Luzifers Blut
Green beobachtete ihre beiden Halbdämonen genauestens in der Pause, die sie nun einlegte. Beide sahen sehr aufmerksam aus und sogar Siberu, von dem sie nicht geglaubt hatte, dass es ihn besonders interessieren würde, hatte ihr wie Gary die gesamte Zeit zugehört, ohne Fragen zu stellen. Aber jetzt stand eine Frage in sein Gesicht geschrieben und Green wusste genau, was er eigentlich fragen wollte – er wunderte sich darüber, dass Green pausierte und natürlich weshalb sie die beiden so aufmerksam musterte.
Sie konnte ihm diese Frage nicht beantworten; stattdessen nahm sie ihre mit Tee gefüllte Tasse und trank etwas, um davon abzulenken, dass sie das kommende Thema bedrückte. Es bedrückte sie, weil sie zwei Halbdämonen vor sich sitzen hatte und sie sich plötzlich fragte… welche Probleme sie eigentlich mit ihrem geteilten Blut gehabt hatten. Vielleicht sollte sie diesen Teil der Geschichte lieber überspringen… aber nein, er war wichtig: zu wichtig, um ausgelassen zu werden.
„Wurdet ihr jemals „Halbkinder“ genannt?“ Gary, der dieses Thema wohl kommen gesehen hatte, antwortete ohne Umschweife:
„Nein. Dieser Wortlaut ist nicht geläufig und so wurden wir nie betitelt.“ Green sah in Garys ernstes Gesicht, in seine tiefen, grünen Augen und fragte sich kurz, was diese Augen eigentlich schon gesehen hatten – zu viel sicherlich.
„Das klingt ja schon fast niedlich“, lachte Siberu, aber sowohl Green als auch Gary fiel auf, dass er etwas steif klang – aber keiner der beiden hatte gemerkt, dass er kurz weggesehen hatte.
„Es war leider nicht ganz so niedlich, was den beiden Zwillingen widerfahren ist.“
„Du brauchst keine Rücksicht auf uns nehmen, Green.“ Green sah Gary zunächst verwundert an – aber dann musste sie ein wenig in sich hinein schmunzeln. Er hatte sie also mal wieder durchschaut. Ha, natürlich hatte er das…
„Gut.“ Green sah wieder zu Silence, die ihr leicht zunickte:
„Dann springen wir jetzt zwei Jahre vorwärts.“
In Aeterniem schrieb die Pflicht nicht vor, dass die Wächter ihre Elemente zum Kämpfen benutzen sollten; die hohe Kunst des Kämpfens erlernten sie somit nicht. Es gab keinen Krieg, in welchem sie ihr Element zum Töten benutzen müssten: das Wort „Krieg“ existierte nicht. Die Elemente schufen Leben, halfen dem Leben beim Gedeihen und bewahrten es, ohne dass dafür Waffen geschmiedet wurden. Die Elemente entwickelten sich frei, wurden für nützliche Dinge verwendet, unterstützten die Wächter in ihrem Alltag und wurden erforscht, um zu testen, welche Wunder sie geschehen lassen konnten.
Doch auch wenn es keinen Krieg gab, gab es dennoch einige unter ihnen, die das Kämpfen erlernten, die auch in diesem Bereich brillierten und die Grenzen kennenlernen wollten – speziell die Feuer- und Erdwächter fanden großen Gefallen daran, ihre Elemente vorzuzeigen und anderen auch zu demonstrieren, welche Macht hinter diesen steckte – besonders den Dämonen, die nicht glauben sollten, dass sie besser im Kämpfen waren, nur weil sie eine höhere Körperkraft besaßen.
Im Sinne der Freundschaft und auch der allgemeinen, öffentlichen Belustigung wurden regelmäßig in den Grenzgebieten der zwei Reiche Turniere abgehalten, in welchen die beiden Völker sportlich gegeneinander antraten. Zu Beginn waren einige Gottheiten dagegen; nannten diese Spiele barbarisch, auch wenn noch nie jemand gestorben war oder ernsthaft verletzt wurde, aber sie gaben dem Drängen derer nach, die Feuer und Flamme für diese Idee waren. Diese monatlichen Turniere waren ein großes Spektakel; monatliche Highlights, auf die die Kampfbegeisterten hinarbeiteten, Dämon so wie Wächter. Zu den Wächtern, die diese Turniere ihren Lebensinhalt nannten, gehörte auch der erste Nachkomme des Erdgottes, der seine Kinder – Tiral und Werel – ebenfalls dafür vorbereitete, irgendwann mit Bravour ihren Widersacher besiegen zu können… allerdings beklagten die Wächter meistens ein Versagen in diesen Kämpfen: die Dämonen waren ihnen überlegen.
Tiral und Werel gehörten zu den besseren Kämpfern auf der Seite der Wächter und ihre große Freude an den Turnieren war kaum zu leugnen, auch wenn sie noch zu jung waren, um an diesen teilzunehmen. Gewalt wurde im Reich der Wächter streng und hart bestraft, dennoch waren die beiden Jungs gut darin, Dämonen zu einem Kampf zu provozieren – und irgendwie schafften sie es auch meistens es so aussehen zu lassen, als wären die Dämonen Schuld und nicht sie. Youma, der Gewalt und die beiden Brüder verabscheute, hoffte jedes Mal, wenn er die anderen Kinder davon reden hörte, dass die beiden hoffentlich gegen die Dämonen verloren – aber das hörte er leider nie.
Sowohl Silence als auch Youma war es strengstens untersagt, auch nur in die Nähe einer Waffe zu kommen – geschweige denn einem Turnier beizuwohnen. Youma kannte den Grund nicht. Es war ihm auch egal. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, sich durch Gewalt unter Beweis stellen zu müssen oder dabei zuzusehen, wie andere es taten. Sie hätten es niemals erlauben dürfen… es gab doch nicht Grauenhafteres, Vulgäreres und schlichtweg Unnötigeres als diese Kämpfe! Diese Huldigung der Gewalt war abstoßend!
Aber es passte zu diesen ungehobelten, unterbelichteten Idioten… es gab nur einen einzigen Grund für Youma, um zu erlernen, wie man eine Waffe benutzte – um Silence zu beschützen.
… und vielleicht um Tiral und Werel in ihre Schranken zu weisen.
Youma errötete ein wenig vor Scham, denn der Gedanke beschämte ihn sofort. Er war nicht wie sie. Er war nicht so dumm. Er brauchte das nicht. Ohnehin war es Zeitverschwendung in so eine Richtung zu überlegen, dachte Youma, als er hinunter sah in den meilenweit entfernten Innenhof, wo andere Wächter in seinem Alter zusammen trainierten für den Moment, wo sie selbst an den Turnieren teilnehmen durften. Ihm war dieser „Spaß“ – pah! – ja verboten.
Silence empfand es als höchst ungerecht. Warum durften alle andere es, aber sie nicht?! Ja, vielleicht wollte sie es den Brüdern nur heimzahlen – denn sie war sicherlich absolut besser als sie, ganz egal wie viele Jahre Vorsprung sie hatten – und das gab sie Light gegenüber auch offen zu, wenn sie sich bei ihm beschwerte, dass sie auch das Kämpfen erlernen wollte. Doch sein „nein“, welches er nie begründete, verblieb ein „nein“ und die beiden waren gut erzogen; sie hielten sich an ein „nein“ von Light.
Youma wandte seinen Blick wieder ab von dem, was er sah und versuchte die Stimmen der Kinder auszufiltern. Er wollte sich auf sein Buch konzentrieren, welches aufgeschlagen gegen seine angewinkelten Beine lehnte; er wollte gar nicht hören, was unten geschah, wollte ihr Lachen nicht hören… verflucht sei sein gutes Gehör, welches er seinem Dämonenblut zu verdanken hatte. Es gab so vieles… was er einfach nicht hören wollte.
Auch wenn Youma eigentlich lesen wollte, sackte sein Kopf nun gegen die Säule hinter ihm, an welche er lehnte. Er saß auf einem ovalen Fenstervorsprung, mit einem Buch, welches so groß war, dass es ihn beinahe zu verschlucken schien. Eigentlich las Youma nicht gerne. Eigentlich zog er es vor, wenn er denn alleine war und nicht in der Begleitung seiner Schwester, spazieren zu gehen, nichts anderes zu tun, als in den endlosen Himmel zu schauen und zu träumen. Doch die Minuten der Ruhe waren ihm meistens nicht lange vergönnt, ehe jemand kam und ihm zum Opfer seine Langeweile auserkor. Youma könnte sich in sein Gemach zurückziehen, dem Blick der anderen Wächter ausweichen und ihnen einfach gänzlich aus dem Weg gehen, aber…
Das war feige. Das wäre eine Flucht. Und nein, er ließ sich nicht zurückscheuen als wäre er ein Tier. Er war ein Wächter und hatte genau wie die anderen ein gutes Recht darauf dort zu sitzen, wo er nun gerade saß und wenn er las, dann war die Wahrscheinlichkeit geringer gesehen zu werden, denn diese großen Bücher für die Erwachsenen waren so groß, dass sie ihm beinahe über die Beine gingen und… dann… bemerkten sie ihn nicht so oft und warfen keine Steine. Das war wahrscheinlich auch feige, aber wenn die Steine ihn trafen, dann… tat es weh.
Verärgert über sich selbst seufzte Youma noch einmal und wollte sich gerade seiner schwierigen Lektüre widmen, als er unter den Stimmen eine ausmachte, die da unten bei diesen Barbaren gar nichts zu suchen hatte: Silence‘ Stimme!
Schnell wirbelte Youma herum und raufte sich seine schwarzen Haare, die zu einem Zopf gebunden waren – was tat sie denn da?! Silence wusste doch, dass ihnen das Kämpfen verboten war! Sie durfte nicht mit ihnen trainieren, sie durfte eine Waffe nicht anfassen! Sie sollte sich von ihnen fernhalten…!
Unsicher was er tun sollte, blieb der junge Halbwächter dort wo er war und beobachtete die Situation unter sich, doch das dicke Buch lag bereits auf den Boden und die Hände krallten sich in den Efeu, der an dem Fenster emporrankte. Tiral war vorgetreten und stand nun vor Silence, welche sich nicht davon einschüchtern ließ, dass er gut einen Kopf höher war als sie als wenn das noch nicht schon genug war, hielt er auch noch ein furchteinflößendes großes Schwert in der Hand.
„Was willst du denn hier, Halbkind?“ Die Angesprochene erhob stolz den Kopf und antwortete:
„Dasselbe wie du!“ Der finstere Gesichtsausdruck auf Tirals Gesicht veränderte sich zu einem spöttischen Grinsen:
„Das darfst du nicht, vergessen?“ Die Wächterin der Dunkelheit ließ sich nicht beirren. Sie erhob die Hand und zeigte auf Tiral und auch auf Werel, der hinzugekommen war:
„Ich fordere euch heraus!“ Abermals raufte Youma sich die Haare über die Leichtsinnigkeit seiner Schwester, während die beiden Brüder sich ein Grinsen zuwarfen.
„Du? Alleine?“ Youma kannte seine Schwester. Selbst wenn sie alleine gegen hundert von ihnen kämpfen müsste; sie würde es tun – und wenn sie nur einen Strohhalm zur Verteidigung hätte! Sie würde gegen die beiden antreten: die beiden, die Erfahrung im Kämpfen hatten, die ausgebildet waren ihren Gegner auf den Boden zu bringen – und die sich scheinbar sehr darüber freuten von Silence herausgefordert zu werden. Das Grinsen der beiden Brüder jagte Youma einen nie zu vor gekannten Schrecken ein. Ihm blieb keine Wahl, wenn er nicht wollte, dass Silence verletzt wurde – und diesen Wunsch konnte er zu deutlich in ihren Gesichtern ablesen: die anderen Wächter würden sie nicht aufhalten! Sie waren alle nur feige und Youma hatte auch Angst – aber nicht so große Angst, dass er das zulassen würde.
Youma zögerte nicht und sprang aus dem vierten Stockwerk.
Als er sanft wie ein Schwarzer Engel an Silence‘ Seite landete, gehörte ihm die gesamte Aufmerksamkeit. Es war das erste Mal, das Youma vor Anderen seine Fähigkeit zu Fliegen eingesetzt hatte und er genoss den kurzen Augenblick in dem man ihn verblüfft ansah.
Doch der Moment wahrte nicht lange.
„Ah, da ist ja schon das zweite Halbkind. Willst du dich auch mit uns anlegen?“ Silence mischte sich ein, ehe Youma antworten konnte:
„Geh weg! Das schaff ich auch alleine!“ Doch Youma schob sie mit sanftem Nachdruck hinter sich und sagte:
„Ich werde nicht zulassen, dass meine Schwester sich mit solch vulgären Aktivitäten beschmutzt.“ Abermals wurde er angestarrt und auch dieses Mal musste er sich selbst eingestehen, dass er es genoss und es half ihm dabei seine Angst zu verdrängen. Es zahlte sich scheinbar doch aus, Bücher für Erwachsene zu lesen. Tiral und Werel schienen gar nicht zu wissen, was sie darauf antworten sollten, wodurch das kleine Lächeln auf Youmas Gesicht größer wurde. Gewalt war eben nicht alles.
„Rede nicht so einen Schwachsinn und besorg dir deine Waffe!“, forderte Tiral Youma auf, dessen Lächeln ein wenig steif wurde. Waffe? Woher sollte er eine Waffe herholen? Als ob er sich eine aus dem Ärmel schütteln konnte…?!
„Ich… brauche keine Waffe.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen wurde Youma angesehen, auch von seinem Zwilling.
„Aber Youma, du brauchst doch eine Waffe.“ Doch der Angesprochene beteuerte, dass er keine benötigte und fragte sich sofort selbst was er da eigentlich redete. Abermals sahen sich Tiral und Werel vielsagend an und dachten das Gleiche: das würde wirklich schnell gehen – und Spaß machen.
„Wie passend zu einem Dämon. Dämonen benutzen nie Waffen!“ Wiral lachte und grinste Youma ins Gesicht:
„Sie sind ihrer nämlich nicht würdig.“
Der Yami schritt vor und bedeutete Silence Abstand zu nehmen. Er versuchte gelassen zu wirken, selbstsicher, als hätte er die momentane Situation unter Kontrolle – was er absolut nicht hatte. Wie sollte er hier wieder heil herauskommen?! Youma hatte in seinem gesamten Leben noch nie gekämpft! Er hatte überhaupt keine Ahnung davon! Aus Zugucken lernte man etwas nicht. In was hatte er sich nur hineingeritten?!
Mit flauem Gefühl im Magen sah er wie Werel vortrat und lässig ein langes Schwert auffing, welches Tiral ihm zuwarf. Youma würde im Krankensaal landen!
Aus den Augenwinkeln sah er wie Silence die Daumen drückte und ihn ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Dies ließ zwar sein Herz beschleunigen, besiegte aber keineswegs seine Angst. Von Steinen getroffen zu werden tat weh und er mochte es nicht – wie sehr würde das hier denn schmerzen?! Ja, ihm standen Schmerzen bevor. Und eine Predigt von Light. Ewiges Gelächter der anderen Wächter und Silence würde sich sicherlich für ihn schämen und das… und das wäre das Schlimmste! Alles würde er in Kauf nehmen, aber Silence wollte er nicht enttäuschen. Egal wie viele Schmerzen er erleiden musste, er würde kämpfen bis zum umfallen!
Ohne faire Vorwarnung stürmte Werel mit einem Grinsen auf den völlig überrumpelten Youma zu, der eigentlich erwartet hatte, dass jemand den Kampf für eröffnet erklären würde. Aber das war er bereits: das war er von dem Moment an, wo Youma Silence‘ Platz in dieser Torheit eingenommen hatte.
Die Sonne traf die Klinge des ausgestreckten Schwertes – warum hatten sie überhaupt ein echtes Schwert und kein Holzschwert?! – und blendete den Yami für einen kurzen Moment, der innerlich bereits über diesen ersten Fehler fluchte. Lange fluchte er nicht über diesen Fehler, denn ein Blitz des Schmerzes sprang in seinem Körper empor und übertönte jeden Gedanken und alles andere. Für einen Augenblick gab es nur ihn und seinen linken Arm, den er sich in der letzten Sekunde vor sein Gesicht gehalten hatte – nur ihn, der Arm und der Schmer… Youma erstarrte in einen Moment der Fassungslosigkeit als er sein eigenes dunkles Blut auf den Boden tropfen sah – Der Schmerz, er… hörte auf. Es tat nicht mehr weh. Er spürte die Wunde, die Werel ihm zugefügt hatte, aber die Schmerzen sie… waren weg.
Aber wenn es nicht weh tat… dann…
Mit einem Schrei stürmte Werel wieder auf ihn los und dieses Mal hielt Youma wie schon bereitwillig seinen rechten Arm hin. Die entstehende Wunde war tiefer, doch es war Youma egal. Da waren keine Schmerzen! Die Wunden waren gleichgültig! Und wenn er keine Schmerzen verspürte, dann bedeutete das auch, dass er den Kampf gewinnen würde, dachte der junge Halbdämon übermütig und mit einem Grinsen, als er den überraschen Werel mit einem heftigen Tritt von sich wegschleuderte.
Youma begriff nicht was vor sich ging. War das Kämpfen etwa so einfach? Warum konnte er es sofort? Warum tat ihm nichts weh?
Die Fragen drängten sich jedoch in den Hintergrund, als Youma Werel einen Schlag in die Rippen verpasste und ein lautes Knacken die Wächter zusammenfahren ließ, obwohl nur wenige von ihnen wussten, dass das Geräusch von einer gebrochenen Rippe stammte. Als das Geräusch wie ein Schuss ertönte, löste sich eines der Kinder von der Gruppe und rannte so schnell sie konnte weg – aber die anderen blieben stehen. Sie waren wie gelähmt von dem Schauspiel, welches sich ihnen bot.
Werel lag am Boden, buchstäblich im Staub, eine sich ausbreitende Blutlache unter sich und um das Ganze noch zu unterstreichen, setzte Youma auch noch triumphierend den Fuß auf seinen Kopf um die Szene noch mit einem schadenfrohen Lächeln zu unterstreichen.
„Damit habe ich gewonnen!“ Auch wenn es ein Zweikampf war und es gegen die Turnierregeln verstoß, welche die Kinder immerhin nachahmten, mischte sich nun auch Wiral ein. Er stürmte auf Youma zu, wollte ihn von hinten angreifen, als dieser plötzlich in eine schwarze Wand hineinsauste, die sich auflöste und Wiral am anderen Ende des Platzes wie aus dem Nichts wiederauftauchen ließ.
„Zwei gegen einen…“, sagte Youma deutlich mit dem Fuß immer noch auf Werels Kopf:
„Finde ich ziemlich unfair.“ Ein angewidertes Zischen ertönte unter Youmas Fuß:
„Dämon!“ Ein Wind erfasste Youmas schwarze Haare, die sich durch den Schlagabtausch aus der Schleife gelöst hatten und ein kleines, aber diabolisches Lächeln breitete sich auf Youmas Gesicht aus, als er sich zu seinem Gegner herunterbeugte und leise antwortete:
„Nun, dann weißt du jetzt wie es sich anfühlt von einem Dämon besiegt zu werden!“
„Youma.“
Die Luft, wie auch die Zeit, schien augenblicklich stehen zu bleiben.
Youma drehte sich zum Ursprung der Stimme herum und entdeckte Light. Er sah nicht geschockt aus, nicht böse oder wütend, sondern nur eins: zutiefst traurig.
Das gesamte hämische Glücksgefühl entschwand Youma, als er seinen Vater so verletzt dort stehen sah und einen Moment lang sah es danach aus, als würde er plötzlich anfangen zu weinen. Doch er tat es nicht; er schlug die Augen nieder und sah zu Silence, welche nun neben Light stand, der sie an die Hand genommen hatte. In ihren Blick lag nicht diese immense Traurigkeit, die Youma in Lights Augen sehen konnte. Es war eine Mischung aus Entsetzen und Besorgnis.
Youma fühlte sich plötzlich unheimlich klein. Klein und alleine auf dem großen sandigen Platz – nein, auf der Welt. Er wünschte sich, er würde sich auf der Stelle in Luft auslösen. Überall würde er lieber sein wollen, nur nicht hier. Alle starrten ihn an. Starrten das viel zu dunkle Blut an, dass aus seinen Wunden tropfte und plötzlich wurde Youma sich bewusst, dass es um einiges dunkler war als es sein sollte.
Er wusste nicht was er tun sollte. Er stand einfach da, wie eine Puppe, die von allen angestarrt wurde und bewegte sich nicht. Youma sah nur in Lights Richtung, ohne wieder den Augenkontakt mit ihm aufzunehmen. Er wartete. Aber worauf? Auf Erlösung? Dass jemand zu ihm hingehen würde und irgendetwas sagen würde? Aber was sollten sie sagen? Was sollte er sagen?
Youma wurde in diesem Moment zum ersten Mal bewusst, warum alle ihn und Silence mieden. Warum sie sie zu Recht mieden.
Er war ein Dämon.
Der Sohn seines Vaters den er doch so hasste.
Luzifers Sohn.
Die kochenden Tränen traten hervor und endlich, endlich konnten Youmas Beine sich bewegen. So schnell er konnte entfloh er den Blicken der Wächter, rannte an seiner Familie vorbei, die ihm nachsahen und nicht wussten, was sie tun sollten.
Jemand anderes aber applaudierte, ohne, dass sein Applaus gehört wurde.
Das hatte dem namenlosen Dämonenherrscher gefallen; mehr als die ganzen Turniere, die ihn schrecklich langweilten. Er würde gerne zu Youma gehen und ihm gratulieren: gratulieren, dass er zum ersten Mal sein Dämonenblut gespürt hatte, gratulieren, dass er diese ungehobelten Erdwächter zu Boden befördert hatte!
Der namenlose Dämonenherrscher grinste in seine vorgehaltene Hand hinein, welche sein Kinn abstützte. Er saß auf eine der Turmspitzen; das eine Bein über das andere geschlagen. Der perfekte Aussichtspunkt über das unter ihm stattgefundene Spektakel… der erste Platz um zu sehen wie das Blut Luzifers zum ersten Mal zum Vorschein kam.
„Du hast seine beeindruckende Regeneration geerbt, Youma…“, flüsterte er leise lächelnd.
„Ich hoffe du bist froh über dieses Erbe, das Erbe Luzifers.“ Sein Lächeln verschwand.
„Es ist kostbares Blut. Vergeude es nicht.“ Er löste die Hand von seinem Kinn und richtete sich mit einem Satz auf, die Arme ausgestreckt als würde er fliegen wollen – aber er flog nicht. Er teleportierte sich zurück in sein Schloss in Lerenien-Sei.
Dort wurde er nicht nur von aufwendig verzierten Deckendekor begrüßt, welches in der untergehenden Sonnen golden leuchtete und glänzte, genau wie der glatte Marmor unter seinen Füßen, der in matten Farben prachtvoll strahlte und von den gläsernen Windspielen, die sachte Töne spielten – sondern auch von einem seiner Nachkommen, der schon ungeduldig auf die Rückkehr seines „Vaters“ gewartet hatte.
„Gebieter, ich bin erfreut über Eure Rückkehr.“ Der Teufel verneigte sein gehörntes Haupt vor dem namenlosen Dämonenherrscher, der eigentlich etwas missgestimmt aussah gestört zu werden.
„Ja, Soneillon, was gibt es?“
„Wir müssen dringend eine Entscheidung treffen was die Wasserknappheit in Amaren-Tene angeht; die Wächter, sie müssen…“
„Jaaah, ich weiß“, unterbrach der namenlose Dämonenherrscher Soneillon und grummelte für sich selbst:
„Immer dieses Wasser.“ An Soneillon gewandt sagte er aber mit einem Lächeln:
„Ich weiß, ich weiß, wir kümmern uns darum, wir werden eine Entscheidung treffen.“ Das Gesicht des Teufels hellte auf und als er sich emporhob, rasselte sein Silberschmuck deutlich:
„Gut, ich werde dafür sorgen, dass wie uns bereits heute versammeln können.“ Der namenlose Dämonenherrscher hielt seinen eifrigen Teufel auf, ehe er den Gang herunterrennen, oder vielleicht sogar fliegen würde.
„Tu das! Ruf deine Brüder zusammen, ich will sie alle sehen! Aber nicht für eine Versammlung, die können wir morgen auch noch halten. So schnell verdurstet doch niemand.“ Soneillon drehte sich wieder herum und seine roten Augen fixierten seinen Gebieter fragend, sagte aber nichts.
„Heute Abend wird gefeiert! Wir werden fürstlich speisen.“
„Feiern?“, wiederholte Soneillon skeptisch.
„Welchen Grund hätten wir zu Feiern angesichts der deutlichen Unruhen in unseren Gebieten?“
„Wir feiern diese Unruhen!“ Der namenlose Dämonenherrscher lachte auf und legte seinen Arm um seinen Nachkommen, um ihn mit sich zu ziehen:
„Wir feiern…“ Er grinse ihn an:
„…, dass es endlich anfängt.“
Während in Lerenien-Sei gefeiert wurde, wurde in Aeterniya tatsächlich eine Ratsversammlung einberufen – und das Thema war Youma.
„Er ist wahrlich Luzifers Sohn. Er hat dieselben Fähigkeiten wie er.“
„Ich habe es vorausgesehen. Der Junge ist eine Gefahr.“
„Es war ein Ausrutscher.“
„Er hat seine geerbten Kräfte nicht unter Kontrolle.“
„Wie auch! Er kennt sie ja nicht!“
„Wir können das unmöglich dulden. Am Ende wird er noch zu einer ernsten Gefahr… für alle.“
„Aber was ist mit Light? Das wird ihm das Herz brechen.“
Hikaru hörte nur zu, ohne irgendeinem der anderen Götter ihre Meinung zu dem Thema mitzuteilen. Sie achtete auch nicht darauf, dass Kikou ihr einen Blick zuwarf, während Shizen so große Anteilnahme hatte an Lights Leiden, welcher nicht anwesend war. Scheinbar wollte Kikou sie dazu auffordern, ihre Meinung offen preiszugeben… oder vielleicht wollte die Göttin des Klimas, dass Hikaru über etwas ganz anderes sprach… aber Hikaru drehte der Diskussion den Rücken zu, wo Shizen gerade eine beherzte Rede darüber hielt, dass Silence und Youma doch eigentlich beide sehr brave Kinder waren. Tsuchi wollte davon nichts hören: es waren immerhin seine Nachfahren, die er Youmas „Opfer“ nannte.
„Sie hätten gar kein Schwert haben dürfen, Tsuchi“, warf Hii ihm zu mit einem schmalen Lächeln auf ihrem filigranen Gesicht.
„Und dass sie gegen ein Kind verloren haben, welches gar keine Ausbildung genossen hat, sagt viel über ihre ach so brillanten Kampffähigkeiten aus…“ Hikaru begann, die Stimmen der Götter auszufiltern und sah mit ihren starren Augen zum Himmel. Die Sonne ging gerade unter und ein warmes Licht ergoss sich über die niedrigen Dächer und Zinnen Aeterniyas. Ein schönes Ende für so einen schicksalshaften Tag…
Sie wollte sich gerade wieder der Debatte zuwenden, als ihre weißen aufmerksamen Augen eine Gestalt durch die Torbögen rennen sah. Light… Er hatte sie alleine gelassen.
Sie verabscheute dieses Gefühl, welches auch jetzt in ihr aufkam und welches Hikaru nicht so recht zu deuten vermochte. Es kam immer öfter… immer wenn Light ihre Hand losließ und zu seinen Schützlingen ging. Es war, als würde ein Teil von ihr fehlen, als hätte man ihr ein lebenswichtiges Körperteil entrissen. Vielleicht ihre Stimme, die, die sie nie besessen hatte.
Aber das war nicht der einzige Grund, dessen war sie sich sicher. Ob es etwas Ähnliches wie Eifersucht war? Neid? Hikaru wollte es nicht. Sie nicht! So ein primitives Gefühl. Unter ihrer Würde. Sie gehörte dem Licht an! So etwas konnte sie gar nicht empfinden.
Unmöglich.
Silence lief Light voraus, während Hikaru in ihre Gedanken vertieft war. Sie wusste nicht, dass Light hinter ihr war; denn es war ihr egal, ob sie alleine war – sie wollte einfach nur Youma suchen und finden. Doch auch wenn sie so schnell rannte, dass sie schier zum Wind selbst wurde, geriet sie nicht aus der Puste. Sie machte sich keine Gedanken darüber, warum sie es nicht war – sie dankte dem Umstand mehr, als ihn zu hinterfragen. Umso schneller sie rennen konnte, umso schneller war sie bei Youma!
Zum Glück konnte sie erahnen, wo Youma war – nein. Eigentlich wusste sie es.
Es gab einen Ort, den sie oft zusammen aufsuchten; einen Ort, der außerhalb von Aeterniya lag und den sie ihren geheimen Ort nannten. Vielleicht kannten ihn auch andere, aber das spielte für sie keine Rolle: es war ihr Ort. Er bot zwar nicht viel, doch das, was er bot, war umwerfend schön. Ein Fleckchen unberührter Natur: ein See mit kristallklarem Wasser, umrahmt von hohem, goldenen Gras und drum herum nichts anderes als Kornfelder, die zu dieser Jahreszeit kurz vor der Ernte aussahen wie ein langer, goldener Teppich. Hinter den Baumkronen konnte man die Türme Lerenien-Seis sehen, die im Licht der Sonne wie eine bedrohliche andere Welt aussahen, die ihnen hier aber nichts anhaben konnte.
Silence erblickte Youma sofort. Er saß unter einer Trauerweide, die nahe dem Wasser aus dem Boden einer kleinen Erhöhung spross; der Baum war sehr hoch und zeugte von einem langen Leben. Sanft wehten die langen, dünnen Äste im Abendwind und die Blätter raschelten ruhig über Youmas Kopf hinweg, der die verletzten Arme um seine Knie geschlungen hatte und den Kopf so tief gesenkt hielt, als wünsche er, er könne verschwinden.
Er weinte nicht mehr… glaubte Silence. Doch er war so in seine Gedanken versunken, dass er Silence nicht bemerkte, auch wenn sie jetzt neben ihm stand.
Geräuschlos ließ sie sich ins Gras sinken und ohne Vorwarnung oder ein Wort der Begrüßung legte sie ihre Arme um ihn und drückte sich an ihren Zwilling.
Deutlich zuckte er zusammen, aber er sagte nichts, genauso wenig wie sie. Sie wollte ihm so vieles sagen… dass sie ihm beistand, was auch geschah, dass er ihr keine Angst gemacht hatte, dass alles in Ordnung war, dass sie ihn nach wie vor liebe und dass er nicht alleine war – und vielleicht auch, dass er ziemlich beeindruckend gewesen war und dass es gut getan hatte, Werel und Tiral auf dem Boden zu sehen. Aber sie brachte kein Wort heraus. Etwas war… Ihre Gedanken verharrten, als sie plötzlich etwas Feuchtes an ihrer Wange spürte und bevor sie selbst wusste, was es war, hörte sie Youmas, durch sein voriges Weinen brüchig gewordene, Stimme:
„Warum… weinst du, Silence?“
„Weil ich… Angst hatte.“ Youma zuckte abermals zusammen und Silence spürte deutlich, wie er sich verkrampfte.
„…Ich… Ich… wollte das nicht…“
„Du bist ein Idiot.“
„Was?“
„Ich hatte nicht vor dir Angst. Sondern… um dich. Als du… weggerannt bist… da dachte ich, du würdest nicht wiederkommen… dass du… mich alleine lassen würdest.“
„Ich würde dich niemals alleine lassen!“ Youma schüttelte energisch den Kopf:
„Lieber sterbe ich. Silence… sowas darfst du nicht denken, es… tut mir weh. Alleine der Gedanke, dich nicht bei mir zu haben, schmerzt… Denk nicht an sowas… bitte…“ Die beiden Zwillinge schwiegen, kuschelten sich aneinander und nahmen die Hand des jeweils anderen.
Lange saßen sie jedoch nicht in Schweigen aneinandergedrückt, ehe das fehlende Familienmitglied hinzukam. Gleichzeitig sahen die beiden Yamis auf und kurz kreuzte Youmas Blick den seines Ziehvaters, ehe er sofort wieder reuevoll in eine andere Richtung sah.
Youmas Gesicht war rot und tränennass und es war sehr unschwer zu erkennen, dass er sehr viel geweint hatte. Dieser klägliche Anblick seines Kindes löste in Light das dringende Bedürfnis aus, ihn in die Arme zu nehmen, aber Light ließ es nicht zu. Er ließ es nicht geschehen. Er musste hart bleiben, denn er… er musste richten.
„Hat es dich erfreut der Stärkere zu sein?“ Youma kniff die Augen zusammen und wandte sich soweit ab, wie es ihm möglich war, antworten tat er nicht. Silence aber antwortete lautstark:
„Wie kannst du ihn so etwas fragen, Light!? Siehst du nicht, wie er leidet?“ Die Vögel hoben ab von ihren Ästen beim Klang von Silence‘ kraftvoller Stimme, doch Light blieb unberührt.
„Hat dir das Kämpfen Spaß bereitet?“
„…Nein! Ich wollte das nicht! Ich wusste nicht, was ich tat!“ Youma schüttelte den Kopf und seine Haare wirbelten aufgebracht herum.
„Es ist gemein von dir! Du bist gemein!“, konterte Youma voller Verzweiflung, die Silence zusetzte. Besorgt sah sie ihren Bruder an, ohne zu wissen, wie sie seine Pein stillen konnte, denn sie wusste ja nicht einmal, warum Light das sagte. Sah er denn nicht, dass es Youma leidtat?
„Ich soll gemein sein? Ich habe meine Überlegenheit nicht so zur Schau gestellt, wie du es getan hast, Youma.“ Jetzt sah Youma auf und als würde er seine bebenden Hände mit irgendetwas beschäftigen müssen, verknotete er sie in seine Haare, als er versuchte seine Finger zu bändigen. Fest presste er die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, als würde er die Welt, die ihn nicht verstand und die er auch nicht verstand, ausgrenzen wollen.
Als er Light wieder ansah, lag verzweifelte Wut in seinen Augen und mit Inbrunst richtete er seine Enttäuschung an ihn:
„Warum glaubst gerade DU mir nicht!? Ich wollte nicht kämpfen! Sie haben mich herausgefordert! Sie haben mich unterschätzt – ich habe mich unterschätzt! Ich wusste nicht, dass ich das kann! Ich wusste nicht, wie schnell ich sein kann! Ich habe keine Schuld! Hättest du mir das Kämpfen beigebracht, dann hätte ich es gewusst und es wäre nicht passiert! Aber du hast mir nie die Gelegenheit gegeben, meine Fähigkeiten auszuprobieren! Ja, Light, es ist deine…“ Youma wollte noch mehr sagen, noch mehr Verzweiflung preisgeben, aber er hielt inne, als eine glänzende, beinahe schon pulsierende Schwertklinge vor seinem Gesicht niedersauste.
Silence traute ihren Augen nicht, genauso wenig wie Youma. Beiden stockte der Atem.
Noch nie hatten sie Lights Schwert gesehen: noch nie gesehen, wie sich dessen Flügel ausbreiteten. Er trug es zwar immer an seiner Hüfte, aber es war stets unbenutzt und Light vergaß es auch oft, trug es nur, weil er es musste, weil es, wie er es sagte, „leider vorgeschrieben“ war. Von wem, das wussten sie nicht, denn nicht alle Götter trugen eines. Aber es hatte sie nie interessiert; sie hatten das Schwert nicht einmal… richtig als Schwert wahrgenommen und es war pure Fassungslosigkeit, mit der sie es jetzt ansahen, geschockt, dass es seine Flügel ausbreiten konnte und dass Light wusste, wie man es benutzte.
Es war jedoch keine normale Waffe. Die Klinge des Schwertes schien von innen heraus zu leuchten, als würde es das Sonnenlicht aufnehmen und somit ein Eigenleben in seinem Schwertinneren erschaffen. Der Schwertgriff bestand aus zwei großen geschwungenen Flügeln, in deren Mitte ein goldenes Glöckchen saß.
„Light! Was machst du denn da?!“, rief Silence, die aufgesprungen war. Doch das Gesicht ihres Vaters blieb unberührt. Noch nie hatten die Zwillinge sein Gesicht so leblos gesehen, so… ernst… zum ersten Mal sahen sie ihm an, dass er Hikarus Bruder war, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Seine sonst warmen und liebevollen Augen sahen aus, als wären sie aus weißem Stahl.
„Du willst wissen, wo deine Grenzen sich befinden? Ich zeige sie dir. Wenn du jemanden brauchst, an dem du deine Fähigkeiten testen kannst – dann an mir.“ Light nahm ein wenig Abstand mit seinem Schwert, um Youma die Möglichkeit zu geben, sich zu bewegen und zu Silence‘ Entsetzen stellte Youma sich auch noch kampfbereit hin.
„Sag mal spinnt ihr?! Habt ihr denn beide den Verstand verloren?!“ Doch weder Light noch Youma achteten auf Silence.
„Greif du zuerst an.“ Silence wolle dazwischen springen, um sie aufzuhalten, doch Youma war zu schnell, er war schon auf Light zugestürmt und—– das nächste, was er spürte, war kaltes Wasser.
Prustend und hustend rappelte Youma sich auf. Zutiefst verwundert, wie er ins Wasser hinter Light gekommen war, drehte er sich um und starrte fassungslos auf Lights Rücken. Aber der Lichtgott schien sich überhaupt nicht bewegt zu haben. Geschockt sahen Silence und Youma sich an, Silence nicht weniger geschockt als ihr Zwilling. Sie hatte Light die ganze Zeit im Blick gehabt… Erst jetzt spürte Youma, dass irgendetwas ihn am Hinterkopf getroffen hatte, aber… was?
„Wie hast du das gemacht?“ Light drehte sich um und lächelte zum ersten Mal wieder – und sofort als Silence und Youma dies sahen, atmeten sie ein wenig auf.
„Du hast es nicht gesehen, aber ehe es dir gelang mich anzugreifen, habe ich mein Schwert herumgedreht, die Klinge mit beiden Händen gepackt und…“
„Mir den Griff auf den Hinterkopf geschlagen“, schlussfolgerte Youma und sein Gesicht verdunkelte sich, als er fortfuhr:
„Du hättest mich lieber aufspießen sollen.“ Das Lächeln des Lichtgottes verschwand.
„Warum sollte ich das?“ Der Angesprochene senkte den Blick.
„Damit niemandem etwas geschieht…“
„Willst du denn, dass jemandem etwas zustößt? Willst du jemanden verletzen?“ Youma sah auf. Zuerst zu Silence und dann wieder zu Light.
„Nein… nein, natürlich nicht. Aber ich will meine Kraft nutzen können. Ich will sie kennen.“
„Zu welchem Zweck willst du sie nutzen?“
„… um die zu beschützen, die ich liebe.“ Während Youma dies sagte, lagen seine schwarzen Augen auf Silence. Sie wurde rot und schaute beinahe schon schüchtern zur Seite.
„Und damit… damit nichts passiert, was ich nicht kontrollieren kann. Wenn ich meine… Fähigkeiten kenne, dann…“ Light schritt ins Wasser, ohne darauf zu achten, dass der Saum seines Gewandes sich mit Wasser vollsaugte. Er hielt erst inne, als er vor Youma stand, welchem er lächelnd eine helfende Hand entgegenreichte. Der nasse Halbdämon starrte sie einen Augenblick lang an, dann erwiderte er sein Lächeln und ergriff die Hand seines Vaters. Light wollte ihn hochziehen, doch in dem Moment verlor er die Balance und fiel zusammen mit Youma vorne über ins Wasser.
„Du bist ein Volltrottel, Light“, maulte Youma, als er sich die nassen schwarzen Haare aus dem Gesicht wischte.
„So redet man nicht mit seinem Erziehungsberechtigten!“, antwortete Light, begleitet von einer schnellen Handbewegung, die Youma eine Ladung Wasser ins Gesicht bescherte. Dies ließ der Halbdämon nun gewiss nicht auf sich beruhen und konterte ebenfalls mit einer Wasserattacke, als wären sie plötzlich Wasserwächter. Silence traute ihren Augen nicht.
„Nimm DAS, Light!“, prustete Youma, obwohl er Wasser im Mund hatte.
„Nein nein, so leicht lasse ich mich nic-!“ Light wurde unterbrochen von einer weiteren Ladung einer zielgerichteten Wasserattacke… Light lachte, genau wie Silence es nun tat und Youma ebenfalls… bis er seinen Vater nachmachte und selbst stolperte… Mit Lachtränen in den Augen verkündete Youma, dass er offensichtlich doch noch etwas von Light erben würde – aber auf seine Tollpatschigkeit konnte er verzichten! – und so ging es weiter: von einer Wasserattacke zur nächsten, die nur noch intensiver wurden, als Silence ihren Rock hochkrempelte, Anlauf nahm und mit einem energischen Sprung ihren Kampf mit einem doppelten Angriff begann.
„Ich lasse mich nicht ausschließen, ihr beiden!“
Es war unmöglich zu sagen, wer in dieser Wasserschlacht die Nase vorn hatte. Es war auch egal; am Ende waren sie alle gleich nass, als sie den Heimweg antraten. Die beiden Kinder gingen jedes an einer Hand von Light, sie froren, waren aber befreit von ihren Sorgen und lachten immer noch alle drei.
„Also, Light, wirst du mich dann im Kampf unterrichten?“, fragte Youma neugierig und Light nickte.
„Aber heimlich. Das darf niemand wissen!“, antwortete Light mit einem Zwinkern und einem Zeigefinger an seinen Lippen. Youma grinste erfreut und mit roten Wangen und stimmte freudig ein.
„Oh ja, mich auch! Mich auch!“, rief Silence und schwenkte auffällig an Lights Arm, aber sowohl Light als auch Youma waren sich einig:
„Nein!“
„Das ist ungerecht! Das könnt ihr nicht machen! Das ist absolut ungerecht! Was Youma darf, darf ich auch!“
„Aber ich werde dich beschützen, Silenci, du brauchst das Kämpfen gar nicht lernen.“
„Widerspricht das nicht deinen eigenen Worten, dass man seine Kräfte kennen muss, um sie einschätzen zu können?“ Mit zusammengekniffenen Augen sah sie an Light vorbei rüber zu Youma auf der anderen Seite:
„Ich bin auch Luzifers Tochter, das weißt du, oder?“
„Natürlich weiß ich das…“
„Also…“
„Hört auf ihr beiden, wir werden es sehen… Ja, Silence, vielleicht bekommst du auch Unterricht…“ Ergab Light sich, als er Silence‘ durchbohrenden Blick sah. Er sagte es nicht laut, aber eigentlich kam Silence viel mehr nach ihrer Mutter, als nach ihrem Vater – was weitaus einschüchternder war.
„Sag mal, Light…“ Silence blinzelte verwirrt, als sie Lights Gesicht fixierte.
„Hm?“
„Wo ist dein Diadem?“ Das Dreiergespann blieb stehen, damit Light kurz die Hand Youmas loslassen konnte, um sich die Stirn abzutasten.
„Ups.“
„Ich sag doch, du bist ein Volltrottel.“ Light kniff Youma beleidigt in die rechte Wange, ehe er wieder seine Hand nahm und sie weitergingen.
„Ist nicht so schlimm. Es wird in den See gefallen sein… Ich mochte das Ding eh nicht.“
Als sie im Palast der Elemente ankamen und die vielen Treppen emporstiegen, die sie in ihre Gemächer brachten, war es ungewöhnlich ruhig – ein Umstand, den Light begrüßte, denn er wollte keine Gespräche mehr führen, wollte nicht, dass Youma noch von irgendjemandem gesehen wurde. Er wollte sie in Ruhe zu Bett bringen… dass Hikaru sie allerdings nicht erwartete, machte ihn etwas misstrauisch.
Youma und Silence machten sich schnell nachtfertig, bekamen die Haare von Light getrocknet und legten sich in ihr Bett. Eigentlich standen in deren runden Zimmer zwei Betten, doch sie schliefen immer zusammen: das zweite Bett war eigentlich absolut unnötig. Sie hatten es von Anfang an getan und Light bezweifelte, dass es sich irgendwann ändern würde. Youma hielt für Silence die Decke hoch und sie sprang wie immer mit einem Satz ins Bett und schlüpfte unter die Decke. Daraufhin deckte Light sie wie immer extra zu, strich den beiden über den Kopf und wünschte ihnen „Gute Nacht“.
„Ich hab dich lieb, Light“, flüsterte Silence mit roten Bäckchen und Youma ergänzte:
„Ich dich auch!“ Light lächelte voller Dankbarkeit, als er antworte:
„Ich euch auch.“ Er schloss die beiden kurz, doch liebevoll in die Arme und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Youma ihn zurückhielt:
„Light! Wenn ich groß bin, dann werde ich dich in einem fairen Kampf besiegen! Und dann musst du mir versprechen, dass ich nie wieder Formeln auswendig lernen muss!“
Sie konnte ihm diese Frage nicht beantworten; stattdessen nahm sie ihre mit Tee gefüllte Tasse und trank etwas, um davon abzulenken, dass sie das kommende Thema bedrückte. Es bedrückte sie, weil sie zwei Halbdämonen vor sich sitzen hatte und sie sich plötzlich fragte… welche Probleme sie eigentlich mit ihrem geteilten Blut gehabt hatten. Vielleicht sollte sie diesen Teil der Geschichte lieber überspringen… aber nein, er war wichtig: zu wichtig, um ausgelassen zu werden.
„Wurdet ihr jemals „Halbkinder“ genannt?“ Gary, der dieses Thema wohl kommen gesehen hatte, antwortete ohne Umschweife:
„Nein. Dieser Wortlaut ist nicht geläufig und so wurden wir nie betitelt.“ Green sah in Garys ernstes Gesicht, in seine tiefen, grünen Augen und fragte sich kurz, was diese Augen eigentlich schon gesehen hatten – zu viel sicherlich.
„Das klingt ja schon fast niedlich“, lachte Siberu, aber sowohl Green als auch Gary fiel auf, dass er etwas steif klang – aber keiner der beiden hatte gemerkt, dass er kurz weggesehen hatte.
„Es war leider nicht ganz so niedlich, was den beiden Zwillingen widerfahren ist.“
„Du brauchst keine Rücksicht auf uns nehmen, Green.“ Green sah Gary zunächst verwundert an – aber dann musste sie ein wenig in sich hinein schmunzeln. Er hatte sie also mal wieder durchschaut. Ha, natürlich hatte er das…
„Gut.“ Green sah wieder zu Silence, die ihr leicht zunickte:
„Dann springen wir jetzt zwei Jahre vorwärts.“
In Aeterniem schrieb die Pflicht nicht vor, dass die Wächter ihre Elemente zum Kämpfen benutzen sollten; die hohe Kunst des Kämpfens erlernten sie somit nicht. Es gab keinen Krieg, in welchem sie ihr Element zum Töten benutzen müssten: das Wort „Krieg“ existierte nicht. Die Elemente schufen Leben, halfen dem Leben beim Gedeihen und bewahrten es, ohne dass dafür Waffen geschmiedet wurden. Die Elemente entwickelten sich frei, wurden für nützliche Dinge verwendet, unterstützten die Wächter in ihrem Alltag und wurden erforscht, um zu testen, welche Wunder sie geschehen lassen konnten.
Doch auch wenn es keinen Krieg gab, gab es dennoch einige unter ihnen, die das Kämpfen erlernten, die auch in diesem Bereich brillierten und die Grenzen kennenlernen wollten – speziell die Feuer- und Erdwächter fanden großen Gefallen daran, ihre Elemente vorzuzeigen und anderen auch zu demonstrieren, welche Macht hinter diesen steckte – besonders den Dämonen, die nicht glauben sollten, dass sie besser im Kämpfen waren, nur weil sie eine höhere Körperkraft besaßen.
Im Sinne der Freundschaft und auch der allgemeinen, öffentlichen Belustigung wurden regelmäßig in den Grenzgebieten der zwei Reiche Turniere abgehalten, in welchen die beiden Völker sportlich gegeneinander antraten. Zu Beginn waren einige Gottheiten dagegen; nannten diese Spiele barbarisch, auch wenn noch nie jemand gestorben war oder ernsthaft verletzt wurde, aber sie gaben dem Drängen derer nach, die Feuer und Flamme für diese Idee waren. Diese monatlichen Turniere waren ein großes Spektakel; monatliche Highlights, auf die die Kampfbegeisterten hinarbeiteten, Dämon so wie Wächter. Zu den Wächtern, die diese Turniere ihren Lebensinhalt nannten, gehörte auch der erste Nachkomme des Erdgottes, der seine Kinder – Tiral und Werel – ebenfalls dafür vorbereitete, irgendwann mit Bravour ihren Widersacher besiegen zu können… allerdings beklagten die Wächter meistens ein Versagen in diesen Kämpfen: die Dämonen waren ihnen überlegen.
Tiral und Werel gehörten zu den besseren Kämpfern auf der Seite der Wächter und ihre große Freude an den Turnieren war kaum zu leugnen, auch wenn sie noch zu jung waren, um an diesen teilzunehmen. Gewalt wurde im Reich der Wächter streng und hart bestraft, dennoch waren die beiden Jungs gut darin, Dämonen zu einem Kampf zu provozieren – und irgendwie schafften sie es auch meistens es so aussehen zu lassen, als wären die Dämonen Schuld und nicht sie. Youma, der Gewalt und die beiden Brüder verabscheute, hoffte jedes Mal, wenn er die anderen Kinder davon reden hörte, dass die beiden hoffentlich gegen die Dämonen verloren – aber das hörte er leider nie.
Sowohl Silence als auch Youma war es strengstens untersagt, auch nur in die Nähe einer Waffe zu kommen – geschweige denn einem Turnier beizuwohnen. Youma kannte den Grund nicht. Es war ihm auch egal. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, sich durch Gewalt unter Beweis stellen zu müssen oder dabei zuzusehen, wie andere es taten. Sie hätten es niemals erlauben dürfen… es gab doch nicht Grauenhafteres, Vulgäreres und schlichtweg Unnötigeres als diese Kämpfe! Diese Huldigung der Gewalt war abstoßend!
Aber es passte zu diesen ungehobelten, unterbelichteten Idioten… es gab nur einen einzigen Grund für Youma, um zu erlernen, wie man eine Waffe benutzte – um Silence zu beschützen.
… und vielleicht um Tiral und Werel in ihre Schranken zu weisen.
Youma errötete ein wenig vor Scham, denn der Gedanke beschämte ihn sofort. Er war nicht wie sie. Er war nicht so dumm. Er brauchte das nicht. Ohnehin war es Zeitverschwendung in so eine Richtung zu überlegen, dachte Youma, als er hinunter sah in den meilenweit entfernten Innenhof, wo andere Wächter in seinem Alter zusammen trainierten für den Moment, wo sie selbst an den Turnieren teilnehmen durften. Ihm war dieser „Spaß“ – pah! – ja verboten.
Silence empfand es als höchst ungerecht. Warum durften alle andere es, aber sie nicht?! Ja, vielleicht wollte sie es den Brüdern nur heimzahlen – denn sie war sicherlich absolut besser als sie, ganz egal wie viele Jahre Vorsprung sie hatten – und das gab sie Light gegenüber auch offen zu, wenn sie sich bei ihm beschwerte, dass sie auch das Kämpfen erlernen wollte. Doch sein „nein“, welches er nie begründete, verblieb ein „nein“ und die beiden waren gut erzogen; sie hielten sich an ein „nein“ von Light.
Youma wandte seinen Blick wieder ab von dem, was er sah und versuchte die Stimmen der Kinder auszufiltern. Er wollte sich auf sein Buch konzentrieren, welches aufgeschlagen gegen seine angewinkelten Beine lehnte; er wollte gar nicht hören, was unten geschah, wollte ihr Lachen nicht hören… verflucht sei sein gutes Gehör, welches er seinem Dämonenblut zu verdanken hatte. Es gab so vieles… was er einfach nicht hören wollte.
Auch wenn Youma eigentlich lesen wollte, sackte sein Kopf nun gegen die Säule hinter ihm, an welche er lehnte. Er saß auf einem ovalen Fenstervorsprung, mit einem Buch, welches so groß war, dass es ihn beinahe zu verschlucken schien. Eigentlich las Youma nicht gerne. Eigentlich zog er es vor, wenn er denn alleine war und nicht in der Begleitung seiner Schwester, spazieren zu gehen, nichts anderes zu tun, als in den endlosen Himmel zu schauen und zu träumen. Doch die Minuten der Ruhe waren ihm meistens nicht lange vergönnt, ehe jemand kam und ihm zum Opfer seine Langeweile auserkor. Youma könnte sich in sein Gemach zurückziehen, dem Blick der anderen Wächter ausweichen und ihnen einfach gänzlich aus dem Weg gehen, aber…
Das war feige. Das wäre eine Flucht. Und nein, er ließ sich nicht zurückscheuen als wäre er ein Tier. Er war ein Wächter und hatte genau wie die anderen ein gutes Recht darauf dort zu sitzen, wo er nun gerade saß und wenn er las, dann war die Wahrscheinlichkeit geringer gesehen zu werden, denn diese großen Bücher für die Erwachsenen waren so groß, dass sie ihm beinahe über die Beine gingen und… dann… bemerkten sie ihn nicht so oft und warfen keine Steine. Das war wahrscheinlich auch feige, aber wenn die Steine ihn trafen, dann… tat es weh.
Verärgert über sich selbst seufzte Youma noch einmal und wollte sich gerade seiner schwierigen Lektüre widmen, als er unter den Stimmen eine ausmachte, die da unten bei diesen Barbaren gar nichts zu suchen hatte: Silence‘ Stimme!
Schnell wirbelte Youma herum und raufte sich seine schwarzen Haare, die zu einem Zopf gebunden waren – was tat sie denn da?! Silence wusste doch, dass ihnen das Kämpfen verboten war! Sie durfte nicht mit ihnen trainieren, sie durfte eine Waffe nicht anfassen! Sie sollte sich von ihnen fernhalten…!
Unsicher was er tun sollte, blieb der junge Halbwächter dort wo er war und beobachtete die Situation unter sich, doch das dicke Buch lag bereits auf den Boden und die Hände krallten sich in den Efeu, der an dem Fenster emporrankte. Tiral war vorgetreten und stand nun vor Silence, welche sich nicht davon einschüchtern ließ, dass er gut einen Kopf höher war als sie als wenn das noch nicht schon genug war, hielt er auch noch ein furchteinflößendes großes Schwert in der Hand.
„Was willst du denn hier, Halbkind?“ Die Angesprochene erhob stolz den Kopf und antwortete:
„Dasselbe wie du!“ Der finstere Gesichtsausdruck auf Tirals Gesicht veränderte sich zu einem spöttischen Grinsen:
„Das darfst du nicht, vergessen?“ Die Wächterin der Dunkelheit ließ sich nicht beirren. Sie erhob die Hand und zeigte auf Tiral und auch auf Werel, der hinzugekommen war:
„Ich fordere euch heraus!“ Abermals raufte Youma sich die Haare über die Leichtsinnigkeit seiner Schwester, während die beiden Brüder sich ein Grinsen zuwarfen.
„Du? Alleine?“ Youma kannte seine Schwester. Selbst wenn sie alleine gegen hundert von ihnen kämpfen müsste; sie würde es tun – und wenn sie nur einen Strohhalm zur Verteidigung hätte! Sie würde gegen die beiden antreten: die beiden, die Erfahrung im Kämpfen hatten, die ausgebildet waren ihren Gegner auf den Boden zu bringen – und die sich scheinbar sehr darüber freuten von Silence herausgefordert zu werden. Das Grinsen der beiden Brüder jagte Youma einen nie zu vor gekannten Schrecken ein. Ihm blieb keine Wahl, wenn er nicht wollte, dass Silence verletzt wurde – und diesen Wunsch konnte er zu deutlich in ihren Gesichtern ablesen: die anderen Wächter würden sie nicht aufhalten! Sie waren alle nur feige und Youma hatte auch Angst – aber nicht so große Angst, dass er das zulassen würde.
Youma zögerte nicht und sprang aus dem vierten Stockwerk.
Als er sanft wie ein Schwarzer Engel an Silence‘ Seite landete, gehörte ihm die gesamte Aufmerksamkeit. Es war das erste Mal, das Youma vor Anderen seine Fähigkeit zu Fliegen eingesetzt hatte und er genoss den kurzen Augenblick in dem man ihn verblüfft ansah.
Doch der Moment wahrte nicht lange.
„Ah, da ist ja schon das zweite Halbkind. Willst du dich auch mit uns anlegen?“ Silence mischte sich ein, ehe Youma antworten konnte:
„Geh weg! Das schaff ich auch alleine!“ Doch Youma schob sie mit sanftem Nachdruck hinter sich und sagte:
„Ich werde nicht zulassen, dass meine Schwester sich mit solch vulgären Aktivitäten beschmutzt.“ Abermals wurde er angestarrt und auch dieses Mal musste er sich selbst eingestehen, dass er es genoss und es half ihm dabei seine Angst zu verdrängen. Es zahlte sich scheinbar doch aus, Bücher für Erwachsene zu lesen. Tiral und Werel schienen gar nicht zu wissen, was sie darauf antworten sollten, wodurch das kleine Lächeln auf Youmas Gesicht größer wurde. Gewalt war eben nicht alles.
„Rede nicht so einen Schwachsinn und besorg dir deine Waffe!“, forderte Tiral Youma auf, dessen Lächeln ein wenig steif wurde. Waffe? Woher sollte er eine Waffe herholen? Als ob er sich eine aus dem Ärmel schütteln konnte…?!
„Ich… brauche keine Waffe.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen wurde Youma angesehen, auch von seinem Zwilling.
„Aber Youma, du brauchst doch eine Waffe.“ Doch der Angesprochene beteuerte, dass er keine benötigte und fragte sich sofort selbst was er da eigentlich redete. Abermals sahen sich Tiral und Werel vielsagend an und dachten das Gleiche: das würde wirklich schnell gehen – und Spaß machen.
„Wie passend zu einem Dämon. Dämonen benutzen nie Waffen!“ Wiral lachte und grinste Youma ins Gesicht:
„Sie sind ihrer nämlich nicht würdig.“
Der Yami schritt vor und bedeutete Silence Abstand zu nehmen. Er versuchte gelassen zu wirken, selbstsicher, als hätte er die momentane Situation unter Kontrolle – was er absolut nicht hatte. Wie sollte er hier wieder heil herauskommen?! Youma hatte in seinem gesamten Leben noch nie gekämpft! Er hatte überhaupt keine Ahnung davon! Aus Zugucken lernte man etwas nicht. In was hatte er sich nur hineingeritten?!
Mit flauem Gefühl im Magen sah er wie Werel vortrat und lässig ein langes Schwert auffing, welches Tiral ihm zuwarf. Youma würde im Krankensaal landen!
Aus den Augenwinkeln sah er wie Silence die Daumen drückte und ihn ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Dies ließ zwar sein Herz beschleunigen, besiegte aber keineswegs seine Angst. Von Steinen getroffen zu werden tat weh und er mochte es nicht – wie sehr würde das hier denn schmerzen?! Ja, ihm standen Schmerzen bevor. Und eine Predigt von Light. Ewiges Gelächter der anderen Wächter und Silence würde sich sicherlich für ihn schämen und das… und das wäre das Schlimmste! Alles würde er in Kauf nehmen, aber Silence wollte er nicht enttäuschen. Egal wie viele Schmerzen er erleiden musste, er würde kämpfen bis zum umfallen!
Ohne faire Vorwarnung stürmte Werel mit einem Grinsen auf den völlig überrumpelten Youma zu, der eigentlich erwartet hatte, dass jemand den Kampf für eröffnet erklären würde. Aber das war er bereits: das war er von dem Moment an, wo Youma Silence‘ Platz in dieser Torheit eingenommen hatte.
Die Sonne traf die Klinge des ausgestreckten Schwertes – warum hatten sie überhaupt ein echtes Schwert und kein Holzschwert?! – und blendete den Yami für einen kurzen Moment, der innerlich bereits über diesen ersten Fehler fluchte. Lange fluchte er nicht über diesen Fehler, denn ein Blitz des Schmerzes sprang in seinem Körper empor und übertönte jeden Gedanken und alles andere. Für einen Augenblick gab es nur ihn und seinen linken Arm, den er sich in der letzten Sekunde vor sein Gesicht gehalten hatte – nur ihn, der Arm und der Schmer… Youma erstarrte in einen Moment der Fassungslosigkeit als er sein eigenes dunkles Blut auf den Boden tropfen sah – Der Schmerz, er… hörte auf. Es tat nicht mehr weh. Er spürte die Wunde, die Werel ihm zugefügt hatte, aber die Schmerzen sie… waren weg.
Aber wenn es nicht weh tat… dann…
Mit einem Schrei stürmte Werel wieder auf ihn los und dieses Mal hielt Youma wie schon bereitwillig seinen rechten Arm hin. Die entstehende Wunde war tiefer, doch es war Youma egal. Da waren keine Schmerzen! Die Wunden waren gleichgültig! Und wenn er keine Schmerzen verspürte, dann bedeutete das auch, dass er den Kampf gewinnen würde, dachte der junge Halbdämon übermütig und mit einem Grinsen, als er den überraschen Werel mit einem heftigen Tritt von sich wegschleuderte.
Youma begriff nicht was vor sich ging. War das Kämpfen etwa so einfach? Warum konnte er es sofort? Warum tat ihm nichts weh?
Die Fragen drängten sich jedoch in den Hintergrund, als Youma Werel einen Schlag in die Rippen verpasste und ein lautes Knacken die Wächter zusammenfahren ließ, obwohl nur wenige von ihnen wussten, dass das Geräusch von einer gebrochenen Rippe stammte. Als das Geräusch wie ein Schuss ertönte, löste sich eines der Kinder von der Gruppe und rannte so schnell sie konnte weg – aber die anderen blieben stehen. Sie waren wie gelähmt von dem Schauspiel, welches sich ihnen bot.
Werel lag am Boden, buchstäblich im Staub, eine sich ausbreitende Blutlache unter sich und um das Ganze noch zu unterstreichen, setzte Youma auch noch triumphierend den Fuß auf seinen Kopf um die Szene noch mit einem schadenfrohen Lächeln zu unterstreichen.
„Damit habe ich gewonnen!“ Auch wenn es ein Zweikampf war und es gegen die Turnierregeln verstoß, welche die Kinder immerhin nachahmten, mischte sich nun auch Wiral ein. Er stürmte auf Youma zu, wollte ihn von hinten angreifen, als dieser plötzlich in eine schwarze Wand hineinsauste, die sich auflöste und Wiral am anderen Ende des Platzes wie aus dem Nichts wiederauftauchen ließ.
„Zwei gegen einen…“, sagte Youma deutlich mit dem Fuß immer noch auf Werels Kopf:
„Finde ich ziemlich unfair.“ Ein angewidertes Zischen ertönte unter Youmas Fuß:
„Dämon!“ Ein Wind erfasste Youmas schwarze Haare, die sich durch den Schlagabtausch aus der Schleife gelöst hatten und ein kleines, aber diabolisches Lächeln breitete sich auf Youmas Gesicht aus, als er sich zu seinem Gegner herunterbeugte und leise antwortete:
„Nun, dann weißt du jetzt wie es sich anfühlt von einem Dämon besiegt zu werden!“
„Youma.“
Die Luft, wie auch die Zeit, schien augenblicklich stehen zu bleiben.
Youma drehte sich zum Ursprung der Stimme herum und entdeckte Light. Er sah nicht geschockt aus, nicht böse oder wütend, sondern nur eins: zutiefst traurig.
Das gesamte hämische Glücksgefühl entschwand Youma, als er seinen Vater so verletzt dort stehen sah und einen Moment lang sah es danach aus, als würde er plötzlich anfangen zu weinen. Doch er tat es nicht; er schlug die Augen nieder und sah zu Silence, welche nun neben Light stand, der sie an die Hand genommen hatte. In ihren Blick lag nicht diese immense Traurigkeit, die Youma in Lights Augen sehen konnte. Es war eine Mischung aus Entsetzen und Besorgnis.
Youma fühlte sich plötzlich unheimlich klein. Klein und alleine auf dem großen sandigen Platz – nein, auf der Welt. Er wünschte sich, er würde sich auf der Stelle in Luft auslösen. Überall würde er lieber sein wollen, nur nicht hier. Alle starrten ihn an. Starrten das viel zu dunkle Blut an, dass aus seinen Wunden tropfte und plötzlich wurde Youma sich bewusst, dass es um einiges dunkler war als es sein sollte.
Er wusste nicht was er tun sollte. Er stand einfach da, wie eine Puppe, die von allen angestarrt wurde und bewegte sich nicht. Youma sah nur in Lights Richtung, ohne wieder den Augenkontakt mit ihm aufzunehmen. Er wartete. Aber worauf? Auf Erlösung? Dass jemand zu ihm hingehen würde und irgendetwas sagen würde? Aber was sollten sie sagen? Was sollte er sagen?
Youma wurde in diesem Moment zum ersten Mal bewusst, warum alle ihn und Silence mieden. Warum sie sie zu Recht mieden.
Er war ein Dämon.
Der Sohn seines Vaters den er doch so hasste.
Luzifers Sohn.
Die kochenden Tränen traten hervor und endlich, endlich konnten Youmas Beine sich bewegen. So schnell er konnte entfloh er den Blicken der Wächter, rannte an seiner Familie vorbei, die ihm nachsahen und nicht wussten, was sie tun sollten.
Jemand anderes aber applaudierte, ohne, dass sein Applaus gehört wurde.
Das hatte dem namenlosen Dämonenherrscher gefallen; mehr als die ganzen Turniere, die ihn schrecklich langweilten. Er würde gerne zu Youma gehen und ihm gratulieren: gratulieren, dass er zum ersten Mal sein Dämonenblut gespürt hatte, gratulieren, dass er diese ungehobelten Erdwächter zu Boden befördert hatte!
Der namenlose Dämonenherrscher grinste in seine vorgehaltene Hand hinein, welche sein Kinn abstützte. Er saß auf eine der Turmspitzen; das eine Bein über das andere geschlagen. Der perfekte Aussichtspunkt über das unter ihm stattgefundene Spektakel… der erste Platz um zu sehen wie das Blut Luzifers zum ersten Mal zum Vorschein kam.
„Du hast seine beeindruckende Regeneration geerbt, Youma…“, flüsterte er leise lächelnd.
„Ich hoffe du bist froh über dieses Erbe, das Erbe Luzifers.“ Sein Lächeln verschwand.
„Es ist kostbares Blut. Vergeude es nicht.“ Er löste die Hand von seinem Kinn und richtete sich mit einem Satz auf, die Arme ausgestreckt als würde er fliegen wollen – aber er flog nicht. Er teleportierte sich zurück in sein Schloss in Lerenien-Sei.
Dort wurde er nicht nur von aufwendig verzierten Deckendekor begrüßt, welches in der untergehenden Sonnen golden leuchtete und glänzte, genau wie der glatte Marmor unter seinen Füßen, der in matten Farben prachtvoll strahlte und von den gläsernen Windspielen, die sachte Töne spielten – sondern auch von einem seiner Nachkommen, der schon ungeduldig auf die Rückkehr seines „Vaters“ gewartet hatte.
„Gebieter, ich bin erfreut über Eure Rückkehr.“ Der Teufel verneigte sein gehörntes Haupt vor dem namenlosen Dämonenherrscher, der eigentlich etwas missgestimmt aussah gestört zu werden.
„Ja, Soneillon, was gibt es?“
„Wir müssen dringend eine Entscheidung treffen was die Wasserknappheit in Amaren-Tene angeht; die Wächter, sie müssen…“
„Jaaah, ich weiß“, unterbrach der namenlose Dämonenherrscher Soneillon und grummelte für sich selbst:
„Immer dieses Wasser.“ An Soneillon gewandt sagte er aber mit einem Lächeln:
„Ich weiß, ich weiß, wir kümmern uns darum, wir werden eine Entscheidung treffen.“ Das Gesicht des Teufels hellte auf und als er sich emporhob, rasselte sein Silberschmuck deutlich:
„Gut, ich werde dafür sorgen, dass wie uns bereits heute versammeln können.“ Der namenlose Dämonenherrscher hielt seinen eifrigen Teufel auf, ehe er den Gang herunterrennen, oder vielleicht sogar fliegen würde.
„Tu das! Ruf deine Brüder zusammen, ich will sie alle sehen! Aber nicht für eine Versammlung, die können wir morgen auch noch halten. So schnell verdurstet doch niemand.“ Soneillon drehte sich wieder herum und seine roten Augen fixierten seinen Gebieter fragend, sagte aber nichts.
„Heute Abend wird gefeiert! Wir werden fürstlich speisen.“
„Feiern?“, wiederholte Soneillon skeptisch.
„Welchen Grund hätten wir zu Feiern angesichts der deutlichen Unruhen in unseren Gebieten?“
„Wir feiern diese Unruhen!“ Der namenlose Dämonenherrscher lachte auf und legte seinen Arm um seinen Nachkommen, um ihn mit sich zu ziehen:
„Wir feiern…“ Er grinse ihn an:
„…, dass es endlich anfängt.“
Während in Lerenien-Sei gefeiert wurde, wurde in Aeterniya tatsächlich eine Ratsversammlung einberufen – und das Thema war Youma.
„Er ist wahrlich Luzifers Sohn. Er hat dieselben Fähigkeiten wie er.“
„Ich habe es vorausgesehen. Der Junge ist eine Gefahr.“
„Es war ein Ausrutscher.“
„Er hat seine geerbten Kräfte nicht unter Kontrolle.“
„Wie auch! Er kennt sie ja nicht!“
„Wir können das unmöglich dulden. Am Ende wird er noch zu einer ernsten Gefahr… für alle.“
„Aber was ist mit Light? Das wird ihm das Herz brechen.“
Hikaru hörte nur zu, ohne irgendeinem der anderen Götter ihre Meinung zu dem Thema mitzuteilen. Sie achtete auch nicht darauf, dass Kikou ihr einen Blick zuwarf, während Shizen so große Anteilnahme hatte an Lights Leiden, welcher nicht anwesend war. Scheinbar wollte Kikou sie dazu auffordern, ihre Meinung offen preiszugeben… oder vielleicht wollte die Göttin des Klimas, dass Hikaru über etwas ganz anderes sprach… aber Hikaru drehte der Diskussion den Rücken zu, wo Shizen gerade eine beherzte Rede darüber hielt, dass Silence und Youma doch eigentlich beide sehr brave Kinder waren. Tsuchi wollte davon nichts hören: es waren immerhin seine Nachfahren, die er Youmas „Opfer“ nannte.
„Sie hätten gar kein Schwert haben dürfen, Tsuchi“, warf Hii ihm zu mit einem schmalen Lächeln auf ihrem filigranen Gesicht.
„Und dass sie gegen ein Kind verloren haben, welches gar keine Ausbildung genossen hat, sagt viel über ihre ach so brillanten Kampffähigkeiten aus…“ Hikaru begann, die Stimmen der Götter auszufiltern und sah mit ihren starren Augen zum Himmel. Die Sonne ging gerade unter und ein warmes Licht ergoss sich über die niedrigen Dächer und Zinnen Aeterniyas. Ein schönes Ende für so einen schicksalshaften Tag…
Sie wollte sich gerade wieder der Debatte zuwenden, als ihre weißen aufmerksamen Augen eine Gestalt durch die Torbögen rennen sah. Light… Er hatte sie alleine gelassen.
Sie verabscheute dieses Gefühl, welches auch jetzt in ihr aufkam und welches Hikaru nicht so recht zu deuten vermochte. Es kam immer öfter… immer wenn Light ihre Hand losließ und zu seinen Schützlingen ging. Es war, als würde ein Teil von ihr fehlen, als hätte man ihr ein lebenswichtiges Körperteil entrissen. Vielleicht ihre Stimme, die, die sie nie besessen hatte.
Aber das war nicht der einzige Grund, dessen war sie sich sicher. Ob es etwas Ähnliches wie Eifersucht war? Neid? Hikaru wollte es nicht. Sie nicht! So ein primitives Gefühl. Unter ihrer Würde. Sie gehörte dem Licht an! So etwas konnte sie gar nicht empfinden.
Unmöglich.
Silence lief Light voraus, während Hikaru in ihre Gedanken vertieft war. Sie wusste nicht, dass Light hinter ihr war; denn es war ihr egal, ob sie alleine war – sie wollte einfach nur Youma suchen und finden. Doch auch wenn sie so schnell rannte, dass sie schier zum Wind selbst wurde, geriet sie nicht aus der Puste. Sie machte sich keine Gedanken darüber, warum sie es nicht war – sie dankte dem Umstand mehr, als ihn zu hinterfragen. Umso schneller sie rennen konnte, umso schneller war sie bei Youma!
Zum Glück konnte sie erahnen, wo Youma war – nein. Eigentlich wusste sie es.
Es gab einen Ort, den sie oft zusammen aufsuchten; einen Ort, der außerhalb von Aeterniya lag und den sie ihren geheimen Ort nannten. Vielleicht kannten ihn auch andere, aber das spielte für sie keine Rolle: es war ihr Ort. Er bot zwar nicht viel, doch das, was er bot, war umwerfend schön. Ein Fleckchen unberührter Natur: ein See mit kristallklarem Wasser, umrahmt von hohem, goldenen Gras und drum herum nichts anderes als Kornfelder, die zu dieser Jahreszeit kurz vor der Ernte aussahen wie ein langer, goldener Teppich. Hinter den Baumkronen konnte man die Türme Lerenien-Seis sehen, die im Licht der Sonne wie eine bedrohliche andere Welt aussahen, die ihnen hier aber nichts anhaben konnte.
Silence erblickte Youma sofort. Er saß unter einer Trauerweide, die nahe dem Wasser aus dem Boden einer kleinen Erhöhung spross; der Baum war sehr hoch und zeugte von einem langen Leben. Sanft wehten die langen, dünnen Äste im Abendwind und die Blätter raschelten ruhig über Youmas Kopf hinweg, der die verletzten Arme um seine Knie geschlungen hatte und den Kopf so tief gesenkt hielt, als wünsche er, er könne verschwinden.
Er weinte nicht mehr… glaubte Silence. Doch er war so in seine Gedanken versunken, dass er Silence nicht bemerkte, auch wenn sie jetzt neben ihm stand.
Geräuschlos ließ sie sich ins Gras sinken und ohne Vorwarnung oder ein Wort der Begrüßung legte sie ihre Arme um ihn und drückte sich an ihren Zwilling.
Deutlich zuckte er zusammen, aber er sagte nichts, genauso wenig wie sie. Sie wollte ihm so vieles sagen… dass sie ihm beistand, was auch geschah, dass er ihr keine Angst gemacht hatte, dass alles in Ordnung war, dass sie ihn nach wie vor liebe und dass er nicht alleine war – und vielleicht auch, dass er ziemlich beeindruckend gewesen war und dass es gut getan hatte, Werel und Tiral auf dem Boden zu sehen. Aber sie brachte kein Wort heraus. Etwas war… Ihre Gedanken verharrten, als sie plötzlich etwas Feuchtes an ihrer Wange spürte und bevor sie selbst wusste, was es war, hörte sie Youmas, durch sein voriges Weinen brüchig gewordene, Stimme:
„Warum… weinst du, Silence?“
„Weil ich… Angst hatte.“ Youma zuckte abermals zusammen und Silence spürte deutlich, wie er sich verkrampfte.
„…Ich… Ich… wollte das nicht…“
„Du bist ein Idiot.“
„Was?“
„Ich hatte nicht vor dir Angst. Sondern… um dich. Als du… weggerannt bist… da dachte ich, du würdest nicht wiederkommen… dass du… mich alleine lassen würdest.“
„Ich würde dich niemals alleine lassen!“ Youma schüttelte energisch den Kopf:
„Lieber sterbe ich. Silence… sowas darfst du nicht denken, es… tut mir weh. Alleine der Gedanke, dich nicht bei mir zu haben, schmerzt… Denk nicht an sowas… bitte…“ Die beiden Zwillinge schwiegen, kuschelten sich aneinander und nahmen die Hand des jeweils anderen.
Lange saßen sie jedoch nicht in Schweigen aneinandergedrückt, ehe das fehlende Familienmitglied hinzukam. Gleichzeitig sahen die beiden Yamis auf und kurz kreuzte Youmas Blick den seines Ziehvaters, ehe er sofort wieder reuevoll in eine andere Richtung sah.
Youmas Gesicht war rot und tränennass und es war sehr unschwer zu erkennen, dass er sehr viel geweint hatte. Dieser klägliche Anblick seines Kindes löste in Light das dringende Bedürfnis aus, ihn in die Arme zu nehmen, aber Light ließ es nicht zu. Er ließ es nicht geschehen. Er musste hart bleiben, denn er… er musste richten.
„Hat es dich erfreut der Stärkere zu sein?“ Youma kniff die Augen zusammen und wandte sich soweit ab, wie es ihm möglich war, antworten tat er nicht. Silence aber antwortete lautstark:
„Wie kannst du ihn so etwas fragen, Light!? Siehst du nicht, wie er leidet?“ Die Vögel hoben ab von ihren Ästen beim Klang von Silence‘ kraftvoller Stimme, doch Light blieb unberührt.
„Hat dir das Kämpfen Spaß bereitet?“
„…Nein! Ich wollte das nicht! Ich wusste nicht, was ich tat!“ Youma schüttelte den Kopf und seine Haare wirbelten aufgebracht herum.
„Es ist gemein von dir! Du bist gemein!“, konterte Youma voller Verzweiflung, die Silence zusetzte. Besorgt sah sie ihren Bruder an, ohne zu wissen, wie sie seine Pein stillen konnte, denn sie wusste ja nicht einmal, warum Light das sagte. Sah er denn nicht, dass es Youma leidtat?
„Ich soll gemein sein? Ich habe meine Überlegenheit nicht so zur Schau gestellt, wie du es getan hast, Youma.“ Jetzt sah Youma auf und als würde er seine bebenden Hände mit irgendetwas beschäftigen müssen, verknotete er sie in seine Haare, als er versuchte seine Finger zu bändigen. Fest presste er die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, als würde er die Welt, die ihn nicht verstand und die er auch nicht verstand, ausgrenzen wollen.
Als er Light wieder ansah, lag verzweifelte Wut in seinen Augen und mit Inbrunst richtete er seine Enttäuschung an ihn:
„Warum glaubst gerade DU mir nicht!? Ich wollte nicht kämpfen! Sie haben mich herausgefordert! Sie haben mich unterschätzt – ich habe mich unterschätzt! Ich wusste nicht, dass ich das kann! Ich wusste nicht, wie schnell ich sein kann! Ich habe keine Schuld! Hättest du mir das Kämpfen beigebracht, dann hätte ich es gewusst und es wäre nicht passiert! Aber du hast mir nie die Gelegenheit gegeben, meine Fähigkeiten auszuprobieren! Ja, Light, es ist deine…“ Youma wollte noch mehr sagen, noch mehr Verzweiflung preisgeben, aber er hielt inne, als eine glänzende, beinahe schon pulsierende Schwertklinge vor seinem Gesicht niedersauste.
Silence traute ihren Augen nicht, genauso wenig wie Youma. Beiden stockte der Atem.
Noch nie hatten sie Lights Schwert gesehen: noch nie gesehen, wie sich dessen Flügel ausbreiteten. Er trug es zwar immer an seiner Hüfte, aber es war stets unbenutzt und Light vergaß es auch oft, trug es nur, weil er es musste, weil es, wie er es sagte, „leider vorgeschrieben“ war. Von wem, das wussten sie nicht, denn nicht alle Götter trugen eines. Aber es hatte sie nie interessiert; sie hatten das Schwert nicht einmal… richtig als Schwert wahrgenommen und es war pure Fassungslosigkeit, mit der sie es jetzt ansahen, geschockt, dass es seine Flügel ausbreiten konnte und dass Light wusste, wie man es benutzte.
Es war jedoch keine normale Waffe. Die Klinge des Schwertes schien von innen heraus zu leuchten, als würde es das Sonnenlicht aufnehmen und somit ein Eigenleben in seinem Schwertinneren erschaffen. Der Schwertgriff bestand aus zwei großen geschwungenen Flügeln, in deren Mitte ein goldenes Glöckchen saß.
„Light! Was machst du denn da?!“, rief Silence, die aufgesprungen war. Doch das Gesicht ihres Vaters blieb unberührt. Noch nie hatten die Zwillinge sein Gesicht so leblos gesehen, so… ernst… zum ersten Mal sahen sie ihm an, dass er Hikarus Bruder war, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Seine sonst warmen und liebevollen Augen sahen aus, als wären sie aus weißem Stahl.
„Du willst wissen, wo deine Grenzen sich befinden? Ich zeige sie dir. Wenn du jemanden brauchst, an dem du deine Fähigkeiten testen kannst – dann an mir.“ Light nahm ein wenig Abstand mit seinem Schwert, um Youma die Möglichkeit zu geben, sich zu bewegen und zu Silence‘ Entsetzen stellte Youma sich auch noch kampfbereit hin.
„Sag mal spinnt ihr?! Habt ihr denn beide den Verstand verloren?!“ Doch weder Light noch Youma achteten auf Silence.
„Greif du zuerst an.“ Silence wolle dazwischen springen, um sie aufzuhalten, doch Youma war zu schnell, er war schon auf Light zugestürmt und—– das nächste, was er spürte, war kaltes Wasser.
Prustend und hustend rappelte Youma sich auf. Zutiefst verwundert, wie er ins Wasser hinter Light gekommen war, drehte er sich um und starrte fassungslos auf Lights Rücken. Aber der Lichtgott schien sich überhaupt nicht bewegt zu haben. Geschockt sahen Silence und Youma sich an, Silence nicht weniger geschockt als ihr Zwilling. Sie hatte Light die ganze Zeit im Blick gehabt… Erst jetzt spürte Youma, dass irgendetwas ihn am Hinterkopf getroffen hatte, aber… was?
„Wie hast du das gemacht?“ Light drehte sich um und lächelte zum ersten Mal wieder – und sofort als Silence und Youma dies sahen, atmeten sie ein wenig auf.
„Du hast es nicht gesehen, aber ehe es dir gelang mich anzugreifen, habe ich mein Schwert herumgedreht, die Klinge mit beiden Händen gepackt und…“
„Mir den Griff auf den Hinterkopf geschlagen“, schlussfolgerte Youma und sein Gesicht verdunkelte sich, als er fortfuhr:
„Du hättest mich lieber aufspießen sollen.“ Das Lächeln des Lichtgottes verschwand.
„Warum sollte ich das?“ Der Angesprochene senkte den Blick.
„Damit niemandem etwas geschieht…“
„Willst du denn, dass jemandem etwas zustößt? Willst du jemanden verletzen?“ Youma sah auf. Zuerst zu Silence und dann wieder zu Light.
„Nein… nein, natürlich nicht. Aber ich will meine Kraft nutzen können. Ich will sie kennen.“
„Zu welchem Zweck willst du sie nutzen?“
„… um die zu beschützen, die ich liebe.“ Während Youma dies sagte, lagen seine schwarzen Augen auf Silence. Sie wurde rot und schaute beinahe schon schüchtern zur Seite.
„Und damit… damit nichts passiert, was ich nicht kontrollieren kann. Wenn ich meine… Fähigkeiten kenne, dann…“ Light schritt ins Wasser, ohne darauf zu achten, dass der Saum seines Gewandes sich mit Wasser vollsaugte. Er hielt erst inne, als er vor Youma stand, welchem er lächelnd eine helfende Hand entgegenreichte. Der nasse Halbdämon starrte sie einen Augenblick lang an, dann erwiderte er sein Lächeln und ergriff die Hand seines Vaters. Light wollte ihn hochziehen, doch in dem Moment verlor er die Balance und fiel zusammen mit Youma vorne über ins Wasser.
„Du bist ein Volltrottel, Light“, maulte Youma, als er sich die nassen schwarzen Haare aus dem Gesicht wischte.
„So redet man nicht mit seinem Erziehungsberechtigten!“, antwortete Light, begleitet von einer schnellen Handbewegung, die Youma eine Ladung Wasser ins Gesicht bescherte. Dies ließ der Halbdämon nun gewiss nicht auf sich beruhen und konterte ebenfalls mit einer Wasserattacke, als wären sie plötzlich Wasserwächter. Silence traute ihren Augen nicht.
„Nimm DAS, Light!“, prustete Youma, obwohl er Wasser im Mund hatte.
„Nein nein, so leicht lasse ich mich nic-!“ Light wurde unterbrochen von einer weiteren Ladung einer zielgerichteten Wasserattacke… Light lachte, genau wie Silence es nun tat und Youma ebenfalls… bis er seinen Vater nachmachte und selbst stolperte… Mit Lachtränen in den Augen verkündete Youma, dass er offensichtlich doch noch etwas von Light erben würde – aber auf seine Tollpatschigkeit konnte er verzichten! – und so ging es weiter: von einer Wasserattacke zur nächsten, die nur noch intensiver wurden, als Silence ihren Rock hochkrempelte, Anlauf nahm und mit einem energischen Sprung ihren Kampf mit einem doppelten Angriff begann.
„Ich lasse mich nicht ausschließen, ihr beiden!“
Es war unmöglich zu sagen, wer in dieser Wasserschlacht die Nase vorn hatte. Es war auch egal; am Ende waren sie alle gleich nass, als sie den Heimweg antraten. Die beiden Kinder gingen jedes an einer Hand von Light, sie froren, waren aber befreit von ihren Sorgen und lachten immer noch alle drei.
„Also, Light, wirst du mich dann im Kampf unterrichten?“, fragte Youma neugierig und Light nickte.
„Aber heimlich. Das darf niemand wissen!“, antwortete Light mit einem Zwinkern und einem Zeigefinger an seinen Lippen. Youma grinste erfreut und mit roten Wangen und stimmte freudig ein.
„Oh ja, mich auch! Mich auch!“, rief Silence und schwenkte auffällig an Lights Arm, aber sowohl Light als auch Youma waren sich einig:
„Nein!“
„Das ist ungerecht! Das könnt ihr nicht machen! Das ist absolut ungerecht! Was Youma darf, darf ich auch!“
„Aber ich werde dich beschützen, Silenci, du brauchst das Kämpfen gar nicht lernen.“
„Widerspricht das nicht deinen eigenen Worten, dass man seine Kräfte kennen muss, um sie einschätzen zu können?“ Mit zusammengekniffenen Augen sah sie an Light vorbei rüber zu Youma auf der anderen Seite:
„Ich bin auch Luzifers Tochter, das weißt du, oder?“
„Natürlich weiß ich das…“
„Also…“
„Hört auf ihr beiden, wir werden es sehen… Ja, Silence, vielleicht bekommst du auch Unterricht…“ Ergab Light sich, als er Silence‘ durchbohrenden Blick sah. Er sagte es nicht laut, aber eigentlich kam Silence viel mehr nach ihrer Mutter, als nach ihrem Vater – was weitaus einschüchternder war.
„Sag mal, Light…“ Silence blinzelte verwirrt, als sie Lights Gesicht fixierte.
„Hm?“
„Wo ist dein Diadem?“ Das Dreiergespann blieb stehen, damit Light kurz die Hand Youmas loslassen konnte, um sich die Stirn abzutasten.
„Ups.“
„Ich sag doch, du bist ein Volltrottel.“ Light kniff Youma beleidigt in die rechte Wange, ehe er wieder seine Hand nahm und sie weitergingen.
„Ist nicht so schlimm. Es wird in den See gefallen sein… Ich mochte das Ding eh nicht.“
Als sie im Palast der Elemente ankamen und die vielen Treppen emporstiegen, die sie in ihre Gemächer brachten, war es ungewöhnlich ruhig – ein Umstand, den Light begrüßte, denn er wollte keine Gespräche mehr führen, wollte nicht, dass Youma noch von irgendjemandem gesehen wurde. Er wollte sie in Ruhe zu Bett bringen… dass Hikaru sie allerdings nicht erwartete, machte ihn etwas misstrauisch.
Youma und Silence machten sich schnell nachtfertig, bekamen die Haare von Light getrocknet und legten sich in ihr Bett. Eigentlich standen in deren runden Zimmer zwei Betten, doch sie schliefen immer zusammen: das zweite Bett war eigentlich absolut unnötig. Sie hatten es von Anfang an getan und Light bezweifelte, dass es sich irgendwann ändern würde. Youma hielt für Silence die Decke hoch und sie sprang wie immer mit einem Satz ins Bett und schlüpfte unter die Decke. Daraufhin deckte Light sie wie immer extra zu, strich den beiden über den Kopf und wünschte ihnen „Gute Nacht“.
„Ich hab dich lieb, Light“, flüsterte Silence mit roten Bäckchen und Youma ergänzte:
„Ich dich auch!“ Light lächelte voller Dankbarkeit, als er antworte:
„Ich euch auch.“ Er schloss die beiden kurz, doch liebevoll in die Arme und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Youma ihn zurückhielt:
„Light! Wenn ich groß bin, dann werde ich dich in einem fairen Kampf besiegen! Und dann musst du mir versprechen, dass ich nie wieder Formeln auswendig lernen muss!“