Goldene Schwingen
„Nur noch 24 Stunden. 24 Stunden. Das überlebst du, Light… Gaaaanz ruhig…“ Light wollte nicht in Erememiya sein. Er wollte in Aeterniya sein. Verzweifelt versuchte er, dem die politische Verantwortung ohnehin eine Last war, sich auf das Thema zu konzentrieren, welches immerhin von so großer Bedeutung war. Aber den namenlosen Dämonenherrscher zu sehen, seine gute Laune, die wohl niemand nachvollziehen konnte… dies genügte, um Light wieder an die Gefahr zu erinnern, die dunkle Wolke, die über den Köpfen seiner Familienmitglieder und ihm hing. Aber eigentlich musste Light sich keine Sorgen machen: der namenlose Dämonenherrscher war hier, vor ihm, weit entfernt von Aeterniya. Gut gelaunt über die hitzigen Diskussionsthemen und die verzweifelten Gemüter, als wären diese sein Lebenselixier – und wenn die Diskussionen in eine gute Richtung gingen, dann flaute seine gute Laune ab und er sah wieder gelangweilt aus.
Jedenfalls war das Lights Auffassung… vielleicht war er zu negativ. Vielleicht verurteilte er ihn zu Unrecht. Er war der Herrscher über die Dämonen, die in eine grauenhafte Ecke gedrängt worden waren – das konnte doch auch er nicht als wünschenswert empfinden. Light musste sich irren… und er musste aufhören, sich konstant zu Silence und Youma zu wünschen. Die Dämonen hatten nicht viele Befürworter auf der Seite der Wächter. Sie brauchten ihn. Das war er ihnen schuldig und das war er auch Youma schuldig, dachte Light, als er sich aufrichtete, um sein Wort vorzutragen.
Für ihre gemeinsame Zukunft.
Niemand war so froh, das runde Gebäude zu verlassen, wo das halbjährige Gremium abgehalten wurde, wie Light. Einige sprachen noch miteinander und Light wusste, dass er es eigentlich auch tun müsste, aber er wollte so schnell es ging wieder nach Aeterniya zurück: er wollte zu Youma und Silence. Um zu sehen, dass es ihnen gut ging, dass er sich umsonst Sorgen machte, dass er sich nur Gespenster einredete und alles gut war; um ihnen zu sagen, dass sie eine Einigung erzielt hatten, die deutlich zu Gunsten der Dämonen ausgefallen war. Ein paar Kleinigkeiten – vielleicht auch noch große – mussten natürlich noch ausgearbeitet werden, aber Light war optimistisch, dass es ihnen gelingen würde und die Lebensumstände der Dämonen sich verbessern würde. Ja, wenn er sah wie Kaze mit Cerille, dem Jüngsten der Teufel – jedenfalls sah er am jüngsten aus, Light glaubte eigentlich, dass sie alle zur gleichen Zeit geschaffen worden waren – freundlich miteinander sprachen, obwohl das Gremium bereits vorbei war, dann füllte sein Herz sich mit Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Und gerade deswegen wollte er schnellstmöglich zurück. Er wollte auch nicht warten, bis sie alle zusammen teleportieren würden, er würde es alleine tun. Er musste nur an Hikaru denken – wo war sie?
Light wollte sich nicht ohne Hikaru teleportieren, aber er konnte sie nicht erblicken, obwohl er ihre Aura in der Nähe spürte… gerade als Light noch einmal die Treppen emporsteigen wollte, die von der Eingangshalle ins Innere des Gebäudes führten, erschreckte er, als hätte er ein Beben in seiner Seele gespürt. Er kannte es. Er kannte dieses Gefühl zu gut, viel zu gut; es hatte sich in ihn eingebrannt und sofort ging Light eiligen Schrittes hinaus aus der Eingangshalle, möglichst ohne jemanden zu alarmieren – aber kaum, als er die Säulen passiert hatte und er glaubte, dass ihn niemand mehr beachtete, begann er über den gepflasterten Weg unter den roten Bäumen zu rennen, deren Blätter lautlos auf den Weg hinabrieselten. Weit musste er nicht rennen: am Ende des Weges waren Hikaru und der namenlose Dämonenherrscher.
Hikaru hatte Light den Rücken zugekehrt, aber der namenlose Dämonenherrscher sah nach vorn, sah zu Light und entdeckte ihn auch, lächelte über Lights bestürztes Gesicht, grüßte ihn aber nur mit den Augen, ohne Geste, ohne Wort.
„Was ist hier geschehen?“, fragte Light bestürzt, als er bei ihnen ankam, obwohl beide einfach nur voreinander standen und sich – so schien es jedenfalls – nur ansahen. Hikaru sendete ihm keine Antwort, aber der namenlose Dämonenherrscher antwortete ihm:
„Nichts, Light-kun.“ Er setzte sich in Bewegung, ging an Hikaru vorbei und zu Light, dem er seine Hand auf die Schulter legte.
„Hikaru und ich haben nur gespielt.“ Er löste jeden Finger einzeln von der Schulter des verwirrten Lichtgottes, ehe der namenlose Dämonenherrscher mit flatterndem Umhang die beiden Lichtgötter verließ.
„Du hast unsere Magie eingesetzt, Hikaru.“ Hikaru drehte sich nicht herum.
„Ich kann das spüren, das weißt du. Welchen Grund hattest du um…“
„Light-kun!“ Der Angesprochene drehte sich herum, weg von Hikaru, deren Gesicht er immer noch nicht gesehen hatte und erblickte den namenlosen Dämonenherrscher, der sich noch einmal zu Light herumgedreht hatte. Gute 70 Meter stand er von ihm entfernt, aber Light konnte seinen Blick dennoch ausmachen – sein typisches Lächeln… nein, es war nicht sein typisches Lächeln; es war anders… ganz anders als sonst. Aber er sagte nichts – er sah den verwirrten Lichtgott nur an und drehte sich dann weg und ging seines Weges.
Light wusste nicht wieso, aber er hatte das Gefühl, als hätte der namenlose Dämonenherrscher sich bei ihm entschuldigen wollen.
Die gesamte Hoffnung war aus Light hinausgezogen worden – der Blick des Dämonenherrschers, die Tatsache, dass Hikaru definitiv ihr Licht angewandt hatte und Light gespürt hatte, dass dieses Licht mit Hass heraufbeschworen worden war, hatte ihm sämtliche Hoffnung genommen.
Aber in ein Loch, ein schwarzes, tiefes Loch, fiel er erst, als er Silence sah. Silence. Alleine. Ohne Youma. Seine Aura war nirgends zu spüren und Silence starre Gesichtszüge, ihre tiefen, schwarzen Augen, denen sämtlicher Glanz mangelte, sagten Light alles.
Youma war weg.
„Gestern Nacht. Er war nicht mehr im Bett, als ich aufwachte.“ Light ging zu ihr, seine Beine waren zu schwer um zu rennen; er war zu entgeistert, um etwas zu sagen.
„Ich wollte dich kontaktieren, aber es ging nicht. Ich konnte nicht… ich konnte nicht…“ Natürlich nicht, niemand konnte mit ihnen Kontakt aufnehmen, solange sie die Sitzung abhielten…
„Youma ist weg“, sagte Silence erst jetzt und senkte den Kopf, als Light vor ihr stand.
„… und ich weiß absolut nicht, warum oder wo er ist.“ Light wollte nicht, dass Silence weinen musste und er wusste, dass sie eigentlich auch nicht umarmt werden wollte, aber er tat es dennoch, spürte ihre Verzweiflung, die seine nährte, ihre Traurigkeit, ihre große Sorge um ihren Zwilling.
„Ich hätte es… ich hätte es spüren müssen…“
„Nein, Silence. Du darfst dir keine Vorwürfe machen…“ Behutsam, selbst am Rande der Tränen, strich Light ihr über die glatten Haare:
„… und ihm ebenfalls nicht. Es ist nicht eure Schuld…“ Light hob den Kopf und vergrub für einen Moment sein Gesicht in Silence Schulter.
Es war seine Schuld.
Es war ganz allein seine Schuld.
Das wusste er. Ja, er war sich seiner Schuld bewusst.
„Lass uns ihn suchen.“ Light nahm Silence an der Hand:
„Ich weiß, wo er ist.“
Hikaru sah ihnen hinterher, die Hände über ihrem Rock gefaltet und streckte die Hand dieses Mal nicht nach ihm aus, als ihr Bruder sich entfernte.
Nein, sie war zu beschäftigt damit, zu lächeln.
Schnellen Schrittes waren Light und Silence auf dem Weg zu dem Ort, wo Light und die anderen Götter erst vor kurzem nach Erememiya aufgebrochen waren: sie rannten nicht, als hätten sie in ihrem angespannten Schweigen einstimmig beschlossen, dass sie nicht zu viel Aufsehen erregen wollten. Aber sie gingen dennoch so schnell wie möglich und hätte jemand ihre Gesichter gesehen, sie wüssten, dass etwas vorgefallen war, etwas Einschneidendes, etwas, was sie beide erschütterte.
Doch noch ehe sie hinaus in den Garten kamen – der einzige Punkt, von wo aus das Teleportieren erlaubt war – brach Silence das Schweigen.
„Light, du weißt wo Youma ist?“ Light antwortete nicht und da er einen halben Meter vor ihr ging, sah sie nicht wie sein Gesicht sich schmerzhaft verzog.
„Light!“ Silence packte seinen Ärmel und zwang ihn dazu, stehenzubleiben.
„Woher weißt du, wo Youma ist?“
„Ich weiß es nicht mit Gewissheit“, antwortete Light zerknirscht.
„Ich habe nur eine starke Vermutung.“
„Es handelt sich um den namenlosen Dämonenherrscher, nicht wahr?“ Das Gesicht des Angesprochenen lockerte auf, da er Silence verwirrt musterte und die Frage, wie sie, die den Herrscher der Dämonen nur einmal gesehen hatte und damals immerhin noch klein war, auf ihn kam, stand ihm sehr deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ist Youma bei ihm?“, fragte Silence, anstatt Light eine Antwort auf seine offensichtliche Frage zu geben.
„Ich befürchte es.“
„Du befürchtest es? Ist der Mann eine Gefahr für Youma?“ Light nahm die Hand seiner Tochter und sie begannen wieder eilends zu gehen, während er seine ehrliche Antwort gab – er wisse es nicht und diese Antwort machte Silence noch nervöser, denn sie beide wussten, wo auch immer Youma war, was auch immer er dort tat, es war kein Besuch zum Nachmittagstee. Er war nicht freiwillig dort, das wusste Silence – denn dann hätte er Silence mitgenommen oder sich von ihr verabschiedet; er hätte ihr Bescheid gegeben. Dass er einfach weg war… alleine dies war ausreichend, um ihre Verzweiflung zu nähren.
Dennoch, als Light sie beide nach Lerenien-Sei – und zwar direkt in das Herrschaftsschloss der Dämonenhauptstadt – teleportierte, wurde der Name ihres Zwillings für einen Moment in den Hintergrund gedrängt. Noch nie war Silence im Gebiet der Dämonen gewesen; nicht, weil es ihr verboten gewesen war; sie hatte einfach keinen Grund für einen Besuch gehabt und nun war sie gänzlich überrumpelt von dem Glanz und der Pracht des Gebäudes, durch das Light sie mit der Gewissheit einer Person führte, die dieses Schloss schon oft betreten hatte und wusste, welcher Weg der richtige war.
Der Boden war aus dunklem, glattem Stein, so glatt als wäre es Eis, so sauber und makellos, dass sie ihr geplagtes Spiegelbild darin sehen konnte. Hier und dort glitzerte es rötlich auf, als wären Rubine in den Boden eingefasst. An den schlanken Säulen waren Laternen angebracht, die ein rötliches Licht warfen und weit über Light und Silence weite, gewölbte Decken mit auffälligem Deckendekor aus Glas und glitzernden Steinen, Juwelen und Diamanten, Schätze, die Silence gar nicht kannte, nicht benennen konnte, über deren Strahlkraft sie nur staunen konnte. Sie gingen an schweren Türen vorbei, die ebenfalls verziert waren und an Fenstern, durch die kein Wind hindurchging, aber… wieso? Wieso war vor den Fenstern Glas? Und warum war es bunt?
Silence war so verblüfft über diesen für sie abnormen Einsatz des Glases, dass sie ihre Finger im Vorbeigehen über die Scheiben gleiten lassen wollte, als Light sie jedoch davon abhielt.
„Silence, nicht“, ermahnte er sie, als wäre Silence zehn und nicht zwanzig.
„Wir sollten die Pracht und die Sauberkeit dieses Ortes wahren.“
„Warum ist da Glas vor den Fenstern?“ Light war im Moment zu nervös, um Erklärungen zu geben und er wollte jetzt gewiss nicht über die Elemente sprechen, weshalb er Silence gerade vertrösten wollte, als Silence die Erklärung von jemand anderem bekam.
„Weil der Wind in den Wintermonaten sehr rau und kühl ist und wir die Kälte scheuen.“ Silence drehte sich alarmiert zu dem Träger dieser ruhigen, eleganten Stimme herum, welchen sie nicht kannte, aber Light: es handelte sich bei dem Dämon, der gerade zu ihnen getreten war, um Astaroth, welcher sich in Begleitung seiner ältesten Tochter und seines ältesten Sohnes befand, die sich vor den Besuchern verneigten im Gegensatz zu Astaroth, der nur ein wenig den Kopf neigte – er war ja auch ein Teufel. Er musste sich nicht vor ihnen verneigen, besonders nicht vor Light, der als Freund zu ihm sprach. Silence war weniger erstaunt über seine eng am Kopf liegenden, steil nach oben gehenden, dünnen Hörner – sie hatte schon viele Dämonen mit Hörnern gesehen – sondern mehr über deren Kleidung, gegen welche sie sich richtig schmucklos empfand. Lange Roben, aufwendig mit Stickereien versehen, in dunklem Grün gehalten und mit Silber dekoriert. An den Händen Ringe mit Rubinen und Smaragden, aber trotzdem nicht überladen wirkend. Lange Ärmel, aber der Stoff rund um deren Oberkörper war enganliegend, mit einer schmalen Silberkette dekoriert und silbernem Kragen.
„Light, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so schnell wiedersehen würde und ich muss gestehen, dass ich über den Besuch verwundert bin. Du bist natürlich stets in unserem Schloss willkommen…“ Er hob die Hand in einer unnatürlichen Geste, als würde er die Luft streicheln wollen:
„… aber ich würde es dennoch vorziehen, wenn du dich ankündigen würdest, damit wir dich gebührend begrüßen können.“
„Das ist sehr freundlich von dir, Astaroth.“ Light lächelte höflich, obwohl man ihm ansah, dass er angespannt war; Astaroth hatte kein Lächeln für ihn. Er – und auch seine Nachkommen – sahen allgemein nicht danach aus, als würden sie viel lächeln. Sie hatten ein sehr ernstes, spitz zulaufendes Gesicht und ihre dichten, tiefhängenden Wimpern verliehen ihnen den Eindruck, als würden sie im Schlaf wandeln. Aber ihre roten Augen stachen deutlich hervor in dem düsteren Zwielicht, das sie umgab.
„Aber ich bleibe heute ohnehin nicht lange.“
„Das ist bedauerlich, wo dein letzter Besuch in unserem Schloss doch schon so lange zurückliegt.“
„Wo ist Youma?“, fragte nun Silence, die sich nicht länger von Höflichkeit aufhalten lassen wollte; dennoch versuchte sie, ihre Frage nicht allzu… politisch unkorrekt zu stellen. Sie wollte nicht anklagend klingen, aber sie tat es, doch schien es Astaroth nicht zu stören, der sich Silence zuwandte und sie musterte.
„Der Sohn Luzifers?“ Die Frage störte Silence – Luzifer hatte immerhin nicht nur ein Kind gehabt.
„Ja. Ich bin die Tochter Luzifers.“
„Ich bin mir im Klaren darüber, dass du ein Morgensternkind bist.“ Morgen… sternkind? Silence wusste zunächst nicht, wieso sie dieses Wort erweichte, aber das tat es. Morgensternkind? Hatte… ihr Vater sie so genannt? Dieser Dämon war ein Teufel; er hatte Luzifer gekannt, nein – er war sein Bruder, ihr… Onkel, wenn man das so sagen konnte.
„Wo ist dein Gebieter, Astaroth?“ Astaroth wandte sich wieder Light zu, genau wie seine Kinder es taten und auch Silence sah Light an, der diese Frage sehr bestimmt gestellt hatte – aber er erhielt keine Antwort. Die drei Dämonen sahen ihn einfach an, ohne zu blinzeln.
„Du kannst mir keine Antwort darauf geben?“ Erst da schlug Astaroth die Augenlider nieder.
„Verzeih mir die Unhöflichkeit, dir eine Antwort verweigern zu müssen.“
„War Youma denn hier? War er in Lerenien-Sei?“
„Auch diese Frage muss ich mit Schweigen beantworten.“ Light zog den Kopf zurück, als widere ihn etwas an und er wandte sich auch herum und forderte Silence dazu auf, ihm zu folgen, welche über diese brüske Reaktion Lights sehr überrascht war – und darüber, dass er ging.
„Was, Light – wir gehen einfach?!“
„Nein, wir suchen selbst nach ihm. Astaroth kann uns keine Auskunft geben und keiner seiner Brüder wird es tun können. Sie sind alle ein Teil von ihm und haben keinen eigenen Willen, keine eigene…“
„Identität, möchtest du sagen, Light?“ Silence drehte sich zu Astaroth herum, Light allerdings nicht, aber er war stehen geblieben. Keiner der drei Dämonen war ihnen gefolgt und Silence und Light waren schon gute 40 Meter gegangen – doch ihre rotleuchtenden Augen sah man dennoch deutlich, deutlicher als jeden Rubin.
„Du bist wütend und beunruhigt, deswegen werde ich dir diese Beleidigung verzeihen, denn ich weiß, dass du eigentlich nicht so geringschätzig von uns denkst.“ Silence sah, dass Light sehr missgestimmt, ja, in der Tat wütend aussah, aber er atmete tief durch und drehte sich zu Astaroth herum:
„Mein Sohn ist verschwunden, Astaroth. Eines der Kinder, die ich liebe, ist weg und ich weiß, dass dein Gebieter an diesem Verschwinden beteiligt ist, daher bitte ich dich darum, meine Aufgebrachtheit zu entschuldigen.“
„Sie sei dir verziehen“, antwortete der Teufel sofort und Light drehte sich schon herum, um weiterzugehen, aber Astaroth hielt ihn auf:
„Ich missbillige die Entscheidungen meines Gebieters. Doch er ist mein Gebieter und ich vertraue und diene ihm, liebe ihn, wie der Sohn seinen Vater liebt.“ Die Abendsonne brach hinter den schwarzen Wolken hervor und malte den Korridor rot auf seinem Weg durch die bemalten Fenster.
„Dies gilt für uns alle.“ Langsam, noch während Astaroth diese ruhigen Worte formte, sah Light über die Schulter, wo Astaroth sich langsam von seinen Kindern löste und mit sachte hinter ihm her flatternden Haaren den Abstand zwischen ihnen verringerte. Light sah Astaroth verbissen in die Augen, Silence aber tat dies nicht. Ihr Herz… es beschleunigte sich, mit jedem Schritt, den der Teufel sich ihnen näherte.
„Unser Gebieter aber… hat einen von uns bevorzugt. Der einzige von uns, der unseren Gebieter nie seinen Vater nannte. Die Trauer, ihn verloren zu haben, macht unseren Erschaffer untröstlich… wütend… und gefährlich.“ Light hörte diese Worte genau, aber in Silence‘ Ohren begann es zu rauschen. Doch es war nicht Astaroth. Es war etwas anderes, das ihr Herz so quälte. Ein Schmerz, ein großer Schmerz, der aus ihrem Inneren stammte und der ihre Sinne in Beschlag nahm. Die Antwort Lights, seine sanfte Stimme, hörte sie dennoch:
„Ich weiß, von wem du sprichst.“
„Ja… natürlich weißt du es“, antwortete Astaroth leise, während Silence sich an einem Fenstervorsprung festhalten musste, um nicht zu fallen und er schloss die Augen wie zum Gebet.
„Er ist nicht ohne Grund… der Morgenstern gewesen.“ Diese Worte hatte Light wiederum nicht gehört, denn nun bemerkte er Silence‘ Zustand und er war sofort da, um sie zu stützen. Er fragte sie, was sie hatte, was für Schmerzen sie quälten, aber seine Stimme war nur ein verschwommenes Echo. Zu groß waren die Schmerzen – ihr Herz, sie hatte das Gefühl, als würde es zerreißen und sofort griff sie zu ihrem Glöckchen, welches sie fest mit beiden Händen umschloss und dabei beinahe zu Fall gekommen wäre, hätte Light nicht den Arm um sie gelegt.
„Silence! Silence, was spürst du?“ Erst als Light seine freie Hand um die Hände und damit um das Glöckchen Silence‘ legte, hörte sie seine Stimme, als könnte sie ihn nicht mehr mit den Ohren hören, sondern nur durch die Verbindung mittels des Glöckchens, nur durch die Verbindung ihrer Seelen.
„Schmerzen.“ Silence‘ Stimme war heiser und… irrte sie sich nur oder spürte sie ihr Glöckchen vibrieren?
„Große—- Schmerzen. Und Trauer, Enttäuschung und…“ Obwohl ihre Stimme von der Pein, die sie verspürte, verzerrt war, hallte sie dennoch in dem Gewölbe wider und bohrte sich in Lights Herz.
„… Verrat.“ Astaroth beobachtete das Ganze mit respektvollem Abstand, aber als er sah, wie Lights Gesicht deutlich erbleichte und er kurz aussah wie eine Leiche, da begann er sich Sorgen zu machen und seine Stirn wölbte sich, aber er sagte nichts – es war Light selbst, der etwas sagte.
„Silence… diese Gefühle…“ Er drückte Silence‘ Finger fester.
„Weil ihr biologische Wesen seid, sollte es eigentlich nicht so stark sein wie bei Hikaru und bei mir, aber ich denke, da ihr Zwillinge seid und ihr ein starkes Band zueinander habt…“ Silence sah mit starrem Blick auf.
„Willst du mir sagen… dass ich Youma gerade spüre? Dass das… was ich gerade spüre… ein Echo von dem ist, was Youma spürt?“ Light deutete ein Nicken an.
„Ich habe gerade das Gefühl, dass mein Glöckchen zerrissen wird!“ Umgehend ließ Silence‘ ihr eigenes Glöckchen los und packte Lights Schultern:
„Wir müssen zu ihm! Wir müssen ihn finden! Sein Glöckchen! Ich habe das Gefühl, dass es zerstört wird!“ Doch Silence war selbst zu mitgenommen von dem Echo der Schmerzen, so dass sie beim Versuch sich aufzurichten und zu rennen einknickte und ihr Kopf gegen Lights Brust sackte, der sie wieder stützen musste.
„Light.“ Weder Light noch Silence hatten noch Gehör für Astaroth, aber Light sah dennoch zu ihm, der nun näher an sie herantrat.
„Es ward schon lange beschlossen, dass es der Morgenstern sein soll, der zu unserem König werden soll, wenn es unseren Gebieter nicht mehr geben wird.“ Geben… wird? Lights Verwunderung über diese Worte stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Wovon sprichst du?“ Wieder sah Light Astaroth deutlich an, dass er keine Antwort erhalten würde.
„Aber Luzifer ist tot.“ Astaroth stand nun vor ihnen und sah mit seinen leuchtenden Augen auf Light und Silence herunter, die einer Ohnmacht nahe war.
„Und unser Gebieter hat denjenigen zum König gewählt, der das Gesicht Luzifers trägt.“ Lights Augen weiteten sich.
„Seinen Sohn.“ Diese Worte rissen Silence empor und sie sah Astaroth genauso entsetzt an wie Light es tat.
„Youma soll… Dämonenkönig werden?“, flüsterte Silence fassungslos, aber ihre Stimme wurde schnell zu einem Zischen:
„Das ist doch Unfug!“ Astaroth reagierte nicht auf Silence‘ entrüstete Reaktion oder auf ihren bissigen Tonfall. Er sah sie nur mit seinen ruhigen roten Augen an.
„Youma und ich sind Wächter!“
„Das seid ihr beide nicht.“ Light musste Silence gut festhalten, damit diese nicht aufsprang, um Astaroth womöglich noch anzugreifen – aber da, als es nun Light war, der ein starkes Echo vernahm, entglitt ihm Silence. Silence stand auf, aber Light spürte es nicht, denn er fiel, drohte zu stürzen, als er die bodenlosen Gefühle von Hikaru spürte.
„Lig—“ Sein Sichtfeld wurde schwarz, er hatte selbst das Gefühl in Schwärze eingetaucht zu werden, der Hass, er verschlang ihn, er fraß ihn auf, der Wille zu töten, die Freude, es endlich tun zu können! Schadenfreude! Triumph! Endlich! ENDLICH!
„Light!“
Nichts wird jemals wieder so sein, wie es--
„LIGHT!“
Mit einem Schlag öffnete Light wieder die Augen und sah Silence über sich. Er sah das besorgte Gesicht seiner Tochter, hörte ihre starke Stimme. Astaroth stand hinter Silence, ebenfalls besorgt, aber es war Silence, die Light genau vor sich sah, in ihrer gesamten Pracht und Stärke.
„Sil…ence…“
„Oh Gott, Light! Ich dachte, du würdest verschwinden, ich dachte, du würdest dich auflösen! Du kannst mir doch jetzt nicht so einen Schrecken einjagen?!“ Nein… nein, das konnte er nicht. Das war unerhört von ihm. Es war unerhört von ihm, sich so von einem Echo mitreißen zu lassen. Auf dem Boden zu liegen, von Silence gestützt. Nein, sie mussten zu Youma.
„Was… spürst du, Silence?“ Silence hielt ihre Hand immer noch – oder wieder, Light wusste es nicht – um ihr Glöckchen, genau wie Light es nun tat.
„Ich weiß es nicht. Schmerzen… viele verschiedene.“ Astaroth half Light auf die wackeligen Beine und obwohl Light nicht danach aussah, als sollte er sich viel bewegen – genauer genommen sahen weder Silence noch Light danach aus – beschwor Astaroth sie, dass sie sich beeilen sollten.
Und das taten sie auch. Silence wusste nicht, woher Lights Kraft stammte, aber er nahm sie bei der Hand und begann zu rennen, als würde er—
Ein großes, gleißendes Strahlen erleuchtete die sich weitenden Augen Astaroths und seiner Kinder, die mit offenen Mündern zurücktaumelten, als Light Silence auf den Arm nahm als wäre sie schwerelos, zwei gleißende Flügel ausbreitete und wie ein strahlender Pfeil vom Balkon in den Abendhimmel emporschoss.
Perplex und von dem Anblick der schönen Flügel, die Astaroth einen Augenblick gesehen hatte, hingerissen, ging er zum Balkon, um den leuchteten Punkt am roten Himmel zu beobachten, wie er sich entfernte. Bald fanden seine Augen wieder Ruhe, doch das Strahlen der Flügel schien immer noch in seinen Augen nachzubeben.
„Light… wisse, dass jedes Unglück, das nun folgen wird, nicht das ist, was von uns gewünscht war.“
Als der leuchtende Punkt in einer Wolke verschwand, senkte Astaroth den Kopf, drehte sich herum und schloss die Glastür hinter sich. Seine Hände blieben jedoch einen kurzen Moment an dem verschnörkelten Griff aus Kupfer, ehe er sich herumdrehte und zum Himmel emporblickte.
„Wir wollten niemals töten.“ Er senkte die Augenlider und entfernte sich von der Tür mit den rötlichen Glasscheiben, deren rotes Glas aussah wie herunterlaufendes Blut.
„Den Krieg begonnen habt ihr.“
Silence, von Light getragen und fest an seine Brust gedrückt, konnte nicht begreifen, was gerade geschah: es verschlug ihr gänzlich die Sprache. Noch nie zuvor hatte sie so etwas gesehen, von so etwas gehört… von so einem Wunder, so etwas… einzigartigem, so etwas einzigartig Schönem.
„Wie…?“ Mit zitternden Fingern berührte sie… es. Golden leuchtende Flügel, die sich warm unter ihren zitternden Fingern anfühlten und helle Reflektionen auf ihr Gesicht malten. Doch die Schwingen, die die doppelte Größe von Lights Körper besaßen und sie ohne Probleme durch die Wolken trugen, waren nicht nur weiß, wie Silence beim näheren Hinsehen bemerkte. Sie waren blau, so blau wie der schönste Sommerhimmel, strahlend weiß wie das hellste Licht und golden wie die Sonne.
„Silence, bitte, halt dich fest.“ Silence starrte ihren Ziehvater, dem plötzlich diese Schwingen aus dem Rücken gewachsen waren, sprachlos, mit offenem Mund an – nachdem sie aber bemerkte, dass ihr Mund offenstand, schloss sie ihn.
„Ich…“ Silence musste schlucken, was ihr nicht oft geschah.
„… kann selber fliegen.“ Light sah sie kurz an, dann sah er wieder mit einem kleinen Lächeln nach vorne.
„Daran zweifle ich nicht. Aber ich bin schneller.“ Sein Lächeln verschwand.
„Wir werden gleich in Aeterniya sein.“
„Warum teleportieren wir uns nicht?“, fragte Silence halb schreiend gegen den Fahrtwind, der ihr die Haare ins Gesicht wehte.
„Hikaru hat um die gesamte Stadt einen Antiteleportationsbannkreis gelegt.“
„Einen was?! Das geht? Das gibt es?!“
„Ja, den gibt es, aber selten angewandt, besonders in der Größenordnung. Niemand kann sich rein oder raus teleportieren.“ Sie flogen durch mehrere dunkle Wolken hindurch, die Silence dazu zwangen die Augen zu schließen, aber Light sah verbissen geradeaus, seine Tochter gut festhaltend, die die Arme um seinen Hals geschlungen hatte.
„Aber wieso hat Hikaru so etwas getan?“
„Um Zeit zu gewinnen. Um uns solange wie möglich von Aeterniya fernzuhalten.“ Silence und Light sahen sich kurz ernst an.
„Du spürst Youma noch?“
„Ja. Aber sein Schmerz ist… dumpfer geworden.“ Light wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war oder nicht, aber er sah wieder nach vorne und beschleunigte, nachdem er Silence gewarnt hatte. Lerenien-Sei und Aeterniya lagen nicht weit voneinander entfernt; lange würde es nicht dauern zurückzufliegen… aber jede Minute könnte zu lange sein… jede Minute könnte bedeuten, dass Youma etwas zustoßen… Nein, Light kniff die Augen zusammen: ihm war bereits etwas zugestoßen. Ihm war das Schlimmstmögliche zugestoßen.
Lights Flügel begannen zu schmerzen, aber die Sorge um Youma und die Schuld, die sein Herz zerfraß, waren viel schwerer zu tragen als seine Flügel.
Sie hatten beide den Moment, wo sie zum letzten Mal durch die Wolken brachen, zugleich herbeigesehnt und gefürchtet und Silence spürte auch, dass Light zögerte zu landen. Oder war er genau wie sie erstarrt, als sie die Katastrophe von oben sah?
Aeterniya war in Dunkelheit gehüllt; nicht in die Dunkelheit der Nacht, die natürliche, angenehme Dunkelheit, sondern eine schattenhafte Dunkelheit, die auch Silence den Rücken emporkroch und ihr Gesicht genau wie das von Light erbleichen ließ.
„You…ma…“ Sie spürte, dass dies sein Werk war, sie spürte, dass es seine, deren Magie war, die Aeterniya die Nacht gebracht hatte; die Dunkelste aller Nächte, wovon sie nicht wusste, dass sie dazu im Stande waren… und dort, unter ihnen, auf dem Platz, der vor dem Palast der Elemente lag, brannte es. Sie hörten Schreie, Schmerzensschreie, Schreie, deren Quell die Angst war, sahen Wächter und Dämonen, die heillos flohen. Blitze von eingesetzter Magie schossen in die Dunkelheit empor, erleuchteten diese in der Farbe des Elementes und als Light herabsank und sie beide wieder festen Boden unter den Füßen hatten, spürten sie auch, dass dieser bebte. Tsuchi, oder einer seiner Nachfahren, war im Begriff seine Magie einzusetzen. Hier in Aeterniya, hier in ihrem Zuhause, außerhalb eines Turniers, in einem Kampf… in einem Kampf, in dem es darum ging, zu töten.
Kaum hatte Light den Boden mit den Fußspitzen berührt, sprang Silence herunter und lief los. Light wollte ihr hinterherlaufen, wollte sie stoppen – er hatte schon seinen Mund geöffnet, um ihren Namen zu schreien, als er einknickte. Er ging in die Knie, dort auf einem kleinen runden Platz, wo eigentlich ein Springbrunnen stets fröhlich plätscherte und die Schmetterlinge tollten. Die Flügel… sie waren zu schwer gewesen… noch nie hatte er so einen weiten Weg fliegen müssen, dazu noch mit einer Person… nein. Light schloss die Augen und schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf. Es waren nicht die Flügel, die ihn schwächten.
Es war seine Angst.
Es war ihr Hass.
Wenn er aufstand und ebenfalls rannte, dann würde er in ein Horrorszenario hereinrennen. Blut, Leichen, Kampf… Krieg. Schwefelgeruch stieg dem Hikari in die Nase und der Geruch von Blut… von viel Blut. All das, wogegen er immer gekämpft hatte, was er niemals hatte wahr werden lassen wollen. Er wollte Harmonie, Frieden… Glück für seine Kinder, für sich selbst.
„… Heuchler…“ Light lachte bitter über sich selbst, aber es gelang ihm mit seiner zusammengeballten Faust sich aufzurichten. Denn Youma… sein Junge, sein Sternenkind war mittendrin in diesem Horrorszenario.
„Light!“ Er sah auf und sah, dass Silence gar nicht vorgerannt war: Sie war am Ende des Weges stehen geblieben und drehte sich nun nach ihm herum, streckte auch die Hand nach ihm aus.
„Komm!“ Light nickte und zusammen mit Silence musste er einige Treppenstufen emporrennen, um zum Ort des Geschehens zu gelangen. Hier und dort waren die Stufen rot. Silence rannte weiter, als wäre der Tod hinter ihr selbst her – er war jedoch eher vor ihr. Sie hatte nicht wie Light die Bilder gesehen, die er durch Hikarus Augen gesehen hatte. Sie spürte nur Youmas Schmerz, seine Pein, die ihre Angst schürte; Angst um ihren Bruder, dass ihm etwas passiert war… dass er irgendwo lag und blutete. Genau wie die drei toten Wächter auf den Steinstufen, an denen sie gerade vorbeirannten und die sie nicht ansahen. Light aber wusste… Youma war nicht tot. Er lag nirgendwo. Er war in der Mitte des Schreckens. Dem Mittelpunkt. Im Auge des Sturms. Der Einzige, der nicht unter Todesangst litt, aber dafür die größten Schmerzen von ihnen allen verspürte.
Silence kam am Ende der Stufen an, musste sich jedoch sofort auf den Boden werfen, um einer Windattacke auszuweichen, die ihre Haare aufwirbeln ließ. Ehe Light ebenfalls oben ankam, erblickte er Hikaru, die am Ende der Treppe stand und nicht sichtlich darauf reagierte, dass Silence neben ihr aufgetaucht war. Der weiße Überwurf des Rockes der kleinen Hikari war zerrissen, angebrannt, befleckt und ihre blauen Schleifen waren verschwunden: wild wehten ihre Haare um sie herum im aufgescheuchten Wind. Als sie Light spürte, drehte sie ihr kleines Kindergesicht zu ihm, welches voller Blutflecken war und Light die Sprache nahm.
„Halte ihn auf!“ Sie drehte sich nun vollends zu ihm herum und ihre Worte hallten laut durch Lights Kopf:
„Beschütze unsere Wächter und töte ihn!“ Die Worte hörte Light. Aber er sah Hikaru nicht. Er sah dasselbe, was Silence sah und beide schlug es wie ein Peitschenhieb: Youma, in der Mitte des Horrors.
Er stand in der Mitte des Hauptplatzes, von allen Attacken unversehrt und ohne den kleinsten Kratzer… über und über mit Blut besudelt, als hätte er in diesem gebadet, genau wie das lange, gebogene Blatt der Waffe, die er in der Hand hielt und dessen Schärfe nicht zu übersehen war. Eine Sense.
Doch weder die Waffe noch das Blut waren das, was Silence und Light versteinern ließen. Es waren Youmas Augen. Seine sonst so tiefen schwarzen Augen, die jedes Sternenstrahlen einfingen, ja, der Nachthimmel selbst zu sein schienen, waren in dunkles Rot getaucht, so dunkel, so verzehrend, dass die Pupille nicht mehr zu sehen war, als wäre sie in dem roten Meer seiner tränenumrandeten Augen untergegangen.
„Töte ihn“, beschwor Hikaru Light noch einmal, während dieser vor Schreck erstarrt war.
„Er ist ein Dämon. Ein Dämon, der uns alle töten will. Tu es, bevor er es zuerst tun kann!“
„YOUMA!“, schrie Silence plötzlich in Hikarus Worte hinein und sie wollte auch gerade auf ihren Zwilling zustürmen, als Light sie von hinten packte und sie zurückzog, damit sie nicht von einer Feuerwalze getroffen wurde, die für Youma vorgesehen war, der er allerdings ebenfalls auswich. Silence wehrte sich und sie hätte sich auch befreien können, aber ihre ruppigen Bewegungen gingen unter, als Youma sich zu seiner Familie herumdrehte und selbst die Flammen für einen Moment zu schweigen schienen.
„Silenci!“, laut und deutlich war dieser Name über die Schreie und das Weinen der Verletzten zu hören, geformt von Youmas Stimme, die… melodisch wie immer klang, doch seine Gesichtszüge waren hart geworden und als er mit dem Blut in seinem Gesicht lächelte, fürchtete Light, dass er sich übergeben musste. Was hatte der Dämonenherrscher mit ihm gemacht?! Er würde es büßen, seinen Sohn so zugerichtet zu haben!
Youma blieb wo er war und niemand hinderte ihn daran, nach Silence die Hand auszustrecken, als würde er sie auffordern, zu ihm zu kommen. Aber selbst wenn sie es gewollt hätte; Light hielt sie zu gut fest. So ohne Weiteres konnte sie sich nicht…
„Lass sie gehen.“ Youma sah Light nicht an, als er diese Worte aussprach mit einer Kälte, die sich direkt in Lights Herz hineinbohrte.
„Lass Silence zu mir.“ Nur einen kurzen Augenblick war Light zu sehr von seinem eigenen Schmerz abgelenkt; einen Augenblick, den Silence ausnutzte, um sich von seinem Griff zu befreien, um zu Youma zu gelangen, der seine blutgetränkte Hand weiterhin nach ihr ausgestreckt hielt und langsam zu lächeln anfing.
„Ich brauche dich. Ich werde dich nie alleine lassen, das habe ich dir versprochen, Silence… Ich werde dich immer…“ Die Worte schienen ihm schwerzufallen, als wäre das Sprechen selbst eine Herausforderung.
„… beschützen.“ Gerade als die Fingerspitzen der beiden Zwillinge sich beinahe berührt hätten, sprang Light vor und wollte Silence zurückziehen, sie aus der Gefahr befreien, die Youma im Moment darstellte, doch da, gerade als Light die Hand nach Silence ausstreckte, war das Lächeln Youmas dahin und Wut entstellte sein Gesicht, denn er hatte Lights Absicht erkannt.
Es ging alles schnell; zu schnell für manche Augen: die Sense Youmas durchschnitt die Luft und ein horizontaler Hieb raste an Silence‘ Gesicht vorbei, zerschnitt einige ihrer Haare und traf Lights Oberkörper. Jemand schrie Lights Namen, doch der Hieb teilte den Körper des Lichterben nicht in zwei Hälften, so wie es eigentlich hätte geschehen sollen. Nur ein horizontaler Riss in seiner Kleidung war zu erkennen – es floss kein einziger Bluttropfen, aber der Schock von Youma angegriffen worden zu sein, lähmte Light vollends, der nur dastand, als hätte etwas sein Innerstes getötet.
„Youma?!“, schrie Silence, die auf den Boden gesackt war:
„Bist du denn völlig von Sinnen?! Das ist Light! Unser Vater! Siehst du das denn nicht?!“
„Doch.“ Youma starrte Light an, welcher verletzt zurück starrte und für einen Moment waren sie eins in ihrer Qual.
„Ich sehe es.“ Der Schmerz in Youmas Stimme brannte sich in Silence‘ Ohren und wieder spürte sie ihn so deutlich auch in ihrem eigenen Herzen widerhallen, obwohl sie nicht verstand, was der Grund für diesen Schmerz war.
„Ich sehe es!“, rief Youma nun und holte abermals mit der Sense aus, aber das war nicht das, was Silence und Light sahen – sie sahen die Tränen in seinen roten Augen.
„Denn ich bin es nicht, der vergessen hat, was Familie bedeutet!“ Doch der Angriff Youmas wurde vereitelt: ein plötzlich heransausender Feuerpfeil schoss aus dem Qualm hervor und riss Youma die Sense aus der Hand, die quer über den Platz geschleudert wurde. Schnell drehte Youma sich nach seiner Waffe herum, sprang auch schon nach dieser – ein Fehler.
Unter Youmas Füßen erstrahlte der Boden, so gleißend, so brennend, als erstrahlte die Sonne selbst.
Light hatte schnell genug gehandelt, um sich zu Silence auf den Boden fallen zu lassen und sie schützend in die Arme zu nehmen, um seinen eigenen Körper als Schutzschild zu benutzen. Dennoch, obwohl sie von Lights Körper geschützt wurde, spürte sie die freigesetzte Lichtmagie brennend an jedem freien Zentimeter ihrer Haut. Dies war jedoch bei Weitem nicht das, was ihr die größten Schmerzen bereitete.
Es war Youmas schmerzverzerrender Schrei, der von der Sonne verbrannt wurde.
Er ging ihr durch Mark und Bein, als wäre sie es, die unter den Schmerzen litt und nicht er. Doch sie konnte nichts tun! Die Angst, sie war überwältigend! Die Angst vor dem Licht! Die Angst verbrannt zu werden! Was war das für ein Licht! Warum war es so stark, warum schmerzte es so sehr! Die Luft selbst schien zu brennen!
Nicht nur Youma schrie, sondern auch Light: es waren allerdings Worte und kein Schmerzensschrei. Doch, von Schmerz erfüllt war auch sein Schrei – aber genau wie Silence waren es nicht seine eigenen körperlichen Schmerzen, sondern das Band, welches sie beide mit Youma verband.
„HIKARU! HÖR AUF! DU BRINGST IHN UM! DU BRINGST IHN UM!“
„DAS IST AUCH MEINE ABSICHT!“
Youma wäre in diesem Moment umgekommen. Hikaru hätte ihn umgebracht, wäre Light nicht da gewesen. Er zögerte nicht, obwohl er sich den Konsequenzen seines Handelns bewusst war. Er streckte die Hand aus – entschlossen und doch im federleichten Kontrast zur Gewalt der Szene – sah Hikaru, seine Schwester, sein Mitlicht an, die ihren Blick von dem schreienden Youma abwandte und Lights erwiderte. Sie sagte nichts. Sie übertrug ihm keine Gedanken. Sie schüttelte nur langsam und kaum merklich den Kopf.
Aber Light hatte gewählt.
Und das Licht verschwand. Es verschwand so schnell wie Hikaru es beschworen hatte; verschwand und ließ nur Dunkelheit zurück und die Stille war für einen Moment alldominierend.
Die beiden Kinder Hikaris sahen sich an; sahen nur sich an. Light mit festen Augen, Hikaru mit Enttäuschung im Blick, aber überrascht war sie nicht.
“Unser Licht darf niemanden töten, Hikaru.” Eine Ahnung hob sie mit abschätzigem Blick den Kopf, ohne etwas zu erwidern. Er wusste, dass er ihr Vertrauen – und womöglich auch das der anderen Götter – für alle Zeit verloren hatte.
Aber es war ihm egal.
Silence hatte sich bereits von ihm gelöst und war zu Youma gerannt. Er lag am Boden, die Augen halb geschlossen, aber das Rot seiner Augen schimmerte immer noch unter seinen flatternden Augenlidern hervor… und Light und Silence schoss dasselbe durch den Kopf – er sah tot aus.
Aber er war es nicht. Er hatte Hikarus Licht dank Lights schnellem Eingreifen überlebt und die Erleichterung ließ Silence lächeln. Doch dieses Lächeln hielt nicht lange, ehe sie ihren Kopf über der Brust ihres Bruders senkte und sie ihrer Trauer freien Lauf ließ… wie Light ebenfalls.
Jedenfalls war das Lights Auffassung… vielleicht war er zu negativ. Vielleicht verurteilte er ihn zu Unrecht. Er war der Herrscher über die Dämonen, die in eine grauenhafte Ecke gedrängt worden waren – das konnte doch auch er nicht als wünschenswert empfinden. Light musste sich irren… und er musste aufhören, sich konstant zu Silence und Youma zu wünschen. Die Dämonen hatten nicht viele Befürworter auf der Seite der Wächter. Sie brauchten ihn. Das war er ihnen schuldig und das war er auch Youma schuldig, dachte Light, als er sich aufrichtete, um sein Wort vorzutragen.
Für ihre gemeinsame Zukunft.
Niemand war so froh, das runde Gebäude zu verlassen, wo das halbjährige Gremium abgehalten wurde, wie Light. Einige sprachen noch miteinander und Light wusste, dass er es eigentlich auch tun müsste, aber er wollte so schnell es ging wieder nach Aeterniya zurück: er wollte zu Youma und Silence. Um zu sehen, dass es ihnen gut ging, dass er sich umsonst Sorgen machte, dass er sich nur Gespenster einredete und alles gut war; um ihnen zu sagen, dass sie eine Einigung erzielt hatten, die deutlich zu Gunsten der Dämonen ausgefallen war. Ein paar Kleinigkeiten – vielleicht auch noch große – mussten natürlich noch ausgearbeitet werden, aber Light war optimistisch, dass es ihnen gelingen würde und die Lebensumstände der Dämonen sich verbessern würde. Ja, wenn er sah wie Kaze mit Cerille, dem Jüngsten der Teufel – jedenfalls sah er am jüngsten aus, Light glaubte eigentlich, dass sie alle zur gleichen Zeit geschaffen worden waren – freundlich miteinander sprachen, obwohl das Gremium bereits vorbei war, dann füllte sein Herz sich mit Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Und gerade deswegen wollte er schnellstmöglich zurück. Er wollte auch nicht warten, bis sie alle zusammen teleportieren würden, er würde es alleine tun. Er musste nur an Hikaru denken – wo war sie?
Light wollte sich nicht ohne Hikaru teleportieren, aber er konnte sie nicht erblicken, obwohl er ihre Aura in der Nähe spürte… gerade als Light noch einmal die Treppen emporsteigen wollte, die von der Eingangshalle ins Innere des Gebäudes führten, erschreckte er, als hätte er ein Beben in seiner Seele gespürt. Er kannte es. Er kannte dieses Gefühl zu gut, viel zu gut; es hatte sich in ihn eingebrannt und sofort ging Light eiligen Schrittes hinaus aus der Eingangshalle, möglichst ohne jemanden zu alarmieren – aber kaum, als er die Säulen passiert hatte und er glaubte, dass ihn niemand mehr beachtete, begann er über den gepflasterten Weg unter den roten Bäumen zu rennen, deren Blätter lautlos auf den Weg hinabrieselten. Weit musste er nicht rennen: am Ende des Weges waren Hikaru und der namenlose Dämonenherrscher.
Hikaru hatte Light den Rücken zugekehrt, aber der namenlose Dämonenherrscher sah nach vorn, sah zu Light und entdeckte ihn auch, lächelte über Lights bestürztes Gesicht, grüßte ihn aber nur mit den Augen, ohne Geste, ohne Wort.
„Was ist hier geschehen?“, fragte Light bestürzt, als er bei ihnen ankam, obwohl beide einfach nur voreinander standen und sich – so schien es jedenfalls – nur ansahen. Hikaru sendete ihm keine Antwort, aber der namenlose Dämonenherrscher antwortete ihm:
„Nichts, Light-kun.“ Er setzte sich in Bewegung, ging an Hikaru vorbei und zu Light, dem er seine Hand auf die Schulter legte.
„Hikaru und ich haben nur gespielt.“ Er löste jeden Finger einzeln von der Schulter des verwirrten Lichtgottes, ehe der namenlose Dämonenherrscher mit flatterndem Umhang die beiden Lichtgötter verließ.
„Du hast unsere Magie eingesetzt, Hikaru.“ Hikaru drehte sich nicht herum.
„Ich kann das spüren, das weißt du. Welchen Grund hattest du um…“
„Light-kun!“ Der Angesprochene drehte sich herum, weg von Hikaru, deren Gesicht er immer noch nicht gesehen hatte und erblickte den namenlosen Dämonenherrscher, der sich noch einmal zu Light herumgedreht hatte. Gute 70 Meter stand er von ihm entfernt, aber Light konnte seinen Blick dennoch ausmachen – sein typisches Lächeln… nein, es war nicht sein typisches Lächeln; es war anders… ganz anders als sonst. Aber er sagte nichts – er sah den verwirrten Lichtgott nur an und drehte sich dann weg und ging seines Weges.
Light wusste nicht wieso, aber er hatte das Gefühl, als hätte der namenlose Dämonenherrscher sich bei ihm entschuldigen wollen.
Die gesamte Hoffnung war aus Light hinausgezogen worden – der Blick des Dämonenherrschers, die Tatsache, dass Hikaru definitiv ihr Licht angewandt hatte und Light gespürt hatte, dass dieses Licht mit Hass heraufbeschworen worden war, hatte ihm sämtliche Hoffnung genommen.
Aber in ein Loch, ein schwarzes, tiefes Loch, fiel er erst, als er Silence sah. Silence. Alleine. Ohne Youma. Seine Aura war nirgends zu spüren und Silence starre Gesichtszüge, ihre tiefen, schwarzen Augen, denen sämtlicher Glanz mangelte, sagten Light alles.
Youma war weg.
„Gestern Nacht. Er war nicht mehr im Bett, als ich aufwachte.“ Light ging zu ihr, seine Beine waren zu schwer um zu rennen; er war zu entgeistert, um etwas zu sagen.
„Ich wollte dich kontaktieren, aber es ging nicht. Ich konnte nicht… ich konnte nicht…“ Natürlich nicht, niemand konnte mit ihnen Kontakt aufnehmen, solange sie die Sitzung abhielten…
„Youma ist weg“, sagte Silence erst jetzt und senkte den Kopf, als Light vor ihr stand.
„… und ich weiß absolut nicht, warum oder wo er ist.“ Light wollte nicht, dass Silence weinen musste und er wusste, dass sie eigentlich auch nicht umarmt werden wollte, aber er tat es dennoch, spürte ihre Verzweiflung, die seine nährte, ihre Traurigkeit, ihre große Sorge um ihren Zwilling.
„Ich hätte es… ich hätte es spüren müssen…“
„Nein, Silence. Du darfst dir keine Vorwürfe machen…“ Behutsam, selbst am Rande der Tränen, strich Light ihr über die glatten Haare:
„… und ihm ebenfalls nicht. Es ist nicht eure Schuld…“ Light hob den Kopf und vergrub für einen Moment sein Gesicht in Silence Schulter.
Es war seine Schuld.
Es war ganz allein seine Schuld.
Das wusste er. Ja, er war sich seiner Schuld bewusst.
„Lass uns ihn suchen.“ Light nahm Silence an der Hand:
„Ich weiß, wo er ist.“
Hikaru sah ihnen hinterher, die Hände über ihrem Rock gefaltet und streckte die Hand dieses Mal nicht nach ihm aus, als ihr Bruder sich entfernte.
Nein, sie war zu beschäftigt damit, zu lächeln.
Schnellen Schrittes waren Light und Silence auf dem Weg zu dem Ort, wo Light und die anderen Götter erst vor kurzem nach Erememiya aufgebrochen waren: sie rannten nicht, als hätten sie in ihrem angespannten Schweigen einstimmig beschlossen, dass sie nicht zu viel Aufsehen erregen wollten. Aber sie gingen dennoch so schnell wie möglich und hätte jemand ihre Gesichter gesehen, sie wüssten, dass etwas vorgefallen war, etwas Einschneidendes, etwas, was sie beide erschütterte.
Doch noch ehe sie hinaus in den Garten kamen – der einzige Punkt, von wo aus das Teleportieren erlaubt war – brach Silence das Schweigen.
„Light, du weißt wo Youma ist?“ Light antwortete nicht und da er einen halben Meter vor ihr ging, sah sie nicht wie sein Gesicht sich schmerzhaft verzog.
„Light!“ Silence packte seinen Ärmel und zwang ihn dazu, stehenzubleiben.
„Woher weißt du, wo Youma ist?“
„Ich weiß es nicht mit Gewissheit“, antwortete Light zerknirscht.
„Ich habe nur eine starke Vermutung.“
„Es handelt sich um den namenlosen Dämonenherrscher, nicht wahr?“ Das Gesicht des Angesprochenen lockerte auf, da er Silence verwirrt musterte und die Frage, wie sie, die den Herrscher der Dämonen nur einmal gesehen hatte und damals immerhin noch klein war, auf ihn kam, stand ihm sehr deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ist Youma bei ihm?“, fragte Silence, anstatt Light eine Antwort auf seine offensichtliche Frage zu geben.
„Ich befürchte es.“
„Du befürchtest es? Ist der Mann eine Gefahr für Youma?“ Light nahm die Hand seiner Tochter und sie begannen wieder eilends zu gehen, während er seine ehrliche Antwort gab – er wisse es nicht und diese Antwort machte Silence noch nervöser, denn sie beide wussten, wo auch immer Youma war, was auch immer er dort tat, es war kein Besuch zum Nachmittagstee. Er war nicht freiwillig dort, das wusste Silence – denn dann hätte er Silence mitgenommen oder sich von ihr verabschiedet; er hätte ihr Bescheid gegeben. Dass er einfach weg war… alleine dies war ausreichend, um ihre Verzweiflung zu nähren.
Dennoch, als Light sie beide nach Lerenien-Sei – und zwar direkt in das Herrschaftsschloss der Dämonenhauptstadt – teleportierte, wurde der Name ihres Zwillings für einen Moment in den Hintergrund gedrängt. Noch nie war Silence im Gebiet der Dämonen gewesen; nicht, weil es ihr verboten gewesen war; sie hatte einfach keinen Grund für einen Besuch gehabt und nun war sie gänzlich überrumpelt von dem Glanz und der Pracht des Gebäudes, durch das Light sie mit der Gewissheit einer Person führte, die dieses Schloss schon oft betreten hatte und wusste, welcher Weg der richtige war.
Der Boden war aus dunklem, glattem Stein, so glatt als wäre es Eis, so sauber und makellos, dass sie ihr geplagtes Spiegelbild darin sehen konnte. Hier und dort glitzerte es rötlich auf, als wären Rubine in den Boden eingefasst. An den schlanken Säulen waren Laternen angebracht, die ein rötliches Licht warfen und weit über Light und Silence weite, gewölbte Decken mit auffälligem Deckendekor aus Glas und glitzernden Steinen, Juwelen und Diamanten, Schätze, die Silence gar nicht kannte, nicht benennen konnte, über deren Strahlkraft sie nur staunen konnte. Sie gingen an schweren Türen vorbei, die ebenfalls verziert waren und an Fenstern, durch die kein Wind hindurchging, aber… wieso? Wieso war vor den Fenstern Glas? Und warum war es bunt?
Silence war so verblüfft über diesen für sie abnormen Einsatz des Glases, dass sie ihre Finger im Vorbeigehen über die Scheiben gleiten lassen wollte, als Light sie jedoch davon abhielt.
„Silence, nicht“, ermahnte er sie, als wäre Silence zehn und nicht zwanzig.
„Wir sollten die Pracht und die Sauberkeit dieses Ortes wahren.“
„Warum ist da Glas vor den Fenstern?“ Light war im Moment zu nervös, um Erklärungen zu geben und er wollte jetzt gewiss nicht über die Elemente sprechen, weshalb er Silence gerade vertrösten wollte, als Silence die Erklärung von jemand anderem bekam.
„Weil der Wind in den Wintermonaten sehr rau und kühl ist und wir die Kälte scheuen.“ Silence drehte sich alarmiert zu dem Träger dieser ruhigen, eleganten Stimme herum, welchen sie nicht kannte, aber Light: es handelte sich bei dem Dämon, der gerade zu ihnen getreten war, um Astaroth, welcher sich in Begleitung seiner ältesten Tochter und seines ältesten Sohnes befand, die sich vor den Besuchern verneigten im Gegensatz zu Astaroth, der nur ein wenig den Kopf neigte – er war ja auch ein Teufel. Er musste sich nicht vor ihnen verneigen, besonders nicht vor Light, der als Freund zu ihm sprach. Silence war weniger erstaunt über seine eng am Kopf liegenden, steil nach oben gehenden, dünnen Hörner – sie hatte schon viele Dämonen mit Hörnern gesehen – sondern mehr über deren Kleidung, gegen welche sie sich richtig schmucklos empfand. Lange Roben, aufwendig mit Stickereien versehen, in dunklem Grün gehalten und mit Silber dekoriert. An den Händen Ringe mit Rubinen und Smaragden, aber trotzdem nicht überladen wirkend. Lange Ärmel, aber der Stoff rund um deren Oberkörper war enganliegend, mit einer schmalen Silberkette dekoriert und silbernem Kragen.
„Light, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so schnell wiedersehen würde und ich muss gestehen, dass ich über den Besuch verwundert bin. Du bist natürlich stets in unserem Schloss willkommen…“ Er hob die Hand in einer unnatürlichen Geste, als würde er die Luft streicheln wollen:
„… aber ich würde es dennoch vorziehen, wenn du dich ankündigen würdest, damit wir dich gebührend begrüßen können.“
„Das ist sehr freundlich von dir, Astaroth.“ Light lächelte höflich, obwohl man ihm ansah, dass er angespannt war; Astaroth hatte kein Lächeln für ihn. Er – und auch seine Nachkommen – sahen allgemein nicht danach aus, als würden sie viel lächeln. Sie hatten ein sehr ernstes, spitz zulaufendes Gesicht und ihre dichten, tiefhängenden Wimpern verliehen ihnen den Eindruck, als würden sie im Schlaf wandeln. Aber ihre roten Augen stachen deutlich hervor in dem düsteren Zwielicht, das sie umgab.
„Aber ich bleibe heute ohnehin nicht lange.“
„Das ist bedauerlich, wo dein letzter Besuch in unserem Schloss doch schon so lange zurückliegt.“
„Wo ist Youma?“, fragte nun Silence, die sich nicht länger von Höflichkeit aufhalten lassen wollte; dennoch versuchte sie, ihre Frage nicht allzu… politisch unkorrekt zu stellen. Sie wollte nicht anklagend klingen, aber sie tat es, doch schien es Astaroth nicht zu stören, der sich Silence zuwandte und sie musterte.
„Der Sohn Luzifers?“ Die Frage störte Silence – Luzifer hatte immerhin nicht nur ein Kind gehabt.
„Ja. Ich bin die Tochter Luzifers.“
„Ich bin mir im Klaren darüber, dass du ein Morgensternkind bist.“ Morgen… sternkind? Silence wusste zunächst nicht, wieso sie dieses Wort erweichte, aber das tat es. Morgensternkind? Hatte… ihr Vater sie so genannt? Dieser Dämon war ein Teufel; er hatte Luzifer gekannt, nein – er war sein Bruder, ihr… Onkel, wenn man das so sagen konnte.
„Wo ist dein Gebieter, Astaroth?“ Astaroth wandte sich wieder Light zu, genau wie seine Kinder es taten und auch Silence sah Light an, der diese Frage sehr bestimmt gestellt hatte – aber er erhielt keine Antwort. Die drei Dämonen sahen ihn einfach an, ohne zu blinzeln.
„Du kannst mir keine Antwort darauf geben?“ Erst da schlug Astaroth die Augenlider nieder.
„Verzeih mir die Unhöflichkeit, dir eine Antwort verweigern zu müssen.“
„War Youma denn hier? War er in Lerenien-Sei?“
„Auch diese Frage muss ich mit Schweigen beantworten.“ Light zog den Kopf zurück, als widere ihn etwas an und er wandte sich auch herum und forderte Silence dazu auf, ihm zu folgen, welche über diese brüske Reaktion Lights sehr überrascht war – und darüber, dass er ging.
„Was, Light – wir gehen einfach?!“
„Nein, wir suchen selbst nach ihm. Astaroth kann uns keine Auskunft geben und keiner seiner Brüder wird es tun können. Sie sind alle ein Teil von ihm und haben keinen eigenen Willen, keine eigene…“
„Identität, möchtest du sagen, Light?“ Silence drehte sich zu Astaroth herum, Light allerdings nicht, aber er war stehen geblieben. Keiner der drei Dämonen war ihnen gefolgt und Silence und Light waren schon gute 40 Meter gegangen – doch ihre rotleuchtenden Augen sah man dennoch deutlich, deutlicher als jeden Rubin.
„Du bist wütend und beunruhigt, deswegen werde ich dir diese Beleidigung verzeihen, denn ich weiß, dass du eigentlich nicht so geringschätzig von uns denkst.“ Silence sah, dass Light sehr missgestimmt, ja, in der Tat wütend aussah, aber er atmete tief durch und drehte sich zu Astaroth herum:
„Mein Sohn ist verschwunden, Astaroth. Eines der Kinder, die ich liebe, ist weg und ich weiß, dass dein Gebieter an diesem Verschwinden beteiligt ist, daher bitte ich dich darum, meine Aufgebrachtheit zu entschuldigen.“
„Sie sei dir verziehen“, antwortete der Teufel sofort und Light drehte sich schon herum, um weiterzugehen, aber Astaroth hielt ihn auf:
„Ich missbillige die Entscheidungen meines Gebieters. Doch er ist mein Gebieter und ich vertraue und diene ihm, liebe ihn, wie der Sohn seinen Vater liebt.“ Die Abendsonne brach hinter den schwarzen Wolken hervor und malte den Korridor rot auf seinem Weg durch die bemalten Fenster.
„Dies gilt für uns alle.“ Langsam, noch während Astaroth diese ruhigen Worte formte, sah Light über die Schulter, wo Astaroth sich langsam von seinen Kindern löste und mit sachte hinter ihm her flatternden Haaren den Abstand zwischen ihnen verringerte. Light sah Astaroth verbissen in die Augen, Silence aber tat dies nicht. Ihr Herz… es beschleunigte sich, mit jedem Schritt, den der Teufel sich ihnen näherte.
„Unser Gebieter aber… hat einen von uns bevorzugt. Der einzige von uns, der unseren Gebieter nie seinen Vater nannte. Die Trauer, ihn verloren zu haben, macht unseren Erschaffer untröstlich… wütend… und gefährlich.“ Light hörte diese Worte genau, aber in Silence‘ Ohren begann es zu rauschen. Doch es war nicht Astaroth. Es war etwas anderes, das ihr Herz so quälte. Ein Schmerz, ein großer Schmerz, der aus ihrem Inneren stammte und der ihre Sinne in Beschlag nahm. Die Antwort Lights, seine sanfte Stimme, hörte sie dennoch:
„Ich weiß, von wem du sprichst.“
„Ja… natürlich weißt du es“, antwortete Astaroth leise, während Silence sich an einem Fenstervorsprung festhalten musste, um nicht zu fallen und er schloss die Augen wie zum Gebet.
„Er ist nicht ohne Grund… der Morgenstern gewesen.“ Diese Worte hatte Light wiederum nicht gehört, denn nun bemerkte er Silence‘ Zustand und er war sofort da, um sie zu stützen. Er fragte sie, was sie hatte, was für Schmerzen sie quälten, aber seine Stimme war nur ein verschwommenes Echo. Zu groß waren die Schmerzen – ihr Herz, sie hatte das Gefühl, als würde es zerreißen und sofort griff sie zu ihrem Glöckchen, welches sie fest mit beiden Händen umschloss und dabei beinahe zu Fall gekommen wäre, hätte Light nicht den Arm um sie gelegt.
„Silence! Silence, was spürst du?“ Erst als Light seine freie Hand um die Hände und damit um das Glöckchen Silence‘ legte, hörte sie seine Stimme, als könnte sie ihn nicht mehr mit den Ohren hören, sondern nur durch die Verbindung mittels des Glöckchens, nur durch die Verbindung ihrer Seelen.
„Schmerzen.“ Silence‘ Stimme war heiser und… irrte sie sich nur oder spürte sie ihr Glöckchen vibrieren?
„Große—- Schmerzen. Und Trauer, Enttäuschung und…“ Obwohl ihre Stimme von der Pein, die sie verspürte, verzerrt war, hallte sie dennoch in dem Gewölbe wider und bohrte sich in Lights Herz.
„… Verrat.“ Astaroth beobachtete das Ganze mit respektvollem Abstand, aber als er sah, wie Lights Gesicht deutlich erbleichte und er kurz aussah wie eine Leiche, da begann er sich Sorgen zu machen und seine Stirn wölbte sich, aber er sagte nichts – es war Light selbst, der etwas sagte.
„Silence… diese Gefühle…“ Er drückte Silence‘ Finger fester.
„Weil ihr biologische Wesen seid, sollte es eigentlich nicht so stark sein wie bei Hikaru und bei mir, aber ich denke, da ihr Zwillinge seid und ihr ein starkes Band zueinander habt…“ Silence sah mit starrem Blick auf.
„Willst du mir sagen… dass ich Youma gerade spüre? Dass das… was ich gerade spüre… ein Echo von dem ist, was Youma spürt?“ Light deutete ein Nicken an.
„Ich habe gerade das Gefühl, dass mein Glöckchen zerrissen wird!“ Umgehend ließ Silence‘ ihr eigenes Glöckchen los und packte Lights Schultern:
„Wir müssen zu ihm! Wir müssen ihn finden! Sein Glöckchen! Ich habe das Gefühl, dass es zerstört wird!“ Doch Silence war selbst zu mitgenommen von dem Echo der Schmerzen, so dass sie beim Versuch sich aufzurichten und zu rennen einknickte und ihr Kopf gegen Lights Brust sackte, der sie wieder stützen musste.
„Light.“ Weder Light noch Silence hatten noch Gehör für Astaroth, aber Light sah dennoch zu ihm, der nun näher an sie herantrat.
„Es ward schon lange beschlossen, dass es der Morgenstern sein soll, der zu unserem König werden soll, wenn es unseren Gebieter nicht mehr geben wird.“ Geben… wird? Lights Verwunderung über diese Worte stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Wovon sprichst du?“ Wieder sah Light Astaroth deutlich an, dass er keine Antwort erhalten würde.
„Aber Luzifer ist tot.“ Astaroth stand nun vor ihnen und sah mit seinen leuchtenden Augen auf Light und Silence herunter, die einer Ohnmacht nahe war.
„Und unser Gebieter hat denjenigen zum König gewählt, der das Gesicht Luzifers trägt.“ Lights Augen weiteten sich.
„Seinen Sohn.“ Diese Worte rissen Silence empor und sie sah Astaroth genauso entsetzt an wie Light es tat.
„Youma soll… Dämonenkönig werden?“, flüsterte Silence fassungslos, aber ihre Stimme wurde schnell zu einem Zischen:
„Das ist doch Unfug!“ Astaroth reagierte nicht auf Silence‘ entrüstete Reaktion oder auf ihren bissigen Tonfall. Er sah sie nur mit seinen ruhigen roten Augen an.
„Youma und ich sind Wächter!“
„Das seid ihr beide nicht.“ Light musste Silence gut festhalten, damit diese nicht aufsprang, um Astaroth womöglich noch anzugreifen – aber da, als es nun Light war, der ein starkes Echo vernahm, entglitt ihm Silence. Silence stand auf, aber Light spürte es nicht, denn er fiel, drohte zu stürzen, als er die bodenlosen Gefühle von Hikaru spürte.
„Lig—“ Sein Sichtfeld wurde schwarz, er hatte selbst das Gefühl in Schwärze eingetaucht zu werden, der Hass, er verschlang ihn, er fraß ihn auf, der Wille zu töten, die Freude, es endlich tun zu können! Schadenfreude! Triumph! Endlich! ENDLICH!
„Light!“
Nichts wird jemals wieder so sein, wie es--
„LIGHT!“
Mit einem Schlag öffnete Light wieder die Augen und sah Silence über sich. Er sah das besorgte Gesicht seiner Tochter, hörte ihre starke Stimme. Astaroth stand hinter Silence, ebenfalls besorgt, aber es war Silence, die Light genau vor sich sah, in ihrer gesamten Pracht und Stärke.
„Sil…ence…“
„Oh Gott, Light! Ich dachte, du würdest verschwinden, ich dachte, du würdest dich auflösen! Du kannst mir doch jetzt nicht so einen Schrecken einjagen?!“ Nein… nein, das konnte er nicht. Das war unerhört von ihm. Es war unerhört von ihm, sich so von einem Echo mitreißen zu lassen. Auf dem Boden zu liegen, von Silence gestützt. Nein, sie mussten zu Youma.
„Was… spürst du, Silence?“ Silence hielt ihre Hand immer noch – oder wieder, Light wusste es nicht – um ihr Glöckchen, genau wie Light es nun tat.
„Ich weiß es nicht. Schmerzen… viele verschiedene.“ Astaroth half Light auf die wackeligen Beine und obwohl Light nicht danach aussah, als sollte er sich viel bewegen – genauer genommen sahen weder Silence noch Light danach aus – beschwor Astaroth sie, dass sie sich beeilen sollten.
Und das taten sie auch. Silence wusste nicht, woher Lights Kraft stammte, aber er nahm sie bei der Hand und begann zu rennen, als würde er—
Ein großes, gleißendes Strahlen erleuchtete die sich weitenden Augen Astaroths und seiner Kinder, die mit offenen Mündern zurücktaumelten, als Light Silence auf den Arm nahm als wäre sie schwerelos, zwei gleißende Flügel ausbreitete und wie ein strahlender Pfeil vom Balkon in den Abendhimmel emporschoss.
Perplex und von dem Anblick der schönen Flügel, die Astaroth einen Augenblick gesehen hatte, hingerissen, ging er zum Balkon, um den leuchteten Punkt am roten Himmel zu beobachten, wie er sich entfernte. Bald fanden seine Augen wieder Ruhe, doch das Strahlen der Flügel schien immer noch in seinen Augen nachzubeben.
„Light… wisse, dass jedes Unglück, das nun folgen wird, nicht das ist, was von uns gewünscht war.“
Als der leuchtende Punkt in einer Wolke verschwand, senkte Astaroth den Kopf, drehte sich herum und schloss die Glastür hinter sich. Seine Hände blieben jedoch einen kurzen Moment an dem verschnörkelten Griff aus Kupfer, ehe er sich herumdrehte und zum Himmel emporblickte.
„Wir wollten niemals töten.“ Er senkte die Augenlider und entfernte sich von der Tür mit den rötlichen Glasscheiben, deren rotes Glas aussah wie herunterlaufendes Blut.
„Den Krieg begonnen habt ihr.“
Silence, von Light getragen und fest an seine Brust gedrückt, konnte nicht begreifen, was gerade geschah: es verschlug ihr gänzlich die Sprache. Noch nie zuvor hatte sie so etwas gesehen, von so etwas gehört… von so einem Wunder, so etwas… einzigartigem, so etwas einzigartig Schönem.
„Wie…?“ Mit zitternden Fingern berührte sie… es. Golden leuchtende Flügel, die sich warm unter ihren zitternden Fingern anfühlten und helle Reflektionen auf ihr Gesicht malten. Doch die Schwingen, die die doppelte Größe von Lights Körper besaßen und sie ohne Probleme durch die Wolken trugen, waren nicht nur weiß, wie Silence beim näheren Hinsehen bemerkte. Sie waren blau, so blau wie der schönste Sommerhimmel, strahlend weiß wie das hellste Licht und golden wie die Sonne.
„Silence, bitte, halt dich fest.“ Silence starrte ihren Ziehvater, dem plötzlich diese Schwingen aus dem Rücken gewachsen waren, sprachlos, mit offenem Mund an – nachdem sie aber bemerkte, dass ihr Mund offenstand, schloss sie ihn.
„Ich…“ Silence musste schlucken, was ihr nicht oft geschah.
„… kann selber fliegen.“ Light sah sie kurz an, dann sah er wieder mit einem kleinen Lächeln nach vorne.
„Daran zweifle ich nicht. Aber ich bin schneller.“ Sein Lächeln verschwand.
„Wir werden gleich in Aeterniya sein.“
„Warum teleportieren wir uns nicht?“, fragte Silence halb schreiend gegen den Fahrtwind, der ihr die Haare ins Gesicht wehte.
„Hikaru hat um die gesamte Stadt einen Antiteleportationsbannkreis gelegt.“
„Einen was?! Das geht? Das gibt es?!“
„Ja, den gibt es, aber selten angewandt, besonders in der Größenordnung. Niemand kann sich rein oder raus teleportieren.“ Sie flogen durch mehrere dunkle Wolken hindurch, die Silence dazu zwangen die Augen zu schließen, aber Light sah verbissen geradeaus, seine Tochter gut festhaltend, die die Arme um seinen Hals geschlungen hatte.
„Aber wieso hat Hikaru so etwas getan?“
„Um Zeit zu gewinnen. Um uns solange wie möglich von Aeterniya fernzuhalten.“ Silence und Light sahen sich kurz ernst an.
„Du spürst Youma noch?“
„Ja. Aber sein Schmerz ist… dumpfer geworden.“ Light wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war oder nicht, aber er sah wieder nach vorne und beschleunigte, nachdem er Silence gewarnt hatte. Lerenien-Sei und Aeterniya lagen nicht weit voneinander entfernt; lange würde es nicht dauern zurückzufliegen… aber jede Minute könnte zu lange sein… jede Minute könnte bedeuten, dass Youma etwas zustoßen… Nein, Light kniff die Augen zusammen: ihm war bereits etwas zugestoßen. Ihm war das Schlimmstmögliche zugestoßen.
Lights Flügel begannen zu schmerzen, aber die Sorge um Youma und die Schuld, die sein Herz zerfraß, waren viel schwerer zu tragen als seine Flügel.
Sie hatten beide den Moment, wo sie zum letzten Mal durch die Wolken brachen, zugleich herbeigesehnt und gefürchtet und Silence spürte auch, dass Light zögerte zu landen. Oder war er genau wie sie erstarrt, als sie die Katastrophe von oben sah?
Aeterniya war in Dunkelheit gehüllt; nicht in die Dunkelheit der Nacht, die natürliche, angenehme Dunkelheit, sondern eine schattenhafte Dunkelheit, die auch Silence den Rücken emporkroch und ihr Gesicht genau wie das von Light erbleichen ließ.
„You…ma…“ Sie spürte, dass dies sein Werk war, sie spürte, dass es seine, deren Magie war, die Aeterniya die Nacht gebracht hatte; die Dunkelste aller Nächte, wovon sie nicht wusste, dass sie dazu im Stande waren… und dort, unter ihnen, auf dem Platz, der vor dem Palast der Elemente lag, brannte es. Sie hörten Schreie, Schmerzensschreie, Schreie, deren Quell die Angst war, sahen Wächter und Dämonen, die heillos flohen. Blitze von eingesetzter Magie schossen in die Dunkelheit empor, erleuchteten diese in der Farbe des Elementes und als Light herabsank und sie beide wieder festen Boden unter den Füßen hatten, spürten sie auch, dass dieser bebte. Tsuchi, oder einer seiner Nachfahren, war im Begriff seine Magie einzusetzen. Hier in Aeterniya, hier in ihrem Zuhause, außerhalb eines Turniers, in einem Kampf… in einem Kampf, in dem es darum ging, zu töten.
Kaum hatte Light den Boden mit den Fußspitzen berührt, sprang Silence herunter und lief los. Light wollte ihr hinterherlaufen, wollte sie stoppen – er hatte schon seinen Mund geöffnet, um ihren Namen zu schreien, als er einknickte. Er ging in die Knie, dort auf einem kleinen runden Platz, wo eigentlich ein Springbrunnen stets fröhlich plätscherte und die Schmetterlinge tollten. Die Flügel… sie waren zu schwer gewesen… noch nie hatte er so einen weiten Weg fliegen müssen, dazu noch mit einer Person… nein. Light schloss die Augen und schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf. Es waren nicht die Flügel, die ihn schwächten.
Es war seine Angst.
Es war ihr Hass.
Wenn er aufstand und ebenfalls rannte, dann würde er in ein Horrorszenario hereinrennen. Blut, Leichen, Kampf… Krieg. Schwefelgeruch stieg dem Hikari in die Nase und der Geruch von Blut… von viel Blut. All das, wogegen er immer gekämpft hatte, was er niemals hatte wahr werden lassen wollen. Er wollte Harmonie, Frieden… Glück für seine Kinder, für sich selbst.
„… Heuchler…“ Light lachte bitter über sich selbst, aber es gelang ihm mit seiner zusammengeballten Faust sich aufzurichten. Denn Youma… sein Junge, sein Sternenkind war mittendrin in diesem Horrorszenario.
„Light!“ Er sah auf und sah, dass Silence gar nicht vorgerannt war: Sie war am Ende des Weges stehen geblieben und drehte sich nun nach ihm herum, streckte auch die Hand nach ihm aus.
„Komm!“ Light nickte und zusammen mit Silence musste er einige Treppenstufen emporrennen, um zum Ort des Geschehens zu gelangen. Hier und dort waren die Stufen rot. Silence rannte weiter, als wäre der Tod hinter ihr selbst her – er war jedoch eher vor ihr. Sie hatte nicht wie Light die Bilder gesehen, die er durch Hikarus Augen gesehen hatte. Sie spürte nur Youmas Schmerz, seine Pein, die ihre Angst schürte; Angst um ihren Bruder, dass ihm etwas passiert war… dass er irgendwo lag und blutete. Genau wie die drei toten Wächter auf den Steinstufen, an denen sie gerade vorbeirannten und die sie nicht ansahen. Light aber wusste… Youma war nicht tot. Er lag nirgendwo. Er war in der Mitte des Schreckens. Dem Mittelpunkt. Im Auge des Sturms. Der Einzige, der nicht unter Todesangst litt, aber dafür die größten Schmerzen von ihnen allen verspürte.
Silence kam am Ende der Stufen an, musste sich jedoch sofort auf den Boden werfen, um einer Windattacke auszuweichen, die ihre Haare aufwirbeln ließ. Ehe Light ebenfalls oben ankam, erblickte er Hikaru, die am Ende der Treppe stand und nicht sichtlich darauf reagierte, dass Silence neben ihr aufgetaucht war. Der weiße Überwurf des Rockes der kleinen Hikari war zerrissen, angebrannt, befleckt und ihre blauen Schleifen waren verschwunden: wild wehten ihre Haare um sie herum im aufgescheuchten Wind. Als sie Light spürte, drehte sie ihr kleines Kindergesicht zu ihm, welches voller Blutflecken war und Light die Sprache nahm.
„Halte ihn auf!“ Sie drehte sich nun vollends zu ihm herum und ihre Worte hallten laut durch Lights Kopf:
„Beschütze unsere Wächter und töte ihn!“ Die Worte hörte Light. Aber er sah Hikaru nicht. Er sah dasselbe, was Silence sah und beide schlug es wie ein Peitschenhieb: Youma, in der Mitte des Horrors.
Er stand in der Mitte des Hauptplatzes, von allen Attacken unversehrt und ohne den kleinsten Kratzer… über und über mit Blut besudelt, als hätte er in diesem gebadet, genau wie das lange, gebogene Blatt der Waffe, die er in der Hand hielt und dessen Schärfe nicht zu übersehen war. Eine Sense.
Doch weder die Waffe noch das Blut waren das, was Silence und Light versteinern ließen. Es waren Youmas Augen. Seine sonst so tiefen schwarzen Augen, die jedes Sternenstrahlen einfingen, ja, der Nachthimmel selbst zu sein schienen, waren in dunkles Rot getaucht, so dunkel, so verzehrend, dass die Pupille nicht mehr zu sehen war, als wäre sie in dem roten Meer seiner tränenumrandeten Augen untergegangen.
„Töte ihn“, beschwor Hikaru Light noch einmal, während dieser vor Schreck erstarrt war.
„Er ist ein Dämon. Ein Dämon, der uns alle töten will. Tu es, bevor er es zuerst tun kann!“
„YOUMA!“, schrie Silence plötzlich in Hikarus Worte hinein und sie wollte auch gerade auf ihren Zwilling zustürmen, als Light sie von hinten packte und sie zurückzog, damit sie nicht von einer Feuerwalze getroffen wurde, die für Youma vorgesehen war, der er allerdings ebenfalls auswich. Silence wehrte sich und sie hätte sich auch befreien können, aber ihre ruppigen Bewegungen gingen unter, als Youma sich zu seiner Familie herumdrehte und selbst die Flammen für einen Moment zu schweigen schienen.
„Silenci!“, laut und deutlich war dieser Name über die Schreie und das Weinen der Verletzten zu hören, geformt von Youmas Stimme, die… melodisch wie immer klang, doch seine Gesichtszüge waren hart geworden und als er mit dem Blut in seinem Gesicht lächelte, fürchtete Light, dass er sich übergeben musste. Was hatte der Dämonenherrscher mit ihm gemacht?! Er würde es büßen, seinen Sohn so zugerichtet zu haben!
Youma blieb wo er war und niemand hinderte ihn daran, nach Silence die Hand auszustrecken, als würde er sie auffordern, zu ihm zu kommen. Aber selbst wenn sie es gewollt hätte; Light hielt sie zu gut fest. So ohne Weiteres konnte sie sich nicht…
„Lass sie gehen.“ Youma sah Light nicht an, als er diese Worte aussprach mit einer Kälte, die sich direkt in Lights Herz hineinbohrte.
„Lass Silence zu mir.“ Nur einen kurzen Augenblick war Light zu sehr von seinem eigenen Schmerz abgelenkt; einen Augenblick, den Silence ausnutzte, um sich von seinem Griff zu befreien, um zu Youma zu gelangen, der seine blutgetränkte Hand weiterhin nach ihr ausgestreckt hielt und langsam zu lächeln anfing.
„Ich brauche dich. Ich werde dich nie alleine lassen, das habe ich dir versprochen, Silence… Ich werde dich immer…“ Die Worte schienen ihm schwerzufallen, als wäre das Sprechen selbst eine Herausforderung.
„… beschützen.“ Gerade als die Fingerspitzen der beiden Zwillinge sich beinahe berührt hätten, sprang Light vor und wollte Silence zurückziehen, sie aus der Gefahr befreien, die Youma im Moment darstellte, doch da, gerade als Light die Hand nach Silence ausstreckte, war das Lächeln Youmas dahin und Wut entstellte sein Gesicht, denn er hatte Lights Absicht erkannt.
Es ging alles schnell; zu schnell für manche Augen: die Sense Youmas durchschnitt die Luft und ein horizontaler Hieb raste an Silence‘ Gesicht vorbei, zerschnitt einige ihrer Haare und traf Lights Oberkörper. Jemand schrie Lights Namen, doch der Hieb teilte den Körper des Lichterben nicht in zwei Hälften, so wie es eigentlich hätte geschehen sollen. Nur ein horizontaler Riss in seiner Kleidung war zu erkennen – es floss kein einziger Bluttropfen, aber der Schock von Youma angegriffen worden zu sein, lähmte Light vollends, der nur dastand, als hätte etwas sein Innerstes getötet.
„Youma?!“, schrie Silence, die auf den Boden gesackt war:
„Bist du denn völlig von Sinnen?! Das ist Light! Unser Vater! Siehst du das denn nicht?!“
„Doch.“ Youma starrte Light an, welcher verletzt zurück starrte und für einen Moment waren sie eins in ihrer Qual.
„Ich sehe es.“ Der Schmerz in Youmas Stimme brannte sich in Silence‘ Ohren und wieder spürte sie ihn so deutlich auch in ihrem eigenen Herzen widerhallen, obwohl sie nicht verstand, was der Grund für diesen Schmerz war.
„Ich sehe es!“, rief Youma nun und holte abermals mit der Sense aus, aber das war nicht das, was Silence und Light sahen – sie sahen die Tränen in seinen roten Augen.
„Denn ich bin es nicht, der vergessen hat, was Familie bedeutet!“ Doch der Angriff Youmas wurde vereitelt: ein plötzlich heransausender Feuerpfeil schoss aus dem Qualm hervor und riss Youma die Sense aus der Hand, die quer über den Platz geschleudert wurde. Schnell drehte Youma sich nach seiner Waffe herum, sprang auch schon nach dieser – ein Fehler.
Unter Youmas Füßen erstrahlte der Boden, so gleißend, so brennend, als erstrahlte die Sonne selbst.
Light hatte schnell genug gehandelt, um sich zu Silence auf den Boden fallen zu lassen und sie schützend in die Arme zu nehmen, um seinen eigenen Körper als Schutzschild zu benutzen. Dennoch, obwohl sie von Lights Körper geschützt wurde, spürte sie die freigesetzte Lichtmagie brennend an jedem freien Zentimeter ihrer Haut. Dies war jedoch bei Weitem nicht das, was ihr die größten Schmerzen bereitete.
Es war Youmas schmerzverzerrender Schrei, der von der Sonne verbrannt wurde.
Er ging ihr durch Mark und Bein, als wäre sie es, die unter den Schmerzen litt und nicht er. Doch sie konnte nichts tun! Die Angst, sie war überwältigend! Die Angst vor dem Licht! Die Angst verbrannt zu werden! Was war das für ein Licht! Warum war es so stark, warum schmerzte es so sehr! Die Luft selbst schien zu brennen!
Nicht nur Youma schrie, sondern auch Light: es waren allerdings Worte und kein Schmerzensschrei. Doch, von Schmerz erfüllt war auch sein Schrei – aber genau wie Silence waren es nicht seine eigenen körperlichen Schmerzen, sondern das Band, welches sie beide mit Youma verband.
„HIKARU! HÖR AUF! DU BRINGST IHN UM! DU BRINGST IHN UM!“
„DAS IST AUCH MEINE ABSICHT!“
Youma wäre in diesem Moment umgekommen. Hikaru hätte ihn umgebracht, wäre Light nicht da gewesen. Er zögerte nicht, obwohl er sich den Konsequenzen seines Handelns bewusst war. Er streckte die Hand aus – entschlossen und doch im federleichten Kontrast zur Gewalt der Szene – sah Hikaru, seine Schwester, sein Mitlicht an, die ihren Blick von dem schreienden Youma abwandte und Lights erwiderte. Sie sagte nichts. Sie übertrug ihm keine Gedanken. Sie schüttelte nur langsam und kaum merklich den Kopf.
Aber Light hatte gewählt.
Und das Licht verschwand. Es verschwand so schnell wie Hikaru es beschworen hatte; verschwand und ließ nur Dunkelheit zurück und die Stille war für einen Moment alldominierend.
Die beiden Kinder Hikaris sahen sich an; sahen nur sich an. Light mit festen Augen, Hikaru mit Enttäuschung im Blick, aber überrascht war sie nicht.
“Unser Licht darf niemanden töten, Hikaru.” Eine Ahnung hob sie mit abschätzigem Blick den Kopf, ohne etwas zu erwidern. Er wusste, dass er ihr Vertrauen – und womöglich auch das der anderen Götter – für alle Zeit verloren hatte.
Aber es war ihm egal.
Silence hatte sich bereits von ihm gelöst und war zu Youma gerannt. Er lag am Boden, die Augen halb geschlossen, aber das Rot seiner Augen schimmerte immer noch unter seinen flatternden Augenlidern hervor… und Light und Silence schoss dasselbe durch den Kopf – er sah tot aus.
Aber er war es nicht. Er hatte Hikarus Licht dank Lights schnellem Eingreifen überlebt und die Erleichterung ließ Silence lächeln. Doch dieses Lächeln hielt nicht lange, ehe sie ihren Kopf über der Brust ihres Bruders senkte und sie ihrer Trauer freien Lauf ließ… wie Light ebenfalls.