Kapitel 36 - Das Läuten der Glocken
Es war keine Seltenheit, dass Azuma, Yuuki und Firey an einem Mittwochmorgen bei ihrem Lehrer zum Frühstück eingeladen wurden; es war zwar Norm, dass sie mit den anderen Elementarwächtern aßen, doch wenn Ignes sie einlud, machten sie gerne eine Ausnahme.
Ignes lebte mit seiner Frau Esmelia, die ebenfalls eine Wasserwächterin war, zusammen mit deren Sohn Pelagius, dem Offizier des Wassers, und einer Tempelwächterin auf Sanctu Ele'saces in einem großen Haus direkt an dem großen See. Durch die Glasscheiben des Wintergartens hatte man jeden Morgen einen wunderschönen Ausblick auf die glitzernde Oberfläche des Sees, wenn die Sonne aufging. Wie immer saßen sie in dem geräumigen Wintergarten zum Frühstück, von dessen gläserner Decke Kristallbehälter mit Wasser herunterhingen, welche Spiegelungen an die Wand und auf den gedeckten Tisch warfen - fast wie in einem Aquarium, nur dass in den vielen, kleinen Behältern keine Fische herumschwammen: diese befanden sich in deren Stube, wo man sich kaum satt sehen konnte an der Farbpracht der vielen dort lebenden Fische. Das Haus der Familie war zwar nicht besonders groß, aber mit Liebe zum Detail und zu ihrem Element ausgestattet und obwohl es das komplette Gegenteil von ihrem eigenen Element war, fühlte sich Firey in dem Zuhause ihres Lehrers stets wohl. Seine Frau war unglaublich liebenswert und unheimlich hübsch - es war ganz offensichtlich, woher ihr Sohn sein Aussehen hatte, welchen Azuma schon öfter durch den Kakao gezogen hatte, dabei natürlich keine Rücksicht darauf nehmend, dass Pelagius ein Offizier war und ihm somit ein ziemlich hoher Rang innewohnte. Für Azuma war das Bild von Pelagius bereits am ersten Tag geprägt worden, an dem er ihn gesehen hatte, denn der Offizier des Wassers war unglaublich gutaussehend, aber alles andere als männlich. In der Tat hatte Firey ihn sogar auf den ersten Blick für eine Frau gehalten, denn seine langen, seidigen wasserstoffblonden Haare, seine langen Wimpern und sein ständiger Blick in den Spiegel, ließen ihn schon recht unmännlich erscheinen und Firey zweifelte nicht daran, dass er genau wie gewisse Frauen kreischen würde, wenn sein Fingernagel abbrechen sollte. Azuma und Pelagius mochten sich nicht besonders, aber Firey mochte ihn, denn wenn er nicht gerade in sein Spiegelbild verliebt war, war er genauso nett und freundlich wie seine Mutter, welche Firey just in diesem Moment fragte, ob sie nicht noch ein Glas Zitronensaft haben wollte, welchen sie extra für sie gepresst hatte.
"Danke, gerne. Aber du hättest das nicht extra für mich tun müssen..."
"Ach, ich hatte auch einen für mich Pelagius-kun gemacht, bevor wir schwimmen gegangen sind, nicht wahr, mein Schatz?" Esmelia lächelte ihren Sohn ihr gegenüber mit dem strahlenden Lächeln einer stolzen Mutter an, welches Pelagius erwiderte, als er antwortete:
"Wahrlich, Mutter - und wie ich sehe zur rechten Zeit: es ziehen Regenwolken auf." Wie vom Blitz getroffen sprang Esmelia auf, als sie bemerkte, dass ihr Sohn Recht hatte und verkündete, dass sie dann hastig die Wäsche hereinholen würde und schon stürmte sie mit ihrer Tempelwächterin hinaus in den wohl gepflegten Garten, wo deren Wäsche im Wind flackerte. Kaum dass Esmelia hinausgerannt war, richtete sich Azuma nun grinsend an Pelagius, welcher neben ihm saß und versuchte, das Grinsen seines Sitznachbarn zu ignorieren. Die Worte Azumas konnte er allerdings nicht so gekonnt ignorieren:
"Und? Wie läuft's mit der Partnersuche, Pelagius-kuuuun?"
"Ich bitte dich auf höflichste Weise darum, mich nicht so zu nennen. Dieses Suffix steht einzig und allein meiner Mutter zu." Azumas Grinsen wurde breiter als er antwortete:
"Gut, dann nenne ich dich eben "Bøsse", das ist sowieso viel passender, ahahaha!" Nun wandte sich Pelagius mit verengten Augen an den grinsenden Erdwächter und entgegnete schneidend:
"Möchte ich überhaupt in Erfahrung bringen, was dieses Wort bedeutet?"
"Azuma-sama hat Recht, Pelagius", mischte sich nun auch Ignes in das Gespräch der beiden jungen Männer ein, was das Grinsen Azumas noch breiter machte und welches Firey sagte, dass sie, sobald sie wieder in ihrem Zimmer im Tempel war, das Wort im Wörterbuch nachschlagen musste, denn sie verstand den Grund weshalb er so grinste nicht, besonders als Ignes ihm Recht gab. Ignes ignorierte das Grinsen Azumas und wandte sich tadelnd an seinen Sohn:
"Anstatt immer nur in deinen Spiegel zu blicken und in dich selbst verliebt zu sein, sollest du lieber nach einer Partnerin Ausschau halten. Ich beginne mir Sorgen zu machen, mein Sohn." Es war ein altbekanntes Thema, denn Ignes erwähnte oft, wie unlieb es ihm war, dass sein einziger Sohn nach wie vor keine Frau besaß, obwohl - wie er immer wieder gerne betonte - Pelagius bereits 25 Jahre alt war und somit bereits Kinder haben könnte, wenn er denn nicht so hohe Ansprüche an das andere Geschlecht stellte.
"Ich weiß, Vater, ich weiß." Wieder einmal begann Pelagius auszuführen, dass keine Frau hübsch genug war und somit nicht seinem Geschmack entsprach, wobei Firey bemerkte, dass Yuuki neben ihr ziemlich ruhig war: bereits den gesamten Morgen hatte er sich außerordentlich bedeckt gehalten. Er stocherte nur lustlos in seinem Essen herum und bemerkte daher auch nicht, dass Firey ihn besorgt musterte.
"Vielleicht wäre Firey-sama eine geeignete Wahl für dich, Pelagius." Als Firey ihren eigenen Namen hörte, schreckte sie auf und unterbrach Pelagius hastig, denn dieser hatte bereits stirnrunzelnd den Mund geöffnet und Firey verspürte nicht die geringste Lust danach, von einem von Schönheit besessenen Wächter kritisiert zu werden:
"Also, ich denke, das ist keine so gute Idee..." Ignes schien das Problem nicht zu sehen und antwortete sachlich:
"Aber Firey-sama, Sie sind bereits 16 und Sie wollen doch nicht wie mein Sohn mit 25 noch keine Ehe eingegangen sein."
"Ich betone immer wieder gerne, dass die anderen Offiziere ebenfalls noch nicht alle verheiratet sind, Vater", warf Pelagius als Argument ein, doch wurde überhört, denn nun mischte sich Azuma wütend in das Gespräch:
"Und ICH betone, dass Firey MIR gehört!"
"Ich gehöre keinem, das möchte ich gerne betonen." Ignes räusperte sich um die Führung des Gespräches wieder an sich zu reißen; das erste Räuspern wurde von Azuma überhört, der lauthals beteuerte, dass er der bessere Partner für Firey wäre, doch das zweite Räuspern, begleitet von einem finsteren Blick, brachte Azuma zum Schweigen und wieder richtete Ignes das Wort an seinen Sohn, der das Thema ganz offensichtlich leid war:
"Warum sprichst du nicht öfter mit Mizu-Azura-sama? Ich denke, ihr zwei würdet gut zusammen passen und es würde unser Element stärken." Pelagius schwieg; anscheinend wusste er nicht, was er darauf erwidern sollte, denn er öffnete öfter den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Da Pelagius nicht antwortete, tat Azuma es:
"Wer war noch mal Azura?" Alle Augenpaare lagen mit einem Mal auf Azuma, der die plötzliche negative Aufmerksamkeit nicht verstand.
"Mizu-Azura-sama ist die Elementarwächterin des Wassers, Azuma-sama", erwiderte Ignes schneidend und Firey fügte zweifelnd hinzu:
"Sie sitzt zwei Mal am Tag dir gegenüber." Nach wie vor nicht verstehend was so schlimm daran war, dass Azuma den Namen einer Mitwächterin nicht wusste, erwiderte er:
"Aaaach, die! Die mit den langen, blauen Haaren, ja, jetzt weiß ich, von wem ihr sprecht." Azuma lachte und meinte, er wäre nicht so gut mit Namen, wofür keiner der Anwesenden Verständnis hatte - immerhin klangen sein Name und der von Azura doch ziemlich ähnlich. Ignes himmelte mit den Augen und fragte sich wieder einmal, wie der nächste Krieg verlaufen würde, wenn der Elementarwächter der Erde nicht einmal den Namen einer Mitelementarwächterin kannte.
Kaum dass er sich dazu beschloss nicht allzu pessimistisch zu sein, öffnete sich plötzlich die Tür zum Wintergarten. Ein starker Wind und einige Regentropfen begleiteten das Eintreten von Esmelia und deren Tempelwächterin, doch dies war nicht das, was ihn dazu brachte, sofort aufzustehen. Auch die anderen drei Wächter hörten mit dem Essen auf und wandten sich herum, um ebenfalls das ernste, aber auch leicht nervöse Gesicht Esmelias zu erblicken, welche den Korb mit der Wäsche auf dem Boden abstellte. Während sie dies tat, bemerkte Firey, dass sich Yuuki neben ihr nervös an seinem Stuhl festhielt, als wüsste er, was Esmelia sagen wollte.
Die Wasserwächterin atmete tief durch und sagte genau das, was Yuuki befürchtet hatte:
"Ukario-samas Tempelwächterin ist eben zu mir gekommen, um dir das hier zu geben."
Saiyon lebte zusammen mit seinem großen Bruder Shitaya, dessen Ehefrau Säil und deren gemeinsamer kleiner Tochter Shia in einem Haus auf Sanctu Ele'saces, in der Nähe der Trainingsarena, in einer Straße, wo sich alle Einwohner ähnelten - jedenfalls vom Familienaufbau her: ein Elternpaar, zwei bis drei Kinder und dazu einen unterstützenden Tempelwächter. Alleinstehende Wächter so wie Saiyon lebten normalerweise nicht in solch einem hübschen, kleinen, heimischen Haus und wenn er vor einem Jahr in den Tempel gezogen wäre, hätte ihm auch kein eigenes Zimmer zugestanden, denn nur allein stehende Elementarwächter besaßen ein eigenes Zimmer. Wäre er in den Tempel gezogen, hätte er mit bis zu fünf Wächter in einem Zimmer schlafen müssen - so lange, bis er sich eine Frau gefunden hatte.
Natürlich war Saiyon heiß darauf gewesen, wie so viele andere Wächter vor einem Jahr in den Tempel zu ziehen und hatte deshalb versucht, seinen Bruder zum Umzug zu überreden, doch Shitaya war wenig begeistert von der Idee gewesen, mit seiner Familie in den Tempel zu ziehen; immerhin war er auf Sanctu Ele'saces groß geworden und wollte seine Heimat auch nicht verlassen, da er wollte, dass seine Tochter und alle darauffolgenden Kinder hier aufwachsen sollten. Doch nur wenn Shitaya zusammen mit seiner Familie ebenfalls in den Tempel gezogen wäre, hätte Saiyon das Fünferzimmer umgehen können, denn er hätte so in deren Wohnung leben können. Da er viel Wert auf seine Privatsphäre legte, war Saiyon deshalb auf Sanctu Ele'saces geblieben, wo er nun so lange im Haus seines Bruders leben würde, bis...
Saiyon schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Viel zu oft verlor er sich in seinen Tagträumen von einer utopischen Familie zusammen mit Green. Oder davon Seite an Seite mit ihr zu kämpfen oder einfach davon, mit ihr zu reden... sie wiederzusehen würde ihm schon genügen.
Er lag mit dem Rücken auf seinem Bett, die Augen auf die Deckenmalerei gerichtet, ohne sie wirklich zu sehen. Seine ultramarinen Haare breiteten sich unter seinem Kopf aus, da sein Zopfband, welches seine Haare normalerweise bändigte, in einer kleinen Nische in der Wand lag, wo auch eine magische Lampe befestigt war, doch entzündet war sie nicht. Das eher kleine Zimmer lag im Halbdunkeln, denn auch das große Licht war nicht eingeschaltet und ein leichter Vorhang verdeckte das große Fenster, wodurch das Licht normalerweise in sein Zimmer fiel und Muster auf den Boden malte. Er hörte den Regen gegen das Fenster trommeln und sein Element sagte ihm, dass starker Wind herrschte. Ein normaler Herbstschauer, welcher den eigentlich schönen Morgen von einem Moment auf den anderen verdunkelt hatte.
Es war sieben Uhr morgens und wäre Saiyon nicht vollkommen in seinen Gedanken versunken, so hätte er sich wohl gewundert, warum ihn Shitaya noch nicht zum Training gerufen hatte, welches eigentlich vor einer Stunde hätte beginnen müssen, so wie sie es jeden Morgen taten, obwohl es eigentlich ihr einziger freier Tag in der Woche war. Wie so oft hatte er nicht gut geschlafen, weil er wieder darüber nachgedacht hatte, was vor einem Jahr geschehen war. Es war bereits mehr als ein Jahr her... und immer noch hatte er keine Klarheit darüber gefunden, was in dieser Nacht wirklich geschehen war. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt geschehen war: war Green wirklich vom Balkon herunter gesprungen? War das gleichgültige Gesicht Greys real und hatte er Saiyon wahrlich daran gehindert, seiner Hikari zu Hilfe zu eilen? Und... was noch viel wichtiger war für Saiyon: war der Dämon, gegen den Saiyon seine Waffe erhoben hatte, wirklich der gleiche Dämon, den er damals in Tokio getroffen hatte, zusammen mit Green? Aber warum hatte sie ihn angelogen, als sie gesagt hatte, dass er tot war? Warum sollte sie überhaupt? Und warum hatte er sie angegriffen? Warum hatte er ihr das angetan? Hatte er sie nicht geliebt, so wie Saiyon Green liebte?
So viele Fragen und diese waren nur ein Bruchteil davon. Er konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob das alles überhaupt passiert war: am darauffolgenden Morgen war er in seinem Bett aufgewacht und hatte keinerlei Verletzungen gehabt oder sonst irgendwelche Spuren, die von dieser Nacht zeugten. Green hatte er seitdem nicht mehr unter vier Augen gesprochen und selbst wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, so hätte er einen solchen Moment wohl nicht genutzt, um Klarheit zu erlangen. Er konnte sie unmöglich darauf ansprechen... selbst wenn alles wahr war. Fakt jedoch war, dass Saiyon nichts mehr über den Halbdämonen hörte - außer die vielen Gerüchte über Green und ihre fragwürdige Beziehung zu den beiden Halbdämonen, welche Saiyon nicht glaubte, genauso wenig wie alle anderen Gerüchte, die im Wächtertum kursierten. Green hatte man nicht mehr zusammen mit den beiden gesehen und es kam auch nichts dabei raus, als Saiyon Shitaya darum bat, im Archiv nach deren Daten zu sehen, vorneheran natürlich nach Blues Daten, da Saiyon sich herzlich wenig für Silver interessierte.
Fakt war jedoch, dass Green seit einem Jahr offiziell nicht mehr vergeben war. Darüber hinaus würde das auch erklären, warum Green sich so verändert hatte... warum sie so traurig aussah, obwohl es niemand zu bemerken schien. Selbst wenn der Halbdämon, den sie mit "Gary" angesprochen hatte, nicht tot war, dann war er jedenfalls nicht mehr ein Teil ihres Lebens; ihres jetzigen Lebens.
Plötzlich flutete Licht aus dem Gang herein und Saiyon blinzelte erschrocken über diese unerwartete Störung. Dennoch saß er sofort kerzengerade in seinem Bett, seinen Bruder anblickend, der in der Tür stand. Da das Licht hinter ihm sein Gesicht verdunkelte, konnte Saiyon nicht sehen, wie ernst Shitaya aussah, daher nahm er auch einfach nur an, dass er das Training verschlafen hatte, als sein Bruder ihm sagte, dass er sich sofort anziehen sollte, um zu Ukario zu gelangen. Saiyon hatte bereits das Oberteil über seinen Kopf gezogen und seine Trainingsuniform in der Hand, als Shitaya ihn davon abhielt:
"Nicht deine Trainingsuniform, sondern deine Offiziersuniform." Mit diesen Worten trat Shitaya ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich, womit sein ernster Gesichtsausdruck nun deutlich zu erkennen war und sofort verstand Saiyon, dass die Situation eine andere war. Mit den Armen über der Brust verschränkt sagte Shitaya:
"Wir Offiziere wurden zu Ukario-sama gerufen. Über den Grund kann ich nur Vermutungen anstellen." Saiyon nickte; er verstand was er meinte und innerhalb von wenigen Momenten hatte er sich seine Uniform angezogen und die beiden Brüder brachen auf, nachdem Shitaya seiner Frau und seiner Tochter noch einen Abschiedskuss gegeben hatte, welche ihm besorgt hinterher sahen, als er das Haus verließ.
Da teleportieren auf den verschiedenen Inseln nicht möglich war, mussten die beiden Brüder die Beine in die Hand nehmen und durch den Regen laufen, der nicht nachgelassen hatte, sondern ununterbrochen auf die verlassenen Straßen Sanctu Ele'saces herab prasselte.
"Meinst du wirklich, dass es das ist, was du denkst?", fragte Saiyon, als sie deren Straße hinter sich gelassen hatten und nun auf der Hauptstraße rannten, wo das Geräusch ihrer Stiefel sich mit dem Regen vereinte.
"Ich nehme es stark an. Seit einem Jahr bereiten wir uns darauf vor, es war also nur eine Frage der Zeit. Ich hatte gehofft, ich könnte meiner kleinen Shia noch ein wenig länger ein guter Vater sein, aber so wie es aussieht, werde ich wohl bald mehr Zeit mit Waffen und Computern verbringen als mit ihr." Er sagte dies mit einem Grinsen, doch Saiyon bemerkte sofort, dass dies aufgesetzt war. Daher wählte er, so zu tun, als hätte er die Unechtheit des Grinsens es nicht bemerkt.
Sie rannten über die Brücke, vorbei an den erhobenen Waffen der alten säumenden Wächterskulpturen, die allesamt ernst in den Himmel sahen; der Regen verlieh ihnen den Ausdruck, als würden sie das Schicksal beweinen... Saiyon schüttelte den Gedanken ab genauso wie die Regentropfen, als sie endlich in die warme Eingangshalle der Hauptzentrale traten. Da es verboten war, in den Gängen laut zu sprechen oder zu laufen, herrschte eine bedrückende Ruhe in den alten Korridoren. Der Windwächter nutzte die Gelegenheit, um seine Haare auszuwringen und sie wieder zusammen zu binden, während sie die große Haupttreppe hinauf gingen, einige Flecke hinterlassend, da sie nach wie vor nass waren vom Regen. Auf ihrem Weg zu Ukarios Büro kreuzten sie einige ihrer Wächterkollegen, welche sie höflich begrüßten. Alles war wie immer. Wenn Shitaya wirklich Recht hatte, dann war noch nichts durchgesickert.
An der Tür ihres Vorgesetzen angekommen, klopften sie an und bekamen auch sofort die Antwort, dass sie herein treten könnten. Sofort war ihnen klar, dass sie wohl nicht schnell genug gerannt waren, denn die anderen Offiziere waren bereits versammelt. Keiner der Offiziere sagte ein Wort zur Begrüßung, sie nickten ihnen nur zu in einem vertraulichen Gestus; alle außer Daichi, der noch nicht zum eingespielten Team gehörte und daher war sein Begrüßungsgestus ein wenig verkrampfter und schüchterner. Zwar waren Saiyon und er etwa zeitgleich im Team aufgenommen worden, aber Saiyon hatte die anderen Mitglieder gekannt, seitdem Shitaya deren Oberhaupt geworden war - und diesen Posten hielt er schon lange. Genauer gesagt seit seinem 16ten Geburtstag und da er erst vor kurzem 27 geworden war, war er nun 10 Jahre lang deren Anführer gewesen und wurde nicht zu Unrecht eine der größten Hoffnungen des Wächtertums genannt und wenn der Krieg nun wirklich kommen würde, würde er eine der Hauptzielscheiben der Dämonen sein: ein perfekter Stratege, ein ausgefeilter Kämpfer, der sein Element unter Kontrolle hatte, seine Waffe immer entschlossen in seiner Hand; entschlossen, zu töten, zu beschützen und zu bewahren. Immerzu war er hilfsbereit und zuvorkommend, geehrt von seinen Kameraden, geliebt von Säil und seiner Tochter, die bald stolz darauf sein würde, ihn als ihren Vater zu haben und die Hikaris segneten ihn. Saiyon hatte immer zu denen gehört, die ihn sowohl bewundert, als auch Eifersucht verspürt hatten. Es war für einen kleinen Bruder nicht leicht, aus einem so enormen Schatten herauszutreten und ebenfalls zu strahlen.
Doch seitdem er selbst zu dem Team seines Bruders gehörte, war seine Eifersucht verblasst und schnell war er von den anderen Offizieren aufgenommen worden, als wäre er seit jeher ein Mitglied.
Wie immer nahm Shitaya den Platz neben dem Offizier der Zeit, Cebir, und dem Offizier des Wassers, Pelagius, ein, während Saiyon sich neben Daichi stellte, wo ihm sofort auffiel, wie nervös das jüngste Teammitglied war; er zitterte am ganzen Körper. Doch es gelang ihm nicht, irgendetwas Tröstendes zu sagen, denn Ukario, der anders als die Offiziere nicht aufrecht stand, sondern hinter seinem aufgeräumten Schreibtisch in seinem Sessel saß, hatte bereits das Wort ergriffen:
"Ich grüße euch und wünsche einen guten Morgen." Einstimmig wurde Ukario dasselbe gewünscht und sofort fuhr er fort:
"Ich habe euch rufen lassen, da ich vor 26 Minuten die neueste Mitteilung aus dem Jenseits erfahren habe, aus dem Munde unserer Hikari-sama, die zusammen mit Kaze-sama hier gewesen ist, um mir mitzuteilen, dass die Dämonen uns den Krieg erklärt haben." Er sagte dies so simpel und geradeaus, als hätte er soeben die Lösung einer einfachen Gleichung dargelegt. Der einzige, der nicht mit Schweigen darauf antwortete, war Daichi, der aufkeuchte, sich aber kurz darauf auf die Unterlippe biss, um weitere Gefühlsausbrüche zu unterdrücken. Ukario fuhr ruhig und sachlich fort:
"Aus der offiziellen Kriegserklärung war zu vernehmen, dass sie uns in 44 Tagen oder in 33 Tagen angreifen werden; anders formuliert beginnt die achte Generation der Elementarkriege frühestens am 26. September 2007, menschliche Zeitrechnung. Unsere Hikari-sama wird dies heute Abend um 18 Uhr bekannt geben und sobald ihr mein Büro verlässt, werden die Glocken geläutet werden und jeder Wächter wird wissen, dass es soweit ist." Er faltete die Hände ineinander und schien sie alle gleichzeitig anzusehen, während sich hinter ihm ein Bildschirm aus Pixel zusammen baute.
"Von der Kriegsstrategie habe ich bis zum jetzigen Zeitpunkt nur Entwürfe erhalten, doch es steht bereits fest, welche Posten ihr zu Beginn des Krieges einnehmen werdet..." Der Bildschirm hinter ihm nahm Gestalt an und die Offiziere sahen ihre eigenen Aktenbilder samt Wappen zusammen mit den Daten, wo sie stationiert werden würden. Sobald Saiyon seinen Namen las, drückte er sich in Gedanken selbst die Daumen, dass er in das gleiche Bataillon wie Green kommen würde, doch es kam anders:
Firey folgte dieser Diskussion nur mit halbem Ohr. Sie war damit beschäftigt, ihre Furcht vor den kommenden Krieg so tief wie möglich in sich zu vergraben. Um dies so effektiv wie möglich zu gestalten, dachte sie über die verschiedenen Bataillone nach, über welche sie dank des Unterrichtes von Ignes bestens Bescheid wusste.
Die Namen der Bataillone und deren Bedeutung waren seit jeher dieselben und deren Aufgabe ebenfalls; nur die Wächter der Bataillone wurden untereinander ausgetauscht. Das Bataillon, in dem Daichi und Kaira waren, Perassion, beschützte die Menschheit, wenn diese von den Dämonen angegriffen wurde und kämpfte somit oft in der Menschenwelt. Dieses Bataillon war nicht für den Einsatz in der Dämonenwelt geeignet, da viele Wasser und Naturwächter in diesem Bataillon zu finden waren. Es war ein Bataillon, welches oft in Verbindung mit Rallasion eingesetzt wurde, da dies ebenfalls der Verteidigung und Stabilisierung diente, aber auch dem Angriff, in welchem Ilang zusammen mit Saiyon kämpfte.
Kassaion, dort wo Azura mit Cebir zusammenarbeitete, war ein reines Angriffsbataillon und kämpfte daher oft an erster Stelle. Firey wunderte sich darüber, dass Azura, eine Wasserwächterin, an dessen Spitze stand, denn dieses wurde auch oft in der Dämonenwelt eingesetzt und Wasserwächter waren eigentlich die letzten Wächter, die in die Dämonenwelt gelassen wurden - zu groß war die Gefahr, als Geisel zu enden. Firey wusste, dass Azura eine gute Wächterin war, aber im Grunde genommen wusste sie nicht viel über ihren Kampfstil, aber wenn die Hikaris sie für dieses Bataillon ausgesucht hatten, musste das schon was heißen.
Das Bataillon, wo die beiden Illusionswächter stationiert waren, war das kleinste Bataillon, da dies weder dem Angriff noch der Verteidigung dienlich war: es waren die Wächter, die für Spionage verantwortlich waren, für Attentate und Informationssuche - typisch besetzt von Illusionswächtern oder Wächtern, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert hatten. Sie hatten in der bisherigen Kriegsgeschichte bereits viele Fürsten ohne Kampf unbemerkt umgebracht.
Elyssion war das mächtigste der Bataillone, da dies das Bataillon war, wo die Hikari stationiert war: meistens diente es als Vorhut und kämpfte oft in der Dämonenwelt oder schlichtweg da, wo es gebraucht wurde. Ein Rang Zwei Wächter, so wie Firey es war, hatte es schwer, überhaupt in dieses Bataillon zu gelangen, obwohl diese Streitmacht eigentlich immer eine Hand voll Feuerwächter dabeigehabt hatte. Nur die Besten der Besten kämpften in diesem Bataillon.
Das Bataillon Tetratron, in dem sie selbst zusammen mit Pelagius war, konnte sowohl als Angriffs- und als Verteidigungskraft gebraucht werden, doch da sie zusammen mit einem Wasserwächter war, wurde Firey bewusst, dass ihre Chancen in der Dämonenwelt zu kämpfen, recht mager waren: sie würde sicherlich in der Menschenwelt kämpfen...
Das Bataillon Zeranion, worüber sich Azuma so aufregte, war eine Angriffsmacht. In diesem Bataillon kämpften typischerweise Erdwächter, da deren Element nicht nur eine zerstörerische Angriffsmacht war, sondern ebenso effektiv als Verteidigung dienen konnte. Azuma hatte damit sehr große Chancen in der Dämonenwelt zu kämpfen, doch das war nicht sein Problem, sondern sein Offizier, so wie es sich anhörte.
"Warum zum Teufel habe ich einen Schutzwächter als Anführer!? Warum brauche gerade ich so ein Element an meiner Seite?!" Green blieb ruhig angesichts von Azumas Wut. Seitdem sie einen ähnlichen Vortrag wie Ukario gehalten hatte, stand sie am Ende des Tisches und hatte sich nun mit verschränken Armen gegen eine der vielen Säulen gelehnt und lauschte nun Azumas Worten mit angespannter Ungeduld. Firey war erstaunt darüber, dass sie im Allgemeinen doch recht ruhig wirkte; auch als sie ihnen erzählt hatte, dass die Dämonen ihnen den Krieg erklärt hatten, hatte Greens Stimme nicht gezittert oder sonst irgendwelche Schwäche verraten. Auch Fireys Wächterkollegen wirkten ruhig: Kaira sah so aus, als würde sie am liebsten sofort aufbrechen und in den Kampf ziehen und auch Tinami schien darauf zu brennen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Azuma wäre wahrscheinlich ebenfalls Feuer und Flamme, wenn er nicht damit beschäftigt wäre, sich zu beschweren.
"Der Offizier soll ja auch nicht dich beschützen, Azuma-san", antwortete Grey an Greens Stelle und eine leichte Wut kräuselte die Oberfläche seiner Stimme:
"...sondern alle anderen Wächter vor dir und vor der Rücksichtslosigkeit, mit der du dein Element anwendest." Anstatt sich irgendwie beleidigt zu fühlen, schien seine Wut zu verrauchen und um einiges ruhiger, ja fast schon geehrt, antwortete er:
"Ach so ist das!"
"Das war kein Kompliment", entgegnete Grey säuerlich, doch ehe die beiden fortfahren konnten mit ihrem belanglosen Streit, ging Green dazwischen:
"Und noch was, Azuma. Dein Unterricht ist abgeschlossen." Azuma warf Yuuki und Firey einen verwirrten Blick zu, die diesen erwiderten und dann wieder zu Green zurück sahen, die sich von der Säule abfederte und zurück zu ihrem reich verzierten Stuhl schritt, wo sie sich zwar nicht hinsetzte, aber ihre Hand auf dessen verschnörkelten Lehne legte und die Antwort auf deren verwirrten Blicke gab:
"Da du ein Halbwächter bist, bist du in der Lage den Bannkreis zu überwinden und daher haben meine Familie und ich entschieden, dass du zusammen mit dem Offizier der Illusion, welcher auch ein Halbwächter ist, als Spion nach Henel ausgesandt wirst." Zuerst war die Antwort nur ein stummes Blinzeln, doch dann breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus und seine Augen begannen zu leuchten. Ganz im Gegenteil zu Firey, die Green bestürzt ansah, doch die Hikari wählte, sie erst einmal zu übersehen.
"Die näheren Informationen wirst du dann von Ukario-san erfahren."
"Ich werde Spion? Ej, det er da for fedt!" Erfreut über diese Neuigkeit schlug Azuma die Hände zusammen und setzte sich wieder hin, anscheinend mehr als froh über seine neue Aufgabe. Firey bemerkte Yuukis etwas besorgten Blick und konnte nichts anderes tun, als diesen zu erwidern. Doch auch Kaira sah nicht so begeistert darüber aus, wahrscheinlich weil sie sich wie die anderen fragte, ob Azuma wirklich für eine Aufgabe geeignet war, die Fingerspitzengefühl und Behutsamkeit verlangte; Eigenschaften, die Azuma nicht gerade sein Eigen nennen konnte.
Dies schien Kaira auch gerade sagen zu wollen, doch ihre Worte wurden unterbrochen von einem Geräusch, nein, eher einem Klang, der sie alle aufhorchen ließ und fast gleichzeitig sahen sie aus dem Fenster, von wo der Klang kam. Obwohl keiner von ihnen diesen Klang jemals gehört hatte, wussten sie alle sofort, was es zu bedeuten hatte.
Es waren die Glocken, die den Krieg einläuteten.
Das Schlagen der Glocken klang nicht heroisch wie das Blasen einer Kriegsfanfare: der eher simple Rhythmus der Glocken war gefüllt von einer melodischen Melancholie. Die Herzen der Wächter vereinten sich mit den Schlägen der Glocken, schienen im gleichen Takt zu schlagen und jeder Schlag, jeder Laut, jeder Klang, brachte das Herz zum Beben, um es langsam auseinander zu reißen.
Überall auf den Inseln unterbrachen sämtliche Wächter ihr Tun, ließen die Arbeit nieder, denn ein jeder hörte das Läuten der Glocken; selbst die Hikari im Jenseits, welche alle ebenfalls aufhorchten, als sie sie vernahmen. Tief im Herzen des Jenseits klappte auch Inceres sein Buch zu und hob mit traurigem Blick den Kopf; ein Gestus, den seine Tempelwächter ihm nachahmten.
Auch ein weiterer Wächter, weit entfernt von den Hikaris, weit von den Wächtern, irgendwo in der Menschenwelt, hörte das Läuten der Glocken, vernahm jeden einzelnen Schlag in sich, doch unterbrach sein Tun nicht; er schloss die Augen, während er seine Glöckchen für einen kurzen Moment an sich drückte, ehe er nur eines der drei von seiner schwarzen Kette löste.
Youma wusste, er hatte nicht viel Zeit. Er hatte nur eine Chance.
Aber er vertraute sich selbst und seinen Fähigkeiten. Es würde gelingen.
"Auf das dies das letzte Mal ist, dass die schrecklichen Glocken ertönen müssen!"
Im gleichen Moment, in dem Green eine Träne auf ihrer Wange spürte, drehte sie sich plötzlich herum und unbemerkt gelang es ihr, den Raum zu verlassen; alle ihre Elementarwächter waren zu fasziniert von dem traurigen Lied der Glocken, welches an Geschwindigkeit gewonnen hatte und langsam intensiver wurde, um zu bemerken, dass ihre Hikari den Raum verlassen hatte.
Mit schnellen Schritten ging, lief Green den Gang entlang: sie wusste nicht, was sie dazu bewegt hatte, den Raum zu verlassen oder was sie dazu brachte, ihre Ohren zuzuhalten, als könnte sie die Glocken aussperren. Doch es war unmöglich: der Klang der Glocken drang nicht durch ihre Ohren in ihr Innerstes: sie fanden ihren Weg durch ihr Herz... durch das Glöckchen.
Wie versteinert blieb Green stehen, nachdem sie mehrere Wächter hinter sich gelassen hatte, die alle nach draußen starrten, mit Tränen in den Augen, versteinert. Noch waren sie zu sehr gefesselt von dem Lied der Glocken, welches nun eher einem feurigen Bolero in dessen Finale ähnelte als einer melancholischen Serenade, doch wenn die Glocken verstummen würden, so würde ihnen bewusst werden, was die Glocken ihnen mitteilten: dass der achte Elementarkrieg bevor stand.
Green ließ die Hände von ihren Ohren sinken, denn erst da bemerkte sie, dass ihr Glöckchen zu den Schlägen der Glocken vibrierte. Mit zitternden Händen nahm die Hikari das Glöckchen in die Hand, doch ließ es gleich wieder fallen, als sie aus den Augenwinkeln eine Gruppe Wächter sah, die im Hof standen und allesamt Richtung Himmel sahen.
Nun mit langsamen Schritten, ging Green zu ihnen, die alle nicht bemerkt hatten, wie ihre Hikari sich zu ihnen gesellte, denn sie alle hatten ihr den Rücken zugekehrt. Zu sehr waren sie damit beschäftigt den Glocken zu lauschen, die sich nun zu einem leidenschaftlichen Höhepunkt empor schlängelten. Kaum dass sie dort zwischen den ihren stand, bemerkte sie auch, wohin sie allesamt sahen: zum Licht des Friedens, der versteinerten Statue der Hikari, die das immer leuchtende Licht in einer zärtlichen Umarmung an sich drückte.
Würde Green in der Lage sein, dieses Licht zu bewahren? Würde sie ebenfalls eine Hikari sein können, die ein Symbol des Friedens sein würde?
Kaum, dass sie dies dachte, wurde ihre Hand plötzlich genommen von einen kleinen Jungen mit orangenem Haupt. Seine blauen Augen waren glasig und der Händedruck geprägt von inniger Verzweiflung. Auch der Ton seiner Stimme, die im Schlagen der Glocken beinahe unterging, war flehend:
"Du wirst uns beschützen...oder? Mama und Papa werden nicht sterben, so wie Nee-sama... oder?" Green spürte ein Brennen in ihren Augen; ein leichtes, aufdrängendes Brennen, welches Tränen ankündigte. Doch statt dies zu erlauben, zwang sie sich zu einem Lächeln und im gleichen Moment, wo die Glocken zum letzten Mal schlugen und deren Klang wie ein Donnergrollen über sie hinwegfegte und langsam verklang, antwortete Green:
"Ich werde alles daran setzten."
Für 22 Minuten hatte die Zeit auf den verschiedenen Inseln der Wächter still gestanden. Niemand hatte gelernt, trainiert, gelesen oder gekocht; alle hatten ihre Arbeit niedergelegt und sich den Glocken hingegeben. Auf Sanctu Ele'saces waren viele Wächter hinaus gegangen, auf den Platz, von wo aus sie den Glockenturm hatten sehen können, wo die elf Glocken den neuen Krieg heraufbeschworen hatten. Als die Glocken verstummt waren, brach niemand in Panik aus, obwohl jeder Wächter, ob Kind, Tempelwächter oder Offizier wusste, was die Glocken ihnen mitgeteilt hatten. Es war eher ein stillschweigendes Einverständnis, welches sie nun alle vereinte.
Kaum nachdem die Glocken verstummt waren, war Green zurück in ihr Gemach gegangen, wo Silence bereits auf sie wartete. Itzumi war wohl noch zu benommen von den Glocken, denn eigentlich hätte sie hier sein müssen, um Green dabei zu helfen, sich umzuziehen. Doch da Green sowieso nicht so scharf auf ihre Hilfe war, hatte sie nicht allzu viel dagegen.
"Sie sind schön, nicht wahr?" Mit dieser Frage hieß Silence ihr Medium willkommen, welches sich erst einmal auf ihr Bett setzte. Sie war müde; sie hatte nur drei Stunden geschlafen und fühlte sich ebenfalls benommen.
"Ich nehme an, du meinst die Glocken?" Ihre Stimme spiegelte ihre Müdigkeit wieder, welche sie vorher noch so tapfer hatte verbergen können.
"Ich habe sie nun schon acht Mal gehört... und ich finde sie jedes Mal aufs Neue schön. Wusstest du, dass ihr Klang sogar ins Jenseits reicht?" Green wusste nicht, ob sie die Glocken als "schön" betiteln würde, aber mitreißend waren sie; nach wie vor spürte sie, wie ihr Körper bebte.
"Hast du etwas Neues aus Henel?" Green entschied, dass sie lieber das Thema wechseln wollte, was Silence zu irritieren schien, doch sie sprang darauf an:
"Kommt ganz drauf an, was du hören willst."
"Alles."
"Lerou hat gestern Nacht den Krieg angekündigt und im gleichen Atemzug bekannt gegeben, dass der Bannkreis kein Hindernis mehr sein wird. Wie das von statten gehen soll, hat er nicht weiter ausgeführt, aber glaub mir, das war seinen Zuhörern auch vollkommen egal. Sie haben ihn lieber abgeschossen." Green richtete sich wieder in ihrem Bett auf und sah Silence bestürzt an, als sie sie fragte, ob Lerou tot sei.
"Aber nein, es geht ihm ausgezeichnet. Seit gestern Nacht geht die Party ab und daher kann ich dir auch überhaupt nichts von irgendwelchen Kriegsplänen berichten. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Aber es gibt doch noch eine Sache, die sehr interessant ist... es scheint, als wäre das eine Eigenaktion von Lerou. Die Fürsten waren nicht integriert." Überrascht sah Green sie an, als sie antwortete:
"Eine Eigenaktion von einem Dämon, der wahrscheinlich sogar Hilfe dabei braucht, sich die Schuhe zuzumachen? Sag mal, ganz im Ernst: warum nehmen wir die Kriegserklärung überhaupt ernst, wenn sie wirklich nur aus seinem einfältigen Gehirn entstammt? Der Typ weiß doch nicht einmal wie ein Bannkreis aussieht, geschweige denn wie man ihn neutralisiert! Hättest du mir das vor der Kriegssitzung gesagt..."
"Ich habe es dir mit Absicht nicht gesagt, weil ich sehr wohl der Meinung bin, dass wir es ernst nehmen sollten. Ich sage es dir jetzt auch nicht, um dir zu sagen, dass die Kriegserklärung angezweifelt werden sollte - nein, ich sage es dir, weil ich mir sehr sicher bin, dass zur Abwechslung mal jemand anderes außer den Fürsten die Fäden in den Händen hält und Lerou manipuliert."
"Youma?" Silence sah kurz schweigend ins Nichts, bis sie zögernd antwortete:
"Das weiß ich nicht. Allerdings fällt es mir ein wenig schwer zu glauben, dass Youma so einfach an Lerou rankommt. Jedenfalls nicht ohne Hilfe und dieser Helfer ist es, der die Fäden in der Hand hält. Ich denke, es ist derjenige, den ich nur von hinten gesehen habe... wäre ich nur nicht so schnell weggegangen, dann hätte ich ihn sehen können..." Verärgert über sich selbst, seufzte sie auf, doch war noch nicht fertig:
"Es sieht allerdings so aus, als wären nicht alle Fürsten planlos gewesen. Die Horde Ri-Ils ist kampfbereit - als hätte er es irgendwie gespürt." Greens Augen verengten sich skeptisch und ebenso skeptisch sagte sie:
"Das ist doch kein Zufall."
"Natürlich ist es das nicht. Genauso wenig wie es kein Zufall ist, dass Lerous Nutte Nummer Eins aus Ri-Ils Sortiment stammt."
"Aber wenn er es vorher wusste, warum hat er das den anderen Fürsten nicht mitgeteilt?" Ein schelmisches Lächeln spielte um Silence' Lippen, als sie antwortete:
"Machtspiele zwischen den Fürsten sind ganz normal, Green. Vergiss nicht, sie sind nicht wie wir: sie arbeiten nicht zusammen, sie arbeiten gegeneinander." Damit wurde das Gespräch unfreiwillig beendet, denn Grey kam ins Zimmer, dicht gefolgt von Itzumi, die Greens Kleid trug. Auf dem ersten Blick erkannte Green, dass es wieder einmal eines dieser Kleider war, welche nicht zu denen gehörten, die sie am liebsten trug. Unbemerkt verzerrte Green das Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse und wollte gerade noch etwas zu Silence sagen, als sie bemerkte, dass sie bereits wieder verschwunden war und Green nun mit einer Kriegsrede alleine ließ.
Zwei Stunden später war Green geschmückt und dekoriert, das Kleid ohne jegliche Falte, unbeschmutzt strahlte das Weiß der Seide und passte perfekt zu dem der anderen Hikaris, welche ebenfalls anwesend waren - jedenfalls ein paar von ihnen. Hizashi war damit beschäftigt, angestrengt mit Ukario zu sprechen, Mary überschattete mit ihrer Schönheit mal wieder jede andere Frau und kontrollierte ihr Aussehen jede zweite Sekunde im Spiegelbild - man könnte meinen, es wäre keine Kriegsrede, sondern eine Schönheitsveranstaltung. Die erhabenen Drei waren ebenfalls zur Stelle: White hatte Green Mut zugesprochen, während Shaginai ihr immer wieder einbläute, dass sie es nicht wagen sollte, auch nur ein Wort falsch vorzulesen.
"Warum machst du es nicht gleich selbst?", fragte Green zickig wie immer, da sie gar nicht einsah, warum sie vor Shaginai klein beigeben sollte, nur weil er jetzt auch ihr Lehrmeister war.
"Weil es deine Aufgabe ist, Yogosu! Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, bist du die Lichterbin - auch wenn es noch so unglaublich erscheint. Also beweise, dass du wenigstens in der Lage bist, eine Kriegsrede vorzulesen!" Green erwiderte sein Temperament mit einem missgestimmten Blick und nahm ihm ruppig die Rede aus der Hand, die in einer Schatulle aus Ahornholz aufbewahrt wurde, unter dem verzierten, goldenen Wappen der Hikari. Aus den Augenwinkeln bemerkte Green, dass Ukario sie bereits verlassen hatte und dass sie allein mit ihrer Familie war, hinter der aus Säulen gebildeten Absperrung, die sie von der Menge trennte. Sie sah die Rücken ihrer Elementarwächter, die genau vor den Säulen bereits ihre Plätze eingenommen hatten. Sie standen alle gleich: die Arme hinter dem Rücken und mit geraden Rücken, ja sogar Azuma. Sie lächelte ein wenig, als sie bemerkte, dass Firey nicht so steif wie die anderen stand, sondern ein wenig von einem Bein zum anderen schwankte.
"Green, es ist soweit." Die Angesprochene schreckte hoch, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte und schon sah sie ihr aufmunterndes Lächeln.
"Wir werden nun unsere Plätze einnehmen und du weißt..."
"33 Sekunden warten, ehe ich es ebenfalls tue. Ich weiß", ergänzte Green mit einem Lächeln: jedenfalls versuchte sie zu lächeln, doch sie hatte das Gefühl, dass es doch recht schief wurde. Während Shaginai ihr einen drohenden Blick zuwarf, küsste White die Stirn ihrer Tochter und folgte den anderen Hikaris hinaus hinter der Absperrung. Man könnte erwarten, dass sie von tosendem Empfang begrüßt wurden, doch das war bei den Wächtern nicht üblich. Sie zeigten still ihren Respekt und ihre tiefe Ehrfurcht und obwohl Green die Wächter nicht sehen konnte, war sie sich sicher, dass sie ihren Kopf tief geneigt hielten, als die Hikaris an die Öffentlichkeit traten.
Während Green die Zeit zählte, überlegte sie abstruse Dinge, so wie die Frage, wie sie die Schatulle halten sollte, wenn sie rausging: sollte sie sie schultern, in einer Hand nehmen, mit beiden Händen tragen? Und wie öffnete sie sie überhaupt? Musste man das Siegel brechen, hatte es eine andere Öffnungsvorrichtung?
"32...33..." Green schluckte schwer, als sie die letzte Zahl sagte und setzte sich in Bewegung, die Schatulle dann in der rechten Hand. Ihre Beine fühlten sich schwer an und eigentlich müsste sie bereits zu spät sein, denn sie ging ziemlich langsam. Dennoch hatte sie die Absperrung schnell, zu schnell wie sie fand, hinter sich gelassen und obwohl sie wusste, dass sie mit erhobenem Kopf geradeaus sehen musste, sah sie doch zu ihren Elementarwächtern, in der Hoffnung, ein aufmunternden Blick von irgendwem zu erhalten. Doch anders als sie, hielten sie sich an die Vorschriften und sahen geradeaus; wozu Shaginai sie auch schnell zwang, denn sein finsterer Blick war nicht schwer zu deuten:
"Sieh geradeaus oder ich werde dich heute Abend so hart dran nehmen, dass dir Hören und Sehen vergeht!"
Okay, okay, dachte Green und wandte ihren Blick dann doch nach vorne, jedoch nicht ohne noch einmal tief zu schlucken. Sie legte die Rede auf das Rednerpult und nahm sich einige Sekunden, um sich einen Überblick über die Menge zu verschaffen.
Wenn es nicht sogar sämtliche Wächter ihres Reiches waren, dann war es jedenfalls der Großteil, der dort, zirka 40 Meter unter ihr versammelt, in Reih und Glied, nach deren Elementen geordnet, stand und alle mit erwartungsvollen Augen zu ihr empor sahen. Überwältigt von dieser Menge wollte Green am liebsten rückwärts taumeln, sich im Kopf die Frage stellend, warum sie überhaupt so nervös war. Sie hatte doch bereits einmal eine solche Rede vorgelesen und damals waren es nicht weniger Wächter gewesen. Vielleicht war es, weil ihr nun schrecklich bewusst geworden war, dass sie für all diese Wächter die Verantwortung trug.
Mit nervösen Fingern fummelte sie an der Rolle herum und bemerkte auch, wie das Wappen sofort nachgab und aufbrach. Sie hielte die Luft an, als sie die Schriftrolle heraus zog und ebenso atemlos rollte sie diese auch aus. Die Luft bekam sie erst wieder, als sie diese tief einsog, um daraufhin endlich die Rede zu halten. Ihre Stimme begann ein wenig zittrig die Begrüßungsfloskel vorzulesen, doch ließ die Nervosität schnell hinter sich. Shaginai und auch White atmeten erleichtert auf, als sie hörten, dass Green die Rede vorlas wie alle anderen Hikaris es vor ihr ebenfalls getan hatten. Keine Probleme...
Bis die Einleitung abgeschlossen war.
Wie man es ihr beigebracht hatte, hielt Green eine dramatische Pause; eine dramatische Pause, wo sie kurz den Text der Rede überflog, ehe sie weiter vorlesen wollte.
Dies hätte sie nicht tun sollen, denn der Inhalt gefiel ihr nicht. Er war nicht das, was sie auf dem Herzen hatte, nicht das, was sie ihren Wächtern mitteilen wollte. Green wollte nicht davon reden, dass sie ihren Elementen vertrauen sollten, dass deren Elemente ihnen Kraft und Glauben geben würden und dass sie alle vom Licht, von Hikari-kami-sama, beschützt wurden. Nein, dachte Green; die Elemente konnten auch wann anders in den Himmel gelobt werden!
Entschlossen legte sie die Rede zurück auf das Pult und sofort kam die Reaktion. Sie sah wie überrascht die Wächter über diese Aktion waren, ja fast schon entsetzt. Sie spürte Shaginais Blick in ihrem Rücken, doch tun konnte er nichts, wenn er keinen Skandal heraufbeschwören wollte; ihm blieb nichts anderes übrig, als sie mit seinen Blick zu töten. Green malte sich die geschockten Gesichter ihrer Familienmitglieder aus und fühlte sich gut.
Ja, es fühlte sich sogar verdammt gut an.
Und von diesem Glücksgefühl beschwingt öffnete Green lächelnd den Mund und fing ihre eigene Rede an:
"Wir alle haben vor ein paar Stunden die Glocken gehört, waren vollkommen von ihnen fasziniert und von deren schönen Klang eingenommen, um erst danach begreifen zu können, was sie uns mitteilen wollten; dass ein neuer Krieg bevorsteht, dass wir alle wieder einmal unser Leben riskieren müssen, um den achten Elementarkrieg zu überleben.
Während auch ich von deren Klang eingenommen war, sprach mich ein kleiner Junge an. Ich weiß nicht, wer er war oder was sein Element war, doch seine Frage berührte mich tief: er fragte mich, ob ich seine Eltern beschützen würde.
Natürlich hätte ich am liebsten geantwortet, dass ich es selbstverständlich würde tun können; ja, ich würde es versprechen, ich würde es auf mein Glöckchen schwören, wenn ich es könnte! Doch wir alle wissen, dass es gelogen wäre. Bald werden wir auf dem Schlachtfeld stehen, nicht neben unserer Familie, unseren Freunden, sondern neben jemanden, der zu unserem Element, zu unseren Fähigkeiten passt; zum Wohle der Effektivität. Vielleicht sogar neben jemandem, den wir nicht kennen: doch auch obwohl wir sie nicht kennen, haben sie Personen, die sie lieben, oder sie sind geliebt, sind wichtig für andere." Wieder schwieg Green kurz, einen Moment, den sie nutzte, um ihren Blick von der Menge abzuwenden und über die Schulter zu sehen. Shaginai war bemüht seine Wut zu unterdrücken, was ihm nicht sehr gut gelang und Green beinahe zu einem Grinsen brachte. Ihre Elementarwächter waren verblüfft, bis auf Firey und Grey, der so selig lächelte, als hätte er gehofft, dass Green genau dies tun würde. Auch White lächelte; warm, gerührt von Greens Worten.
Green lächelte, ja sie strahlte fast schon, als sie sagte:
"Auch ich habe Wächter, die ich liebe, für die ich mein Leben riskieren würde, so egoistisch das auch sein mag; Wächter, die mir wichtig sind und für die es sich lohnt zu kämpfen, für die es sich lohnt, selbst durch die dunkelste Dunkelheit zu wandeln, denn die, die wir lieben, sind das Licht, unser aller Licht.
Diese Gefühle teilen wir; wir alle haben solch ein Gefühl in uns. Dies ist das Band, was uns verbindet; denn wir alle haben etwas, für das es sich lohnt zu kämpfen! Daher fordere ich euch auf, nicht für mich, nicht für uns Hikari die Dämonen zu töten; nicht weil sie unsere Feinde sind, sondern um das zu beschützen, was ihr liebt! Denn genau das werde auch ich tun! Ich kann nicht versprechen, dass ich jeden beschützen kann, der mir oder anderen wichtig ist, aber ich werde es versuchen! Ich werde alles daran setzen, dass Tränen nicht umsonst fließen werden und sollten meine Hände noch so sehr in Blut getaucht werden, so werde ich kämpfen - ich werde bis zu meinen letzten Atemzug kämpfen!"
Dies waren Greens letzte Worte; Worte, die auf dem Platz wiederhalten und noch eine ganze Weile in der Luft hängen blieben. Die Hikari selbst schwieg, genau wie alle anderen Anwesenden. Niemand sagte ein Wort, niemand tuschelte mit seinen Nachbarn. Alle Blicke lagen auf Green, welche sich am Pult abstützte. Sekunden vergingen; es schienen Minuten zu sein, bis sich hinter ihr etwas tat. Ein Geräusch halte durch die Stille: das Geräusch von Händeklatschen.
Ehe Green sich überrascht herumdrehen konnte, um zu sehen, wer von den Elementarwächtern oder den Hikaris mit dieser menschlichen Geste angefangen hatte, hatte das Händeklatschen sich bereits ausgebreitet wie ein Sturmfeuer. Plötzlich schienen sämtliche Wächter herauszufinden, wie man seine Hände dazu benutzte, einen tosenden Beifall herbeizurufen.
Zuerst starrte Green die Wächter hinter ihr an, bis sie sich mit glasigen Augen von ihnen abwandte und in die Menge hinabsah, vollkommen verblüfft darüber, dass sie so etwas wie Beifall bekam. Sie hatte es nicht erwartet; sie hatte Abneigung erwartet und trotzdem hatte sie gewählt es zu sagen, denn es hatte auf ihrem Herzen gelastet und danach verlangt ausgesprochen zu werden - dass sie nun so einen positiven Respons erhielt, rührte sie, trieb ihr Tränen in die Augen.
Zum ersten Mal war sie trotz ihrer Unreinheit, ihres unnormalen Charakters, eine von ihnen.
Ignes lebte mit seiner Frau Esmelia, die ebenfalls eine Wasserwächterin war, zusammen mit deren Sohn Pelagius, dem Offizier des Wassers, und einer Tempelwächterin auf Sanctu Ele'saces in einem großen Haus direkt an dem großen See. Durch die Glasscheiben des Wintergartens hatte man jeden Morgen einen wunderschönen Ausblick auf die glitzernde Oberfläche des Sees, wenn die Sonne aufging. Wie immer saßen sie in dem geräumigen Wintergarten zum Frühstück, von dessen gläserner Decke Kristallbehälter mit Wasser herunterhingen, welche Spiegelungen an die Wand und auf den gedeckten Tisch warfen - fast wie in einem Aquarium, nur dass in den vielen, kleinen Behältern keine Fische herumschwammen: diese befanden sich in deren Stube, wo man sich kaum satt sehen konnte an der Farbpracht der vielen dort lebenden Fische. Das Haus der Familie war zwar nicht besonders groß, aber mit Liebe zum Detail und zu ihrem Element ausgestattet und obwohl es das komplette Gegenteil von ihrem eigenen Element war, fühlte sich Firey in dem Zuhause ihres Lehrers stets wohl. Seine Frau war unglaublich liebenswert und unheimlich hübsch - es war ganz offensichtlich, woher ihr Sohn sein Aussehen hatte, welchen Azuma schon öfter durch den Kakao gezogen hatte, dabei natürlich keine Rücksicht darauf nehmend, dass Pelagius ein Offizier war und ihm somit ein ziemlich hoher Rang innewohnte. Für Azuma war das Bild von Pelagius bereits am ersten Tag geprägt worden, an dem er ihn gesehen hatte, denn der Offizier des Wassers war unglaublich gutaussehend, aber alles andere als männlich. In der Tat hatte Firey ihn sogar auf den ersten Blick für eine Frau gehalten, denn seine langen, seidigen wasserstoffblonden Haare, seine langen Wimpern und sein ständiger Blick in den Spiegel, ließen ihn schon recht unmännlich erscheinen und Firey zweifelte nicht daran, dass er genau wie gewisse Frauen kreischen würde, wenn sein Fingernagel abbrechen sollte. Azuma und Pelagius mochten sich nicht besonders, aber Firey mochte ihn, denn wenn er nicht gerade in sein Spiegelbild verliebt war, war er genauso nett und freundlich wie seine Mutter, welche Firey just in diesem Moment fragte, ob sie nicht noch ein Glas Zitronensaft haben wollte, welchen sie extra für sie gepresst hatte.
"Danke, gerne. Aber du hättest das nicht extra für mich tun müssen..."
"Ach, ich hatte auch einen für mich Pelagius-kun gemacht, bevor wir schwimmen gegangen sind, nicht wahr, mein Schatz?" Esmelia lächelte ihren Sohn ihr gegenüber mit dem strahlenden Lächeln einer stolzen Mutter an, welches Pelagius erwiderte, als er antwortete:
"Wahrlich, Mutter - und wie ich sehe zur rechten Zeit: es ziehen Regenwolken auf." Wie vom Blitz getroffen sprang Esmelia auf, als sie bemerkte, dass ihr Sohn Recht hatte und verkündete, dass sie dann hastig die Wäsche hereinholen würde und schon stürmte sie mit ihrer Tempelwächterin hinaus in den wohl gepflegten Garten, wo deren Wäsche im Wind flackerte. Kaum dass Esmelia hinausgerannt war, richtete sich Azuma nun grinsend an Pelagius, welcher neben ihm saß und versuchte, das Grinsen seines Sitznachbarn zu ignorieren. Die Worte Azumas konnte er allerdings nicht so gekonnt ignorieren:
"Und? Wie läuft's mit der Partnersuche, Pelagius-kuuuun?"
"Ich bitte dich auf höflichste Weise darum, mich nicht so zu nennen. Dieses Suffix steht einzig und allein meiner Mutter zu." Azumas Grinsen wurde breiter als er antwortete:
"Gut, dann nenne ich dich eben "Bøsse", das ist sowieso viel passender, ahahaha!" Nun wandte sich Pelagius mit verengten Augen an den grinsenden Erdwächter und entgegnete schneidend:
"Möchte ich überhaupt in Erfahrung bringen, was dieses Wort bedeutet?"
"Azuma-sama hat Recht, Pelagius", mischte sich nun auch Ignes in das Gespräch der beiden jungen Männer ein, was das Grinsen Azumas noch breiter machte und welches Firey sagte, dass sie, sobald sie wieder in ihrem Zimmer im Tempel war, das Wort im Wörterbuch nachschlagen musste, denn sie verstand den Grund weshalb er so grinste nicht, besonders als Ignes ihm Recht gab. Ignes ignorierte das Grinsen Azumas und wandte sich tadelnd an seinen Sohn:
"Anstatt immer nur in deinen Spiegel zu blicken und in dich selbst verliebt zu sein, sollest du lieber nach einer Partnerin Ausschau halten. Ich beginne mir Sorgen zu machen, mein Sohn." Es war ein altbekanntes Thema, denn Ignes erwähnte oft, wie unlieb es ihm war, dass sein einziger Sohn nach wie vor keine Frau besaß, obwohl - wie er immer wieder gerne betonte - Pelagius bereits 25 Jahre alt war und somit bereits Kinder haben könnte, wenn er denn nicht so hohe Ansprüche an das andere Geschlecht stellte.
"Ich weiß, Vater, ich weiß." Wieder einmal begann Pelagius auszuführen, dass keine Frau hübsch genug war und somit nicht seinem Geschmack entsprach, wobei Firey bemerkte, dass Yuuki neben ihr ziemlich ruhig war: bereits den gesamten Morgen hatte er sich außerordentlich bedeckt gehalten. Er stocherte nur lustlos in seinem Essen herum und bemerkte daher auch nicht, dass Firey ihn besorgt musterte.
"Vielleicht wäre Firey-sama eine geeignete Wahl für dich, Pelagius." Als Firey ihren eigenen Namen hörte, schreckte sie auf und unterbrach Pelagius hastig, denn dieser hatte bereits stirnrunzelnd den Mund geöffnet und Firey verspürte nicht die geringste Lust danach, von einem von Schönheit besessenen Wächter kritisiert zu werden:
"Also, ich denke, das ist keine so gute Idee..." Ignes schien das Problem nicht zu sehen und antwortete sachlich:
"Aber Firey-sama, Sie sind bereits 16 und Sie wollen doch nicht wie mein Sohn mit 25 noch keine Ehe eingegangen sein."
"Ich betone immer wieder gerne, dass die anderen Offiziere ebenfalls noch nicht alle verheiratet sind, Vater", warf Pelagius als Argument ein, doch wurde überhört, denn nun mischte sich Azuma wütend in das Gespräch:
"Und ICH betone, dass Firey MIR gehört!"
"Ich gehöre keinem, das möchte ich gerne betonen." Ignes räusperte sich um die Führung des Gespräches wieder an sich zu reißen; das erste Räuspern wurde von Azuma überhört, der lauthals beteuerte, dass er der bessere Partner für Firey wäre, doch das zweite Räuspern, begleitet von einem finsteren Blick, brachte Azuma zum Schweigen und wieder richtete Ignes das Wort an seinen Sohn, der das Thema ganz offensichtlich leid war:
"Warum sprichst du nicht öfter mit Mizu-Azura-sama? Ich denke, ihr zwei würdet gut zusammen passen und es würde unser Element stärken." Pelagius schwieg; anscheinend wusste er nicht, was er darauf erwidern sollte, denn er öffnete öfter den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Da Pelagius nicht antwortete, tat Azuma es:
"Wer war noch mal Azura?" Alle Augenpaare lagen mit einem Mal auf Azuma, der die plötzliche negative Aufmerksamkeit nicht verstand.
"Mizu-Azura-sama ist die Elementarwächterin des Wassers, Azuma-sama", erwiderte Ignes schneidend und Firey fügte zweifelnd hinzu:
"Sie sitzt zwei Mal am Tag dir gegenüber." Nach wie vor nicht verstehend was so schlimm daran war, dass Azuma den Namen einer Mitwächterin nicht wusste, erwiderte er:
"Aaaach, die! Die mit den langen, blauen Haaren, ja, jetzt weiß ich, von wem ihr sprecht." Azuma lachte und meinte, er wäre nicht so gut mit Namen, wofür keiner der Anwesenden Verständnis hatte - immerhin klangen sein Name und der von Azura doch ziemlich ähnlich. Ignes himmelte mit den Augen und fragte sich wieder einmal, wie der nächste Krieg verlaufen würde, wenn der Elementarwächter der Erde nicht einmal den Namen einer Mitelementarwächterin kannte.
Kaum dass er sich dazu beschloss nicht allzu pessimistisch zu sein, öffnete sich plötzlich die Tür zum Wintergarten. Ein starker Wind und einige Regentropfen begleiteten das Eintreten von Esmelia und deren Tempelwächterin, doch dies war nicht das, was ihn dazu brachte, sofort aufzustehen. Auch die anderen drei Wächter hörten mit dem Essen auf und wandten sich herum, um ebenfalls das ernste, aber auch leicht nervöse Gesicht Esmelias zu erblicken, welche den Korb mit der Wäsche auf dem Boden abstellte. Während sie dies tat, bemerkte Firey, dass sich Yuuki neben ihr nervös an seinem Stuhl festhielt, als wüsste er, was Esmelia sagen wollte.
Die Wasserwächterin atmete tief durch und sagte genau das, was Yuuki befürchtet hatte:
"Ukario-samas Tempelwächterin ist eben zu mir gekommen, um dir das hier zu geben."
Saiyon lebte zusammen mit seinem großen Bruder Shitaya, dessen Ehefrau Säil und deren gemeinsamer kleiner Tochter Shia in einem Haus auf Sanctu Ele'saces, in der Nähe der Trainingsarena, in einer Straße, wo sich alle Einwohner ähnelten - jedenfalls vom Familienaufbau her: ein Elternpaar, zwei bis drei Kinder und dazu einen unterstützenden Tempelwächter. Alleinstehende Wächter so wie Saiyon lebten normalerweise nicht in solch einem hübschen, kleinen, heimischen Haus und wenn er vor einem Jahr in den Tempel gezogen wäre, hätte ihm auch kein eigenes Zimmer zugestanden, denn nur allein stehende Elementarwächter besaßen ein eigenes Zimmer. Wäre er in den Tempel gezogen, hätte er mit bis zu fünf Wächter in einem Zimmer schlafen müssen - so lange, bis er sich eine Frau gefunden hatte.
Natürlich war Saiyon heiß darauf gewesen, wie so viele andere Wächter vor einem Jahr in den Tempel zu ziehen und hatte deshalb versucht, seinen Bruder zum Umzug zu überreden, doch Shitaya war wenig begeistert von der Idee gewesen, mit seiner Familie in den Tempel zu ziehen; immerhin war er auf Sanctu Ele'saces groß geworden und wollte seine Heimat auch nicht verlassen, da er wollte, dass seine Tochter und alle darauffolgenden Kinder hier aufwachsen sollten. Doch nur wenn Shitaya zusammen mit seiner Familie ebenfalls in den Tempel gezogen wäre, hätte Saiyon das Fünferzimmer umgehen können, denn er hätte so in deren Wohnung leben können. Da er viel Wert auf seine Privatsphäre legte, war Saiyon deshalb auf Sanctu Ele'saces geblieben, wo er nun so lange im Haus seines Bruders leben würde, bis...
Saiyon schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Viel zu oft verlor er sich in seinen Tagträumen von einer utopischen Familie zusammen mit Green. Oder davon Seite an Seite mit ihr zu kämpfen oder einfach davon, mit ihr zu reden... sie wiederzusehen würde ihm schon genügen.
Er lag mit dem Rücken auf seinem Bett, die Augen auf die Deckenmalerei gerichtet, ohne sie wirklich zu sehen. Seine ultramarinen Haare breiteten sich unter seinem Kopf aus, da sein Zopfband, welches seine Haare normalerweise bändigte, in einer kleinen Nische in der Wand lag, wo auch eine magische Lampe befestigt war, doch entzündet war sie nicht. Das eher kleine Zimmer lag im Halbdunkeln, denn auch das große Licht war nicht eingeschaltet und ein leichter Vorhang verdeckte das große Fenster, wodurch das Licht normalerweise in sein Zimmer fiel und Muster auf den Boden malte. Er hörte den Regen gegen das Fenster trommeln und sein Element sagte ihm, dass starker Wind herrschte. Ein normaler Herbstschauer, welcher den eigentlich schönen Morgen von einem Moment auf den anderen verdunkelt hatte.
Es war sieben Uhr morgens und wäre Saiyon nicht vollkommen in seinen Gedanken versunken, so hätte er sich wohl gewundert, warum ihn Shitaya noch nicht zum Training gerufen hatte, welches eigentlich vor einer Stunde hätte beginnen müssen, so wie sie es jeden Morgen taten, obwohl es eigentlich ihr einziger freier Tag in der Woche war. Wie so oft hatte er nicht gut geschlafen, weil er wieder darüber nachgedacht hatte, was vor einem Jahr geschehen war. Es war bereits mehr als ein Jahr her... und immer noch hatte er keine Klarheit darüber gefunden, was in dieser Nacht wirklich geschehen war. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt geschehen war: war Green wirklich vom Balkon herunter gesprungen? War das gleichgültige Gesicht Greys real und hatte er Saiyon wahrlich daran gehindert, seiner Hikari zu Hilfe zu eilen? Und... was noch viel wichtiger war für Saiyon: war der Dämon, gegen den Saiyon seine Waffe erhoben hatte, wirklich der gleiche Dämon, den er damals in Tokio getroffen hatte, zusammen mit Green? Aber warum hatte sie ihn angelogen, als sie gesagt hatte, dass er tot war? Warum sollte sie überhaupt? Und warum hatte er sie angegriffen? Warum hatte er ihr das angetan? Hatte er sie nicht geliebt, so wie Saiyon Green liebte?
So viele Fragen und diese waren nur ein Bruchteil davon. Er konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob das alles überhaupt passiert war: am darauffolgenden Morgen war er in seinem Bett aufgewacht und hatte keinerlei Verletzungen gehabt oder sonst irgendwelche Spuren, die von dieser Nacht zeugten. Green hatte er seitdem nicht mehr unter vier Augen gesprochen und selbst wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, so hätte er einen solchen Moment wohl nicht genutzt, um Klarheit zu erlangen. Er konnte sie unmöglich darauf ansprechen... selbst wenn alles wahr war. Fakt jedoch war, dass Saiyon nichts mehr über den Halbdämonen hörte - außer die vielen Gerüchte über Green und ihre fragwürdige Beziehung zu den beiden Halbdämonen, welche Saiyon nicht glaubte, genauso wenig wie alle anderen Gerüchte, die im Wächtertum kursierten. Green hatte man nicht mehr zusammen mit den beiden gesehen und es kam auch nichts dabei raus, als Saiyon Shitaya darum bat, im Archiv nach deren Daten zu sehen, vorneheran natürlich nach Blues Daten, da Saiyon sich herzlich wenig für Silver interessierte.
Fakt war jedoch, dass Green seit einem Jahr offiziell nicht mehr vergeben war. Darüber hinaus würde das auch erklären, warum Green sich so verändert hatte... warum sie so traurig aussah, obwohl es niemand zu bemerken schien. Selbst wenn der Halbdämon, den sie mit "Gary" angesprochen hatte, nicht tot war, dann war er jedenfalls nicht mehr ein Teil ihres Lebens; ihres jetzigen Lebens.
Plötzlich flutete Licht aus dem Gang herein und Saiyon blinzelte erschrocken über diese unerwartete Störung. Dennoch saß er sofort kerzengerade in seinem Bett, seinen Bruder anblickend, der in der Tür stand. Da das Licht hinter ihm sein Gesicht verdunkelte, konnte Saiyon nicht sehen, wie ernst Shitaya aussah, daher nahm er auch einfach nur an, dass er das Training verschlafen hatte, als sein Bruder ihm sagte, dass er sich sofort anziehen sollte, um zu Ukario zu gelangen. Saiyon hatte bereits das Oberteil über seinen Kopf gezogen und seine Trainingsuniform in der Hand, als Shitaya ihn davon abhielt:
"Nicht deine Trainingsuniform, sondern deine Offiziersuniform." Mit diesen Worten trat Shitaya ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich, womit sein ernster Gesichtsausdruck nun deutlich zu erkennen war und sofort verstand Saiyon, dass die Situation eine andere war. Mit den Armen über der Brust verschränkt sagte Shitaya:
"Wir Offiziere wurden zu Ukario-sama gerufen. Über den Grund kann ich nur Vermutungen anstellen." Saiyon nickte; er verstand was er meinte und innerhalb von wenigen Momenten hatte er sich seine Uniform angezogen und die beiden Brüder brachen auf, nachdem Shitaya seiner Frau und seiner Tochter noch einen Abschiedskuss gegeben hatte, welche ihm besorgt hinterher sahen, als er das Haus verließ.
Da teleportieren auf den verschiedenen Inseln nicht möglich war, mussten die beiden Brüder die Beine in die Hand nehmen und durch den Regen laufen, der nicht nachgelassen hatte, sondern ununterbrochen auf die verlassenen Straßen Sanctu Ele'saces herab prasselte.
"Meinst du wirklich, dass es das ist, was du denkst?", fragte Saiyon, als sie deren Straße hinter sich gelassen hatten und nun auf der Hauptstraße rannten, wo das Geräusch ihrer Stiefel sich mit dem Regen vereinte.
"Ich nehme es stark an. Seit einem Jahr bereiten wir uns darauf vor, es war also nur eine Frage der Zeit. Ich hatte gehofft, ich könnte meiner kleinen Shia noch ein wenig länger ein guter Vater sein, aber so wie es aussieht, werde ich wohl bald mehr Zeit mit Waffen und Computern verbringen als mit ihr." Er sagte dies mit einem Grinsen, doch Saiyon bemerkte sofort, dass dies aufgesetzt war. Daher wählte er, so zu tun, als hätte er die Unechtheit des Grinsens es nicht bemerkt.
Sie rannten über die Brücke, vorbei an den erhobenen Waffen der alten säumenden Wächterskulpturen, die allesamt ernst in den Himmel sahen; der Regen verlieh ihnen den Ausdruck, als würden sie das Schicksal beweinen... Saiyon schüttelte den Gedanken ab genauso wie die Regentropfen, als sie endlich in die warme Eingangshalle der Hauptzentrale traten. Da es verboten war, in den Gängen laut zu sprechen oder zu laufen, herrschte eine bedrückende Ruhe in den alten Korridoren. Der Windwächter nutzte die Gelegenheit, um seine Haare auszuwringen und sie wieder zusammen zu binden, während sie die große Haupttreppe hinauf gingen, einige Flecke hinterlassend, da sie nach wie vor nass waren vom Regen. Auf ihrem Weg zu Ukarios Büro kreuzten sie einige ihrer Wächterkollegen, welche sie höflich begrüßten. Alles war wie immer. Wenn Shitaya wirklich Recht hatte, dann war noch nichts durchgesickert.
An der Tür ihres Vorgesetzen angekommen, klopften sie an und bekamen auch sofort die Antwort, dass sie herein treten könnten. Sofort war ihnen klar, dass sie wohl nicht schnell genug gerannt waren, denn die anderen Offiziere waren bereits versammelt. Keiner der Offiziere sagte ein Wort zur Begrüßung, sie nickten ihnen nur zu in einem vertraulichen Gestus; alle außer Daichi, der noch nicht zum eingespielten Team gehörte und daher war sein Begrüßungsgestus ein wenig verkrampfter und schüchterner. Zwar waren Saiyon und er etwa zeitgleich im Team aufgenommen worden, aber Saiyon hatte die anderen Mitglieder gekannt, seitdem Shitaya deren Oberhaupt geworden war - und diesen Posten hielt er schon lange. Genauer gesagt seit seinem 16ten Geburtstag und da er erst vor kurzem 27 geworden war, war er nun 10 Jahre lang deren Anführer gewesen und wurde nicht zu Unrecht eine der größten Hoffnungen des Wächtertums genannt und wenn der Krieg nun wirklich kommen würde, würde er eine der Hauptzielscheiben der Dämonen sein: ein perfekter Stratege, ein ausgefeilter Kämpfer, der sein Element unter Kontrolle hatte, seine Waffe immer entschlossen in seiner Hand; entschlossen, zu töten, zu beschützen und zu bewahren. Immerzu war er hilfsbereit und zuvorkommend, geehrt von seinen Kameraden, geliebt von Säil und seiner Tochter, die bald stolz darauf sein würde, ihn als ihren Vater zu haben und die Hikaris segneten ihn. Saiyon hatte immer zu denen gehört, die ihn sowohl bewundert, als auch Eifersucht verspürt hatten. Es war für einen kleinen Bruder nicht leicht, aus einem so enormen Schatten herauszutreten und ebenfalls zu strahlen.
Doch seitdem er selbst zu dem Team seines Bruders gehörte, war seine Eifersucht verblasst und schnell war er von den anderen Offizieren aufgenommen worden, als wäre er seit jeher ein Mitglied.
Wie immer nahm Shitaya den Platz neben dem Offizier der Zeit, Cebir, und dem Offizier des Wassers, Pelagius, ein, während Saiyon sich neben Daichi stellte, wo ihm sofort auffiel, wie nervös das jüngste Teammitglied war; er zitterte am ganzen Körper. Doch es gelang ihm nicht, irgendetwas Tröstendes zu sagen, denn Ukario, der anders als die Offiziere nicht aufrecht stand, sondern hinter seinem aufgeräumten Schreibtisch in seinem Sessel saß, hatte bereits das Wort ergriffen:
"Ich grüße euch und wünsche einen guten Morgen." Einstimmig wurde Ukario dasselbe gewünscht und sofort fuhr er fort:
"Ich habe euch rufen lassen, da ich vor 26 Minuten die neueste Mitteilung aus dem Jenseits erfahren habe, aus dem Munde unserer Hikari-sama, die zusammen mit Kaze-sama hier gewesen ist, um mir mitzuteilen, dass die Dämonen uns den Krieg erklärt haben." Er sagte dies so simpel und geradeaus, als hätte er soeben die Lösung einer einfachen Gleichung dargelegt. Der einzige, der nicht mit Schweigen darauf antwortete, war Daichi, der aufkeuchte, sich aber kurz darauf auf die Unterlippe biss, um weitere Gefühlsausbrüche zu unterdrücken. Ukario fuhr ruhig und sachlich fort:
"Aus der offiziellen Kriegserklärung war zu vernehmen, dass sie uns in 44 Tagen oder in 33 Tagen angreifen werden; anders formuliert beginnt die achte Generation der Elementarkriege frühestens am 26. September 2007, menschliche Zeitrechnung. Unsere Hikari-sama wird dies heute Abend um 18 Uhr bekannt geben und sobald ihr mein Büro verlässt, werden die Glocken geläutet werden und jeder Wächter wird wissen, dass es soweit ist." Er faltete die Hände ineinander und schien sie alle gleichzeitig anzusehen, während sich hinter ihm ein Bildschirm aus Pixel zusammen baute.
"Von der Kriegsstrategie habe ich bis zum jetzigen Zeitpunkt nur Entwürfe erhalten, doch es steht bereits fest, welche Posten ihr zu Beginn des Krieges einnehmen werdet..." Der Bildschirm hinter ihm nahm Gestalt an und die Offiziere sahen ihre eigenen Aktenbilder samt Wappen zusammen mit den Daten, wo sie stationiert werden würden. Sobald Saiyon seinen Namen las, drückte er sich in Gedanken selbst die Daumen, dass er in das gleiche Bataillon wie Green kommen würde, doch es kam anders:
- Daichi Shizen Ling (Offizier der Natur, Rang Zwei), Kaira Toki Kitayima (Elementarwächterin der Zeit, Rang Eins): Perassion.
- Mizu Karas Pelagius (Offizier des Wassers, Rang Eins), Hinako Hii Minazaii (Elementarwächterin des Feuers, Rang Drei): Tetratron.
- Minare Hogo Asim (Offizier des Schutzes, Rang Eins), Azuma Tsuchi Hansen (Elementarwächter der Erde, Rang Eins): Zeranion.
- Kaze Docere Saiyon (Offizier des Windes, Rang Eins), Ilang Shizen Ling (Elementarwächter der Natur, Rang Eins): Rallasion.
- Toki Cebir Kitayima (Offizier der Zeit, Rang Eins), Azura Kikou Asuka (Elementarwächterin des Wassers, Rang Zwei): Kassaion.
- Gensou Magnus Christophersen (Offizier der Illusion, Rang Eins), Yuuki Gensou Yoshikawa (Elementarwächter der Illusion, Rang Zwei): Lezallion.
- Kikou Docere Shitaya (Offizier des Klimas, Rang Eins), Kaze Atatakasa Hikari Ikikaeraseru Shinsetsu Grey (Elementarwächter des Windes, Rang Eins) und Kurai Yogosu Hikari Green (Elementarwächterin des Lichtes, Rang Eins): Elyssion.
Firey folgte dieser Diskussion nur mit halbem Ohr. Sie war damit beschäftigt, ihre Furcht vor den kommenden Krieg so tief wie möglich in sich zu vergraben. Um dies so effektiv wie möglich zu gestalten, dachte sie über die verschiedenen Bataillone nach, über welche sie dank des Unterrichtes von Ignes bestens Bescheid wusste.
Die Namen der Bataillone und deren Bedeutung waren seit jeher dieselben und deren Aufgabe ebenfalls; nur die Wächter der Bataillone wurden untereinander ausgetauscht. Das Bataillon, in dem Daichi und Kaira waren, Perassion, beschützte die Menschheit, wenn diese von den Dämonen angegriffen wurde und kämpfte somit oft in der Menschenwelt. Dieses Bataillon war nicht für den Einsatz in der Dämonenwelt geeignet, da viele Wasser und Naturwächter in diesem Bataillon zu finden waren. Es war ein Bataillon, welches oft in Verbindung mit Rallasion eingesetzt wurde, da dies ebenfalls der Verteidigung und Stabilisierung diente, aber auch dem Angriff, in welchem Ilang zusammen mit Saiyon kämpfte.
Kassaion, dort wo Azura mit Cebir zusammenarbeitete, war ein reines Angriffsbataillon und kämpfte daher oft an erster Stelle. Firey wunderte sich darüber, dass Azura, eine Wasserwächterin, an dessen Spitze stand, denn dieses wurde auch oft in der Dämonenwelt eingesetzt und Wasserwächter waren eigentlich die letzten Wächter, die in die Dämonenwelt gelassen wurden - zu groß war die Gefahr, als Geisel zu enden. Firey wusste, dass Azura eine gute Wächterin war, aber im Grunde genommen wusste sie nicht viel über ihren Kampfstil, aber wenn die Hikaris sie für dieses Bataillon ausgesucht hatten, musste das schon was heißen.
Das Bataillon, wo die beiden Illusionswächter stationiert waren, war das kleinste Bataillon, da dies weder dem Angriff noch der Verteidigung dienlich war: es waren die Wächter, die für Spionage verantwortlich waren, für Attentate und Informationssuche - typisch besetzt von Illusionswächtern oder Wächtern, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert hatten. Sie hatten in der bisherigen Kriegsgeschichte bereits viele Fürsten ohne Kampf unbemerkt umgebracht.
Elyssion war das mächtigste der Bataillone, da dies das Bataillon war, wo die Hikari stationiert war: meistens diente es als Vorhut und kämpfte oft in der Dämonenwelt oder schlichtweg da, wo es gebraucht wurde. Ein Rang Zwei Wächter, so wie Firey es war, hatte es schwer, überhaupt in dieses Bataillon zu gelangen, obwohl diese Streitmacht eigentlich immer eine Hand voll Feuerwächter dabeigehabt hatte. Nur die Besten der Besten kämpften in diesem Bataillon.
Das Bataillon Tetratron, in dem sie selbst zusammen mit Pelagius war, konnte sowohl als Angriffs- und als Verteidigungskraft gebraucht werden, doch da sie zusammen mit einem Wasserwächter war, wurde Firey bewusst, dass ihre Chancen in der Dämonenwelt zu kämpfen, recht mager waren: sie würde sicherlich in der Menschenwelt kämpfen...
Das Bataillon Zeranion, worüber sich Azuma so aufregte, war eine Angriffsmacht. In diesem Bataillon kämpften typischerweise Erdwächter, da deren Element nicht nur eine zerstörerische Angriffsmacht war, sondern ebenso effektiv als Verteidigung dienen konnte. Azuma hatte damit sehr große Chancen in der Dämonenwelt zu kämpfen, doch das war nicht sein Problem, sondern sein Offizier, so wie es sich anhörte.
"Warum zum Teufel habe ich einen Schutzwächter als Anführer!? Warum brauche gerade ich so ein Element an meiner Seite?!" Green blieb ruhig angesichts von Azumas Wut. Seitdem sie einen ähnlichen Vortrag wie Ukario gehalten hatte, stand sie am Ende des Tisches und hatte sich nun mit verschränken Armen gegen eine der vielen Säulen gelehnt und lauschte nun Azumas Worten mit angespannter Ungeduld. Firey war erstaunt darüber, dass sie im Allgemeinen doch recht ruhig wirkte; auch als sie ihnen erzählt hatte, dass die Dämonen ihnen den Krieg erklärt hatten, hatte Greens Stimme nicht gezittert oder sonst irgendwelche Schwäche verraten. Auch Fireys Wächterkollegen wirkten ruhig: Kaira sah so aus, als würde sie am liebsten sofort aufbrechen und in den Kampf ziehen und auch Tinami schien darauf zu brennen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Azuma wäre wahrscheinlich ebenfalls Feuer und Flamme, wenn er nicht damit beschäftigt wäre, sich zu beschweren.
"Der Offizier soll ja auch nicht dich beschützen, Azuma-san", antwortete Grey an Greens Stelle und eine leichte Wut kräuselte die Oberfläche seiner Stimme:
"...sondern alle anderen Wächter vor dir und vor der Rücksichtslosigkeit, mit der du dein Element anwendest." Anstatt sich irgendwie beleidigt zu fühlen, schien seine Wut zu verrauchen und um einiges ruhiger, ja fast schon geehrt, antwortete er:
"Ach so ist das!"
"Das war kein Kompliment", entgegnete Grey säuerlich, doch ehe die beiden fortfahren konnten mit ihrem belanglosen Streit, ging Green dazwischen:
"Und noch was, Azuma. Dein Unterricht ist abgeschlossen." Azuma warf Yuuki und Firey einen verwirrten Blick zu, die diesen erwiderten und dann wieder zu Green zurück sahen, die sich von der Säule abfederte und zurück zu ihrem reich verzierten Stuhl schritt, wo sie sich zwar nicht hinsetzte, aber ihre Hand auf dessen verschnörkelten Lehne legte und die Antwort auf deren verwirrten Blicke gab:
"Da du ein Halbwächter bist, bist du in der Lage den Bannkreis zu überwinden und daher haben meine Familie und ich entschieden, dass du zusammen mit dem Offizier der Illusion, welcher auch ein Halbwächter ist, als Spion nach Henel ausgesandt wirst." Zuerst war die Antwort nur ein stummes Blinzeln, doch dann breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus und seine Augen begannen zu leuchten. Ganz im Gegenteil zu Firey, die Green bestürzt ansah, doch die Hikari wählte, sie erst einmal zu übersehen.
"Die näheren Informationen wirst du dann von Ukario-san erfahren."
"Ich werde Spion? Ej, det er da for fedt!" Erfreut über diese Neuigkeit schlug Azuma die Hände zusammen und setzte sich wieder hin, anscheinend mehr als froh über seine neue Aufgabe. Firey bemerkte Yuukis etwas besorgten Blick und konnte nichts anderes tun, als diesen zu erwidern. Doch auch Kaira sah nicht so begeistert darüber aus, wahrscheinlich weil sie sich wie die anderen fragte, ob Azuma wirklich für eine Aufgabe geeignet war, die Fingerspitzengefühl und Behutsamkeit verlangte; Eigenschaften, die Azuma nicht gerade sein Eigen nennen konnte.
Dies schien Kaira auch gerade sagen zu wollen, doch ihre Worte wurden unterbrochen von einem Geräusch, nein, eher einem Klang, der sie alle aufhorchen ließ und fast gleichzeitig sahen sie aus dem Fenster, von wo der Klang kam. Obwohl keiner von ihnen diesen Klang jemals gehört hatte, wussten sie alle sofort, was es zu bedeuten hatte.
Es waren die Glocken, die den Krieg einläuteten.
Das Schlagen der Glocken klang nicht heroisch wie das Blasen einer Kriegsfanfare: der eher simple Rhythmus der Glocken war gefüllt von einer melodischen Melancholie. Die Herzen der Wächter vereinten sich mit den Schlägen der Glocken, schienen im gleichen Takt zu schlagen und jeder Schlag, jeder Laut, jeder Klang, brachte das Herz zum Beben, um es langsam auseinander zu reißen.
Überall auf den Inseln unterbrachen sämtliche Wächter ihr Tun, ließen die Arbeit nieder, denn ein jeder hörte das Läuten der Glocken; selbst die Hikari im Jenseits, welche alle ebenfalls aufhorchten, als sie sie vernahmen. Tief im Herzen des Jenseits klappte auch Inceres sein Buch zu und hob mit traurigem Blick den Kopf; ein Gestus, den seine Tempelwächter ihm nachahmten.
Auch ein weiterer Wächter, weit entfernt von den Hikaris, weit von den Wächtern, irgendwo in der Menschenwelt, hörte das Läuten der Glocken, vernahm jeden einzelnen Schlag in sich, doch unterbrach sein Tun nicht; er schloss die Augen, während er seine Glöckchen für einen kurzen Moment an sich drückte, ehe er nur eines der drei von seiner schwarzen Kette löste.
Youma wusste, er hatte nicht viel Zeit. Er hatte nur eine Chance.
Aber er vertraute sich selbst und seinen Fähigkeiten. Es würde gelingen.
"Auf das dies das letzte Mal ist, dass die schrecklichen Glocken ertönen müssen!"
Im gleichen Moment, in dem Green eine Träne auf ihrer Wange spürte, drehte sie sich plötzlich herum und unbemerkt gelang es ihr, den Raum zu verlassen; alle ihre Elementarwächter waren zu fasziniert von dem traurigen Lied der Glocken, welches an Geschwindigkeit gewonnen hatte und langsam intensiver wurde, um zu bemerken, dass ihre Hikari den Raum verlassen hatte.
Mit schnellen Schritten ging, lief Green den Gang entlang: sie wusste nicht, was sie dazu bewegt hatte, den Raum zu verlassen oder was sie dazu brachte, ihre Ohren zuzuhalten, als könnte sie die Glocken aussperren. Doch es war unmöglich: der Klang der Glocken drang nicht durch ihre Ohren in ihr Innerstes: sie fanden ihren Weg durch ihr Herz... durch das Glöckchen.
Wie versteinert blieb Green stehen, nachdem sie mehrere Wächter hinter sich gelassen hatte, die alle nach draußen starrten, mit Tränen in den Augen, versteinert. Noch waren sie zu sehr gefesselt von dem Lied der Glocken, welches nun eher einem feurigen Bolero in dessen Finale ähnelte als einer melancholischen Serenade, doch wenn die Glocken verstummen würden, so würde ihnen bewusst werden, was die Glocken ihnen mitteilten: dass der achte Elementarkrieg bevor stand.
Green ließ die Hände von ihren Ohren sinken, denn erst da bemerkte sie, dass ihr Glöckchen zu den Schlägen der Glocken vibrierte. Mit zitternden Händen nahm die Hikari das Glöckchen in die Hand, doch ließ es gleich wieder fallen, als sie aus den Augenwinkeln eine Gruppe Wächter sah, die im Hof standen und allesamt Richtung Himmel sahen.
Nun mit langsamen Schritten, ging Green zu ihnen, die alle nicht bemerkt hatten, wie ihre Hikari sich zu ihnen gesellte, denn sie alle hatten ihr den Rücken zugekehrt. Zu sehr waren sie damit beschäftigt den Glocken zu lauschen, die sich nun zu einem leidenschaftlichen Höhepunkt empor schlängelten. Kaum dass sie dort zwischen den ihren stand, bemerkte sie auch, wohin sie allesamt sahen: zum Licht des Friedens, der versteinerten Statue der Hikari, die das immer leuchtende Licht in einer zärtlichen Umarmung an sich drückte.
Würde Green in der Lage sein, dieses Licht zu bewahren? Würde sie ebenfalls eine Hikari sein können, die ein Symbol des Friedens sein würde?
Kaum, dass sie dies dachte, wurde ihre Hand plötzlich genommen von einen kleinen Jungen mit orangenem Haupt. Seine blauen Augen waren glasig und der Händedruck geprägt von inniger Verzweiflung. Auch der Ton seiner Stimme, die im Schlagen der Glocken beinahe unterging, war flehend:
"Du wirst uns beschützen...oder? Mama und Papa werden nicht sterben, so wie Nee-sama... oder?" Green spürte ein Brennen in ihren Augen; ein leichtes, aufdrängendes Brennen, welches Tränen ankündigte. Doch statt dies zu erlauben, zwang sie sich zu einem Lächeln und im gleichen Moment, wo die Glocken zum letzten Mal schlugen und deren Klang wie ein Donnergrollen über sie hinwegfegte und langsam verklang, antwortete Green:
"Ich werde alles daran setzten."
Für 22 Minuten hatte die Zeit auf den verschiedenen Inseln der Wächter still gestanden. Niemand hatte gelernt, trainiert, gelesen oder gekocht; alle hatten ihre Arbeit niedergelegt und sich den Glocken hingegeben. Auf Sanctu Ele'saces waren viele Wächter hinaus gegangen, auf den Platz, von wo aus sie den Glockenturm hatten sehen können, wo die elf Glocken den neuen Krieg heraufbeschworen hatten. Als die Glocken verstummt waren, brach niemand in Panik aus, obwohl jeder Wächter, ob Kind, Tempelwächter oder Offizier wusste, was die Glocken ihnen mitgeteilt hatten. Es war eher ein stillschweigendes Einverständnis, welches sie nun alle vereinte.
Kaum nachdem die Glocken verstummt waren, war Green zurück in ihr Gemach gegangen, wo Silence bereits auf sie wartete. Itzumi war wohl noch zu benommen von den Glocken, denn eigentlich hätte sie hier sein müssen, um Green dabei zu helfen, sich umzuziehen. Doch da Green sowieso nicht so scharf auf ihre Hilfe war, hatte sie nicht allzu viel dagegen.
"Sie sind schön, nicht wahr?" Mit dieser Frage hieß Silence ihr Medium willkommen, welches sich erst einmal auf ihr Bett setzte. Sie war müde; sie hatte nur drei Stunden geschlafen und fühlte sich ebenfalls benommen.
"Ich nehme an, du meinst die Glocken?" Ihre Stimme spiegelte ihre Müdigkeit wieder, welche sie vorher noch so tapfer hatte verbergen können.
"Ich habe sie nun schon acht Mal gehört... und ich finde sie jedes Mal aufs Neue schön. Wusstest du, dass ihr Klang sogar ins Jenseits reicht?" Green wusste nicht, ob sie die Glocken als "schön" betiteln würde, aber mitreißend waren sie; nach wie vor spürte sie, wie ihr Körper bebte.
"Hast du etwas Neues aus Henel?" Green entschied, dass sie lieber das Thema wechseln wollte, was Silence zu irritieren schien, doch sie sprang darauf an:
"Kommt ganz drauf an, was du hören willst."
"Alles."
"Lerou hat gestern Nacht den Krieg angekündigt und im gleichen Atemzug bekannt gegeben, dass der Bannkreis kein Hindernis mehr sein wird. Wie das von statten gehen soll, hat er nicht weiter ausgeführt, aber glaub mir, das war seinen Zuhörern auch vollkommen egal. Sie haben ihn lieber abgeschossen." Green richtete sich wieder in ihrem Bett auf und sah Silence bestürzt an, als sie sie fragte, ob Lerou tot sei.
"Aber nein, es geht ihm ausgezeichnet. Seit gestern Nacht geht die Party ab und daher kann ich dir auch überhaupt nichts von irgendwelchen Kriegsplänen berichten. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Aber es gibt doch noch eine Sache, die sehr interessant ist... es scheint, als wäre das eine Eigenaktion von Lerou. Die Fürsten waren nicht integriert." Überrascht sah Green sie an, als sie antwortete:
"Eine Eigenaktion von einem Dämon, der wahrscheinlich sogar Hilfe dabei braucht, sich die Schuhe zuzumachen? Sag mal, ganz im Ernst: warum nehmen wir die Kriegserklärung überhaupt ernst, wenn sie wirklich nur aus seinem einfältigen Gehirn entstammt? Der Typ weiß doch nicht einmal wie ein Bannkreis aussieht, geschweige denn wie man ihn neutralisiert! Hättest du mir das vor der Kriegssitzung gesagt..."
"Ich habe es dir mit Absicht nicht gesagt, weil ich sehr wohl der Meinung bin, dass wir es ernst nehmen sollten. Ich sage es dir jetzt auch nicht, um dir zu sagen, dass die Kriegserklärung angezweifelt werden sollte - nein, ich sage es dir, weil ich mir sehr sicher bin, dass zur Abwechslung mal jemand anderes außer den Fürsten die Fäden in den Händen hält und Lerou manipuliert."
"Youma?" Silence sah kurz schweigend ins Nichts, bis sie zögernd antwortete:
"Das weiß ich nicht. Allerdings fällt es mir ein wenig schwer zu glauben, dass Youma so einfach an Lerou rankommt. Jedenfalls nicht ohne Hilfe und dieser Helfer ist es, der die Fäden in der Hand hält. Ich denke, es ist derjenige, den ich nur von hinten gesehen habe... wäre ich nur nicht so schnell weggegangen, dann hätte ich ihn sehen können..." Verärgert über sich selbst, seufzte sie auf, doch war noch nicht fertig:
"Es sieht allerdings so aus, als wären nicht alle Fürsten planlos gewesen. Die Horde Ri-Ils ist kampfbereit - als hätte er es irgendwie gespürt." Greens Augen verengten sich skeptisch und ebenso skeptisch sagte sie:
"Das ist doch kein Zufall."
"Natürlich ist es das nicht. Genauso wenig wie es kein Zufall ist, dass Lerous Nutte Nummer Eins aus Ri-Ils Sortiment stammt."
"Aber wenn er es vorher wusste, warum hat er das den anderen Fürsten nicht mitgeteilt?" Ein schelmisches Lächeln spielte um Silence' Lippen, als sie antwortete:
"Machtspiele zwischen den Fürsten sind ganz normal, Green. Vergiss nicht, sie sind nicht wie wir: sie arbeiten nicht zusammen, sie arbeiten gegeneinander." Damit wurde das Gespräch unfreiwillig beendet, denn Grey kam ins Zimmer, dicht gefolgt von Itzumi, die Greens Kleid trug. Auf dem ersten Blick erkannte Green, dass es wieder einmal eines dieser Kleider war, welche nicht zu denen gehörten, die sie am liebsten trug. Unbemerkt verzerrte Green das Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse und wollte gerade noch etwas zu Silence sagen, als sie bemerkte, dass sie bereits wieder verschwunden war und Green nun mit einer Kriegsrede alleine ließ.
Zwei Stunden später war Green geschmückt und dekoriert, das Kleid ohne jegliche Falte, unbeschmutzt strahlte das Weiß der Seide und passte perfekt zu dem der anderen Hikaris, welche ebenfalls anwesend waren - jedenfalls ein paar von ihnen. Hizashi war damit beschäftigt, angestrengt mit Ukario zu sprechen, Mary überschattete mit ihrer Schönheit mal wieder jede andere Frau und kontrollierte ihr Aussehen jede zweite Sekunde im Spiegelbild - man könnte meinen, es wäre keine Kriegsrede, sondern eine Schönheitsveranstaltung. Die erhabenen Drei waren ebenfalls zur Stelle: White hatte Green Mut zugesprochen, während Shaginai ihr immer wieder einbläute, dass sie es nicht wagen sollte, auch nur ein Wort falsch vorzulesen.
"Warum machst du es nicht gleich selbst?", fragte Green zickig wie immer, da sie gar nicht einsah, warum sie vor Shaginai klein beigeben sollte, nur weil er jetzt auch ihr Lehrmeister war.
"Weil es deine Aufgabe ist, Yogosu! Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, bist du die Lichterbin - auch wenn es noch so unglaublich erscheint. Also beweise, dass du wenigstens in der Lage bist, eine Kriegsrede vorzulesen!" Green erwiderte sein Temperament mit einem missgestimmten Blick und nahm ihm ruppig die Rede aus der Hand, die in einer Schatulle aus Ahornholz aufbewahrt wurde, unter dem verzierten, goldenen Wappen der Hikari. Aus den Augenwinkeln bemerkte Green, dass Ukario sie bereits verlassen hatte und dass sie allein mit ihrer Familie war, hinter der aus Säulen gebildeten Absperrung, die sie von der Menge trennte. Sie sah die Rücken ihrer Elementarwächter, die genau vor den Säulen bereits ihre Plätze eingenommen hatten. Sie standen alle gleich: die Arme hinter dem Rücken und mit geraden Rücken, ja sogar Azuma. Sie lächelte ein wenig, als sie bemerkte, dass Firey nicht so steif wie die anderen stand, sondern ein wenig von einem Bein zum anderen schwankte.
"Green, es ist soweit." Die Angesprochene schreckte hoch, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte und schon sah sie ihr aufmunterndes Lächeln.
"Wir werden nun unsere Plätze einnehmen und du weißt..."
"33 Sekunden warten, ehe ich es ebenfalls tue. Ich weiß", ergänzte Green mit einem Lächeln: jedenfalls versuchte sie zu lächeln, doch sie hatte das Gefühl, dass es doch recht schief wurde. Während Shaginai ihr einen drohenden Blick zuwarf, küsste White die Stirn ihrer Tochter und folgte den anderen Hikaris hinaus hinter der Absperrung. Man könnte erwarten, dass sie von tosendem Empfang begrüßt wurden, doch das war bei den Wächtern nicht üblich. Sie zeigten still ihren Respekt und ihre tiefe Ehrfurcht und obwohl Green die Wächter nicht sehen konnte, war sie sich sicher, dass sie ihren Kopf tief geneigt hielten, als die Hikaris an die Öffentlichkeit traten.
Während Green die Zeit zählte, überlegte sie abstruse Dinge, so wie die Frage, wie sie die Schatulle halten sollte, wenn sie rausging: sollte sie sie schultern, in einer Hand nehmen, mit beiden Händen tragen? Und wie öffnete sie sie überhaupt? Musste man das Siegel brechen, hatte es eine andere Öffnungsvorrichtung?
"32...33..." Green schluckte schwer, als sie die letzte Zahl sagte und setzte sich in Bewegung, die Schatulle dann in der rechten Hand. Ihre Beine fühlten sich schwer an und eigentlich müsste sie bereits zu spät sein, denn sie ging ziemlich langsam. Dennoch hatte sie die Absperrung schnell, zu schnell wie sie fand, hinter sich gelassen und obwohl sie wusste, dass sie mit erhobenem Kopf geradeaus sehen musste, sah sie doch zu ihren Elementarwächtern, in der Hoffnung, ein aufmunternden Blick von irgendwem zu erhalten. Doch anders als sie, hielten sie sich an die Vorschriften und sahen geradeaus; wozu Shaginai sie auch schnell zwang, denn sein finsterer Blick war nicht schwer zu deuten:
"Sieh geradeaus oder ich werde dich heute Abend so hart dran nehmen, dass dir Hören und Sehen vergeht!"
Okay, okay, dachte Green und wandte ihren Blick dann doch nach vorne, jedoch nicht ohne noch einmal tief zu schlucken. Sie legte die Rede auf das Rednerpult und nahm sich einige Sekunden, um sich einen Überblick über die Menge zu verschaffen.
Wenn es nicht sogar sämtliche Wächter ihres Reiches waren, dann war es jedenfalls der Großteil, der dort, zirka 40 Meter unter ihr versammelt, in Reih und Glied, nach deren Elementen geordnet, stand und alle mit erwartungsvollen Augen zu ihr empor sahen. Überwältigt von dieser Menge wollte Green am liebsten rückwärts taumeln, sich im Kopf die Frage stellend, warum sie überhaupt so nervös war. Sie hatte doch bereits einmal eine solche Rede vorgelesen und damals waren es nicht weniger Wächter gewesen. Vielleicht war es, weil ihr nun schrecklich bewusst geworden war, dass sie für all diese Wächter die Verantwortung trug.
Mit nervösen Fingern fummelte sie an der Rolle herum und bemerkte auch, wie das Wappen sofort nachgab und aufbrach. Sie hielte die Luft an, als sie die Schriftrolle heraus zog und ebenso atemlos rollte sie diese auch aus. Die Luft bekam sie erst wieder, als sie diese tief einsog, um daraufhin endlich die Rede zu halten. Ihre Stimme begann ein wenig zittrig die Begrüßungsfloskel vorzulesen, doch ließ die Nervosität schnell hinter sich. Shaginai und auch White atmeten erleichtert auf, als sie hörten, dass Green die Rede vorlas wie alle anderen Hikaris es vor ihr ebenfalls getan hatten. Keine Probleme...
Bis die Einleitung abgeschlossen war.
Wie man es ihr beigebracht hatte, hielt Green eine dramatische Pause; eine dramatische Pause, wo sie kurz den Text der Rede überflog, ehe sie weiter vorlesen wollte.
Dies hätte sie nicht tun sollen, denn der Inhalt gefiel ihr nicht. Er war nicht das, was sie auf dem Herzen hatte, nicht das, was sie ihren Wächtern mitteilen wollte. Green wollte nicht davon reden, dass sie ihren Elementen vertrauen sollten, dass deren Elemente ihnen Kraft und Glauben geben würden und dass sie alle vom Licht, von Hikari-kami-sama, beschützt wurden. Nein, dachte Green; die Elemente konnten auch wann anders in den Himmel gelobt werden!
Entschlossen legte sie die Rede zurück auf das Pult und sofort kam die Reaktion. Sie sah wie überrascht die Wächter über diese Aktion waren, ja fast schon entsetzt. Sie spürte Shaginais Blick in ihrem Rücken, doch tun konnte er nichts, wenn er keinen Skandal heraufbeschwören wollte; ihm blieb nichts anderes übrig, als sie mit seinen Blick zu töten. Green malte sich die geschockten Gesichter ihrer Familienmitglieder aus und fühlte sich gut.
Ja, es fühlte sich sogar verdammt gut an.
Und von diesem Glücksgefühl beschwingt öffnete Green lächelnd den Mund und fing ihre eigene Rede an:
"Wir alle haben vor ein paar Stunden die Glocken gehört, waren vollkommen von ihnen fasziniert und von deren schönen Klang eingenommen, um erst danach begreifen zu können, was sie uns mitteilen wollten; dass ein neuer Krieg bevorsteht, dass wir alle wieder einmal unser Leben riskieren müssen, um den achten Elementarkrieg zu überleben.
Während auch ich von deren Klang eingenommen war, sprach mich ein kleiner Junge an. Ich weiß nicht, wer er war oder was sein Element war, doch seine Frage berührte mich tief: er fragte mich, ob ich seine Eltern beschützen würde.
Natürlich hätte ich am liebsten geantwortet, dass ich es selbstverständlich würde tun können; ja, ich würde es versprechen, ich würde es auf mein Glöckchen schwören, wenn ich es könnte! Doch wir alle wissen, dass es gelogen wäre. Bald werden wir auf dem Schlachtfeld stehen, nicht neben unserer Familie, unseren Freunden, sondern neben jemanden, der zu unserem Element, zu unseren Fähigkeiten passt; zum Wohle der Effektivität. Vielleicht sogar neben jemandem, den wir nicht kennen: doch auch obwohl wir sie nicht kennen, haben sie Personen, die sie lieben, oder sie sind geliebt, sind wichtig für andere." Wieder schwieg Green kurz, einen Moment, den sie nutzte, um ihren Blick von der Menge abzuwenden und über die Schulter zu sehen. Shaginai war bemüht seine Wut zu unterdrücken, was ihm nicht sehr gut gelang und Green beinahe zu einem Grinsen brachte. Ihre Elementarwächter waren verblüfft, bis auf Firey und Grey, der so selig lächelte, als hätte er gehofft, dass Green genau dies tun würde. Auch White lächelte; warm, gerührt von Greens Worten.
Green lächelte, ja sie strahlte fast schon, als sie sagte:
"Auch ich habe Wächter, die ich liebe, für die ich mein Leben riskieren würde, so egoistisch das auch sein mag; Wächter, die mir wichtig sind und für die es sich lohnt zu kämpfen, für die es sich lohnt, selbst durch die dunkelste Dunkelheit zu wandeln, denn die, die wir lieben, sind das Licht, unser aller Licht.
Diese Gefühle teilen wir; wir alle haben solch ein Gefühl in uns. Dies ist das Band, was uns verbindet; denn wir alle haben etwas, für das es sich lohnt zu kämpfen! Daher fordere ich euch auf, nicht für mich, nicht für uns Hikari die Dämonen zu töten; nicht weil sie unsere Feinde sind, sondern um das zu beschützen, was ihr liebt! Denn genau das werde auch ich tun! Ich kann nicht versprechen, dass ich jeden beschützen kann, der mir oder anderen wichtig ist, aber ich werde es versuchen! Ich werde alles daran setzen, dass Tränen nicht umsonst fließen werden und sollten meine Hände noch so sehr in Blut getaucht werden, so werde ich kämpfen - ich werde bis zu meinen letzten Atemzug kämpfen!"
Dies waren Greens letzte Worte; Worte, die auf dem Platz wiederhalten und noch eine ganze Weile in der Luft hängen blieben. Die Hikari selbst schwieg, genau wie alle anderen Anwesenden. Niemand sagte ein Wort, niemand tuschelte mit seinen Nachbarn. Alle Blicke lagen auf Green, welche sich am Pult abstützte. Sekunden vergingen; es schienen Minuten zu sein, bis sich hinter ihr etwas tat. Ein Geräusch halte durch die Stille: das Geräusch von Händeklatschen.
Ehe Green sich überrascht herumdrehen konnte, um zu sehen, wer von den Elementarwächtern oder den Hikaris mit dieser menschlichen Geste angefangen hatte, hatte das Händeklatschen sich bereits ausgebreitet wie ein Sturmfeuer. Plötzlich schienen sämtliche Wächter herauszufinden, wie man seine Hände dazu benutzte, einen tosenden Beifall herbeizurufen.
Zuerst starrte Green die Wächter hinter ihr an, bis sie sich mit glasigen Augen von ihnen abwandte und in die Menge hinabsah, vollkommen verblüfft darüber, dass sie so etwas wie Beifall bekam. Sie hatte es nicht erwartet; sie hatte Abneigung erwartet und trotzdem hatte sie gewählt es zu sagen, denn es hatte auf ihrem Herzen gelastet und danach verlangt ausgesprochen zu werden - dass sie nun so einen positiven Respons erhielt, rührte sie, trieb ihr Tränen in die Augen.
Zum ersten Mal war sie trotz ihrer Unreinheit, ihres unnormalen Charakters, eine von ihnen.