gleichen Atemzug einen weiteren Gegenstand aus seiner Jackentasche heraus, welcher nun nicht nach einem Alltagsgegenstand aussah: es sah aus wie ein kleiner, um die 15 Zentimeter großer Kristall, welcher an beiden Enden eine schwarze Kappe besaß, während das Innere blau pulsierte:
"Ein solches Instrument wird vor jeder Schlacht vom Kommandeur in den Boden gerammt, wodurch das Schlachtfeld berechnet wird. Je nach Größe des Feldes kann dies ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, das ist leider wahr. Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass ihr in dieser Zeit keine Flächenangriffe anwenden dürft, nicht wahr? Eine elektronische Stimme wird euch mittels des Headsets darüber informieren, wann ihr Beantragungen stellen könnt." Beinahe enttäuscht ließ sich Azuma zurück in seinen Stuhl fallen, eine Tat, welche Ignes' nicht unbemerkt blieb:
"Azuma-sama, bitte bedenkt, dass das System auch Euer Leben sichert. Selbstverständlich ist es eine Einschränkung, doch es ist eine Einschränkung, welche letztendlich zum Sieg führen wird. Daher lege ich es euch allen drei nahe, euch daran zu halten, denn wenn auch nur einer das System missachtet, funktioniert es nicht mehr und glauben sie mir, unsere verehrten Hikari sind sehr streng." Er schwieg kurz, mit der Absicht seine Worte auf die drei Schüler wirken zu lassen und sagte dann, nachdem er seinen Tee ausgetrunken hatte:
"Es existieren natürlich besondere Auflagen: das Dasein eines Schutzwächters zum Beispiel, welcher andere Wächter vor euren Angriffen schützen kann und noch weitere. Aber dazu ein anderes Mal."
Firey rauchte nach wie vor der Kopf, nachdem sie eben diesen Unterrichtsstoff noch einmal durchgegangen waren, obwohl sie bereits fleißig darauf vorbereitet wurde, durch diverse Tests, die die Stärke ihrer Attacken gemessen hatte. Die erlernten Attacken eines jeden Wächters wurden im Zentralcomputer gespeichert und in den Kämpfen regelmäßig durch die Headsets aktualisiert. Ignes hatte bei den Tests betont, dass es natürlich gut sein konnte, dass gewisse Angriffe durch Adrenalin oder Todesangst stärker ausfallen konnten als berechnet, weshalb aus Vorsichtsmaßnahmen immer drei Quadrate mehr berechnet wurden als eigentlich notwendig. Doch Firey zweifelte daran, dass sie irgendwelche Probleme mit Beantragungen haben würde - im Vergleich zu den Angriffen Azumas, welche teilweise über 20 Quadrate einnahmen, waren ihre eigenen mickrig.
Die junge Feuerwächterin war vollkommen in ihren Gedanken versunken, als sie auf dem Rückweg von Yuukis Gemach war, welches im nördlichen Ende des Tempels lag, wo sie ihn nach dem Unterricht hinbegleitet hatte, da es auf dem Weg zu ihrem eigenen Zimmer lag.
Es war purer Zufall.
Doch sie entdeckte die beiden Geschwister auf dem Nordbalkon.
Kurz blieb sie stehen, natürlich ohne die Absicht, sie zu belauschen und eigentlich wollte sie auch sofort weiter gehen, doch als sie Saiyons Namen hörte, war es, als würde ihr Körper sich instinktiv hinter einer der Säulen verbergen, von wo aus man sie nicht sehen konnte, sich aber wunderbar das Gespräch mit anhören konnte, da die beiden Wächter die Glastür nicht hinter sich geschlossen hatten.
Firey wusste, sie sollte sich dafür schämen, dass sie die beiden heimlich belauschte; doch die Neugierde hatte sie gepackt und ließ sich nicht unterdrücken.
Lange stand sie allerdings nicht dort. Genauer gesagt nur solange, bis sie, genau wie Grey, bemerkte, dass Greens Widerwillen bröckelte. Wieder handelte sie instinktiv und ohne darüber nachzudenken, kam sie aus ihrem Versteck hervor und rannte in Richtung von Azumas Zimmer davon.