Kapitel 03 - Das "Wir"
Tränen des Glücks stiegen in Green auf. Gary hatte es gesagt. Er hatte das unsichtbare Band zwischen ihnen sichtbar gemacht. Green musste es nur noch ergreifen...
Leidenschaftlich erwiderte sie seine Umarmung, schlang ihren Arm um seinen Hals und wünschte sich sein Gesicht zu sehen. War er genauso glücklich wie sie? Musste er auch gegen die Tränen ankämpfen?
"Gary! Ich..." Doch es war nicht sein Gesicht welches sie plötzlich vor sich sah.
"S-Sibi...!" Green ließ von Gary ab und beide blickten zur geöffneten Tür. Die Spieluhr verstummte, als der Halbdämon mit ironischer Stimme sagte:
"Ich bin früher zurück. Aber scheinbar habt ihr mich nicht vermisst!" Green konnte nicht anders als ihn im ersten Moment nur anzustarren. Die Freude in ihr war wie weggewischt, ihr war plötzlich kalt, statt warm. Gary hielt immer noch ihre Finger in seinen, auch wenn Green versuchte sich frei zu machen. Ihm schien es total egal zu sein, dass gerade der Dritte im Bunde dazu gekommen war. Die Frage wie lange Siberu da schon stand und was er alles gesehen hatte, rannte durch Greens Kopf, auch wenn es egal war. Man sah jetzt schon genug um zu einer Schlussfolgerung zu kommen.
Sie sah in sein Gesicht, versuchte irgendeine Regung in seinen kalten roten Augen hervorzurufen, doch Siberu blieb hart. Als er den Mund öffnete, zuckte Green zusammen, als würde sie eine Strafe erwarten.
Doch sie verstand kein Wort.
Er sprach in der Sprache der Dämonen, so dass es Green unmöglich war auch nur den Sinn seiner Worte zu erahnen. Zum ersten Mal drehte sie den Kopf und sah Gary an, um einen Anhaltspunkt zu erhalten. Der Halbdämon sah überrascht aus. Warum? Aus dem gleichen Grund wie Green? Oder war es die Botschaft in den Worten Siberus die ihn überraschte?
Gary antwortete ebenfalls in deren Sprache.
"Hört auf! Ihr könnt genauso gut offen reden!" Sie sah von Gary zu Siberu und es durchfuhr sie wie ein Blitz. Garys Antwort hatte in Siberu etwas bewegt. Seine Gesichtszüge waren härter geworden und seine Augen... Sie waren genauso kalt und klein wie damals als er versucht hatte Green mit Gewalt zu nehmen.
Green löste sich nun völlig von Gary, als sie aufsprang und auf Siberu zu hechtete. Sie packte ihn am Arm und sah flehend, doch auch unbeirrbar zu ihm auf.
"Hört auf!" Sie sah nochmal zu Gary.
"Alle beide!" Doch Siberu nahm die Hand die seinen Arm festhielt und presste sie weg. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verließ er das Zimmer und kurze Zeit später, hörten beide wie die Haustür hinter ihm zufiel.
Green blieb unbeweglich stehen, an dem Punkt wo Siberu sie stehen gelassen hatte. Sie hörte, dass Gary aufstand und sie bemerkte, dass er hinter ihr stand. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, fing sie an:
"Es war... niemals meine Absicht das "Wir" kaputt zu machen. Ich Egoist... ich habe nie an Sibi gedacht." Er schwieg und Green fragte sich plötzlich, ob es ihm überhaupt etwas ausmachte, dass das Trio gerade dabei war, auseinander zu brechen. Erst nach einer Weile sagte er zögernd:
"...Du bist mir wichtiger als das "wir"." Green schloss die Augen.
"Was ist mit Sibi? Er kann dir doch nicht egal sein..."
"Man muss sich entscheiden. Man kann nicht alles haben." Green konnte nicht fassen was sie da hörte. War das wirklich Gary der hinter ihr stand? War ihm sein Bruder egal? Sie hatten ihn beide gleichermaßen verletzt...
"Gut. Dann gehe ich eben zu ihm. Mir ist er nämlich nicht egal!" Sie war bereits einen Schritt auf die Tür zugegangen, als Gary hart ihr Handgelenk ergriff. So hart, dass es beinahe schon weh tat.
"Das tust du nicht." Sie drehte sich zu ihm um und ließ sich bei ihren Worten nicht von seinem finsteren Gesichtsausdruck beirren.
"Seit wann bist du so egoistisch?! Das ist nicht der Gary den ich kenne!" Diese Worte brachten ihn aus der Fassung, diese Worte hatten ins Ziel getroffen. Er sah zur Seite, biss sich auf die Unterlippe. Umgehend bereute sie ihre Worte, doch zog sie nicht zurück.
"Dann... wird es Zeit, dass du diese Seite kennen lernst."
"Ich... weiß nicht ob ich das will." Ein wenig schwach lächelte er sie an, in dem Moment wo er ihre Hand losließ. Er schüttelte ein wenig den Kopf und sagte dann:
"Nein, willst du nicht." Green antwortete nicht. Sie sah ihn nur an, versuchte Augenkontakt aufzunehmen, doch er sah weg. Kaum hörbar seufzte Gary, ehe er sagte:
"Ich gehe zu ihm. Bleib bitte hier." Er drehte sich ohne weitere Konversation zur Tür, wurde jedoch kurz vor dieser von ihr aufgehalten:
"Gary..." Er blieb stehen, denn in dem sie das sagte und ihn damit aufhielt, erwachte Hoffnung in ihn. Doch die Antwort enttäuschte ihn:
"Bitte, redet von Mensch zu Mensch miteinander, nicht als Dämonen."
Als Gary die Wohnung betrat, erblickte er sofort seinen Bruder. Er lehnte an dem Küchentisch, mit verschränkten Armen, es wirkte, als müsste er sich zusammenreißen, die Sache nicht auf "Dämonen Art" aus der Welt zu schaffen. Das Licht war ausgeschaltet und da die Sonne bereits untergegangen war, lag das Zimmer dunkel vor ihm. Schatten fielen in Siberus Gesicht und verdunkelten es so weit, dass es schwer war, seinen Gesichtsausdruck zu erahnen. Er bewegte sich nicht, als sein großer Bruder eintrat und sagte auch nichts.
Gary hatte nicht die geringste Lust sich mit ihm auseinander zu setzen. Weder wörtlich noch verbal. Wenn Siberu das Gespräch nicht anfing, würde er es auch nicht tun. Überaschenderweise war es tatsächlich Siberu der das Wort ergriff:
"Meinst du es ernst? ... Liebst du Green?" Seine Stimme klang überaus gefasst, seine Wut war nicht zu hören, auch wenn Gary sie deutlich in der Luft spüren konnte. Siberu sollte mit seinem Bruder eigentlich über Rui reden, aber etwas anderes war jetzt wichtiger... und wenn er es genau betrachtete überschnitten sich diese beiden Themen auch irgendwo.
"Ja, das tue ich. Und wenn du sie genauso liebst, Silver, dann werden wir zum ersten Mal ernsthaft gegeneiner kämpfen." Ein kurzes Schweigen, dann antwortete der Rotschopf, dass er das nicht gemeint hatte. Was war in seinen großen Bruder gefahren? Dachte er überhaupt nicht mehr nach? War er sich nicht bewusst, was geschehen würde, was vielleicht schon geschah? Alleine diese Aussage... dass er "ernsthaft" gegen Siberu kämpfen würde, wenn er sich dazu entscheiden würde, Green für sich gewinnen zu wollen. Diese Aussage passte nicht zu ihm. Doch es wunderte Siberu nicht, dass er es gesagt hatte.
"Worüber redest du dann?" Plötzlich schlug Siberu mit der Faust auf der Tischplatte. Gary zuckte nicht zusammen, er hatte immerhin auf einen Wutausbruch gewartet. Er trat dem mit Ruhe gegenüber.
"Stell dich nicht dumm! Du weißt genau wovon ich spreche! Früher oder später werden wir wieder in unsere Heimat zurückkehren und was ist dann mit ihr?! Du weißt genau, was das für Folgen hat!" Ruhig sah Gary seinen kleinen Bruder an, der sich jetzt mit den Fingern an die Tischkannte krallte um nicht die Beherrschung zu verlieren.
"Es wird keine Folgen haben."
"Natürlich wird es das! Das ist es doch worauf es hinaus läuft, das wofür wir die ganze Zeit gearbeitet haben. Bald ist es vorbei und..."
"Ich bleibe hier." Siberus Haltung fiel in sich zusammen, die Wut schien verraucht. Skeptisch sagte er:
"Das... kannst du nicht."
"Ich werde hierbleiben, Silver. Ob es dir oder den Hohen gefällt ist mir egal. Ich hätte diesen Entschluss schon viel früher fällen müssen... Nein, im Prinzip hatte ich diesen Entschluss schon die ganze Zeit gemacht, nur war ich mir dessen nicht bewusst." Ein ironisches Lachen unterbrach Gary und ließ ihn zum ersten Mal verwundert Aufsehen.
"Ach! Da hast du dir ja was Schönes einfallen lassen! Und was machst du dann? Planst du etwa schon die Hochzeit? Wie märchenhaft! Eine Hikari und ein Dämon! Vereint bis in alle Ewigkeit, lieben und ehren bis der Tod euch scheidet! Welch ein Happy End! Nur schade, dass wir nicht in einem Märchen leben, was, Aniki? Selbst wenn du dich dazu entscheidest, nie wieder auch nur einen Fuß in unsere Welt zu setzen und dich dein ganzes Leben lang vor den Hohen versteckst, vor deinem Blut kannst du nicht davonlaufen! Was machst du wenn ihr euch streitet? Was, wenn dir ausversehen mal die Hand ausrutscht? Dann hast du sie umgebracht! Die Frau die du lieben und beschützen solltest, hast du dann umgebracht! Willst du, dass es so endet?! Willst du Greens Tod besiegeln, genau wie..." Er kam ins Stocken, musste kurz Luft holen.
"Wie... Vater Mama umgebracht hat?!" Die Antwort kam sofort.
"Woher... weißt du das?" Es war ruhiger geworden zwischen den Zweien, Siberus Wut war abgeflaut. Er starrte einen unbestimmten Punkt im Zimmer an.
"Von unserem Sensei."
"Silver, das ist eine Lüge..." Er sah ihn wieder an.
"Warum sollte es eine sein? Sie haben sich immer nur gestritten. Du hast genauso oft gesehen wie er sie geschlagen hat. Es ist kein Wunder, dass ihm irgendwann der Geduldsfaden gerissen ist! Es war ihre eigene Schuld! Als Mensch hätte sie wissen müssen, wo ihr Platz ist."
"Rede nicht so über Mutter!" Spöttisch sah Siberu Gary an, dass konnte man selbst in der Dunkelheit erkennen.
"Ja, Blue, du warst ja auch immer das Mutterkind. Kein Wunder, dass du mir immer erzählst hast, dass sie bei einem Unfall gestorben ist. Wolltest du der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen?"
"Es reicht!" Der Angesprochene tat so, als hätte er es nicht gehört.
"Findest du nicht, dass unsere Mutter Green ähnlich sieht? Ist das vielleicht der Grund, warum du dich in Green "verliebt" hast?" Siberu selbst war über die heftige Reaktion seines Bruders überrascht und konnte im ersten Moment nicht verstehen, warum er auf dem Boden lag. Erst als der Schmerz langsam, aber drängend an seinem Hinterkopf pochte, verstand er, dass Gary ihn zu Boden geworfen hatte. Er hatte seine Faust um den Kragen seines kleinen Bruders geballt. Er hatte bereits den Mund geöffnet, um mit Worten nachzusetzen als Siberu monoton sagte:
"Es ist lange her, dass ich dich mit roten Augen gesehen habe, Blue." Umgehend, als hätte der Rotschopf eine Zauberformel gesagt, sprang Gary auf die Füße und drehte sich fast schon gesteinigt von ihm weg. Er sagte nichts und Siberu blieb auf dem Boden liegen, als hätte er keine Kraft aufzustehen. Vielleicht war es wirklich die Tatsache, dass er über die Reaktion seines Bruders geschockt war.
"Ich habe es dir doch gesagt. So etwas kann immer passieren, auch bei Green."
"Hör auf. Ich weiß es doch selbst..." Seine Stimme klang fast schon flehend. Schon wieder etwas Ungewohntes von seinem Bruder. Siberu setzte sich langsam auf, blieb ein wenig sitzen und stand dann auf.
"Du sagst du liebst sie."
"Ja... das tue ich."
"Bist du dir so sicher?"
"Was meinst du?"
"Was ist, wenn du nur nach ihr verlangst?"
Siberu drehte sich zu ihm um und konnte nicht drum herum, dass ein fast schon mitleidender Ausdruck sich mit seinen Augen vermischte, als er sagte:
"Wenn du sie wirklich lieben würdest, wie ein Mensch einen anderen Menschen liebt, wie die Wächter sich lieben... dann hättest du Green nicht geküsst. Wenn du sie wirklich lieben würdest... würdest du auf dein Glück verzichten um sie zu retten."
In dieser Nacht schlief Green kaum. Ihre Ohren horchten angestrengt nach verdächtigen Geräuschen aus der Nebenwohnung, sie lag mit dem Ohr beinahe an die Wand gedrückt. Doch sie hörte nichts. Nicht einmal den Laut ihrer Stimmen. Sie sagte sich immer wieder, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wenn sie sich angreifen würden, würde sie es mitbekommen. Auch wenn sie sich woanders hin teleportieren würden, um von Green nicht aufgehalten zu werden, würde sie es bemerken, anhand ihrer Auren. Doch da sie diese nebenan spüren konnte, mussten sie da sein. Vielleicht war es auch alles friedlich abgelaufen... vielleicht war morgen alles wieder wie gestern...
Aber wollte Green es überhaupt? Die Liebeserklärung von Gary kam ihr so weit weg vor... sie konnte immer noch nicht fassen, was zwischen ihnen passiert war. Es war, als gehört es in einem Traum und nicht in die Realität. Doch es war Realität, ansonsten würde sie hier nicht liegen und um die beiden Brüder bangen.
Als der Wecker anspring und die Stimme eines Nachrichtensprechers auf sie herab prasselte, kam es Green so vor, als wäre sie gerade erst zu Bett gegangen. Eine lasche Bewegung ihrer Hand genügte und der Wecker war aus. Bei dieser Bewegung kam es ihr allerdings so vor, als hätte sie gerade einen Eisklumpen angefasst - und da es Mitte Juli war, war ihr klar, dass es sich nicht um ihre Zimmertemperatur handelte.
"Guten Morgen, Mrs. Schlafmütze." Green brauchte nicht aufzusehen um zu wissen, um welche Person es sich handelte. Mit einem Maulen zog sie sich die Decke über dem Kopf. Es grauste ihr aufzustehen.
"Ja, ich finde es auch schön, dass du mir so bereitwillig von deinen gestrigen Erlebnissen erzählst! Ich finde es so schön, dass wir keine Geheimnisse vor uns haben, du nicht auch?" Auf diese indirekte Beschwerde Silence' hin, gab Green endlich Wörter von sich:
"Du weißt es doch sowieso, also warum sollte ich mir da die Mühe machen." Silence schien zu merken, dass es Green nicht gut ging, denn sie fragte, warum sie so unglücklich aussah.
"Er hat dir seine Liebe gestanden, darauf hast du doch die ganze Zeit gewartet und gehofft. Warum bist du nicht glücklich? Ist es wegen dem Rotschopf? Dir hätte doch klar sein müssen, dass du nicht alles haben kannst." Green richtete sich in ihrem Bett auf und lehnte sich an die Wand.
"Ja, ich sollte glücklich sein, nicht wahr? Aber ich bin's nicht... und das hat nicht nur was mit Sibi zu tun. Das ist mir über Nacht klar geworden."
"Was ist es dann?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass da irgendetwas ist, was nicht sein soll. Gary... er wollte mir etwas anderes sagen. Als er sagte, dass er mir etwas beichten müsse, sah er so... leidend aus. Das hatte nichts mit seiner Liebeserklärung zu tun. Irgendetwas wollte er mir sagen... Irgendetwas was er schon lange mit sich rumschleppt." Genau in dem Moment wo Silence ihr antworten wollte, klingelte ihr Handy. Anhand des Klingeltons war zu hören, dass es sich um das Handy handelte, worauf Grey, Tinami und die anderen Wächter sich meldeten. Ihr normales Handy, was sie jetzt mehr gefreut hätte zu hören, lag tonlos auf dem Nachtschrank.
Green grummelte, da es ihr überhaupt nicht gefiel aus dem warmen Bett aufzustehen, um zur Kommode zu gelangen. Dennoch, auch ohne Silence' Kommentar, stand sie auf und schnappte sich das Handy. Sie hatte nicht auf die Nummer geachtet und meldete sich daher mit ihrem Namen.
"Hi, Ee-chan!" Eindeutig Tinami, das Genie der momentanen Wächtergeneration.
"Guten Morgen, Tinami. Ist was Bestimmtes?", fragte Green und ihr Widerwille war nicht zu überhören. Tinami schien nicht darauf zu achten, denn sie fuhr freudig fort mit dem Gespräch:
"Hast du nicht Lust kurz rüber zu kommen?"
"Ah, eigentlich nicht. Ich hab in knapp einer Stunde Unterricht und..."
"Es handelt sich um Si-kun und Ga-kun." Okay, das war ein Argument, wofür es sich lohnte den Unterricht zu schwänzen, auch wenn Gary ihr den Hals umdrehen würde. Immerhin war Green gerade ein Jahr zurückgestuft worden - was absolut schrecklich war. Kein Siberu, der einem im Unterricht Liebesbriefe schrieb! Keine Sho die kleine Zettelchen zu einem schickte und kein Gary der einen tadelte. Es war so langweilig und trostlos! Nachdem Siberu von Greens Klassenwechsel erfahren hatte, wollte er unbedingt auch wechseln, aber da er, dank dem Abschreiben, die gleichen Noten erhalten hatte wie Gary, war er schlicht weg zu gut um Sitzenzubleiben. Auch wenn sich dadurch Greens Noten erheblich gebessert hatten, da sie nicht mehr abgelenkt war (wovon auch...), freute sie sich nur noch auf die Pausen, wo Siberu der allererste war, der ihr Klassenzimmer betrat - was Greens neuen Mitschülerinnen äußerst gut gefiel.
Green musste bei dem Gedanken schmunzeln und beinahe vergas sie, was sich gestern vorgetragen hatte. Am liebsten würde sie es auch vergessen...
Es war kein ungewohnter Anblick nicht nur Tinami anzutreffen, sondern auch Kaira. Die beiden waren trotz ihres unterschiedlichen Charakters unzertrennlich, auch wenn Kaira es gerne leugnete und lieber die Rolle des Einzelgängers einnahm. Green kannte deren gemeinsame Vergangenheit kaum, doch es war etwas zwischen ihnen, was man nicht beim bloßen Anschauen entdeckte. Ein gut verstecktes Band der Freundschaft und des Vertrauens.
Kaira begrüßte ihre Hikari eher abweisend, während Tinami sie prompt umarmte. Auch wenn dies eher locker war, spürte man, dass etwas in der Luft hang.
"Willst du was zu trinken?" Green lehnte dankend ab und nahm neben Kaira Platz, ohne sie weiter zu beachten, was die Zeitwächterin ihr nachmachte.
"Ich hab ja nicht so viel Zeit. Schule, du weißt schon." Tinami nickte verstehend und setzte sich den beiden Wächtern gegenüber. In ihrem Zimmer herrschte wie immer ein enormes Chaos: Ein Schlachtfeld bestehend aus geschlachteten Computer und einem Kabelauflauf. Scheinbar hatte es Tinamis Schwester Azura bereits aufgegeben hier aufzuräumen.
Die Klimawächterin kramte etwas unter den Kabeln hervor, was Green als zwei Dokumente identifizierte. Wahrlich: Das Genie überblickt das Chaos.
Sie überreichte Green die Dokumente und sofort erkannte sie die beiden Halbdämonen die ihr aus den Bildern heraus anguckten. Es waren die Akten von Siberu und Gary. Green überflog die Daten, doch sah nichts was sie nicht auch schon wusste. Geburtsdatum, Alter, Blutgruppe, Rasse, mit der Green nichts anfangen konnte und Eltern... Bei der letzten Spalte las sie konzentrierter. Die beiden hatten es immer versucht nie über ihre Eltern zu reden und zum allerersten Mal las Green den Namen ihrer Eltern: Black und Miyako.
Über den Namen des Vaters musste Green schmunzeln und der Name der Menschenmutter freute sie. Sie war also Japanerin gewesen! Das hätten sie ihr doch erzählen können...
Doch - ansonsten stand dort nichts Interessantes.
"Dafür schwänze ich? Was soll daran interessant sein?" Kaira seufzte genervt und sofort schenkte Green ihr einen finsteren Blick. Es war jedoch Tinami die sie aufklärte:
"Diese Daten kommen direkt aus dem Server der Dämonen, ich habe sie nur übersetzt. Als deine beiden Freunde ins Jenseits eingedrungen sind, bekam ich von den Hikaris die Aufgabe deren Status näher zu untersuchen und das ist nun dabei rausgekommen. Ich dachte mir, ich zeige sie dir." Die Hikari wartete auf mehr und nach einer kurzen Pause war es Kaira die das Gespräch fortsetzte:
"Guck dir die Werte an! Das kann doch nicht so schwer sein!"
"Mein Güte! Ich bin doch kein Dezug!" Green blickte wieder hinab auf die Daten und sah sich die Ansammlung von Zahlen und Diagrammen genauer an. Das Ergebnis blieb jedoch das gleiche: Sie wurde nicht schlau daraus und verstand schon gar nicht, was daran so interessant war.
Kaira fluchte, doch Tinami blieb geduldig und erklärte abermals:
"Ee-chan, diese Zahlen sind Si-kuns und Ga-kuns Werte. Ihre Stärke, Schnelligkeit, Magiereserven und so weiter in Zahlen gefasst. So ein Dokument gibt es über jeden Dämon und auch über jeden Wächter." Green nickte und Tinami fuhr fort:
"Die Werte die da stehen, sind um einiges höher als die, die wir bisher besaßen - da stellt sich doch die Frage, warum die Version der Dämonen sich so sehr von unserer unterscheidet, nicht wahr? Sie sind doppelt so hoch um es genauer zu sagen."
"Ja und? Denn ist das eben die aktuellere Version..."
"Im Gegenteil! Diese Version ist vor sechs Jahren das letzte Mal geupdatet worden." Green verstand immer noch nicht, was daran so schlimm sein sollte. Was interessierten sie die Werte ihrer Freunde? Das waren doch nur Zahlen...
"Ich verstehe nicht genau worauf du hinaus willst, Tinami." Green sah zwar Tinami an, doch es war Kaira die wütend antwortete:
"Was gibt es da nicht zu verstehen?! Deine zwei Freunde haben ihre wahren Werte geheim gehalten, verstehst du nicht was das bedeutet?!"
"Es könnte tausende Gründe geben, warum die Werte unterschiedlich sind! Das musst doch nicht heißen, dass sie etwas verheimlichen!"
"Der wahrscheinlichste Grund ist aber, dass sie es verheimlichen. Die Frage ist: warum? Green, verdammt nochmal, warum siehst du das nicht!? Warum tun sie so, als wären sie schwach? Warum verstecken sie ihre wahre Stärke? Vielleicht um so leichter dein Vertrauen zu erschleichen?!" Green stand augenblicklich auf und funkelte Kaira aus dieser Position heraus wütend an.
"Du vertraust ihnen nicht, du kennst sie nicht! Das ist der einzige Grund weshalb du sowas sagst, nur weil sie Dämonen sind..." In diesem Augenblick unterbrach Kaira sie, indem sie ebenfalls aufstand und sie genauso wütend ansah wie umgekehrt. Tinami blieb sitzen und sah mit gemischten Gefühlen zum einen und dann zum anderen.
"Ich sehe wenigstens, dass sie Dämonen sind. DU verdrängst es!"
"Was bedeuten schon ein paar Zahlen!"
"Diese paar Zahlen bedeuten verdammt nochmal, dass sie etwas vor dir verheimlichen! Vielleicht spielen sie dir nur etwas vor, vielleicht sind sie nicht das was sie zu seinen scheinen..."
"SEI ENDLICH RUHIG!", schrie Green und unterbrach sie damit. Sie war so in Rage, dass sie nicht sofort mit ihrem Satz fortsetzen konnte, sondern erst einmal tief durchatmen musste.
"Ich als Hikari verbiete dir... jemals wieder so etwas Sibi und Gary vorzuwerfen!" Kaira sah sie finster an, Tinami eher überrascht, dass Green ihren Posten als Hikari ausnutzte, wo sie es doch so sehr verabscheute. Ein ironisches Lächeln zuckte über Kairas Gesicht als sie eine leichte Verbeugung andeutete und sagte:
"Dem werde ich mich wohl beugen müssen, Hikari-sama." Green starrte Kaira einen Moment lang zornig an, doch entschied sich dazu ihre Tasche zu nehmen und war auch schon an der Tür angekommen, ehe die beiden noch etwas sagen konnten.
Green tat es gut sich zu bewegen. Es war die perfekte Methode alles zu vergessen, oder wenigstens zu verdrängen. Sie hörte nichts anderes außer die klassische Musik und konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Bewegungen, im Versuch sich zum Takt der Musik zu bewegen. Da sie allerdings fast ein halbes Jahr lang keine Rhythmische Gymnastik betrieben hatte, war es nur allzu verständlich, dass es bei weiten nicht perfekt war. Aber das war ihr egal. Sie war ohnehin alleine in der Turnhalle, da ein normales Mädchen bei einem herrlichen Sommertag wie dieser eine andere Alternative als das freiwillige Training vorzog.
So alleine wie sie glaubte war sie jedoch nicht. Noch ein anderer hatte die kühle Turnhalle der Sonne vorgezogen und lehnte am Eingang. Siberu sah von dort aus ihrer Cour zu, mit einem melancholischen und fast schon sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck. Green hatte die Augen konzentriert geschlossen und war scheinbar auch zu vertieft um seine Aura zu bemerken. Er beobachtete sie fasziniert und folgte ihren Bewegungen mit den Augen. Er erkannte ihre Bewegungen wieder. Nicht nur von ihrem Gymnastik Training, sondern auch von ihrem Kampfstiel. Zwar hielt sie keine Waffe in der Hand, sondern das Band und dennoch konnte man ihren Kampfstiel hindurch sickern sehen. Doch egal ob im Kampf oder im Sport, sie bewegte sich fernab von ruppig, sondern wirklich als würden ihr Flügel aus dem Rücken wachsen. Es musste an ihrem Hikari Blut liegen... irgendwo waren sie doch Engel.
Green war es jedenfalls. Denn sie war genauso zerbrechlich, auf so vielen Gebieten. Wenn er wollte, könnte er sie auf der Stelle umbringen. Sie war absolut ohne Deckung. Für jeden Dämon stellte sie ein gefundenes Fressen da...
Und ihre Seele war noch zerbrechlicher.
Siberu bemerkte vor Green, dass sie dabei war sich in ihrem Band zu verknoten. Sie hatte wirklich das Training zu lange vernachlässigt. Als sie jedoch gerade über das unheilvolle Band zu stolpern drohte, schnellten Siberus Hände hervor und bewahrten sie vor dem Sturz, in dem er seine Hände um ihre Taille legte. Green verlor den Stab, an dem das Band befestigt war, rührte sich jedoch nicht. Sie sagte auch nichts, sondern blieb nur stehen. Siberu hatte merkwürdigerweise keinerlei Verlangen danach die jetzige Pose auszunutzen, obwohl sie unheimlich einladend war. Der leichte Schweiß auf ihrer Haut und den beschleunigten Atem, den er nicht nur hören konnte, sondern auch gegen seine Hände schlagen spürte.
So standen sie sicherlich einige Minuten.
"Hab dich gar nicht bemerkt, Sibi." Das gab für ihn den Grund sie loszulassen. Er schritt von ihr weg, nahm ein Handtuch und warf es ihr zu. Er bemerkte ein wenig resigniert, dass sie ihn besorgt und auch ein wenig ängstlich ansah. Ob sie daran dachte, dass er bereits einmal versucht hatte sie mit Gewalt an sich zu reißen?
"Du solltest nicht so gucken. Dämonen können sich bei so einem süßen Blick schwer zurückhalten, weißt du?" Er sagte dies mit einem leichten Grinsen, was Green scheinbar mit Freude aufnahm, auch wenn sie sah, dass es sich dabei nur um ein Abbild seines normalen Grinsens handelte. Doch es brachte sie dennoch zu einem Lächeln.
"Na siehst du. Das steht dir doch schon besser." Green antwortete nicht, sie vergrub ihr Gesicht im Handtuch. Erst als sie wieder aufsah, antwortete sie, jedoch ohne Blickkontakt:
"...Ich habe mir Sorgen um dich gemacht." Siberu schüttelte den Kopf.
"Und ich habe mir Sorgen um dich gemacht." Überrascht sah Green auf.
"Um mich? Warum?" Er nickte und antwortete ohne Umschweife:
"Wegen Blue." Greens Blick wurde zweifelnd und sie schritt von ihm weg, da sie das Handtuch beiseite legen wollte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, als sie antwortete:
"Sibi, bitte hör auf. Ich weiß, dass wir dich verletzt haben, aber das war nicht unsere Absicht! Ich wollte nie, dass unsere Freundschaft in Gefahr gerät..." Sie drehte sich nun wieder zu ihm herum und ging mit einem flehenden Ausdruck in den Augen auf ihn zu. Als sie wieder genau vor Siberu stand, hob sie ihre Hand und legte sie an seine Wange. Er erwiderte ihren Blick eher gefühlskalt.
"Ich liebe dich doch auch. Ich weiß, dass das es nicht die gleichen Gefühle sind, die du für mich hegst... aber..." Plötzlich packte Siberu ihre Hand und brachte ihre Worte zum ersticken. Jedoch war sein Griff nicht so hart, wie sie befürchtet hatte. Ehe er etwas sagte, sah er sie eine ganze Weile an.
"Ich werde dich beschützen." Ohne Worte starrte sie ihn nur an. Scheinbar bemerkte Green nun, dass es sein voller Ernst war und mit ein wenig unsicherer Stimme sagte sie:
"Was redest du da!? Du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich vor Gary keinen Schutz brauche! Er würde mich niemals verletzen. Er liebt mich..."
"Ich liebe dich auch." Sie riss sich aus seinem Griff los.
"Sibi, hör auf. Ich habe dir schon am Neujahr gesagt, dass ich deine Gefühle nicht erwidere. Das weißt du! Und wenn du mich wieder mit Gewalt nehmen willst, sei versichert, dass ich mich wehren werde!" Das hatte ihn verletzt. Das sah Green sofort und sie bereute ihre
übereifrigem Worte. Verletzt sah er weg.
"Es tut mir Leid...So meinte ich das nicht...", flüsterte Green. Er antwortete nicht. Einen Moment spielte Green mit dem Gedanken, ihn zu umarmen, doch gerade als sie ihre Arme nach ihm ausstrecken wollte, sah er auf und der Schmerz war ausgelöscht. Ernst sah er sie an.
"Ich weiß nicht wer von uns beiden dich mehr liebt. Es interessiert mich auch nicht. Alles was zählt ist, dass ich dich genug liebe um dich vor ihm zu beschützen!" Er packte Green an den Schultern.
"Blue wird dich umbringen." Greens Augen weiteten sich zuerst entsetzt, ehe die Skepsis die Oberhand gewann. Doch zum protestieren kam sie nicht.
"Er ist nicht so harmlos wie es scheint. Er hat genauso viele umgebracht wie ich! Auch wenn wir menschlich erscheinen, wir sind und bleiben Dämonen. Er kann dich nie so lieben wie ein Mensch oder ein Wächter dich lieben würde! Er liebt dich nicht. Er verlangt nach dir." Green war nicht fähig ihm zu antworten. Sie starrte ihn nur entsetzt an. Ihr Mund öffnete sich ein paar mal, doch die Argumente blieben in ihrem Halse stecken. Sie sah Siberus flehenden Blick und Kairas Worte hallten durch ihren Kopf... "Du verdrängst, dass sie Dämonen sind."
"Wie kommst du darauf?", fragte Green schwach und war kurz davor auf die Knie zu gehen, da sie sich plötzlich unheimlich schwach fühlte. Siberu sah sie weiterhin mit einer Mischung aus Mitleid und Flehe an, er sah ihr die nahende Schwäche an und wählte seine Worte bewusst.
"Weil er sich verändert." Green wiederholte die gleiche Frage, welche sie auch schon zuvor gestellt hatte und er antwortete, diesmal mit den Augen auf dem Boden geheftet:
"Du musst es doch schon bemerkt haben." Die Hikari antwortete nicht, doch in ihren Blick konnte er sehen, dass sie sehr wohl verstand was er sagte.
"Bei uns Dämonen gibt es sowas was sich die sieben Mächte nennt. In der Menschenwelt werden sie die sieben Sünden genannt." Er sah Green wieder an und sah, dass sie ihm folgen konnte.
"Ich bin nicht der Richtige um dir das zu erklären, Green-chan... aber ich werde es versuchen: Bei uns sagt man, dass diese Mächte das Blut zum kochen bringen. Sie steigern unsere Macht. Bei einem Halbdämon bedeutet das, dass das dämonische Blut dadurch in Wallung gerät. Jeder Dämon reagiert unterschiedlich auf diese sieben Mächte und Blue, der so gut wie noch nie dessen Anziehungskraft am eigenen Leib gespürt hat, anders als ich, reagiert empfindlich darauf. Aber er versteht es nicht! Er will es nicht wahrhaben, dass er für so etwas empfänglich ist... aber das ist er. Genau wie jeder andere Dämon, ist auch er von seinen Trieben gelenkt.
Deine Mutter ist doch das beste Beispiel, dafür was Dämonen machen um ihr Verlangen zu stillen." Green schluckte. Ihre Gedanken waren ihr deutlich ins Gesicht geschrieben und zugleich auch ihre Angst vor Nocturn.
"Daher... Bitte ich dich, Green. Liebe einen Wächter... und werde glücklich. An seiner Seite bist du sicher."
Firey legte die Hand auf die eiserne Tür, ohne, dass sie nachgab. Ihre Berührung hatte keinen Laut verursacht. Zum Glück. Sie wollte nicht bemerkt werden, da sie sich noch nicht bewusst war, wie sie handeln sollte, wenn sie bemerkt werden würde. Denn die Feuerwächterin wusste, wer sich hinter der eisernen Tür befand, sie konnte es spüren. Endlich. Lange hatte es gedauert, bis sie in der Lage gewesen war, die Auren der magischen Wesen zu spüren, doch endlich tat sie es. Es war ein angenehmes Gefühl. Selbst wenn sie alleine in dem dunklen Gang stand, war sie doch nicht alleine, weil sich Siberus Aura nicht weit von ihr entfernt befand.
Natürlich wusste sie, dass er sie auch bemerkt hatte. Er konnte Auren immerhin schon seid Ewigkeiten spüren und auch über eine viel längere Distanz. Sie spürte es nur, wenn die magische Person weniger als zwanzig Meter entfernt war.
Warum war Siberu also immer noch da, wenn er Firey doch schon bemerkt hatte? Wartete er etwa auf sie? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es tat... Warum sollte er. Aber er hatte schon viele Dinge getan, die nicht zu ihm passten und die sie nie von ihm erwartet hatte. In Gedanken sah sie wieder vor sich, wie er ihre Wange mit seinen Lippen berührt hatte... und umgehend wurde genau dieser Punkt warm. Siberu war unberechenbar. Dachte man, dass man ihn endlich verstand, stellte sich doch das Gegenteil heraus.
Warum musste sie sich gerade in so eine Person verlieben? Firey verstand sich selbst nicht. Warum beschleunigte sich ihr Herz, wenn sie an ihn dachte, warum wurde ihre Wange warm, wenn sie an den Kuss zurück dachte? Er war ein Idiot. Ein Casanova wie es im Buche stand. Was war an ihm, was es wert war geliebt zu werden? In was hatte sie sich verliebt? Welche von Siberus Werten waren es, die ihr Herz bewegten? Firey wusste es nicht... aber sie wusste, dass sie Siberu liebte. Endlich.
Mit einem entschlossenen Stoß, schob sie die Tür auf und wurde vom Sonnenlicht eine kurze Zeit geblendet, da ihre Augen an die Dunkelheit gewohnt gewesen waren.
Genau wie sie es gespürt hatte, stand sie Siberu gegenüber, dieser hatte ihr jedoch den Rücken zugekehrt, einige Meter von ihr entfernt. Sie standen beide auf dem Dach der Schule, welches von einem Gitter umzäunt wurde. Der Wind spielte mit den roten Haaren der beiden und wehte sie dennoch in verschiedene Richtungen...
Firey festigte ihren Griff um die Halterung ihres Köchers und schritt entschlossen auf ihn zu - so entschlossen wie es ihr momentaner Zustand zuließ jedenfalls. Siberu reagierte nicht, als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt stand.
"Hej." Auf Fireys Begrüßung hin sah Siberu über die Schulter. In seinem Blick lag eine gewisse Unruhe, aber zur gleichen Zeit auch Ruhe - eine merkwürdige Kombination. Als fürchtete er etwas was auf ihn zukam, obwohl er schon lange darauf vorbereitet war. Dies beunruhigte Firey, da sie alles andere erwartet hatte; einen genervten Blick, oder ein fieses Grinsen...
"Wie kommt es, dass ich noch einen Pfeil im Köcher übrig habe, Bakayama?" Sie machte einen Wink auf ihren Köcher, wo nur ein einsamer Pfeil lag. Der Angesprochene hob die Augenbraue, scheinbar wusste er nicht worauf sie hinaus wollte.
"Wir hatten heute Sport." Immer noch schien er ihr nicht folgen zu können.
"Du warst nicht da." Endlich öffnete Siberu den Mund um zu widersprechen.
"Ich habe Sport nicht geschwänzt. Ich war da."
"Du warst aber nicht in der Mädchenumkleide. Du hast nicht gespannt. Deshalb habe ich auch noch Munition." Ein leichtes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht und er fasste sich am Kopf. Dies erleichterte Firey ein wenig.
"Ich bin scheinbar ziemlich berechenbar."
"Hm. Nein. Eigentlich nicht." Siberu öffnete die Augen und ging einen Schritt auf sie zu, so, dass sie jetzt genau gegenüber voneinander standen und sie zu ihm hochsehen musste. Sein leichtes Grinsen sah aufgesetzt aus.
"Weißt du was, Firey." Ihr Herz beschleunigte sich, als er sie bei ihrem Namen nannte.
"Bewahr den Pfeil auf. Du wirst ihn in Zukunft noch brauchen."
"Wofür?", fragte Firey mit großen Augen. Ihre Augen wurden nur noch größer als Siberu mit einer ungewohnten Sanftheit seine Hand an ihre Wange legte.
"Du bist doch mein Gewissen. Wer soll mich denn sonst bestrafen, wenn nicht du." Firey erstarrte als er ihrem roten Gesicht obendrein auch noch näher kam. Ihre Nasenspitzen berührten sich jedoch nur kurz, ehe er sich kopfschüttelnd abwandte, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als würde er sich selbst auslachen wollen.
"Ich muss los."
Firey war kurz zu erstarrt um etwas zu tun, doch nicht lange genug, um Siberu gewähren zu lassen. Aus einer reinen Intuition getrieben streckte sie ihre Hand aus und packte seinen rechten Arm.
"Geh nicht, Siberu! Bitte, geh nicht!" Überrascht sah er sie an, drehte sich jedoch nicht los und befreite sich auch nicht aus ihrem Griff.
"Aber, Firey, wenn ich jetzt nicht Nachhause gehe, schaffe ich die Hausaufgaben nicht. Falls du es vergessen hast, morgen ist Abgabetermin für das Englischprojekt." Firey wusste nicht warum, aber sie spürte plötzlich wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
"Ich weiß doch ganz genau, dass du sowieso abschreibst! Warum sagst du mir nicht die Wahrheit!?" Jetzt löste er sich aus ihrem Griff und schritt entschlossen auf sie zu.
"Abschreiben benötigt auch seine Zeit."
"Du elendiger Lügne..." Ihre Worte erreichten nicht seine Ohren, da sie sie nicht einmal aussprechen konnte, denn etwas hinderte sie daran; etwas dass ihr den Atem raubte und sich Herz zum plötzlich Stillstand bewegte, nur um danach noch schneller zu schlagen.
Siberu küsste Firey.
Er hatte seine Hände an ihrer Hüfte, hatte sie damit zu sich gezogen um deren Lippen zu vereinigen. Doch es war...
Firey fiel ohnmächtig in seine Arme und regte sich nicht mehr. Siberu streckte die Zunge aus und sagte mit leicht roten Wangen:
"Was mein Bruder kann, kann ich schon lange!" Langsam wurde er jedoch ernster. Seine Gesichtszüge wurden lustlos und leer, während er Fireys langen Zopf beobachtete wie er im Wind lag. Lange sah er sie an. Dachte an vieles, aber gleichzeitig auch an nichts. Seine Gedanken schienen sein Herz nicht zu erreichen. Er musste sich selbst loben, denn er war wirklich gut darin, sein Herz und damit auch seine Gefühl zu verschließen.
Aber, wenn er so gut darin war, was war es denn für eine merkwürdige Leere in sich, als er Firey auf dem Boden legte und ihr den Rücken zuwandte?
Siberu seufzte tief und richtete seinen Blick in den blauen Himmel.
Er mochte den Himmel der Menschenwelt.
Leidenschaftlich erwiderte sie seine Umarmung, schlang ihren Arm um seinen Hals und wünschte sich sein Gesicht zu sehen. War er genauso glücklich wie sie? Musste er auch gegen die Tränen ankämpfen?
"Gary! Ich..." Doch es war nicht sein Gesicht welches sie plötzlich vor sich sah.
"S-Sibi...!" Green ließ von Gary ab und beide blickten zur geöffneten Tür. Die Spieluhr verstummte, als der Halbdämon mit ironischer Stimme sagte:
"Ich bin früher zurück. Aber scheinbar habt ihr mich nicht vermisst!" Green konnte nicht anders als ihn im ersten Moment nur anzustarren. Die Freude in ihr war wie weggewischt, ihr war plötzlich kalt, statt warm. Gary hielt immer noch ihre Finger in seinen, auch wenn Green versuchte sich frei zu machen. Ihm schien es total egal zu sein, dass gerade der Dritte im Bunde dazu gekommen war. Die Frage wie lange Siberu da schon stand und was er alles gesehen hatte, rannte durch Greens Kopf, auch wenn es egal war. Man sah jetzt schon genug um zu einer Schlussfolgerung zu kommen.
Sie sah in sein Gesicht, versuchte irgendeine Regung in seinen kalten roten Augen hervorzurufen, doch Siberu blieb hart. Als er den Mund öffnete, zuckte Green zusammen, als würde sie eine Strafe erwarten.
Doch sie verstand kein Wort.
Er sprach in der Sprache der Dämonen, so dass es Green unmöglich war auch nur den Sinn seiner Worte zu erahnen. Zum ersten Mal drehte sie den Kopf und sah Gary an, um einen Anhaltspunkt zu erhalten. Der Halbdämon sah überrascht aus. Warum? Aus dem gleichen Grund wie Green? Oder war es die Botschaft in den Worten Siberus die ihn überraschte?
Gary antwortete ebenfalls in deren Sprache.
"Hört auf! Ihr könnt genauso gut offen reden!" Sie sah von Gary zu Siberu und es durchfuhr sie wie ein Blitz. Garys Antwort hatte in Siberu etwas bewegt. Seine Gesichtszüge waren härter geworden und seine Augen... Sie waren genauso kalt und klein wie damals als er versucht hatte Green mit Gewalt zu nehmen.
Green löste sich nun völlig von Gary, als sie aufsprang und auf Siberu zu hechtete. Sie packte ihn am Arm und sah flehend, doch auch unbeirrbar zu ihm auf.
"Hört auf!" Sie sah nochmal zu Gary.
"Alle beide!" Doch Siberu nahm die Hand die seinen Arm festhielt und presste sie weg. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verließ er das Zimmer und kurze Zeit später, hörten beide wie die Haustür hinter ihm zufiel.
Green blieb unbeweglich stehen, an dem Punkt wo Siberu sie stehen gelassen hatte. Sie hörte, dass Gary aufstand und sie bemerkte, dass er hinter ihr stand. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, fing sie an:
"Es war... niemals meine Absicht das "Wir" kaputt zu machen. Ich Egoist... ich habe nie an Sibi gedacht." Er schwieg und Green fragte sich plötzlich, ob es ihm überhaupt etwas ausmachte, dass das Trio gerade dabei war, auseinander zu brechen. Erst nach einer Weile sagte er zögernd:
"...Du bist mir wichtiger als das "wir"." Green schloss die Augen.
"Was ist mit Sibi? Er kann dir doch nicht egal sein..."
"Man muss sich entscheiden. Man kann nicht alles haben." Green konnte nicht fassen was sie da hörte. War das wirklich Gary der hinter ihr stand? War ihm sein Bruder egal? Sie hatten ihn beide gleichermaßen verletzt...
"Gut. Dann gehe ich eben zu ihm. Mir ist er nämlich nicht egal!" Sie war bereits einen Schritt auf die Tür zugegangen, als Gary hart ihr Handgelenk ergriff. So hart, dass es beinahe schon weh tat.
"Das tust du nicht." Sie drehte sich zu ihm um und ließ sich bei ihren Worten nicht von seinem finsteren Gesichtsausdruck beirren.
"Seit wann bist du so egoistisch?! Das ist nicht der Gary den ich kenne!" Diese Worte brachten ihn aus der Fassung, diese Worte hatten ins Ziel getroffen. Er sah zur Seite, biss sich auf die Unterlippe. Umgehend bereute sie ihre Worte, doch zog sie nicht zurück.
"Dann... wird es Zeit, dass du diese Seite kennen lernst."
"Ich... weiß nicht ob ich das will." Ein wenig schwach lächelte er sie an, in dem Moment wo er ihre Hand losließ. Er schüttelte ein wenig den Kopf und sagte dann:
"Nein, willst du nicht." Green antwortete nicht. Sie sah ihn nur an, versuchte Augenkontakt aufzunehmen, doch er sah weg. Kaum hörbar seufzte Gary, ehe er sagte:
"Ich gehe zu ihm. Bleib bitte hier." Er drehte sich ohne weitere Konversation zur Tür, wurde jedoch kurz vor dieser von ihr aufgehalten:
"Gary..." Er blieb stehen, denn in dem sie das sagte und ihn damit aufhielt, erwachte Hoffnung in ihn. Doch die Antwort enttäuschte ihn:
"Bitte, redet von Mensch zu Mensch miteinander, nicht als Dämonen."
Als Gary die Wohnung betrat, erblickte er sofort seinen Bruder. Er lehnte an dem Küchentisch, mit verschränkten Armen, es wirkte, als müsste er sich zusammenreißen, die Sache nicht auf "Dämonen Art" aus der Welt zu schaffen. Das Licht war ausgeschaltet und da die Sonne bereits untergegangen war, lag das Zimmer dunkel vor ihm. Schatten fielen in Siberus Gesicht und verdunkelten es so weit, dass es schwer war, seinen Gesichtsausdruck zu erahnen. Er bewegte sich nicht, als sein großer Bruder eintrat und sagte auch nichts.
Gary hatte nicht die geringste Lust sich mit ihm auseinander zu setzen. Weder wörtlich noch verbal. Wenn Siberu das Gespräch nicht anfing, würde er es auch nicht tun. Überaschenderweise war es tatsächlich Siberu der das Wort ergriff:
"Meinst du es ernst? ... Liebst du Green?" Seine Stimme klang überaus gefasst, seine Wut war nicht zu hören, auch wenn Gary sie deutlich in der Luft spüren konnte. Siberu sollte mit seinem Bruder eigentlich über Rui reden, aber etwas anderes war jetzt wichtiger... und wenn er es genau betrachtete überschnitten sich diese beiden Themen auch irgendwo.
"Ja, das tue ich. Und wenn du sie genauso liebst, Silver, dann werden wir zum ersten Mal ernsthaft gegeneiner kämpfen." Ein kurzes Schweigen, dann antwortete der Rotschopf, dass er das nicht gemeint hatte. Was war in seinen großen Bruder gefahren? Dachte er überhaupt nicht mehr nach? War er sich nicht bewusst, was geschehen würde, was vielleicht schon geschah? Alleine diese Aussage... dass er "ernsthaft" gegen Siberu kämpfen würde, wenn er sich dazu entscheiden würde, Green für sich gewinnen zu wollen. Diese Aussage passte nicht zu ihm. Doch es wunderte Siberu nicht, dass er es gesagt hatte.
"Worüber redest du dann?" Plötzlich schlug Siberu mit der Faust auf der Tischplatte. Gary zuckte nicht zusammen, er hatte immerhin auf einen Wutausbruch gewartet. Er trat dem mit Ruhe gegenüber.
"Stell dich nicht dumm! Du weißt genau wovon ich spreche! Früher oder später werden wir wieder in unsere Heimat zurückkehren und was ist dann mit ihr?! Du weißt genau, was das für Folgen hat!" Ruhig sah Gary seinen kleinen Bruder an, der sich jetzt mit den Fingern an die Tischkannte krallte um nicht die Beherrschung zu verlieren.
"Es wird keine Folgen haben."
"Natürlich wird es das! Das ist es doch worauf es hinaus läuft, das wofür wir die ganze Zeit gearbeitet haben. Bald ist es vorbei und..."
"Ich bleibe hier." Siberus Haltung fiel in sich zusammen, die Wut schien verraucht. Skeptisch sagte er:
"Das... kannst du nicht."
"Ich werde hierbleiben, Silver. Ob es dir oder den Hohen gefällt ist mir egal. Ich hätte diesen Entschluss schon viel früher fällen müssen... Nein, im Prinzip hatte ich diesen Entschluss schon die ganze Zeit gemacht, nur war ich mir dessen nicht bewusst." Ein ironisches Lachen unterbrach Gary und ließ ihn zum ersten Mal verwundert Aufsehen.
"Ach! Da hast du dir ja was Schönes einfallen lassen! Und was machst du dann? Planst du etwa schon die Hochzeit? Wie märchenhaft! Eine Hikari und ein Dämon! Vereint bis in alle Ewigkeit, lieben und ehren bis der Tod euch scheidet! Welch ein Happy End! Nur schade, dass wir nicht in einem Märchen leben, was, Aniki? Selbst wenn du dich dazu entscheidest, nie wieder auch nur einen Fuß in unsere Welt zu setzen und dich dein ganzes Leben lang vor den Hohen versteckst, vor deinem Blut kannst du nicht davonlaufen! Was machst du wenn ihr euch streitet? Was, wenn dir ausversehen mal die Hand ausrutscht? Dann hast du sie umgebracht! Die Frau die du lieben und beschützen solltest, hast du dann umgebracht! Willst du, dass es so endet?! Willst du Greens Tod besiegeln, genau wie..." Er kam ins Stocken, musste kurz Luft holen.
"Wie... Vater Mama umgebracht hat?!" Die Antwort kam sofort.
"Woher... weißt du das?" Es war ruhiger geworden zwischen den Zweien, Siberus Wut war abgeflaut. Er starrte einen unbestimmten Punkt im Zimmer an.
"Von unserem Sensei."
"Silver, das ist eine Lüge..." Er sah ihn wieder an.
"Warum sollte es eine sein? Sie haben sich immer nur gestritten. Du hast genauso oft gesehen wie er sie geschlagen hat. Es ist kein Wunder, dass ihm irgendwann der Geduldsfaden gerissen ist! Es war ihre eigene Schuld! Als Mensch hätte sie wissen müssen, wo ihr Platz ist."
"Rede nicht so über Mutter!" Spöttisch sah Siberu Gary an, dass konnte man selbst in der Dunkelheit erkennen.
"Ja, Blue, du warst ja auch immer das Mutterkind. Kein Wunder, dass du mir immer erzählst hast, dass sie bei einem Unfall gestorben ist. Wolltest du der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen?"
"Es reicht!" Der Angesprochene tat so, als hätte er es nicht gehört.
"Findest du nicht, dass unsere Mutter Green ähnlich sieht? Ist das vielleicht der Grund, warum du dich in Green "verliebt" hast?" Siberu selbst war über die heftige Reaktion seines Bruders überrascht und konnte im ersten Moment nicht verstehen, warum er auf dem Boden lag. Erst als der Schmerz langsam, aber drängend an seinem Hinterkopf pochte, verstand er, dass Gary ihn zu Boden geworfen hatte. Er hatte seine Faust um den Kragen seines kleinen Bruders geballt. Er hatte bereits den Mund geöffnet, um mit Worten nachzusetzen als Siberu monoton sagte:
"Es ist lange her, dass ich dich mit roten Augen gesehen habe, Blue." Umgehend, als hätte der Rotschopf eine Zauberformel gesagt, sprang Gary auf die Füße und drehte sich fast schon gesteinigt von ihm weg. Er sagte nichts und Siberu blieb auf dem Boden liegen, als hätte er keine Kraft aufzustehen. Vielleicht war es wirklich die Tatsache, dass er über die Reaktion seines Bruders geschockt war.
"Ich habe es dir doch gesagt. So etwas kann immer passieren, auch bei Green."
"Hör auf. Ich weiß es doch selbst..." Seine Stimme klang fast schon flehend. Schon wieder etwas Ungewohntes von seinem Bruder. Siberu setzte sich langsam auf, blieb ein wenig sitzen und stand dann auf.
"Du sagst du liebst sie."
"Ja... das tue ich."
"Bist du dir so sicher?"
"Was meinst du?"
"Was ist, wenn du nur nach ihr verlangst?"
Siberu drehte sich zu ihm um und konnte nicht drum herum, dass ein fast schon mitleidender Ausdruck sich mit seinen Augen vermischte, als er sagte:
"Wenn du sie wirklich lieben würdest, wie ein Mensch einen anderen Menschen liebt, wie die Wächter sich lieben... dann hättest du Green nicht geküsst. Wenn du sie wirklich lieben würdest... würdest du auf dein Glück verzichten um sie zu retten."
In dieser Nacht schlief Green kaum. Ihre Ohren horchten angestrengt nach verdächtigen Geräuschen aus der Nebenwohnung, sie lag mit dem Ohr beinahe an die Wand gedrückt. Doch sie hörte nichts. Nicht einmal den Laut ihrer Stimmen. Sie sagte sich immer wieder, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wenn sie sich angreifen würden, würde sie es mitbekommen. Auch wenn sie sich woanders hin teleportieren würden, um von Green nicht aufgehalten zu werden, würde sie es bemerken, anhand ihrer Auren. Doch da sie diese nebenan spüren konnte, mussten sie da sein. Vielleicht war es auch alles friedlich abgelaufen... vielleicht war morgen alles wieder wie gestern...
Aber wollte Green es überhaupt? Die Liebeserklärung von Gary kam ihr so weit weg vor... sie konnte immer noch nicht fassen, was zwischen ihnen passiert war. Es war, als gehört es in einem Traum und nicht in die Realität. Doch es war Realität, ansonsten würde sie hier nicht liegen und um die beiden Brüder bangen.
Als der Wecker anspring und die Stimme eines Nachrichtensprechers auf sie herab prasselte, kam es Green so vor, als wäre sie gerade erst zu Bett gegangen. Eine lasche Bewegung ihrer Hand genügte und der Wecker war aus. Bei dieser Bewegung kam es ihr allerdings so vor, als hätte sie gerade einen Eisklumpen angefasst - und da es Mitte Juli war, war ihr klar, dass es sich nicht um ihre Zimmertemperatur handelte.
"Guten Morgen, Mrs. Schlafmütze." Green brauchte nicht aufzusehen um zu wissen, um welche Person es sich handelte. Mit einem Maulen zog sie sich die Decke über dem Kopf. Es grauste ihr aufzustehen.
"Ja, ich finde es auch schön, dass du mir so bereitwillig von deinen gestrigen Erlebnissen erzählst! Ich finde es so schön, dass wir keine Geheimnisse vor uns haben, du nicht auch?" Auf diese indirekte Beschwerde Silence' hin, gab Green endlich Wörter von sich:
"Du weißt es doch sowieso, also warum sollte ich mir da die Mühe machen." Silence schien zu merken, dass es Green nicht gut ging, denn sie fragte, warum sie so unglücklich aussah.
"Er hat dir seine Liebe gestanden, darauf hast du doch die ganze Zeit gewartet und gehofft. Warum bist du nicht glücklich? Ist es wegen dem Rotschopf? Dir hätte doch klar sein müssen, dass du nicht alles haben kannst." Green richtete sich in ihrem Bett auf und lehnte sich an die Wand.
"Ja, ich sollte glücklich sein, nicht wahr? Aber ich bin's nicht... und das hat nicht nur was mit Sibi zu tun. Das ist mir über Nacht klar geworden."
"Was ist es dann?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass da irgendetwas ist, was nicht sein soll. Gary... er wollte mir etwas anderes sagen. Als er sagte, dass er mir etwas beichten müsse, sah er so... leidend aus. Das hatte nichts mit seiner Liebeserklärung zu tun. Irgendetwas wollte er mir sagen... Irgendetwas was er schon lange mit sich rumschleppt." Genau in dem Moment wo Silence ihr antworten wollte, klingelte ihr Handy. Anhand des Klingeltons war zu hören, dass es sich um das Handy handelte, worauf Grey, Tinami und die anderen Wächter sich meldeten. Ihr normales Handy, was sie jetzt mehr gefreut hätte zu hören, lag tonlos auf dem Nachtschrank.
Green grummelte, da es ihr überhaupt nicht gefiel aus dem warmen Bett aufzustehen, um zur Kommode zu gelangen. Dennoch, auch ohne Silence' Kommentar, stand sie auf und schnappte sich das Handy. Sie hatte nicht auf die Nummer geachtet und meldete sich daher mit ihrem Namen.
"Hi, Ee-chan!" Eindeutig Tinami, das Genie der momentanen Wächtergeneration.
"Guten Morgen, Tinami. Ist was Bestimmtes?", fragte Green und ihr Widerwille war nicht zu überhören. Tinami schien nicht darauf zu achten, denn sie fuhr freudig fort mit dem Gespräch:
"Hast du nicht Lust kurz rüber zu kommen?"
"Ah, eigentlich nicht. Ich hab in knapp einer Stunde Unterricht und..."
"Es handelt sich um Si-kun und Ga-kun." Okay, das war ein Argument, wofür es sich lohnte den Unterricht zu schwänzen, auch wenn Gary ihr den Hals umdrehen würde. Immerhin war Green gerade ein Jahr zurückgestuft worden - was absolut schrecklich war. Kein Siberu, der einem im Unterricht Liebesbriefe schrieb! Keine Sho die kleine Zettelchen zu einem schickte und kein Gary der einen tadelte. Es war so langweilig und trostlos! Nachdem Siberu von Greens Klassenwechsel erfahren hatte, wollte er unbedingt auch wechseln, aber da er, dank dem Abschreiben, die gleichen Noten erhalten hatte wie Gary, war er schlicht weg zu gut um Sitzenzubleiben. Auch wenn sich dadurch Greens Noten erheblich gebessert hatten, da sie nicht mehr abgelenkt war (wovon auch...), freute sie sich nur noch auf die Pausen, wo Siberu der allererste war, der ihr Klassenzimmer betrat - was Greens neuen Mitschülerinnen äußerst gut gefiel.
Green musste bei dem Gedanken schmunzeln und beinahe vergas sie, was sich gestern vorgetragen hatte. Am liebsten würde sie es auch vergessen...
Es war kein ungewohnter Anblick nicht nur Tinami anzutreffen, sondern auch Kaira. Die beiden waren trotz ihres unterschiedlichen Charakters unzertrennlich, auch wenn Kaira es gerne leugnete und lieber die Rolle des Einzelgängers einnahm. Green kannte deren gemeinsame Vergangenheit kaum, doch es war etwas zwischen ihnen, was man nicht beim bloßen Anschauen entdeckte. Ein gut verstecktes Band der Freundschaft und des Vertrauens.
Kaira begrüßte ihre Hikari eher abweisend, während Tinami sie prompt umarmte. Auch wenn dies eher locker war, spürte man, dass etwas in der Luft hang.
"Willst du was zu trinken?" Green lehnte dankend ab und nahm neben Kaira Platz, ohne sie weiter zu beachten, was die Zeitwächterin ihr nachmachte.
"Ich hab ja nicht so viel Zeit. Schule, du weißt schon." Tinami nickte verstehend und setzte sich den beiden Wächtern gegenüber. In ihrem Zimmer herrschte wie immer ein enormes Chaos: Ein Schlachtfeld bestehend aus geschlachteten Computer und einem Kabelauflauf. Scheinbar hatte es Tinamis Schwester Azura bereits aufgegeben hier aufzuräumen.
Die Klimawächterin kramte etwas unter den Kabeln hervor, was Green als zwei Dokumente identifizierte. Wahrlich: Das Genie überblickt das Chaos.
Sie überreichte Green die Dokumente und sofort erkannte sie die beiden Halbdämonen die ihr aus den Bildern heraus anguckten. Es waren die Akten von Siberu und Gary. Green überflog die Daten, doch sah nichts was sie nicht auch schon wusste. Geburtsdatum, Alter, Blutgruppe, Rasse, mit der Green nichts anfangen konnte und Eltern... Bei der letzten Spalte las sie konzentrierter. Die beiden hatten es immer versucht nie über ihre Eltern zu reden und zum allerersten Mal las Green den Namen ihrer Eltern: Black und Miyako.
Über den Namen des Vaters musste Green schmunzeln und der Name der Menschenmutter freute sie. Sie war also Japanerin gewesen! Das hätten sie ihr doch erzählen können...
Doch - ansonsten stand dort nichts Interessantes.
"Dafür schwänze ich? Was soll daran interessant sein?" Kaira seufzte genervt und sofort schenkte Green ihr einen finsteren Blick. Es war jedoch Tinami die sie aufklärte:
"Diese Daten kommen direkt aus dem Server der Dämonen, ich habe sie nur übersetzt. Als deine beiden Freunde ins Jenseits eingedrungen sind, bekam ich von den Hikaris die Aufgabe deren Status näher zu untersuchen und das ist nun dabei rausgekommen. Ich dachte mir, ich zeige sie dir." Die Hikari wartete auf mehr und nach einer kurzen Pause war es Kaira die das Gespräch fortsetzte:
"Guck dir die Werte an! Das kann doch nicht so schwer sein!"
"Mein Güte! Ich bin doch kein Dezug!" Green blickte wieder hinab auf die Daten und sah sich die Ansammlung von Zahlen und Diagrammen genauer an. Das Ergebnis blieb jedoch das gleiche: Sie wurde nicht schlau daraus und verstand schon gar nicht, was daran so interessant war.
Kaira fluchte, doch Tinami blieb geduldig und erklärte abermals:
"Ee-chan, diese Zahlen sind Si-kuns und Ga-kuns Werte. Ihre Stärke, Schnelligkeit, Magiereserven und so weiter in Zahlen gefasst. So ein Dokument gibt es über jeden Dämon und auch über jeden Wächter." Green nickte und Tinami fuhr fort:
"Die Werte die da stehen, sind um einiges höher als die, die wir bisher besaßen - da stellt sich doch die Frage, warum die Version der Dämonen sich so sehr von unserer unterscheidet, nicht wahr? Sie sind doppelt so hoch um es genauer zu sagen."
"Ja und? Denn ist das eben die aktuellere Version..."
"Im Gegenteil! Diese Version ist vor sechs Jahren das letzte Mal geupdatet worden." Green verstand immer noch nicht, was daran so schlimm sein sollte. Was interessierten sie die Werte ihrer Freunde? Das waren doch nur Zahlen...
"Ich verstehe nicht genau worauf du hinaus willst, Tinami." Green sah zwar Tinami an, doch es war Kaira die wütend antwortete:
"Was gibt es da nicht zu verstehen?! Deine zwei Freunde haben ihre wahren Werte geheim gehalten, verstehst du nicht was das bedeutet?!"
"Es könnte tausende Gründe geben, warum die Werte unterschiedlich sind! Das musst doch nicht heißen, dass sie etwas verheimlichen!"
"Der wahrscheinlichste Grund ist aber, dass sie es verheimlichen. Die Frage ist: warum? Green, verdammt nochmal, warum siehst du das nicht!? Warum tun sie so, als wären sie schwach? Warum verstecken sie ihre wahre Stärke? Vielleicht um so leichter dein Vertrauen zu erschleichen?!" Green stand augenblicklich auf und funkelte Kaira aus dieser Position heraus wütend an.
"Du vertraust ihnen nicht, du kennst sie nicht! Das ist der einzige Grund weshalb du sowas sagst, nur weil sie Dämonen sind..." In diesem Augenblick unterbrach Kaira sie, indem sie ebenfalls aufstand und sie genauso wütend ansah wie umgekehrt. Tinami blieb sitzen und sah mit gemischten Gefühlen zum einen und dann zum anderen.
"Ich sehe wenigstens, dass sie Dämonen sind. DU verdrängst es!"
"Was bedeuten schon ein paar Zahlen!"
"Diese paar Zahlen bedeuten verdammt nochmal, dass sie etwas vor dir verheimlichen! Vielleicht spielen sie dir nur etwas vor, vielleicht sind sie nicht das was sie zu seinen scheinen..."
"SEI ENDLICH RUHIG!", schrie Green und unterbrach sie damit. Sie war so in Rage, dass sie nicht sofort mit ihrem Satz fortsetzen konnte, sondern erst einmal tief durchatmen musste.
"Ich als Hikari verbiete dir... jemals wieder so etwas Sibi und Gary vorzuwerfen!" Kaira sah sie finster an, Tinami eher überrascht, dass Green ihren Posten als Hikari ausnutzte, wo sie es doch so sehr verabscheute. Ein ironisches Lächeln zuckte über Kairas Gesicht als sie eine leichte Verbeugung andeutete und sagte:
"Dem werde ich mich wohl beugen müssen, Hikari-sama." Green starrte Kaira einen Moment lang zornig an, doch entschied sich dazu ihre Tasche zu nehmen und war auch schon an der Tür angekommen, ehe die beiden noch etwas sagen konnten.
Green tat es gut sich zu bewegen. Es war die perfekte Methode alles zu vergessen, oder wenigstens zu verdrängen. Sie hörte nichts anderes außer die klassische Musik und konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Bewegungen, im Versuch sich zum Takt der Musik zu bewegen. Da sie allerdings fast ein halbes Jahr lang keine Rhythmische Gymnastik betrieben hatte, war es nur allzu verständlich, dass es bei weiten nicht perfekt war. Aber das war ihr egal. Sie war ohnehin alleine in der Turnhalle, da ein normales Mädchen bei einem herrlichen Sommertag wie dieser eine andere Alternative als das freiwillige Training vorzog.
So alleine wie sie glaubte war sie jedoch nicht. Noch ein anderer hatte die kühle Turnhalle der Sonne vorgezogen und lehnte am Eingang. Siberu sah von dort aus ihrer Cour zu, mit einem melancholischen und fast schon sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck. Green hatte die Augen konzentriert geschlossen und war scheinbar auch zu vertieft um seine Aura zu bemerken. Er beobachtete sie fasziniert und folgte ihren Bewegungen mit den Augen. Er erkannte ihre Bewegungen wieder. Nicht nur von ihrem Gymnastik Training, sondern auch von ihrem Kampfstiel. Zwar hielt sie keine Waffe in der Hand, sondern das Band und dennoch konnte man ihren Kampfstiel hindurch sickern sehen. Doch egal ob im Kampf oder im Sport, sie bewegte sich fernab von ruppig, sondern wirklich als würden ihr Flügel aus dem Rücken wachsen. Es musste an ihrem Hikari Blut liegen... irgendwo waren sie doch Engel.
Green war es jedenfalls. Denn sie war genauso zerbrechlich, auf so vielen Gebieten. Wenn er wollte, könnte er sie auf der Stelle umbringen. Sie war absolut ohne Deckung. Für jeden Dämon stellte sie ein gefundenes Fressen da...
Und ihre Seele war noch zerbrechlicher.
Siberu bemerkte vor Green, dass sie dabei war sich in ihrem Band zu verknoten. Sie hatte wirklich das Training zu lange vernachlässigt. Als sie jedoch gerade über das unheilvolle Band zu stolpern drohte, schnellten Siberus Hände hervor und bewahrten sie vor dem Sturz, in dem er seine Hände um ihre Taille legte. Green verlor den Stab, an dem das Band befestigt war, rührte sich jedoch nicht. Sie sagte auch nichts, sondern blieb nur stehen. Siberu hatte merkwürdigerweise keinerlei Verlangen danach die jetzige Pose auszunutzen, obwohl sie unheimlich einladend war. Der leichte Schweiß auf ihrer Haut und den beschleunigten Atem, den er nicht nur hören konnte, sondern auch gegen seine Hände schlagen spürte.
So standen sie sicherlich einige Minuten.
"Hab dich gar nicht bemerkt, Sibi." Das gab für ihn den Grund sie loszulassen. Er schritt von ihr weg, nahm ein Handtuch und warf es ihr zu. Er bemerkte ein wenig resigniert, dass sie ihn besorgt und auch ein wenig ängstlich ansah. Ob sie daran dachte, dass er bereits einmal versucht hatte sie mit Gewalt an sich zu reißen?
"Du solltest nicht so gucken. Dämonen können sich bei so einem süßen Blick schwer zurückhalten, weißt du?" Er sagte dies mit einem leichten Grinsen, was Green scheinbar mit Freude aufnahm, auch wenn sie sah, dass es sich dabei nur um ein Abbild seines normalen Grinsens handelte. Doch es brachte sie dennoch zu einem Lächeln.
"Na siehst du. Das steht dir doch schon besser." Green antwortete nicht, sie vergrub ihr Gesicht im Handtuch. Erst als sie wieder aufsah, antwortete sie, jedoch ohne Blickkontakt:
"...Ich habe mir Sorgen um dich gemacht." Siberu schüttelte den Kopf.
"Und ich habe mir Sorgen um dich gemacht." Überrascht sah Green auf.
"Um mich? Warum?" Er nickte und antwortete ohne Umschweife:
"Wegen Blue." Greens Blick wurde zweifelnd und sie schritt von ihm weg, da sie das Handtuch beiseite legen wollte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, als sie antwortete:
"Sibi, bitte hör auf. Ich weiß, dass wir dich verletzt haben, aber das war nicht unsere Absicht! Ich wollte nie, dass unsere Freundschaft in Gefahr gerät..." Sie drehte sich nun wieder zu ihm herum und ging mit einem flehenden Ausdruck in den Augen auf ihn zu. Als sie wieder genau vor Siberu stand, hob sie ihre Hand und legte sie an seine Wange. Er erwiderte ihren Blick eher gefühlskalt.
"Ich liebe dich doch auch. Ich weiß, dass das es nicht die gleichen Gefühle sind, die du für mich hegst... aber..." Plötzlich packte Siberu ihre Hand und brachte ihre Worte zum ersticken. Jedoch war sein Griff nicht so hart, wie sie befürchtet hatte. Ehe er etwas sagte, sah er sie eine ganze Weile an.
"Ich werde dich beschützen." Ohne Worte starrte sie ihn nur an. Scheinbar bemerkte Green nun, dass es sein voller Ernst war und mit ein wenig unsicherer Stimme sagte sie:
"Was redest du da!? Du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich vor Gary keinen Schutz brauche! Er würde mich niemals verletzen. Er liebt mich..."
"Ich liebe dich auch." Sie riss sich aus seinem Griff los.
"Sibi, hör auf. Ich habe dir schon am Neujahr gesagt, dass ich deine Gefühle nicht erwidere. Das weißt du! Und wenn du mich wieder mit Gewalt nehmen willst, sei versichert, dass ich mich wehren werde!" Das hatte ihn verletzt. Das sah Green sofort und sie bereute ihre
übereifrigem Worte. Verletzt sah er weg.
"Es tut mir Leid...So meinte ich das nicht...", flüsterte Green. Er antwortete nicht. Einen Moment spielte Green mit dem Gedanken, ihn zu umarmen, doch gerade als sie ihre Arme nach ihm ausstrecken wollte, sah er auf und der Schmerz war ausgelöscht. Ernst sah er sie an.
"Ich weiß nicht wer von uns beiden dich mehr liebt. Es interessiert mich auch nicht. Alles was zählt ist, dass ich dich genug liebe um dich vor ihm zu beschützen!" Er packte Green an den Schultern.
"Blue wird dich umbringen." Greens Augen weiteten sich zuerst entsetzt, ehe die Skepsis die Oberhand gewann. Doch zum protestieren kam sie nicht.
"Er ist nicht so harmlos wie es scheint. Er hat genauso viele umgebracht wie ich! Auch wenn wir menschlich erscheinen, wir sind und bleiben Dämonen. Er kann dich nie so lieben wie ein Mensch oder ein Wächter dich lieben würde! Er liebt dich nicht. Er verlangt nach dir." Green war nicht fähig ihm zu antworten. Sie starrte ihn nur entsetzt an. Ihr Mund öffnete sich ein paar mal, doch die Argumente blieben in ihrem Halse stecken. Sie sah Siberus flehenden Blick und Kairas Worte hallten durch ihren Kopf... "Du verdrängst, dass sie Dämonen sind."
"Wie kommst du darauf?", fragte Green schwach und war kurz davor auf die Knie zu gehen, da sie sich plötzlich unheimlich schwach fühlte. Siberu sah sie weiterhin mit einer Mischung aus Mitleid und Flehe an, er sah ihr die nahende Schwäche an und wählte seine Worte bewusst.
"Weil er sich verändert." Green wiederholte die gleiche Frage, welche sie auch schon zuvor gestellt hatte und er antwortete, diesmal mit den Augen auf dem Boden geheftet:
"Du musst es doch schon bemerkt haben." Die Hikari antwortete nicht, doch in ihren Blick konnte er sehen, dass sie sehr wohl verstand was er sagte.
"Bei uns Dämonen gibt es sowas was sich die sieben Mächte nennt. In der Menschenwelt werden sie die sieben Sünden genannt." Er sah Green wieder an und sah, dass sie ihm folgen konnte.
"Ich bin nicht der Richtige um dir das zu erklären, Green-chan... aber ich werde es versuchen: Bei uns sagt man, dass diese Mächte das Blut zum kochen bringen. Sie steigern unsere Macht. Bei einem Halbdämon bedeutet das, dass das dämonische Blut dadurch in Wallung gerät. Jeder Dämon reagiert unterschiedlich auf diese sieben Mächte und Blue, der so gut wie noch nie dessen Anziehungskraft am eigenen Leib gespürt hat, anders als ich, reagiert empfindlich darauf. Aber er versteht es nicht! Er will es nicht wahrhaben, dass er für so etwas empfänglich ist... aber das ist er. Genau wie jeder andere Dämon, ist auch er von seinen Trieben gelenkt.
Deine Mutter ist doch das beste Beispiel, dafür was Dämonen machen um ihr Verlangen zu stillen." Green schluckte. Ihre Gedanken waren ihr deutlich ins Gesicht geschrieben und zugleich auch ihre Angst vor Nocturn.
"Daher... Bitte ich dich, Green. Liebe einen Wächter... und werde glücklich. An seiner Seite bist du sicher."
Firey legte die Hand auf die eiserne Tür, ohne, dass sie nachgab. Ihre Berührung hatte keinen Laut verursacht. Zum Glück. Sie wollte nicht bemerkt werden, da sie sich noch nicht bewusst war, wie sie handeln sollte, wenn sie bemerkt werden würde. Denn die Feuerwächterin wusste, wer sich hinter der eisernen Tür befand, sie konnte es spüren. Endlich. Lange hatte es gedauert, bis sie in der Lage gewesen war, die Auren der magischen Wesen zu spüren, doch endlich tat sie es. Es war ein angenehmes Gefühl. Selbst wenn sie alleine in dem dunklen Gang stand, war sie doch nicht alleine, weil sich Siberus Aura nicht weit von ihr entfernt befand.
Natürlich wusste sie, dass er sie auch bemerkt hatte. Er konnte Auren immerhin schon seid Ewigkeiten spüren und auch über eine viel längere Distanz. Sie spürte es nur, wenn die magische Person weniger als zwanzig Meter entfernt war.
Warum war Siberu also immer noch da, wenn er Firey doch schon bemerkt hatte? Wartete er etwa auf sie? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es tat... Warum sollte er. Aber er hatte schon viele Dinge getan, die nicht zu ihm passten und die sie nie von ihm erwartet hatte. In Gedanken sah sie wieder vor sich, wie er ihre Wange mit seinen Lippen berührt hatte... und umgehend wurde genau dieser Punkt warm. Siberu war unberechenbar. Dachte man, dass man ihn endlich verstand, stellte sich doch das Gegenteil heraus.
Warum musste sie sich gerade in so eine Person verlieben? Firey verstand sich selbst nicht. Warum beschleunigte sich ihr Herz, wenn sie an ihn dachte, warum wurde ihre Wange warm, wenn sie an den Kuss zurück dachte? Er war ein Idiot. Ein Casanova wie es im Buche stand. Was war an ihm, was es wert war geliebt zu werden? In was hatte sie sich verliebt? Welche von Siberus Werten waren es, die ihr Herz bewegten? Firey wusste es nicht... aber sie wusste, dass sie Siberu liebte. Endlich.
Mit einem entschlossenen Stoß, schob sie die Tür auf und wurde vom Sonnenlicht eine kurze Zeit geblendet, da ihre Augen an die Dunkelheit gewohnt gewesen waren.
Genau wie sie es gespürt hatte, stand sie Siberu gegenüber, dieser hatte ihr jedoch den Rücken zugekehrt, einige Meter von ihr entfernt. Sie standen beide auf dem Dach der Schule, welches von einem Gitter umzäunt wurde. Der Wind spielte mit den roten Haaren der beiden und wehte sie dennoch in verschiedene Richtungen...
Firey festigte ihren Griff um die Halterung ihres Köchers und schritt entschlossen auf ihn zu - so entschlossen wie es ihr momentaner Zustand zuließ jedenfalls. Siberu reagierte nicht, als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt stand.
"Hej." Auf Fireys Begrüßung hin sah Siberu über die Schulter. In seinem Blick lag eine gewisse Unruhe, aber zur gleichen Zeit auch Ruhe - eine merkwürdige Kombination. Als fürchtete er etwas was auf ihn zukam, obwohl er schon lange darauf vorbereitet war. Dies beunruhigte Firey, da sie alles andere erwartet hatte; einen genervten Blick, oder ein fieses Grinsen...
"Wie kommt es, dass ich noch einen Pfeil im Köcher übrig habe, Bakayama?" Sie machte einen Wink auf ihren Köcher, wo nur ein einsamer Pfeil lag. Der Angesprochene hob die Augenbraue, scheinbar wusste er nicht worauf sie hinaus wollte.
"Wir hatten heute Sport." Immer noch schien er ihr nicht folgen zu können.
"Du warst nicht da." Endlich öffnete Siberu den Mund um zu widersprechen.
"Ich habe Sport nicht geschwänzt. Ich war da."
"Du warst aber nicht in der Mädchenumkleide. Du hast nicht gespannt. Deshalb habe ich auch noch Munition." Ein leichtes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht und er fasste sich am Kopf. Dies erleichterte Firey ein wenig.
"Ich bin scheinbar ziemlich berechenbar."
"Hm. Nein. Eigentlich nicht." Siberu öffnete die Augen und ging einen Schritt auf sie zu, so, dass sie jetzt genau gegenüber voneinander standen und sie zu ihm hochsehen musste. Sein leichtes Grinsen sah aufgesetzt aus.
"Weißt du was, Firey." Ihr Herz beschleunigte sich, als er sie bei ihrem Namen nannte.
"Bewahr den Pfeil auf. Du wirst ihn in Zukunft noch brauchen."
"Wofür?", fragte Firey mit großen Augen. Ihre Augen wurden nur noch größer als Siberu mit einer ungewohnten Sanftheit seine Hand an ihre Wange legte.
"Du bist doch mein Gewissen. Wer soll mich denn sonst bestrafen, wenn nicht du." Firey erstarrte als er ihrem roten Gesicht obendrein auch noch näher kam. Ihre Nasenspitzen berührten sich jedoch nur kurz, ehe er sich kopfschüttelnd abwandte, ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als würde er sich selbst auslachen wollen.
"Ich muss los."
Firey war kurz zu erstarrt um etwas zu tun, doch nicht lange genug, um Siberu gewähren zu lassen. Aus einer reinen Intuition getrieben streckte sie ihre Hand aus und packte seinen rechten Arm.
"Geh nicht, Siberu! Bitte, geh nicht!" Überrascht sah er sie an, drehte sich jedoch nicht los und befreite sich auch nicht aus ihrem Griff.
"Aber, Firey, wenn ich jetzt nicht Nachhause gehe, schaffe ich die Hausaufgaben nicht. Falls du es vergessen hast, morgen ist Abgabetermin für das Englischprojekt." Firey wusste nicht warum, aber sie spürte plötzlich wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
"Ich weiß doch ganz genau, dass du sowieso abschreibst! Warum sagst du mir nicht die Wahrheit!?" Jetzt löste er sich aus ihrem Griff und schritt entschlossen auf sie zu.
"Abschreiben benötigt auch seine Zeit."
"Du elendiger Lügne..." Ihre Worte erreichten nicht seine Ohren, da sie sie nicht einmal aussprechen konnte, denn etwas hinderte sie daran; etwas dass ihr den Atem raubte und sich Herz zum plötzlich Stillstand bewegte, nur um danach noch schneller zu schlagen.
Siberu küsste Firey.
Er hatte seine Hände an ihrer Hüfte, hatte sie damit zu sich gezogen um deren Lippen zu vereinigen. Doch es war...
Firey fiel ohnmächtig in seine Arme und regte sich nicht mehr. Siberu streckte die Zunge aus und sagte mit leicht roten Wangen:
"Was mein Bruder kann, kann ich schon lange!" Langsam wurde er jedoch ernster. Seine Gesichtszüge wurden lustlos und leer, während er Fireys langen Zopf beobachtete wie er im Wind lag. Lange sah er sie an. Dachte an vieles, aber gleichzeitig auch an nichts. Seine Gedanken schienen sein Herz nicht zu erreichen. Er musste sich selbst loben, denn er war wirklich gut darin, sein Herz und damit auch seine Gefühl zu verschließen.
Aber, wenn er so gut darin war, was war es denn für eine merkwürdige Leere in sich, als er Firey auf dem Boden legte und ihr den Rücken zuwandte?
Siberu seufzte tief und richtete seinen Blick in den blauen Himmel.
Er mochte den Himmel der Menschenwelt.