Zusammen
„Das hier ist es.“ Mit ausgestreckten Fingern schob Green ein auffällig rotes Buch über den Couchtisch, bis es in der Mitte des Tisches lag. Dunkelrotes Leder, goldene Lettern, in einer Schrift verfasst, die die beiden Brüder nicht lesen konnten. Ein einzelner Strich markierte, dass es sich hier um den ersten Teil einer Serie handelte – der wohl bedeutsamsten Buchreihe des Wächtertums, wenn man von dem heiligen Regelwerk absah.
„Das ist…“, begann Siberu sich etwas verwirrt vorantastend:
„… die Dämonen-Enzyklopädie, oder?“ Gary warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, ohne etwas zu sagen. Sein Gesichtsausdruck verblieb ernst, während Green nickte – im Gegensatz zu Gary war sie überrascht, dass Siberu das Buch erkannt hatte.
„Der erste Band um genau zu sein. Geschrieben von meinem werten Onkel Hizashi“, fügte sie etwas säuerlich hinzu, ehe sie das Buch auf der Seite aufschlug, die sie mit einem Lesezeichen markiert hatte. Gary hob die Augenbraue – nicht wegen dem, was er in dem Buch sah, sondern etwas erstaunt und begeistert von Greens Vorbereitungen. Dieses Gespräch, das gesamte Thema, war ihr wirklich außerordentlich ernst – verblüffend, immerhin interessierten sie die meisten Konflikte der Wächter wenig und deren Geschichte bezog sie nicht auf sich selbst, empfand sie nicht als ihre eigene. Doch die Geschichte Aeterniems war ganz offensichtlich etwas Anderes für Green, dachte Gary erstaunt, und eher sie ansehend als das Buch. Anders als Siberu, denn er sah stirnrunzelnd auf das Buch, so als gäbe er sich größte Mühe, die Schriftzeichen der Wächter zu verstehen, denn Bilder waren keine zu sehen.
„Dieses Buch, welches erst viel später geschrieben wurde, ist der Grund, weshalb es in Aeterniem eskalierte… also, weshalb Youma Light angriff und ihn töten wollte.“ Siberu entfloh ein ehrliches „Hä“, während Garys Gesicht wieder ernster wurde anstatt, dass er zeigte, dass er ebenfalls verwirrt war.
„Er hat es ja auch schlussendlich getan…“, fuhr Green fort, als hätte sie Siberus Verwirrung nicht bemerkt und auch jetzt sah sie nicht die erschrockenen Gesichter der zwei Halbdämonen, denn sie sah zu Silence, welche ihren Blick verbissen erwiderte. Wenn es Schmerz war, der ihr Gesicht verdunkelte, dann schluckte sie diesen gut herunter, denn ihr Gesicht zeigte nichts anderes außer einer sehr festen Entschlossenheit – Entschlossenheit, Youma abermals gegenüberzutreten und die gesamte Wahrheit aus ihm herauszubekommen.
„Nachdem Youma in Aeterniya Amok gelaufen ist und viele der direkten Nachkommen der Götter tötete…“, fuhr Green fort, mit den Fingern immer noch auf den alten Seiten des Buches:
„… wurde er in ein Verließ geworfen, wo man versucht hat, ihn zu „läutern“ – was auch immer das heißen mag, einen Effekt hatte es jedenfalls nicht, denn es verhinderte nicht die schrecklichen… darauffolgenden Gräueltaten, die noch schlimmer waren, als die getöteten Götterkinder und Enkelkinder.“ Green zögerte, obwohl sie es bereits gesagt hatte. Sie spürte die Blicke der beiden Halbdämonen auf sich und auch den von Silence – und die Beengung ihrer Kehle.
„Er befreite sich aus dem Verließ – wir wissen nicht wie oder ob er Hilfe hatte, womöglich vom Dämonenherrscher? – und…“ Sie zögerte, nein, sie geriet ins Stocken. Sie konnte die Worte nicht einfach so sagen: Sie erschraken sie zu sehr, sie waren zu schrecklich und Silence hörte zu…
„Ich bin nicht so sensibel, dass ich weine, wenn über meinen Tod gesprochen wird.“ Das waren die ersten Worte, die Green seit einer Weile von Silence hörte – nur sie, nur sie konnte diese in ihren Gedanken hören. Es war immer noch ein wenig ungewohnt und es war sicherlich auch kein schöner Gedanke, dass Silence in ihrem Kopf nistete, aber… Green begann sich daran zu gewöhnen. Sie zu hören lösten die Beklemmung und ihr fielen die Worte ein wenig leichter, als hätte Silence ihr ihre Hand auf die Schulter gelegt:
„Er tötete Silence und dann Light.“
In Greens Herzen hallten diese Worte nach wie ein Donnergrollen. Auch Siberu und Gary sahen verwirrt aus. Sie hatten gerade eine Geschichte gehört, die von zwei Zwillingen handelte, die sich mehr liebten, als alles andere auf der Welt und die beide ihren Ziehvater ehrten und mehr liebten, als sie ihre leiblichen Eltern jemals geliebt hatten – und diese Geschichte endete mit Mord, mit einem Mord von Silence und Light? Gary starrte mit leicht zusammengekniffenen Augen auf die Buchseiten, als könnten die Zeichen unter Greens Finger ihm eine Antwort auf dieses Rätsel geben. Doch er sah sofort auf, als sein Bruder die Stille brach:
„War es das Dämonenblut Youmas, welches nicht zu kontrollieren war?“ Garys Augen verengten sich eine kleine Spur, doch Green bemerkte es nicht, ebenso wenig wie sie bemerkte, dass Gary seinem Bruder auf den Fuß trat. Siberu sah ihn nicht an, aber er schwieg, womit die Worte, die er eigentlich noch hinzufügen wollte, ungesagt blieben – stattdessen übernahm Gary das Reden, ehe Green antworten konnte:
„Man sagt, dass Halbdämonen ihr dämonisches Blut und die damit verbundenen Fähigkeiten und Neigungen…“
„“Neigungen“?“, wiederholte Siberu skeptisch, aber Gary überhörte ihn:
„… erst dann nutzen können, wenn sie zum ersten Mal einen starken Tötungsdrang verspürt haben.“ Green blinzelte verwirrt, ihre Finger vom Buch lösend. Sie lehnte sich zurück, während sie vom einen zum anderen sah und ihre Gedanken sofort in eine andere Richtung gingen als Aeterniem. Sie hatte Siberus rote Dämonenaugen schon gesehen, aber Garys noch nie… hatte er noch nie töten wollen? Und wen hatte Siberu…?
„Beim ersten Mal kann es leicht zu einer gewissen Überreizung kommen“, fuhr Gary sachlich klingend fort, als befänden sie sich in einer Nachhilfestunde. Ein Tonfall, den Green kannte, aber der Silence verärgerte. Als ob sie irgendwelche dahergelaufenen Halbdämonen waren, die „Amok liefen“ wie Hunde, die Tollwut hatten. Das mochte vielleicht bei Halbdämonen der Fall sein, die billiges Menschenblut in ihren Adern hatten, aber gewiss nicht bei ihr und Youma.
„Das könnte vielleicht so gewesen sein bei dem Massaker der Götterkinder, aber nicht bei Silence und Light. Das war keine Kurzschlussreaktion. Er hat sie getötet, weil er eine Absicht verfolgte, nicht weil sein Dämonenblut übergekocht war.“ Green sah zu Silence, als hätte sie ihre Verärgerung gespürt.
„Aber wie kann es mit diesem Wälzer zusammenhängen, wenn dieses alte Teil erst viele Jahre später geschrieben wurde?“ Siberu gestikulierte mit der Hand in Richtung des Buches.
„Ich meine, woher willst du das wissen, Green-chan?“
„Weil ich ihn gesprochen habe und ihn gefragt habe, Sibi – und das war seine Antwort.“ Siberu fiel die Kinnlade förmlich herunter.
„Wie bitte, du hast was?! Du redest mit einem wahnsinnigen Massenmörder – Moment, wie…“
„Nach dem ganzen Drama in Aeterniem wurde Youma in einen Zeitbann gesperrt und der Bann hat sich nun gelöst. Er lebt, ist hier und hat irgendetwas vor, was wir nicht wissen.“ Siberu, immer noch mit offenem Mund, sah zu Gary, doch dieser teilte seine Verwirrung nicht, immerhin wusste er das bereits und sofort als Siberu das bewusst wurde, schloss sich sein Mund.
„Das hätte man mir ja wohl mal erzählen können.“
„Das war vorgestern“, entschuldigte Green sich, obwohl Siberu Gary angesehen hatte:
„Und ich erzähle es dir ja jetzt.“
„Vorgestern! Dann hättet ihr beide genug Zeit gehabt, um es mir… Moment. Vorgestern?“ Jetzt fixierte er Green genauer:
„Das war an dem Abend, als ich dich unten im Treppenhaus getroffen habe! Als du so komisch warst!“ Green versuchte zu lächeln:
„Naja, das war auch nicht ich, das war Silence, mit der du gesprochen hast.“ Siberu blinzelte auffällig – er hatte was?!
„Bei den sieben Teufeln, das wird mir hier alles zu kompliziert. Wie soll ich denn da durchsteigen!?“
„So schwer ist das nun auch nicht“, warf Gary ein, als er sich lauwarmen Tee nachschenkte, doch ehe Siberu auf seine Neckerei antworten konnte, wandte er sich doch lieber Green zu:
„Du vertraust dich lieber ihm an?!“ Green fühlte sich ertappt, das war deutlich an ihrem Lächeln zu sehen und sie sah ein wenig hilfesuchend zu Gary, der seinen Tee plötzlich ganz besonders spannend fand.
„Das heißt aber ja nicht, dass ich dir nicht auch vertraue!“, beeilte Green sich zu sagen und ihre Worte überschlugen sich beinahe, als sie sich beeilte mit ihrer Erklärung fortzufahren, damit sie Siberu jede Möglichkeit nahm, noch weiter darüber nachzudenken, wem sie nun mehr vertraute – hoffte sie jedenfalls.
„Ihr sitzt immerhin beide hier und euch beiden erzähle ich nun, was ich, beziehungsweise Silence, von Youma erfahren habe.“ Gary linste über seine Teetasse. Sie sprach sicherlich nicht nur so schnell, um seinen Bruder abzulenken – sondern auch sich selbst. Immerhin war noch weitaus mehr vor drei Tagen geschehen als ein „Gespräch mit Youma“. Kari war gestorben. Aber den Tod ihrer Kindheitsfreundin schob sie nun von sich weg.
„Und was es mit der dummen Enzy…“ Aber zu Greens und Garys Überraschung fiel Siberu nicht auf Greens Ablenkungsversuch rein.
„Du hast vorgestern nach Blut gerochen. Nach viel Blut und in der Schule warst du auch nicht.“ Ein betretenes Schweigen breitete sich in dem Zimmer aus und sowohl Gary als auch Silence waren sehr gespannt darauf, was Green antworten würde. Würde sie jetzt doch von Kari sprechen, die von Youmas Sense entzwei geteilt und am gestrigen Tag von den Wächtern bestattet worden war? Die Hikari biss sich auf die Zunge, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
„Es verlief nicht gerade friedlich.“
Sie lächelte, doch in ihrem Inneren bebte es. Wortwörtlich. Das letzte Erdbeben ihrer kleinen Freundin, ihres Schutzengels aus Kindertagen – ihr erster, richtiger Einsatz ihrer Magie und es war ihr letzter. Green hatte sie… Kari… ihre… ihre Hälften nur so kurz gesehen, ehe Silence Greens Körper gepackt und übernommen hatte, aber das Bild, das zweigeteilte, rote Bild hatte sich dennoch auf ihrer Netzhaut eingebrannt, um dort niemals mehr zu verschwinden.
Silence hatte nichts zur Verteidigung ihres Bruders gesagt. Sie hatte nicht gesagt, dass es ihr komisch vorkam, dass er die Erdwächterin entzwei geteilt hatte. Sie hatte Green auch nicht berichtet, dass Youma sehr verwirrt gewirkt hatte; bestürzt von dem, was er ganz offensichtlich getan hatte; die blutige Sense hatte noch in seiner Hand gelegen, als er und Silence sich nach Jahrtausenden gegenübergestanden hatten. Es war nicht wichtig gewesen. Für Green galt, dass Youma Kari getötet hatte – und für Silence war der Tod des Mädchens vollkommen egal. Sie hatte Youma offensichtlich angegriffen – ansonsten hätte es kein Erdbeben gegeben – und das hätte das dumme Ding nicht tun sollen. Ende der Geschichte.
Für Green war es auch „Ende der Geschichte“. Sie wollte den Abend nicht mit Trauer für Kari abrunden. Greens Schuldgefühle waren nicht das Thema und sie war dankbar dafür, dass Gary Siberu mit einem Blick bedeutete, dass er ihm später die Details erzählen würde.
„Aber wir, Silence und ich…“, begann Green wieder:
„...haben wenigstens etwas über Youmas Beweggründe herausgefunden. Etwas, was nämlich nicht in den Geschichtsbüchern steht und weshalb dieses Buch hier wichtig ist. Die Basis für diese Bücher waren Forschungsergebnisse, die aus Silence und Youma gewonnen worden sind.“ Green sah wieder auf das Buch; das fiel ihr leichter als Silence anzusehen.
„Die Wächter haben die Zwillinge für Forschungszwecke missbraucht. Sie waren Versuchskaninchen, denn Hikaru und wahrscheinlich auch andere der Elementgötter, wir wissen es nicht genau, wollten herausfinden, wie sie Dämonen am besten töten konnten. Nur deswegen haben sie Silence und Youma zu sich geholt und bei sich wohnen gelassen, obwohl sie die Kinder zweier Geächteter waren. Sie haben immer wieder ihre Erinnerungen gelöscht und haben sie „glücklich“ herumlaufen lassen. Kriegsvorbereitung… man musste den Feind ja kennen.“
„Und das hat Youma herausgefunden“, schlussfolgerte Gary ernst und ohne Betonung. Siberu dagegen war nicht so ruhig wie sein Bruder:
„Das hat Light zugelassen…?!“ Green deutete ein leichtes Nicken an.
„Er hat es auf jeden Fall nicht verhindert… oder nicht verhindern können. Wir wissen es nicht. Wir kennen allgemein keine Details. Nicht wo Youma das Wissen her hat, noch das wahre Ausmaß, aber Silence und ich sind uns sicher, dass Youma nicht gelogen hat.“ Green klappte das Buch zu, als widerten die Seiten sie plötzlich an.
„Wir haben das Buch gestern ganz genau studiert, welches Hizashi auf der Basis dieser Notizen geschrieben hat und haben versucht, alle Löcher in Silence Gedächtnis zu finden… wir sind uns ziemlich sicher, dass es leider wahr ist.“ Green biss sich auf die Lippen und schwieg, nach wie vor auf den roten Buchdeckel starrend, ohne zu bemerken, dass Silence sie ansah. Diese „Geschichte aus alten Tagen“, die sie im Grunde nichts anging, nahm sie überraschend mit. Green war nun hineingeworfen worden, aber… die Gefühle, die sie damit verband, waren sehr intensiv, als wäre es ihr selbst widerfahren. Silence spürte es durch die Verbindung ihrer Seelen – und sie sah es in Greens Augen. Unfreiwillig war die Hikari in diese Geschichte hineingeworfen worden, aber anstatt sich zu wehren, warf sie sich kopfüber hinein. Warum? Etwa… für Silence?
„Gut, okay.“ Siberu brach die Stille:
„Light. In Ordnung. Rache, Enttäuschung, Verrat. Alles klar. Ich verstehe auch, warum die Götterbastarde dran glauben mussten…“
„Sie sind alles andere als Bastarde“, warf Gary ein, aber Siberu wollte davon nichts hören:
„Stimmt, sie sind viel schlimmer als das! Jedenfalls kapier ich das. Youma erfährt, was ihm und seiner Schwester angetan wurde und das bringt sein Dämonenblut zum Explodieren und es muss sterben, was ihm in den Weg kommt. Das versteh ich vollkommen.“ Das war eigentlich der Moment, wo Green Siberu ins Gewissen reden sollte, aber sie hatte sich daran gewöhnt.
„Aber seine Schwester check ich nicht.“ Green holte tief Luft und schluckte die Luft herunter. Mit flauem Gefühl im Magen sah sie zu Silence, die ihren Blick zwar erwiderte, aber sie hätte genauso gut aus dem Fenster sehen können, denn ihre starren, schwarzen Augen zeigten nichts, nicht das allerkleinste Gefühl.
„Das check ich auch nicht“, gab Green zu.
„Youma hat da nicht so wirklich eine Erklärung gegeben, obwohl Silence eine gefordert hat. Er wollte sie wiederbeleben. Also, jetzt. Vorgestern.“
„Wiederbeleben?!“ Gary schlug die Augen geschockt auf. Hatte er sich verhört?
„Wieso belebt man jemanden wieder, den man selbst umgebracht hat?“ Gary wandte sich zu Siberu:
„Man kann niemanden wiederbeleben, Silver.“
„Also Youma kann das scheinbar schon“, warf Green dazwischen:
„Light war das Licht des Lebens und so…?“ Sie sah vom einen zum anderen, aber scheinbar konnte keiner der beiden ihr folgen – nicht einmal Gary.
„Naja, Light war jedenfalls das Licht des Lebens.“
„Ja und das bedeuuuutet?“ Green fühlte sich nun selbst wie eine Lehrerin, aber sie gab ihrem ungeduldigen Schüler – Siberu – eine Antwort:
„Light war der einzige Hikari, der Tote wieder zurückholen konnte. Ich weiß nicht genau wie. Aber ich weiß, dass er es konnte… und das hat er Youma vor seinem Tod beigebracht. Silence hat aber abgelehnt.“ Während Gary und Siberu sich vielsagende Blicke zuwarfen, sah Green zur Uhr – es war bereits kurz vor Mitternacht. Es hatte lange gedauert, die Geschichte Aeterniems zu erzählen und sie spürte, dass sie ausgelaugt war. Sie sah zu Silence, die ihr ein leichtes Nicken zuwarf und fragte sich, ob auch sie irgendwann mal müde sein konnte…
„Du sagtest Youma sei jetzt in der Dämonenwelt?“, fragte Gary sie, als Green begann die Tassen auf ein Tablett zu stellen, wobei ihr Siberu sofort half.
„Jedenfalls soweit Silence und ich das wissen.“ Green unterdrückte ein herzhaftes Gähnen und nahm die Tasse Garys entgegen.
„Wenn jemand erfährt, dass er vielleicht Tote wieder zurückholen kann, dann ist er sofort der meistgesuchteste Dämon in unserer Welt.“ Siberu grinste und warf auch noch ein Lachen hinterher, als er das sagte, ohne zu bemerken, dass Green die Worte „unserer Welt“ wie einen Stich in ihrem Herzen gespürt hatte.
„Was sagen denn die Wächter dazu?“ Green schüttelte den Kopf, als würde sie Garys Frage von sich schütteln wollen. Sie hatte wirklich keine Lust, nun über ihre Familie zu sprechen.
„Lass mich bloß mit den Wächtern in Ruhe.“ Garys Blick sagte ihr deutlich, dass er es eigentlich gerne wissen wollte und dass er auch fand, dass Green sich dafür interessieren sollte, weshalb sie irritiert nachgab:
„Sie sind alarmiert: Sie haben ihn auf die Gesucht-Liste gepackt und gut ist.“ Die ganze Wahrheit war, dass Green es eigentlich nicht genau wusste und da Gary leicht die Augenbraue hob, war ihr klar, dass er sie durchschaut hatte.
„Aber damit ist es nicht getan.“ Green stellte das Tablett mit dem Geschirr auf die Küchentheke und drehte sich zu Gary und Siberu um. Sie sah zwar nur die beiden entschlossen an, aber hinter ihnen, immer noch am Fenster schwebend, hatte sie auch Silence‘ komplette Aufmerksamkeit.
„Es klingt alles wie eine Geschichte aus Urzeiten, die gar nicht mehr relevant ist. Die nichts mit uns zu tun hat, aber das ist nicht so. Ich stecke nun mittendrin, weil ich Silence nicht im Stich lassen kann und will und…“ Green zögerte. Sie sah kurz weg, verlor für einen Moment ihren Mut und ihre Entschlossenheit, aber sie fand sie wieder, als sie Gary ansah und seine dunklen, grünen Augen ihr wieder seine Worte in Erinnerung riefen, dass sie es nicht alleine zu schultern hatte – dass sie für Green da waren.
„… Ich möchte das gerne mit euch zusammen durchstehen, was auch immer kommt. Ich möchte mit euch zusammen da drinstecken.“ Siberu grinste sofort erfreut und irgendwie stolz darüber, so feierlich gefragt zu werden, doch auch auf Garys Gesicht schlich sich ein Lächeln.
„Natürlich, Green-chan! Aber dann will ich auch mal mit Silence sprechen, ne!“ Silence schüttelte den Kopf hinter ihnen, aber darauf achtete Green nicht:
„Jetzt lass mich erstmal meinen Geburtstag überstehen! Bis dahin hoffe ich, dass Aeterniem in den Geschichtsbüchern ruhen wird.“
Gary lächelte. Er war sogar so gewagt, dass er Greens Hand für einen Augenblick nahm, als sein Bruder nicht hinsah. Er lächelte sie direkt an, sah ihr in die Augen und genoss es, das schöne dunkle Blau strahlen zu sehen, nachdem es in den letzten Wochen so verwittert gewesen war.
In der Nacht zum nächsten Tag, nur zwei Stunden später, war jedes Lächeln dahin und er schämte sich dafür, dass er überhaupt gelächelt hatte und noch schlimmer – dass er ihre Hand genommen hatte. Der Stift in seiner Hand brannte. Das leere Papier auf dem Tisch verspottete ihn und die Finger seiner rechten Hand krallten sich so tief in seine Haare, dass seine Fingernägel seine Kopfhaut kratzten.
Er musste Bericht erstatten.
Die Berichte waren Teil des Auftrags.
Ri-Il musste unterrichtet werden.
Jeden.
Tag.
Gary wusste das. Er wusste, dass dies Teil des Auftrags war und er hatte sich auch wie in jeder anderen Nacht in die Tokyo Metropolitan Bibliothek teleportiert, sich an den gleichen Tisch wie immer niedergelassen, dem einzigen, den die Kameras nicht erfassten, um sich in kompletter Dunkelheit an seinen täglichen, nächtlichen Bericht zu widmen.
Und schrieb nicht.
Stattdessen sah er Green vor sich, die sich bemüht hatte, ihnen alles zu erzählen, was sie wusste; die sich vorbereitet hatte, die dieses einzigartige, wertvolle Wissen in vollstem Vertrauen ihnen überreicht hatte. Sie hatte sie angelächelt, Kraft aus ihnen geschöpft…
„… Ich möchte das gerne mit euch zusammen durchstehen, was auch immer kommt. Ich möchte mit euch zusammen da drinstecken.“
Das leere Papier forderte ihn auf es zu füllen, doch der Stift bewegte sich nicht.
Gary konnte es nicht. Dieses Wissen war nicht für Ri-Il oder die anderen Mitglieder der Hohen bestimmt. Es war nicht für den Auftrag bestimmt. Es war… nur für sie.
Zusammen.
Schneller, als Gary jemals zuvor den Bericht geschrieben hatte, teilte er Ri-Il mit, dass Green sie zum Abendessen eingeladen hatte, dass die Situation sich normalisiert hätte und dass Green sich ihnen, was ihre Sorge um ihre familiäre Situation anging, geöffnet hätte. Sie hatten mehrere Stunden in der Wohnung der Hikari verbracht; die letzten Wochen, in denen Green sich distanziert hatte, hatten keinen negativen Effekt auf das Band hinterlassen, was Blue und Silver schmieden sollten. Green würde am nächsten Tag wieder die Schule besuchen. Punkt. Wie immer keine Abschiedsworte, keine Gruß-Floskeln. Nur Fakten.
Das Papier gab dem Halbdämon keine Möglichkeit, es sich anders zu überlegen, denn kaum, dass er den Stift gehoben hatte, leuchtete das Papier kurz orange auf, ehe es sich Partikel für Partikel auflöste und kurz das Gesicht Garys erhellte, der seltsam… zufrieden mit sich war.
Nachts, nach Mitternacht. Paris – 2008
Vieles hatte Blue nicht beschützen können. Vieles hatte Ri-Il noch nach dem Beenden des Auftrags erfahren; Dinge, die Blue ausgelassen hatte oder vielleicht nicht so detailliert beschrieben hatte, wie er es hätte tun sollen.
Aber Ri-Il hatte nichts von Aeterniem erfahren. Über Youmas wahre Herkunft wusste er genauso wenig wie die anderen Mitglieder der Hohen – oder Nocturn, der mit einem Halbgott und Massenmörder die Wohnung teilte und absolut keine Ahnung hatte, woher dieser kam und das obwohl das Geschichtsbuch Tao Asukas in seinem Bücherregal stand. Manchmal, wenn Youma Blue einen seiner hochnäsigen Blicke zuwarf, dann hatte Blue Lust sich gerade dieses Buch von Nocturn zu leihen und es unauffällig auf dem Stubentisch liegen zu lassen; aufgeschlagen auf genau der richtigen Seite.
Aber Blue war nicht lustgesteuert und er würde sein Wissen sicherlich nicht einsetzen, nur um Youma – der nicht ahnen konnte, dass Blue als einziger wusste, woher er stammte – eins auszuwischen. Im Augenblick hatte er auch nicht vor es einzusetzen. Er würde es erweitern.
Das war keine sonderlich große Herausforderung, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste, denn Youma war unglaublich unvorsichtig. Vielleicht war Blue schlecht darin, alte Angewohnheiten, die ihn schon ein Leben begleitet hatten, abzulegen und vielleicht war das der Grund, weshalb er jedes Wort, welches in diesem Pariser Appartement gesprochen wurde, auf die Waagschale legte, analysierte, auseinanderbaute und wieder zusammensetzte und weshalb er oft die Luft anhielt, um Gespräche mitzuhören, die nicht für ihn bestimmt waren. Ja, vielleicht war es nur Angewohnheit, die ihn dazu brachte nachts die Tür zu öffnen, wenn er wusste, dass Youma aus seinen Albträumen erwachen würde, um in die Küche zu gehen, wo er jeden Abend ein Glas Wasser trank, um sich zu beruhigen. So wie in dieser Nacht, wo Youmas Finger sich in die Küchentheke krallten und seine Haare vor sein Gesicht fielen, während er Worte stammelte, die Blue nicht verstehen konnte, deren Tonlage aber wie dieselbe Reue klang, die seine Albträume begleitete.
Vielleicht war es aber nicht nur eine Angewohnheit.
Vielleicht erinnerte er sich als einziger an das Wort „zusammen“.
„Das ist…“, begann Siberu sich etwas verwirrt vorantastend:
„… die Dämonen-Enzyklopädie, oder?“ Gary warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, ohne etwas zu sagen. Sein Gesichtsausdruck verblieb ernst, während Green nickte – im Gegensatz zu Gary war sie überrascht, dass Siberu das Buch erkannt hatte.
„Der erste Band um genau zu sein. Geschrieben von meinem werten Onkel Hizashi“, fügte sie etwas säuerlich hinzu, ehe sie das Buch auf der Seite aufschlug, die sie mit einem Lesezeichen markiert hatte. Gary hob die Augenbraue – nicht wegen dem, was er in dem Buch sah, sondern etwas erstaunt und begeistert von Greens Vorbereitungen. Dieses Gespräch, das gesamte Thema, war ihr wirklich außerordentlich ernst – verblüffend, immerhin interessierten sie die meisten Konflikte der Wächter wenig und deren Geschichte bezog sie nicht auf sich selbst, empfand sie nicht als ihre eigene. Doch die Geschichte Aeterniems war ganz offensichtlich etwas Anderes für Green, dachte Gary erstaunt, und eher sie ansehend als das Buch. Anders als Siberu, denn er sah stirnrunzelnd auf das Buch, so als gäbe er sich größte Mühe, die Schriftzeichen der Wächter zu verstehen, denn Bilder waren keine zu sehen.
„Dieses Buch, welches erst viel später geschrieben wurde, ist der Grund, weshalb es in Aeterniem eskalierte… also, weshalb Youma Light angriff und ihn töten wollte.“ Siberu entfloh ein ehrliches „Hä“, während Garys Gesicht wieder ernster wurde anstatt, dass er zeigte, dass er ebenfalls verwirrt war.
„Er hat es ja auch schlussendlich getan…“, fuhr Green fort, als hätte sie Siberus Verwirrung nicht bemerkt und auch jetzt sah sie nicht die erschrockenen Gesichter der zwei Halbdämonen, denn sie sah zu Silence, welche ihren Blick verbissen erwiderte. Wenn es Schmerz war, der ihr Gesicht verdunkelte, dann schluckte sie diesen gut herunter, denn ihr Gesicht zeigte nichts anderes außer einer sehr festen Entschlossenheit – Entschlossenheit, Youma abermals gegenüberzutreten und die gesamte Wahrheit aus ihm herauszubekommen.
„Nachdem Youma in Aeterniya Amok gelaufen ist und viele der direkten Nachkommen der Götter tötete…“, fuhr Green fort, mit den Fingern immer noch auf den alten Seiten des Buches:
„… wurde er in ein Verließ geworfen, wo man versucht hat, ihn zu „läutern“ – was auch immer das heißen mag, einen Effekt hatte es jedenfalls nicht, denn es verhinderte nicht die schrecklichen… darauffolgenden Gräueltaten, die noch schlimmer waren, als die getöteten Götterkinder und Enkelkinder.“ Green zögerte, obwohl sie es bereits gesagt hatte. Sie spürte die Blicke der beiden Halbdämonen auf sich und auch den von Silence – und die Beengung ihrer Kehle.
„Er befreite sich aus dem Verließ – wir wissen nicht wie oder ob er Hilfe hatte, womöglich vom Dämonenherrscher? – und…“ Sie zögerte, nein, sie geriet ins Stocken. Sie konnte die Worte nicht einfach so sagen: Sie erschraken sie zu sehr, sie waren zu schrecklich und Silence hörte zu…
„Ich bin nicht so sensibel, dass ich weine, wenn über meinen Tod gesprochen wird.“ Das waren die ersten Worte, die Green seit einer Weile von Silence hörte – nur sie, nur sie konnte diese in ihren Gedanken hören. Es war immer noch ein wenig ungewohnt und es war sicherlich auch kein schöner Gedanke, dass Silence in ihrem Kopf nistete, aber… Green begann sich daran zu gewöhnen. Sie zu hören lösten die Beklemmung und ihr fielen die Worte ein wenig leichter, als hätte Silence ihr ihre Hand auf die Schulter gelegt:
„Er tötete Silence und dann Light.“
In Greens Herzen hallten diese Worte nach wie ein Donnergrollen. Auch Siberu und Gary sahen verwirrt aus. Sie hatten gerade eine Geschichte gehört, die von zwei Zwillingen handelte, die sich mehr liebten, als alles andere auf der Welt und die beide ihren Ziehvater ehrten und mehr liebten, als sie ihre leiblichen Eltern jemals geliebt hatten – und diese Geschichte endete mit Mord, mit einem Mord von Silence und Light? Gary starrte mit leicht zusammengekniffenen Augen auf die Buchseiten, als könnten die Zeichen unter Greens Finger ihm eine Antwort auf dieses Rätsel geben. Doch er sah sofort auf, als sein Bruder die Stille brach:
„War es das Dämonenblut Youmas, welches nicht zu kontrollieren war?“ Garys Augen verengten sich eine kleine Spur, doch Green bemerkte es nicht, ebenso wenig wie sie bemerkte, dass Gary seinem Bruder auf den Fuß trat. Siberu sah ihn nicht an, aber er schwieg, womit die Worte, die er eigentlich noch hinzufügen wollte, ungesagt blieben – stattdessen übernahm Gary das Reden, ehe Green antworten konnte:
„Man sagt, dass Halbdämonen ihr dämonisches Blut und die damit verbundenen Fähigkeiten und Neigungen…“
„“Neigungen“?“, wiederholte Siberu skeptisch, aber Gary überhörte ihn:
„… erst dann nutzen können, wenn sie zum ersten Mal einen starken Tötungsdrang verspürt haben.“ Green blinzelte verwirrt, ihre Finger vom Buch lösend. Sie lehnte sich zurück, während sie vom einen zum anderen sah und ihre Gedanken sofort in eine andere Richtung gingen als Aeterniem. Sie hatte Siberus rote Dämonenaugen schon gesehen, aber Garys noch nie… hatte er noch nie töten wollen? Und wen hatte Siberu…?
„Beim ersten Mal kann es leicht zu einer gewissen Überreizung kommen“, fuhr Gary sachlich klingend fort, als befänden sie sich in einer Nachhilfestunde. Ein Tonfall, den Green kannte, aber der Silence verärgerte. Als ob sie irgendwelche dahergelaufenen Halbdämonen waren, die „Amok liefen“ wie Hunde, die Tollwut hatten. Das mochte vielleicht bei Halbdämonen der Fall sein, die billiges Menschenblut in ihren Adern hatten, aber gewiss nicht bei ihr und Youma.
„Das könnte vielleicht so gewesen sein bei dem Massaker der Götterkinder, aber nicht bei Silence und Light. Das war keine Kurzschlussreaktion. Er hat sie getötet, weil er eine Absicht verfolgte, nicht weil sein Dämonenblut übergekocht war.“ Green sah zu Silence, als hätte sie ihre Verärgerung gespürt.
„Aber wie kann es mit diesem Wälzer zusammenhängen, wenn dieses alte Teil erst viele Jahre später geschrieben wurde?“ Siberu gestikulierte mit der Hand in Richtung des Buches.
„Ich meine, woher willst du das wissen, Green-chan?“
„Weil ich ihn gesprochen habe und ihn gefragt habe, Sibi – und das war seine Antwort.“ Siberu fiel die Kinnlade förmlich herunter.
„Wie bitte, du hast was?! Du redest mit einem wahnsinnigen Massenmörder – Moment, wie…“
„Nach dem ganzen Drama in Aeterniem wurde Youma in einen Zeitbann gesperrt und der Bann hat sich nun gelöst. Er lebt, ist hier und hat irgendetwas vor, was wir nicht wissen.“ Siberu, immer noch mit offenem Mund, sah zu Gary, doch dieser teilte seine Verwirrung nicht, immerhin wusste er das bereits und sofort als Siberu das bewusst wurde, schloss sich sein Mund.
„Das hätte man mir ja wohl mal erzählen können.“
„Das war vorgestern“, entschuldigte Green sich, obwohl Siberu Gary angesehen hatte:
„Und ich erzähle es dir ja jetzt.“
„Vorgestern! Dann hättet ihr beide genug Zeit gehabt, um es mir… Moment. Vorgestern?“ Jetzt fixierte er Green genauer:
„Das war an dem Abend, als ich dich unten im Treppenhaus getroffen habe! Als du so komisch warst!“ Green versuchte zu lächeln:
„Naja, das war auch nicht ich, das war Silence, mit der du gesprochen hast.“ Siberu blinzelte auffällig – er hatte was?!
„Bei den sieben Teufeln, das wird mir hier alles zu kompliziert. Wie soll ich denn da durchsteigen!?“
„So schwer ist das nun auch nicht“, warf Gary ein, als er sich lauwarmen Tee nachschenkte, doch ehe Siberu auf seine Neckerei antworten konnte, wandte er sich doch lieber Green zu:
„Du vertraust dich lieber ihm an?!“ Green fühlte sich ertappt, das war deutlich an ihrem Lächeln zu sehen und sie sah ein wenig hilfesuchend zu Gary, der seinen Tee plötzlich ganz besonders spannend fand.
„Das heißt aber ja nicht, dass ich dir nicht auch vertraue!“, beeilte Green sich zu sagen und ihre Worte überschlugen sich beinahe, als sie sich beeilte mit ihrer Erklärung fortzufahren, damit sie Siberu jede Möglichkeit nahm, noch weiter darüber nachzudenken, wem sie nun mehr vertraute – hoffte sie jedenfalls.
„Ihr sitzt immerhin beide hier und euch beiden erzähle ich nun, was ich, beziehungsweise Silence, von Youma erfahren habe.“ Gary linste über seine Teetasse. Sie sprach sicherlich nicht nur so schnell, um seinen Bruder abzulenken – sondern auch sich selbst. Immerhin war noch weitaus mehr vor drei Tagen geschehen als ein „Gespräch mit Youma“. Kari war gestorben. Aber den Tod ihrer Kindheitsfreundin schob sie nun von sich weg.
„Und was es mit der dummen Enzy…“ Aber zu Greens und Garys Überraschung fiel Siberu nicht auf Greens Ablenkungsversuch rein.
„Du hast vorgestern nach Blut gerochen. Nach viel Blut und in der Schule warst du auch nicht.“ Ein betretenes Schweigen breitete sich in dem Zimmer aus und sowohl Gary als auch Silence waren sehr gespannt darauf, was Green antworten würde. Würde sie jetzt doch von Kari sprechen, die von Youmas Sense entzwei geteilt und am gestrigen Tag von den Wächtern bestattet worden war? Die Hikari biss sich auf die Zunge, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
„Es verlief nicht gerade friedlich.“
Sie lächelte, doch in ihrem Inneren bebte es. Wortwörtlich. Das letzte Erdbeben ihrer kleinen Freundin, ihres Schutzengels aus Kindertagen – ihr erster, richtiger Einsatz ihrer Magie und es war ihr letzter. Green hatte sie… Kari… ihre… ihre Hälften nur so kurz gesehen, ehe Silence Greens Körper gepackt und übernommen hatte, aber das Bild, das zweigeteilte, rote Bild hatte sich dennoch auf ihrer Netzhaut eingebrannt, um dort niemals mehr zu verschwinden.
Silence hatte nichts zur Verteidigung ihres Bruders gesagt. Sie hatte nicht gesagt, dass es ihr komisch vorkam, dass er die Erdwächterin entzwei geteilt hatte. Sie hatte Green auch nicht berichtet, dass Youma sehr verwirrt gewirkt hatte; bestürzt von dem, was er ganz offensichtlich getan hatte; die blutige Sense hatte noch in seiner Hand gelegen, als er und Silence sich nach Jahrtausenden gegenübergestanden hatten. Es war nicht wichtig gewesen. Für Green galt, dass Youma Kari getötet hatte – und für Silence war der Tod des Mädchens vollkommen egal. Sie hatte Youma offensichtlich angegriffen – ansonsten hätte es kein Erdbeben gegeben – und das hätte das dumme Ding nicht tun sollen. Ende der Geschichte.
Für Green war es auch „Ende der Geschichte“. Sie wollte den Abend nicht mit Trauer für Kari abrunden. Greens Schuldgefühle waren nicht das Thema und sie war dankbar dafür, dass Gary Siberu mit einem Blick bedeutete, dass er ihm später die Details erzählen würde.
„Aber wir, Silence und ich…“, begann Green wieder:
„...haben wenigstens etwas über Youmas Beweggründe herausgefunden. Etwas, was nämlich nicht in den Geschichtsbüchern steht und weshalb dieses Buch hier wichtig ist. Die Basis für diese Bücher waren Forschungsergebnisse, die aus Silence und Youma gewonnen worden sind.“ Green sah wieder auf das Buch; das fiel ihr leichter als Silence anzusehen.
„Die Wächter haben die Zwillinge für Forschungszwecke missbraucht. Sie waren Versuchskaninchen, denn Hikaru und wahrscheinlich auch andere der Elementgötter, wir wissen es nicht genau, wollten herausfinden, wie sie Dämonen am besten töten konnten. Nur deswegen haben sie Silence und Youma zu sich geholt und bei sich wohnen gelassen, obwohl sie die Kinder zweier Geächteter waren. Sie haben immer wieder ihre Erinnerungen gelöscht und haben sie „glücklich“ herumlaufen lassen. Kriegsvorbereitung… man musste den Feind ja kennen.“
„Und das hat Youma herausgefunden“, schlussfolgerte Gary ernst und ohne Betonung. Siberu dagegen war nicht so ruhig wie sein Bruder:
„Das hat Light zugelassen…?!“ Green deutete ein leichtes Nicken an.
„Er hat es auf jeden Fall nicht verhindert… oder nicht verhindern können. Wir wissen es nicht. Wir kennen allgemein keine Details. Nicht wo Youma das Wissen her hat, noch das wahre Ausmaß, aber Silence und ich sind uns sicher, dass Youma nicht gelogen hat.“ Green klappte das Buch zu, als widerten die Seiten sie plötzlich an.
„Wir haben das Buch gestern ganz genau studiert, welches Hizashi auf der Basis dieser Notizen geschrieben hat und haben versucht, alle Löcher in Silence Gedächtnis zu finden… wir sind uns ziemlich sicher, dass es leider wahr ist.“ Green biss sich auf die Lippen und schwieg, nach wie vor auf den roten Buchdeckel starrend, ohne zu bemerken, dass Silence sie ansah. Diese „Geschichte aus alten Tagen“, die sie im Grunde nichts anging, nahm sie überraschend mit. Green war nun hineingeworfen worden, aber… die Gefühle, die sie damit verband, waren sehr intensiv, als wäre es ihr selbst widerfahren. Silence spürte es durch die Verbindung ihrer Seelen – und sie sah es in Greens Augen. Unfreiwillig war die Hikari in diese Geschichte hineingeworfen worden, aber anstatt sich zu wehren, warf sie sich kopfüber hinein. Warum? Etwa… für Silence?
„Gut, okay.“ Siberu brach die Stille:
„Light. In Ordnung. Rache, Enttäuschung, Verrat. Alles klar. Ich verstehe auch, warum die Götterbastarde dran glauben mussten…“
„Sie sind alles andere als Bastarde“, warf Gary ein, aber Siberu wollte davon nichts hören:
„Stimmt, sie sind viel schlimmer als das! Jedenfalls kapier ich das. Youma erfährt, was ihm und seiner Schwester angetan wurde und das bringt sein Dämonenblut zum Explodieren und es muss sterben, was ihm in den Weg kommt. Das versteh ich vollkommen.“ Das war eigentlich der Moment, wo Green Siberu ins Gewissen reden sollte, aber sie hatte sich daran gewöhnt.
„Aber seine Schwester check ich nicht.“ Green holte tief Luft und schluckte die Luft herunter. Mit flauem Gefühl im Magen sah sie zu Silence, die ihren Blick zwar erwiderte, aber sie hätte genauso gut aus dem Fenster sehen können, denn ihre starren, schwarzen Augen zeigten nichts, nicht das allerkleinste Gefühl.
„Das check ich auch nicht“, gab Green zu.
„Youma hat da nicht so wirklich eine Erklärung gegeben, obwohl Silence eine gefordert hat. Er wollte sie wiederbeleben. Also, jetzt. Vorgestern.“
„Wiederbeleben?!“ Gary schlug die Augen geschockt auf. Hatte er sich verhört?
„Wieso belebt man jemanden wieder, den man selbst umgebracht hat?“ Gary wandte sich zu Siberu:
„Man kann niemanden wiederbeleben, Silver.“
„Also Youma kann das scheinbar schon“, warf Green dazwischen:
„Light war das Licht des Lebens und so…?“ Sie sah vom einen zum anderen, aber scheinbar konnte keiner der beiden ihr folgen – nicht einmal Gary.
„Naja, Light war jedenfalls das Licht des Lebens.“
„Ja und das bedeuuuutet?“ Green fühlte sich nun selbst wie eine Lehrerin, aber sie gab ihrem ungeduldigen Schüler – Siberu – eine Antwort:
„Light war der einzige Hikari, der Tote wieder zurückholen konnte. Ich weiß nicht genau wie. Aber ich weiß, dass er es konnte… und das hat er Youma vor seinem Tod beigebracht. Silence hat aber abgelehnt.“ Während Gary und Siberu sich vielsagende Blicke zuwarfen, sah Green zur Uhr – es war bereits kurz vor Mitternacht. Es hatte lange gedauert, die Geschichte Aeterniems zu erzählen und sie spürte, dass sie ausgelaugt war. Sie sah zu Silence, die ihr ein leichtes Nicken zuwarf und fragte sich, ob auch sie irgendwann mal müde sein konnte…
„Du sagtest Youma sei jetzt in der Dämonenwelt?“, fragte Gary sie, als Green begann die Tassen auf ein Tablett zu stellen, wobei ihr Siberu sofort half.
„Jedenfalls soweit Silence und ich das wissen.“ Green unterdrückte ein herzhaftes Gähnen und nahm die Tasse Garys entgegen.
„Wenn jemand erfährt, dass er vielleicht Tote wieder zurückholen kann, dann ist er sofort der meistgesuchteste Dämon in unserer Welt.“ Siberu grinste und warf auch noch ein Lachen hinterher, als er das sagte, ohne zu bemerken, dass Green die Worte „unserer Welt“ wie einen Stich in ihrem Herzen gespürt hatte.
„Was sagen denn die Wächter dazu?“ Green schüttelte den Kopf, als würde sie Garys Frage von sich schütteln wollen. Sie hatte wirklich keine Lust, nun über ihre Familie zu sprechen.
„Lass mich bloß mit den Wächtern in Ruhe.“ Garys Blick sagte ihr deutlich, dass er es eigentlich gerne wissen wollte und dass er auch fand, dass Green sich dafür interessieren sollte, weshalb sie irritiert nachgab:
„Sie sind alarmiert: Sie haben ihn auf die Gesucht-Liste gepackt und gut ist.“ Die ganze Wahrheit war, dass Green es eigentlich nicht genau wusste und da Gary leicht die Augenbraue hob, war ihr klar, dass er sie durchschaut hatte.
„Aber damit ist es nicht getan.“ Green stellte das Tablett mit dem Geschirr auf die Küchentheke und drehte sich zu Gary und Siberu um. Sie sah zwar nur die beiden entschlossen an, aber hinter ihnen, immer noch am Fenster schwebend, hatte sie auch Silence‘ komplette Aufmerksamkeit.
„Es klingt alles wie eine Geschichte aus Urzeiten, die gar nicht mehr relevant ist. Die nichts mit uns zu tun hat, aber das ist nicht so. Ich stecke nun mittendrin, weil ich Silence nicht im Stich lassen kann und will und…“ Green zögerte. Sie sah kurz weg, verlor für einen Moment ihren Mut und ihre Entschlossenheit, aber sie fand sie wieder, als sie Gary ansah und seine dunklen, grünen Augen ihr wieder seine Worte in Erinnerung riefen, dass sie es nicht alleine zu schultern hatte – dass sie für Green da waren.
„… Ich möchte das gerne mit euch zusammen durchstehen, was auch immer kommt. Ich möchte mit euch zusammen da drinstecken.“ Siberu grinste sofort erfreut und irgendwie stolz darüber, so feierlich gefragt zu werden, doch auch auf Garys Gesicht schlich sich ein Lächeln.
„Natürlich, Green-chan! Aber dann will ich auch mal mit Silence sprechen, ne!“ Silence schüttelte den Kopf hinter ihnen, aber darauf achtete Green nicht:
„Jetzt lass mich erstmal meinen Geburtstag überstehen! Bis dahin hoffe ich, dass Aeterniem in den Geschichtsbüchern ruhen wird.“
Gary lächelte. Er war sogar so gewagt, dass er Greens Hand für einen Augenblick nahm, als sein Bruder nicht hinsah. Er lächelte sie direkt an, sah ihr in die Augen und genoss es, das schöne dunkle Blau strahlen zu sehen, nachdem es in den letzten Wochen so verwittert gewesen war.
In der Nacht zum nächsten Tag, nur zwei Stunden später, war jedes Lächeln dahin und er schämte sich dafür, dass er überhaupt gelächelt hatte und noch schlimmer – dass er ihre Hand genommen hatte. Der Stift in seiner Hand brannte. Das leere Papier auf dem Tisch verspottete ihn und die Finger seiner rechten Hand krallten sich so tief in seine Haare, dass seine Fingernägel seine Kopfhaut kratzten.
Er musste Bericht erstatten.
Die Berichte waren Teil des Auftrags.
Ri-Il musste unterrichtet werden.
Jeden.
Tag.
Gary wusste das. Er wusste, dass dies Teil des Auftrags war und er hatte sich auch wie in jeder anderen Nacht in die Tokyo Metropolitan Bibliothek teleportiert, sich an den gleichen Tisch wie immer niedergelassen, dem einzigen, den die Kameras nicht erfassten, um sich in kompletter Dunkelheit an seinen täglichen, nächtlichen Bericht zu widmen.
Und schrieb nicht.
Stattdessen sah er Green vor sich, die sich bemüht hatte, ihnen alles zu erzählen, was sie wusste; die sich vorbereitet hatte, die dieses einzigartige, wertvolle Wissen in vollstem Vertrauen ihnen überreicht hatte. Sie hatte sie angelächelt, Kraft aus ihnen geschöpft…
„… Ich möchte das gerne mit euch zusammen durchstehen, was auch immer kommt. Ich möchte mit euch zusammen da drinstecken.“
Das leere Papier forderte ihn auf es zu füllen, doch der Stift bewegte sich nicht.
Gary konnte es nicht. Dieses Wissen war nicht für Ri-Il oder die anderen Mitglieder der Hohen bestimmt. Es war nicht für den Auftrag bestimmt. Es war… nur für sie.
Zusammen.
Schneller, als Gary jemals zuvor den Bericht geschrieben hatte, teilte er Ri-Il mit, dass Green sie zum Abendessen eingeladen hatte, dass die Situation sich normalisiert hätte und dass Green sich ihnen, was ihre Sorge um ihre familiäre Situation anging, geöffnet hätte. Sie hatten mehrere Stunden in der Wohnung der Hikari verbracht; die letzten Wochen, in denen Green sich distanziert hatte, hatten keinen negativen Effekt auf das Band hinterlassen, was Blue und Silver schmieden sollten. Green würde am nächsten Tag wieder die Schule besuchen. Punkt. Wie immer keine Abschiedsworte, keine Gruß-Floskeln. Nur Fakten.
Das Papier gab dem Halbdämon keine Möglichkeit, es sich anders zu überlegen, denn kaum, dass er den Stift gehoben hatte, leuchtete das Papier kurz orange auf, ehe es sich Partikel für Partikel auflöste und kurz das Gesicht Garys erhellte, der seltsam… zufrieden mit sich war.
Nachts, nach Mitternacht. Paris – 2008
Vieles hatte Blue nicht beschützen können. Vieles hatte Ri-Il noch nach dem Beenden des Auftrags erfahren; Dinge, die Blue ausgelassen hatte oder vielleicht nicht so detailliert beschrieben hatte, wie er es hätte tun sollen.
Aber Ri-Il hatte nichts von Aeterniem erfahren. Über Youmas wahre Herkunft wusste er genauso wenig wie die anderen Mitglieder der Hohen – oder Nocturn, der mit einem Halbgott und Massenmörder die Wohnung teilte und absolut keine Ahnung hatte, woher dieser kam und das obwohl das Geschichtsbuch Tao Asukas in seinem Bücherregal stand. Manchmal, wenn Youma Blue einen seiner hochnäsigen Blicke zuwarf, dann hatte Blue Lust sich gerade dieses Buch von Nocturn zu leihen und es unauffällig auf dem Stubentisch liegen zu lassen; aufgeschlagen auf genau der richtigen Seite.
Aber Blue war nicht lustgesteuert und er würde sein Wissen sicherlich nicht einsetzen, nur um Youma – der nicht ahnen konnte, dass Blue als einziger wusste, woher er stammte – eins auszuwischen. Im Augenblick hatte er auch nicht vor es einzusetzen. Er würde es erweitern.
Das war keine sonderlich große Herausforderung, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste, denn Youma war unglaublich unvorsichtig. Vielleicht war Blue schlecht darin, alte Angewohnheiten, die ihn schon ein Leben begleitet hatten, abzulegen und vielleicht war das der Grund, weshalb er jedes Wort, welches in diesem Pariser Appartement gesprochen wurde, auf die Waagschale legte, analysierte, auseinanderbaute und wieder zusammensetzte und weshalb er oft die Luft anhielt, um Gespräche mitzuhören, die nicht für ihn bestimmt waren. Ja, vielleicht war es nur Angewohnheit, die ihn dazu brachte nachts die Tür zu öffnen, wenn er wusste, dass Youma aus seinen Albträumen erwachen würde, um in die Küche zu gehen, wo er jeden Abend ein Glas Wasser trank, um sich zu beruhigen. So wie in dieser Nacht, wo Youmas Finger sich in die Küchentheke krallten und seine Haare vor sein Gesicht fielen, während er Worte stammelte, die Blue nicht verstehen konnte, deren Tonlage aber wie dieselbe Reue klang, die seine Albträume begleitete.
Vielleicht war es aber nicht nur eine Angewohnheit.
Vielleicht erinnerte er sich als einziger an das Wort „zusammen“.